"Lügen darf man nicht sagen!" Sprachliche Handlungskompetenz und Sprechakttypen bei Kindergartenkindern


Studienarbeit, 2015

21 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Spracherwerb und Sprachentwicklung

3. Sprachliche Handlungskompetenz von Kindern

4. Die Sprechakttheorie

5. Sprechakttypen bei Kindern am Beispiel einer empirischen Untersuchung

6. Exkurs: Pragmatische Störungen

7. Schlussbetrachtung

8. Literaturverzeichnis:

9. Anhang
9.1. Transkription „Lügen darf man nicht sagen“
9.2. Kategoriesystem STIK - Sprechhandlungs-Typen-Inventar für Kinder
9.3. Anwendung des STIK Kategoriesystems am Bsp. des Transkripts „Lügen darf man nicht sagen“

1. Einleitung

Betrachtet man einen Raum in dem sich Kindergartenkinder aufhalten, so dürfte man einer Vielzahl unterschiedlichster Kommunikationsformen und -, Situationen begegnen. Die Jungen und Mädchen in einer Kindergartengruppe können in einem Moment heftig um Spielsachen streiten, im nächsten Moment über ein mögliches Friedensangebot diskutieren und im wieder nächsten Augenblick lebhaft eine erzählte Geschichte weiterführen. In der sprachlichen Interaktion zwischen ihnen finden komplizierte Kommunikationsabläufe statt, die für Erwachsene in ihrer Komplexität manchmal nur schwer zu durchdringen sind.

Bereits Säuglinge treten mit ihrem sozialen Umfeld in Kontakt. Durch Schreien, Brabbeln, Töne, Mimik, Gestik und andere Verhaltensweisen machen sie auf sich aufmerksam und vertreten so ihre noch überschaubaren Interessengebiete. In ihrer voranschreitenden Entwicklung nehmen sie sich ihrer Lautsprache an, wodurch sie mehr und mehr kommunikative Kompetenzen erlangen und auch Äußerungen und Sichtweisen von anderen reflektieren können. Mit wachsendem Wortschatz gelingt es den Mädchen und Jungen, das eigene Denken zu organisieren. Sprache erfüllt hier nicht nur kommunikative, kognitive und affektive sondern auch epistemologische Funktionen.[1] Darüber hinaus vollziehen sich die sprachlichen Äußerungen und einzelnen Sprachakte der Kinder auch immer als Handlung. Für dieses Phänomen liefert die linguistischen Teildisziplin der Pragmatik ihren theoretischen Bezugsrahmen.

Doch wie ist die frühkindliche Kommunikation im einzelnen organisiert? Im Seminar „Dialogkompetenz bei Kindergartenkindern“ wurde diese Frage Schritt für Schritt erschlossen. Nachdem Gespräche im Allgemeinen und die Gesprächsanalyse thematisiert wurden, betrachteten wir Dialoge und untersuchten ihre Struktur. Dabei wurde eine erste Brücke zur Entwicklung der Sprachkompetenz, unter Betrachtung entwicklungspsychologischer Aspekte, bei Kindern geschlagen. Im weiteren Verlauf des Semesters reflektierten wir, wie Kommunikation von Kindergarten-, und Vorschulkindern im Einzelnen abläuft und welche sprachlichen Handlungskompetenzen sie sich dabei zu Eigen machen. Kommunikative Gattungen, Erzählungen und Streitsituationen fanden dabei ebenfalls nähere Betrachtung.

Ziel diese Arbeit soll es nun sein, den Themenschwerpunkt „Sprachliche Handlungskompetenz und Sprechakttypen bei Kindergartenkindern“ in den Fokus zu setzen und ergänzend mit einigen Seminarinhalten zu verknüpfen. Exemplarisch sollen diese Theorieaspekte an dem im Anhang befindlichen Transkript verdeutlicht werden.

Darüber hinaus möchte ich in einem kurzen abschließenden Exkurs Phänomene pragmatischer Störungen bei Kindern in den ersten Entwicklungsjahren theoretisch untersuchen. Meinen Ausführungen soll nun ein Abriss zum Spracherwerb und der Sprachentwicklung, vor allem in Verbindung mit der Pragmatik, vorangehen.

2. Spracherwerb und Sprachentwicklung

Setzt man sich mit der sprachlichen Handlungskompetenz von kleineren Kindern auseinander, so kommt man nicht umhin, zu hinterfragen, wann und auf welche Art und Weise Spracherwerb seinen Ursprung findet. Nach der Geburt, oder zu großer Wahrscheinlichkeit schon im Mutterleib, hat die Sprache an sich eine große Wirkung auf Säuglinge. Zumindest in Bezug auf die Laute einer Sprache weisen sie eine vielseitig entwickelte perzeptive Fähigkeit auf. So ist zu beobachten, dass Babys auf Sprache intensiver reagieren, als auf alle anderen Geräusche.

In ihrem ersten Lebensjahr versuchen sie bereits diese „gehörten Laute in ein System zu integrieren, im gehörten kontinuierlichen Redefluss Wörter zu identifizieren und in späteren Phasen Worteinheiten mit Bedeutung zu verbinden. Im Alter von ca. 12 Monaten produzieren Säuglinge ihre ersten Wörter, bis zum 18. Monat eignen sie sich allmählich immer mehr Wörter an. Zu diesem Zeitpunkt umfasst ihr Vokabular im Allgemeinen ca. 50 Wörter. Dann wächst der Wortschatz in der Regel sprunghaft an. Im Alter von ca. 12 Monaten gebraucht ein Kind ein Wort, um einen ganzen Satz auszudrücken; mit ca. 24 Monaten beginnt es, Wörter zu verbinden und komplexere Gedanken auszudrücken. Anfänglich ähneln diese Sätze Telegrammen, sie werden jedoch allmählich ausgefeilter und vermögen komplexere Inhalte auszudrücken.“[2]

Spracherwerb ist somit als ein Selektionsprozess im Lautrepertoire zu verstehen. Im Gehirn gespeichert werden dabei die Unterschiede zwischen Lauten, die phonemisch relevant sind, um Wörter zu unterscheiden.[3] Die Fähigkeit zur Sprachproduktion wird hingegen erst später entwickelt. Spezifisch ist dabei zunächst das Lallen für Säuglinge, als erste Form des Ausdrucks. Es versteht sich vor allem als Übungseinheit, um Lautproduktion zu trainieren und zu testen, wie die einzelnen Sprachorgane genutzt und miteinander koordiniert werden können. Sprachproduktion vollzieht sich dabei langsamer als Sprachverständnis.

Auch unter pragmatischen Gesichtspunkten ist die Sprachentwicklung von Kindern vielschichtig. So finden komplexe pragmatische Inhalte wie Deixis und Sprechakte ihren Ursprung im Spracherwerb im frühkindlichen Alter. Meibauer reflektiert dazu:

„Man kann etwa untersuchen, welche deiktischen Elemente zuerst benutzt werden, vermutlich sind dies „da“ und „hier“ in der sog. Eigenwortphase, welche Sprechakte zuerst realisiert werden, vermutlich eher Aufforderungen als Fragen und wie das Kind den Sprecherwechsel erlernt, was vielleicht auf den Blickkontakt während des Stillens zurückzuführen ist. […] Zweitens ist klar, dass Pragmatikerwerb und Grammatikerwerb sich gegenseitig bedingen. Obwohl es durchaus plausible Gründe für die Annahme gibt, dass Kinder eine Art angeborene Prädisposition zum Spracherwerb mit sich bringen, kann doch keinesfalls bestritten werden, dass diese nur im Wechselspiel mit der kognitiven und sozialen Entwicklung zur Entfaltung gebracht werden kann. Dass Sprache der Kommunikation dient, wird vielleicht nirgendwo so deutlich wie bei kleinen Kindern, deren Entwicklung stark behindert wird, wenn sie nicht kommunizieren.“[4]

Für pragmatische Themen ist vor allem relevant, dass die Kommunikation mit Kindern nicht nur aufgrund mangelnden sprachlichen Wissens mitunter schwierig ist sondern auch, weil ihr Weltwissen noch begrenzt ist und sie lebensweltliche Bezüge manchmal nur schwer in Beziehung zueinander setzen können. Dieses Defizit wird jedoch schnell ausgeglichen, da sich die Entwicklung dazu tendenziell rasch vollzieht. Mit zunehmenden Alter entweichen Kinder egozentrischen Verhaltens -, und Sprachmuster und nehmen immer mehr auch die Rolle des (Zu)Hörers ein. Es gelingt ihnen außerdem immer mehr nicht nur in situativen Kontexten zu reagieren, sondern auch Hintergrundwissen im Allgemeinen miteinzubeziehen.

In den letzten Schritten zum Erwerb der sprachlichen Handlungskompetenz werden auch soziale Aspekte berücksichtigt, indem Kinder beispielsweise Normen und Konventionen in ganz bestimmten Kommunikationssituationen einhalten können.[5]

In den ersten Phasen frühkindlicher Sprachentwicklung spielt die Familie eine bedeutende Rolle. Die Familie ist die primäre Sozialisationsinstanz und vermittelt dem Kind nicht nur wichtige soziale sondern auch sprachliche Kompetenzen. In Bezug auf den Spracherwerb befinden sich die Kinder in einer ständigen Lernsituation, da sie sich mit dem innerfamiliären Sprachverhalten konfrontiert sehen.[6] Hier kommt die soziokulturelle Theorie nach Wygotski zum tragen, die besagt, dass Spracherwerb und Sozialisationsprozesse im Allgemeinen durch Nachahmung erfolgen. Unmittelbar entscheidend und elementar für die Entwicklung sind, nach Wygotski, die sozialen und kulturellen Gegebenheiten in der Lebensrealität eines Kindes.[7] Er betont stets, dass Kinder zuerst von den Menschen in ihrer Umgebung und vor allem durch sie lernen. Besonders intensiv untersuchte er das Verhältnis von Sprache und Denken. Was z.B. als lustig, traurig, unangemessen, nett oder einfühlsam empfunden und damit gedacht wird, geben Eltern ihren Töchtern und Söhnen schon früh mit auf den Weg. Dabei wird auch die Sprache durch Beobachtungsprozesse verknüpft und verinnerlicht. Das soziale Umfeld spielt eine enorme Bedeutung. Laden wir Wörter beispielsweise emotional durch Betonung auf, erhalten sie für das Kind eine bestimmte Konnotation und einen damit verbunden Stellenwert. Festzuhalten ist, dass ein Kind um den ersten Geburtstag erstmalig ein Wort mit einer spezifischen Intention verwendet. Mietzel beschreibt dazu:

„Es erweitert seinen Wortschatz während der nächsten sechs Monate nur sehr langsam, danach aber mit bis zu 60 Wörtern oder mehr in einem Monat erheblich schneller. Etwa im Alter von 18 Monaten bilden Kinder zum ersten Mal Zweiwortsätze. Etwa mit 28 Monaten wird das Kind Dreiwortsätze sprechen, und einige Zeit nach seinem dritten Geburtstag äußert es Sätze von beachtlicher Komplexität. Das fünfjährige Kind kann schon fast wie ein Erwachsener Wünsche äußern, etwas vorschlagen, Fragen beantworten und sogar Begründungen für sein Verhalten geben. Es scheint ihm keine Schwierigkeiten zu bereiten, zwischen grammatikalisch richtigen und falschen Sätzen zu unterscheiden. Die Erweiterung des Wortschatzes steht hinter dieser imponierenden Entwicklung nicht zurück: Zu Beginn der Schulzeit beherrscht das Kind im Durchschnitt 2500 Wörter.“[8]

Im voranschreitenden Vorschulalter gelingt es Kindern stetig Sätze zu bilden, die länger werden und syntaktisch komplexer. Aus jenen anfänglichen Zweiwortäußerungen werden Sätze, die Subjekt, Prädikat und Objekt enthalten. Außerdem können Vorschulkinder ihre Sätze schließlich so formulieren, dass sie sozialen Regeln in Bezug auf jeweilige Situationen angemessen Rechnung tragen können.

Besonders im Umfeld des Kindergartens verbessern Jungen und Mädchen ihre Fähigkeit Sprache für bestimmte Intentionen zu nutzen.

„Dem geht die Erkenntnis voraus, dass es bei der Sprache nicht nur auf ihren objektiven Inhalt ankommt, sondern auch darauf, wie man Sätze formuliert, wie man einzelne Teile davon mehr, andere weniger betont. […] Je erfolgreicher das Kind auf diese Weise Mitmenschen in seinem Sinne beeinflussen kann, desto mehr beherrscht es die Pragmatik. Dabei handelt sich um jenen Aspekt der Sprache, bei dem es darum geht, andere angemessen und erfolgreich über eigene Vorstellungen, Vorhaben, Wünsche usw. zu informieren.“[9]

Jede Kultur weist dabei gewisse Regeln auf, durch die andere mit Sprachen zu beeinflussen sind. Trawick-Smith hat dazu als besonders bedeutsam die Abstimmung der Sprache auf den Zuhörer benannt. Möchte man mit anderen in kommunikative Interaktion treten, so müssen in gewissem Maße die Verständnismöglichkeiten, Interessen und Wünsche beachtet werden. Erste Untersuchungen von Piaget ergaben, dass Kindergartenkinder nicht in der Lage sind, in intentionale Kommunikation zu treten. Die Mädchen und Jungen spielten zwar und gaben einzelne Äußerungen von sich. Aufeinander eingegangen sind sie dabei jedoch nicht. Piaget[10] etablierte für diese Sprachäußerungen den Begriff des „kollektiven Monologs“ und benannte einen frühkindlichen Egozentrismus.[11] In späteren Ausführungen wurden diese Ansichten revidiert, indem ausgemacht wurde, dass sich Kinder im Vorschulalter zumindest bis zu einem gewissen Grad auf andere einstellen können. So wissen sie z.B. schon frühzeitig, dass man mit Erwachsenen anders spricht als mit Gleichaltrigen.

[...]


[1] Vgl. Busch; Stenschke, 2007, S.5.

[2] Guasti, 2011, S. 159.

[3] Vgl. Szagun, 2006, S. 114 ff.

[4] Meibauer, 2001, S. 162.

[5] Vgl. Ebd. S. 163.

[6] Vgl. Veith, 2002, S. 58 ff.

[7] Vgl. Wygotski, 2002, S. 136ff.

[8] Mietzel, 2002, S. 215.

[9] Mietzel, 2002, S. 215.

[10] Vgl. Schrepfer, 2013, S. 27 ff.

[11] Vgl. Mietzel, 2002, S. 189.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
"Lügen darf man nicht sagen!" Sprachliche Handlungskompetenz und Sprechakttypen bei Kindergartenkindern
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Autor
Jahr
2015
Seiten
21
Katalognummer
V305125
ISBN (eBook)
9783668397651
ISBN (Buch)
9783668397668
Dateigröße
620 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
lügen, sprachliche, handlungskompetenz, sprechakttypen, kindergartenkindern
Arbeit zitieren
Luise Lippold (Autor:in), 2015, "Lügen darf man nicht sagen!" Sprachliche Handlungskompetenz und Sprechakttypen bei Kindergartenkindern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/305125

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