Die Arbeitswelt von Robert Walsers Angestellten in der Anthologie "Im Bureau"

Literarische Darstellung der Angestelltenwelt Anfang des 20. Jahrhunderts


Bachelorarbeit, 2015

46 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG
1.1. Der Autor und das Werk
1.2. Eingrenzung der Arbeit
1.3. Ziel der Untersuchung und Begründung
1.4. Methode
1.5. Gliederung der Arbeit

2. Robert Walser, Im Bureau – Analyse des Materials
2.1. Der Commis (1902)
2.2. Ein Vormittag (1907)
2.3. Das Büebli (1908)
2.4. Germer (1910)
2.5. Helblings Geschichte (1913)
2.6. Der arme Mann (1916)
2.7. Poetenleben (1916)
2.8. Helbling (1917)
2.9. Der Sekretär (1917)
2.10. Der junge Dichter (1918)
2.11. Erich (1925)
2.12. Acht Uhr (1926)
2.13. Herren und Angestellte (1928)
2.14. Aus dem Leben eines Commis (1928/29)
2.15. Die Verkäuferin (1931/32)

3. AUSWERTUNG/SCHLUSS
3.1. Zusammenfassung der Ergebnisse
3.2. Abschließende Bemerkungen
3.3. Schlusswort

LITERATURVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG

Seit gut 20 Jahren arbeite ich in der freien Wirtschaft als Angestellte eines internationalen Unter-nehmens. Der Büroalltag, dessen Kultur und Mitarbeiter haben mich über die Jahre geprägt und gefördert und sind Teil meines Lebens geworden. So weckte das mir bisher unbekannte Genre der „Büroromane“ schnell meine Neugierde, und der Wunsch entstand, die literarische Darstellung der Bürowelt und das Angestelltendasein in den Mittelpunkt meiner Examensarbeit zu stellen.

Bereits im 19. Jahrhundert wurden Angestellte und Beamte zu Protagonisten in der Literatur; Nikolai Gogols Der Mantel (1842) und Italo Svevos Ein Leben (1892) sind frühe Beispiele dafür. In Schweden spiegelten Elin Wägner in ihrem Debütroman Norrtullsligan (1908) und Ernst L. Ekman in dem Roman Kontor (1939) die Bürowelt wieder, während in der deutsch-sprachigen Literatur u. a. Irmgard Keun in Gilgi – eine von uns (1931) und Martin Kessel in Herrn Brechers Fiasko (1931) literarisch das Angestellten-Leben und ihren Alltag festhielten.

In der Vielzahl geeigneter Primärliteratur entdeckte ich Im Bureau (2011) – eine von Reto Sorg und Lucas Marco Gisi posthum und thematisch gebündelte Sammlung von Texten des deutsch-schweizerischen Autors Robert Walser (1878-1956), die den Büroalltag des frühen 20. Jahrhun-derts in kurzen literarischen Portraits beleuchtet. Obwohl die Geschichten dieser Anthologie[1] vor einhundert Jahren geschrieben wurden, spürte ich eine Verbindung zu meinem eigenen Arbeits-alltag und erkannte Kollegen und Situationen in der fiktiven Welt wieder. Walser war selbst viele Jahre in der Bank und im Versicherungswesen tätig, und so ahnte ich einen unausweichlichen autobiographischen Einfluss in den Texten, was das Werk für mich noch interessanter machte.

Der Fokus meiner Arbeit liegt auf diesen Betrachtungen von Walser, wo das Büroleben, seine Umgebung und die Menschen dieses Milieus beleuchtet werden. Für die Untersuchung wird zudem Sekundärliteratur, die auf den Angestelltenalltag dieser Zeitperiode eingeht, verwendet, wie z. B. die von Siegfried Kracauer (1889-1966) deutsche soziologische Studie Die Angestellten (1929). Durch Gespräche und Interviews mit Unternehmern, Angestellten und Vertretern verschiedener Angestelltenorganisationen beobachtete Kracauer den Alltag der Büroangestellten in Berliner Großbetrieben Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv und präsentierte seine Ergebnisse in einer Studie, die zwar ohne der heutigen Systematik und Methodologie entstanden ist, jedoch zu ihrer Zeit als „einer Leistung 'von hervorragendem wissenschaftlichen Wert'“[2] galt.

Ich hoffe dadurch, das Bewusstsein für das Genre „Büroromane“ zu schärfen und neue, anregende Erkenntnisse über Walsers literarische Darstellungen der Angestelltenwelt gewinnen zu können.

1.1. DER AUTOR UND DAS WERK

Robert Walser wurde am 15. April 1878 in Biel, Kanton Bern, als siebtes von acht Kindern eines gescheiterten Geschäftsmannes und einer mit der Zeit an Depression erkrankten Mutter geboren[3]. Mit 14 Jahren, 1892, begann er eine Lehre als Bankangestellter bei der Kantonalbank Bern und arbeitete ab 1895 über mehrere Jahre als Commis[4],[5], Privatsekretär und Büroangestellter bei Banken und im Verlags- und Versicherungswesen in der Schweiz und in Deutschland. Frühe Versuche Schauspieler zu werden missglückten[6] und stattdessen begann er nebenberuflich sich der Schriftstellerei zu widmen[7]. 1898 fand die erste Veröffentlichung einiger seiner Gedichte im Sonntagsblatt des Bund statt[8], aber erst heute erntet er die ihm zustehende Anerkennung für seine Arbeit und zählt gar als „Klassiker der Moderne“[9]. Walsers Texte bestehen oft aus Passagen, wo Gedankengänge und Eindrücke aneinandergereiht werden, ohne dass sich daraus immer eine Handlung ergibt, was die damalige Zeit und Leser nicht zu verstehen schienen und deshalb wenig Beachtung schenkten. Laut Roger Scharpf war Walser „am weitesten vom geographisch-gesellschaftlich sowie episch geschlossenen Raum der typischen Schweizer-Erzählung des frühen 20. Jahrhunderts“[10] und daher zog er mit Bruder und Illustrator Karl für einige Jahre nach Berlin, um stattdessen dort ihr Glück zu versuchen, kehrte jedoch später in die Schweiz zurück.
1929 wird Robert Walser mit 51 Jahren in die Heilanstalt Waldau (Bern) eingewiesen, nachdem er unter Depressionen und Angstzuständen litt. Vier Jahre später zog er nach Herisau zur Heil- und Pflegeanstalt seines Heimatkantons Appenzell-Außerrhoden. Danach schrieb Walser nichts mehr und blieb in Herisau bis zu seinem Lebensende 1956[11].

Robert Walsers Erzählungen sind fiktiv, beinhalten aber häufig autobiographische Einflüsse. So hat er z. B. seine Kindheit, seinen Vater und seine Geschwister in Werken wie Poetenleben, Das Bild des Vaters, Die Brüder, Mein Berg und Geschwister Tanner literarisch verinnerlicht[12]. Auch seine berufliche Erfahrung diente zur Inspiration und findet sich in den Werken wieder, z. B. erscheinen mehrere Namen seiner fiktiven Angestellte-Figuren auf Mitarbeiterlisten der Zürcher Kantonalbank 1904[13], wo Walser selbst zur gleichen Zeit selbst tätig war[14].

Die folgende Untersuchung fokussiert auf die von Sorg und Gisi posthum und thematisch gebün-delten Texte in der Kleinprosa-Sammlung Im Bureau (2011), die Robert Walser zwischen 1897 und 1932 über das Berufsleben und den Büroalltag verfasste. Die Mehrzahl der Texte erschienen zu Walsers Lebzeiten in Künstlerblättern, Zeitschriften und Zeitungen wie Die Opale, Sonntags-blatt des Bund, Simplicissimus, Neue Zürcher Zeitung, Berliner Tageblatt und Berliner Börsen-Courier. Andere wurden in Büchern oder Sammelbändern, z. T. mit Illustrationen von seinem Bruder Karl Walser, publiziert, zwei der Manuskripte sind aus dem Nachlass, die zum einen 1972 in Gesammelte Werke erschien (Die Verkäuferin) und zum anderen bisher gar unveröffentlicht blieb (Aus dem Leben eines Commis)[15] .

Walser lebte und schrieb die Prosatexte über das Büroleben in einer historisch gesehen sehr intensiven Zeit; die Industrialisierung war im vollen Gange, der erste Weltkrieg fand statt und in Deutschland wurde die Weimarer Republik gegründet, wo 1923 die Hyperinflation ihren Höhepunkt erreichte. Auch in der Berufswelt ergaben sich Veränderungen; Frauen wurden durch eigene Arbeit finanziell unabhängig, Arbeitsplätze und -prozesse wurden fast bis zum Extremen rationalisiert und die Arbeitslosigkeit stieg Ende der 20er Jahre stetig.

1.2. Eingrenzung der Arbeit

Die Texte der Anthologie Im Bureau decken sämtliche der klassischen literarischen Gattungen ab (Lyrik, Epik und Drama) in Form von Gedichten, einem Romanauszug, einer Vielzahl Kleinprosastücke, einer Szene und einem Lebenslauf. Der Einheitlichkeit und somit der präziseren Vergleichbarkeit halber konzentrieren sich die Recherchen in der Primärliteratur ausschließlich auf die Kleinepik, weshalb der Auszug des Romans, der Lebenslauf und die Gattungen Lyrik und Drama bewusst bei der Untersuchung ausgelassen werden.

Bei der Untersuchung entstanden im Laufe der Zeit aufgrund der quantitativen Menge der Kurz-portraits und ihren thematischen Vielfalt eine immer größer werdende Zahl von Untersuchungs-gegenständen, die alle es inhaltlich verdienten, näher und tiefer beleuchtet zu werden. Es wurde deshalb zunehmend notwendig, eine Balance zu finden zwischen Aufgabenstellung, den erwarten-den Umfang der Arbeit, den vorgegebenen Zeitrahmen, die zur Verfügung stehenden zeitlichen Möglichkeiten und den Wunsch, eine aufschlussreiche und ergebnisvolle Untersuchung frist-gerecht abzugeben. Eine Recherche in dem Umfang, die die Materie von sich aus geboten hat, hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt, jedoch wurde darauf geachtet, die für das Ergebnis relevanten Kernthemen zu beleuchten, um stimmige Schlussfolgerungen sicherzustellen.

1.3. Ziel der Untersuchung und Begründung

Das letzte Jahrhundert brachte durch technische Entwicklungen viele Veränderungen für Büro-Angestellte mit sich, sowohl am Arbeitsplatz als auch in Arbeitsprozessen. Schreibmaschinen wurden antiquiert, Handys und Emails maximierten die Kommunikationsgeschwindigkeit und das Internet platzierte augenblicklich die Welt in das eigene Büro. Umso erstaunlicher fand ich es, dass jemand aus diesem progressiven und hochleistungsfähigen Büroalltag des 21. Jahrhunderts, sich in den zeitlich überholten Erzählungen von Walser so schnell wiederfinden konnte.

Auf der Suche nach einer Konstante, die das Gestern und das Heute unmittelbar miteinander ver-bindet, erkannte ich nur ein gemeinsames Element; den Menschen. Das Ziel meiner Arbeit besteht deshalb darin, die fiktiven Angestellte-Figuren von Walser genauer zu studieren; insbesondere ihr Verhalten zu Vorgesetzten, zu Kollegen und letztlich auch ihre Einstellung zum eigenen Beruf. Dadurch möchte ich die Menschen in Walsers Arbeitswelt näher kennenlernen und zugleich prüfen, ob die reale Angestelltenwelt in Kracauers soziologischer Studie Die Angestellten sich in den Texten Walsers niederschlägt und somit die damalige gesellschaftliche Realität widerspiegelt.

1.4. Methode

In einer textimmanenten Studie wird Walsers Kurzgeschichten in Im Bureau individuell betrachtet und darauf geprüft, wie der Angestellte als Figur und Typus von Walser literarisch dargestellt und vermittelt wird. Dabei wird insbesondere auf folgende drei Kriterien geachtet:

- Das vertikale Verhältnis, d. h. ihre Interaktion mit höheren Hierarchiestufen
- Das horizontale Verhältnis, d. h. ihre Interaktion mit Kollegen
- Das interne Verhältnis, d. h. ihre Haltung zu sich selbst und zu der eigenen Berufsrolle

Aufgrund der Einbeziehung von Siegfried Kracauers soziologischer Studie Die Angestellten (1929) wird im Hauptteil zudem laufend untersucht, inwieweit Walsers Figuren in ihrer fiktiven Welt einen realen Bezug zum wirklichen Angestelltendasein haben.

1.5. Gliederung der Arbeit

Die Arbeit ist in drei Abschnitte unterteilt. Auf die eben erfolgte Einleitung mit Hintergrund-informationen zu dem untersuchten Werk und dessen Autor, folgt nun im Hauptteil die Büro-Erzählungen von Robert Walser, die zusammengefasst dargestellt und auf die im ersten Teil angegebenen und zu prüfenden Kriterien analysiert werden. Die Reihenfolge der Texte bleibt mit der Kurzprosa-Sammlung Im Bureau identisch und somit chronologisch. In der abschließenden Auswertung und Schlussteil werden herauskristallisierte Erkenntnisse und Ergebnisse der im Hauptteil erstellten Teilanalysen präsentiert und final zusammengefasst.

2. Robert Walser, Im Bureau – Analyse des Materials

In diesem Abschnitt werden Walsers Texte einzeln und in chronologischer Reihenfolge untersucht und vorgestellt. Zunächst folgt eine kurze, z. T. kommentierte, inhaltliche Zusammenfassung der jeweiligen Erzählung, anschließend findet die Prüfung der Figuren und Typen auf die beschriebe-nen Kriterien statt, welche letztlich in einer Teilanalyse resümiert werden. Aus Gründen der Vergleichbarkeit sind die Gedichte Im Bureau, (1897/98) und Das Krankhafte (1930), den Auszug aus dem Roman Der Gehülfe (1908), die Szene Die Bühne ist ein Büro (ca. 1927) und den aus der Krankenakte handschriftlich erfassten Lebenslauf (1946) nicht Teil der Untersuchung.

2.1. Der Commis (1902)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zusammenfassung Der Commis:

Im ersten Abschnitt, Eine Art Illustration, schlüpft der neutrale Erzähler in die Rolle als Schriftsteller und teilt sein Vorhaben in den nächsten Kapiteln mit, nämlich aus der Welt des Commis zu berichten. Er beschreibt den Commis als „zu alltäglich, zu unschuldig, zu wenig blaß und verdorben, zu wenig interessant, der junge schüchterne Mann“[17]. Der Commis gehört einer der Allgemeinheit bekannte, aber unspektakuläre Berufsgruppe, in welcher der Erzähler bei der Beobachtung jedoch neue und für ihn faszinierende Winkel und Perspektiven findet, die er dem Leser präsentieren möchte.

In Karneval wird die Persönlichkeit eines Commis im Allgemeinen charakterisiert. Er ist ein junger Mann zwischen 18-24 Jahre und „in seiner Kleidung wie in seiner Lebensweise ordentlich.“[18] Ihn zeichnet sowohl Fleiß, Takt und Schreibtalent aus, als auch die Fähigkeit zum schnellen Rollenwechsel, Zuvorkommenheit und ein reines Herz.[19]

In Immer noch Verkleidung steht mehr über den Charakter und das Verwandlungstalent des Commis; er kann mit Kollegen „über Kunst, Literatur, Theater […] mit richtigem Urteil, mit vielem Takt und vieler Besonnenheit […] stundenlang reden[20], aber wenn der Chef kommt, wechselt er die Rolle und „der Commis [wird] wieder er selbst.“[21] Er schlüpft in eine Rolle hinein, wo die eigene Individualität und Persönlichkeit in den Hintergrund gedrängt wird und er nach außen zum demütigen, sanftmütigen und anpassungsfähigen Commis wird. Seine facettenreiche und breit gefächerte Wesensart macht den schnellen Wechsel möglich: „Er kann rebellieren und gehorchen, fluchen und beten, sich winden und trotzen, lügen und die Wahrheit sagen, schmeicheln und aufprotzen.“[22] Dennoch bleibt er in seiner Rolle zurückhaltend und stellt sich z. B. trotz einer guten Bildung lieber als Dummkopf dar, um anderen nicht überlegen zu wirken.[23]
In Gelage wird auf den Arbeitsplatz und die Werkzeuge des Commis eingegangen; der Büroraum ist karg und trocken und seine Werkzeuge, z. B. Rotstift und Zinstabellen, sind wie Waffen, womit der Commis die Arbeit angreift. Die Feder ist „spitz, scharf und grau-sam“[24], und der Commis setzt sie an „wie ein kundiger Jäger. Dann schießt er los“[25]. Der sprach- und rechenbegabte Commis ist im Korrespondieren ein wahrer Schelm[26], aber „seine Werkzeuge sind kleinlich, seine Tätigkeit verschwindet wesentlich vor anderen Tätigkeiten“[27], denn Texte und Zahlen regen weder akustisch noch visuell zu Aufsehen und was in der Stille geschieht, erhält in der Bürowelt keine Anerkennung.

Ein neuer Gesellschafter ist das Portrait eines jungen, aufstrebenden Commis, der neben seiner guten Arbeitsleistung viel Wert auf äußere Erscheinung legt. Sein „Eifer und Fleiß haben noch keinen Schlag von der Tücke der Zeit erlitten“[28] und „[e]r benimmt sich fast zu tadellos“[29]. Vorsichtig und mit Klugheit beteiligt er sich in Gesprächen, hat ausgezeichnete Tischmanieren und sucht die Verbindung zu Hochgestellten, während er Lehrburschen ignoriert. „Das Äußere unseres Mannes entspricht seinem Tun“[30], meint der Erzähler, und „da dieses nicht unwürdig ist […], kann jenes auch nicht unschön sein“[31]. Die Schlussfolgerung, dass ein schönes Äußeres und gute Manieren auf hohe Fachkompetenz und eine gute Arbeitsleistung schließen lässt, ist sicher Zweck und Ziel dieses jungen Mannes, der sich durch seine Inszenierung wohl eine schnelle Karriere erhofft.

In Stumme Minuten berichtet der Erzähler über einen arbeitslosen Commis.[32] Ein stellen-loser oder hungernder Arbeiter ist nicht so schlimm wie ein stellenloser und hungernder Commis, da das Ordentliche, Saubere und fast Herrenhafte am Commis, nur Schein und Glanz ist, was sich in Wirklichkeit auf seine Funktion und die vorgespielte Rolle bezieht, und nicht auf ihn als Person. Ein Commis ohne Stellung ist wie ein Schauspieler ohne Bühne und somit wird die Arbeitslosigkeit der Angestellten zum gesellschaftlichen Absturz.

Dass ein Commis sprachbegabt und ein Schelm in Korrespondieren ist, wurde bereits in Gelage berichtet. Ein Brief zum Besten[33] ist ein praktisches Beispiel davon, geschrieben von einem Commis, der seiner Mutter über seine neu angetretene Stelle berichtet. Positive Formulierungen, die Schwierigkeiten spielend wegwischen, z. B.: „Wofür besitzt man Vergeßlichkeit!“[34], stellen ihn als wunschlos glücklich dar. Es erscheint alles zu gut und man vermutet eine Scheinwelt, wo es hinter der Kulisse ganz anders aussieht.

Das Bild der Kulisse setzt im Kapitel Lebendes Bild fort, wo die Zuschauer ein lebendiges Bild des Büroalltags sehen. „Eine Bühne! Ein kahles, peinlich sauberes Bureau.“[35] beginnt die Geschichte, wo Commis „Bücher auf- und zuschlagen, Federn anprobieren, husten, zischeln, lächeln, leise fluchen, in sich hinein wüten“. Der rohe und gewaltige Chef schnauzt den jungen, blassen und schönen Commis an und das Bild verändert sich. Der Commis wird zum Opfer, der sich weder wehrt noch verteidigt, sondern stattdessen in eine innere Defensive flieht und zum Denker wird, der sich fragt, ob die Welt einen besseren Platz für ihn hat. Währenddessen fällt „der tote, grausame, alles tötende Vorhang. –“[36] Das lebendige Bild ist nicht mehr sichtbar und der offene Gedankenstrich lässt die Gedanken des Denkers und somit auch das Ende offen.

Im Traum berichtet der Erzähler von dem Traum eines Commis: ein Traum von Kameraden, Abenteuer, von Frauen, Romantik und von ewiger Liebe[37] – die Arbeit und die Karriere kommen darin nicht vor.

In Erklärung schließt der Erzähler das Prosastück ab, indem er sagt, die bisherigen Illustra-tionen seien mehr „Laune, Windspiele und Empfindung, als gewissenhafte Zeichnung“[38], weshalb er ein paar ernste Gedanken mitgeben möchte; Commis sind „achtenswerte Leute“[39], „sie tun ihre Arbeit in Ruhe, Zurückgezogenheit und Bescheidenheit“[40], haben ein Gefühl für Freundschaft, Familie und Vaterland“[41]: „Sie stammen […] aus den guten Familien […]“[42], sind „gutmütig und höflich und zugleich freisinnig“[43]. Durch die Aufzäh-lung der positiven Charakterzüge möchte der Erzähler „die vorige etwas übermütige Art, vom Commis zu sprechen“[44] sanftmütig neutralisieren, damit niemand daran Anstoß nimmt und verärgert wird – so wie es sich für einen des Betriebs angepassten Commis gehört.

- Vertikales Verhältnis Der Commis: Das vertikale Verhältnis beleuchtet die Interaktion der Angestellten mit höheren Hierarchiestufen.

Der Commis im Allgemeinen steigt bei der Interaktion mit Vorgesetzten in eine Rolle hinein, wo er seine eigene Persönlichkeit in den Hintergrund drängt, sein wahres Ich verbirgt und dem Chef stets mit Demut und Sanftmut begegnet. Sein Verhalten ist auf Hierarchien ausgerichtet; je höher die Hierarchiestufe, je aufmerksamer und zuvorkommender wird der Commis. Unter Kollegen zeigt er gern eine offenere und zugänglichere Seite, aber wenn der Chef den Raum betritt, wird er wieder zum Untergebenen, konformen und angenehmen Mitarbeiter.

- Horizontales Verhältnis Der Commis: Das horizontale Verhältnis beleuchtet die Interaktion der Angestellten mit Kollegen.
Unter Kollegen zeigt sich der Commis freundschaftlich, unterhaltsam und zugänglich, sucht dabei aber Personen aus, wovon er selbst einen Nutzen hat. „Sagt ein Erfahrener am Tisch einen halben Witz, so lacht er höflich; sagt dagegen ein Lehrbursche einen ganzen Witz, so schweigt er“[45] beschreibt der Erzähler der angeblich freundschaft-lichen Art des Commis. Nur wer dem Commis nützlich sein kann, wird mit Offenheit begegnet, sonstige Mitarbeiter lässt er kalt.
- Internes Verhältnis Der Commis: Das interne Verhältnis prüft die Haltung des Angestellten zu sich selbst und zu der eigenen Berufsrolle.
Der Commis im Allgemeinen legt Wert darauf gesehen zu werden und zu beindrucken, jedoch durch Leistung und guten Eindruck, ohne dabei selbst laut werden zu müssen. Der Commis arbeitet deshalb fleißig und achtet auf sein Äußeres und sein Auftreten, wobei er gleichzeitig vermeiden möchte, überlegen zu wirken. Mangelnde Anerken-nung und Fähigkeit, für sich selbst gerade zu stehen, lässt ihn von Zeit zu Zeit nachdenklich werden und sich und seinen Platz im Leben in Frage zu stellen.

Teilanalyse Der Commis: Zu den Kapitelüberschriften fällt auf, dass über die Hälfte davon sich auf Rollenspiele, optische Darstellungen oder Täuschungen beziehen, als würde in diesen Abschnitten etwas in Szene gesetzt werden: Eine Art Illustration, Karneval, Immer noch Verkleidung, Gelage, Lebendes Bild und Traum. Bereits vor Beginn der Erzählung wird der Eindruck erweckt, dass das Büro eine Art Bühne ist, wo nicht alles so ist, wie es zunächst erscheint, und wo Rollenspiel und Glanz nach außen aufrecht gehalten werden soll, während die eigene Identität überdeckt und verkleidet wird. Die spätere Texten bestä-tigen dieses Motiv: der Commis, der sich den Kollegen gegenüber offen, dem Chef aber gehorsam und untergeben zeigt, der positive Brief an die Familie, der etwas zu verdecken scheint und die Bestätigung vom Erzähler: „Das ist sicher, ein Commis ist äußerst verwandlungsfähig.“[46] Der Angestellte ist ein Schauspieler, der seine eigene Identität in den Hintergrund drängt und auf der Bühne eine Rolle in einer Inszenierung spielt, die nach außen eine Scheinwelt vermittelt und nicht mit der Welt hinter den Kulissen übereinstimmt.

[...]


[1] Anthologie: Eine vom Herausgeber zusammengestellte Sammlung ausgewählter Texte oder Textauszüge in Buchform (Wikipedia, 10.05.2015)

[2] Kracauer 1959, S. XI

[3] Mächler 1992, S. 19 ff.

[4] Commis, auch Kommis: Handlungsgehilfe (Duden Online 2015), Büroangestellter, kfm. Angestellter

[5] Walser 2013, S. 127 ff.

[6] Mächler 1992, S. 39 und S. 268.

[7] Walser 2013, S. 127.

[8] Mächler 1992, S. 268.

[9] Scharpf, 1999, S. 281.

[10] Scharpf 1999, S. 281 ff.

[11] Mächler 1992, S. 273 ff.

[12] Mächler 1992, S. 20 ff.

[13] Echte (1/1994), S. 50 ff.

[14] Hamm 1980, S. 312.

[15] Walser 2013, S. 143 ff.

[16] Walser 2013, Der Commis, S. 10-25, fortan abgekürzt DC

[17] DC, S. 10.

[18] DC, S. 11.

[19] DC, S. 11 ff.

[20] DC, S. 13.

[21] DC, S. 13.

[22] DC, S. 13.

[23] DC, S. 12 ff.

[24] DC, S. 14.

[25] DC, S. 14.

[26] DC, S. 14.

[27] DC, S. 15.

[28] DC, S. 16.

[29] DC, S. 16.

[30] DC, S. 17.

[31] DC, S. 17.

[32] DC, S. 17 ff.

[33] DC, S. 19 ff.

[34] DC, S. 19.

[35] DC, S. 21.

[36] DC, S. 22.

[37] DC, S. 22 ff.

[38] DC, S. 24.

[39] DC, S. 24.

[40] DC, S. 24.

[41] DC, S. 24.

[42] DC, S. 25.

[43] DC, S. 25.

[44] DC, S. 25.

[45] DC, S. 17.

[46] DC, S. 13.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Die Arbeitswelt von Robert Walsers Angestellten in der Anthologie "Im Bureau"
Untertitel
Literarische Darstellung der Angestelltenwelt Anfang des 20. Jahrhunderts
Hochschule
Högskolan Dalarna  (Dalarna University Sweden)
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
46
Katalognummer
V304487
ISBN (eBook)
9783668026704
ISBN (Buch)
9783668026711
Dateigröße
691 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Literaturwissenschaftlicher Aufsatz im Fach "Deutsch" (deutsche Sprache Literatur und Kultur, deutsch als Zweitsprache)
Schlagworte
Walser, Büroroman, Angestellteroman, Büro, Beruf, Angestellte, Hierarchie, Kollegen, Kracauer, Alltag, Arbeit, Job, Firmenkultur, Geld verdienen, Gehalt, Dienst, Commis, Helbling, Sekretär, Sekretärin, Büebli, Poet, Entwicklung, Arbeitsleben
Arbeit zitieren
Angelika Schedewie (Autor:in), 2015, Die Arbeitswelt von Robert Walsers Angestellten in der Anthologie "Im Bureau", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/304487

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