Wie grimmig ist Disney? Ein Vergleich zwischen Disney Filmen und ihren grimmschen Originalvorlagen


Bachelorarbeit, 2015

58 Seiten, Note: 1,85

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Märchen
2.1 Zum Begriff Märchen
2.2 Volksmärchen

3 Die Brüder Grimm

4 Walt Disney und die Disney Company

5 Märchen und Film – Wort und Bild

6 Das „Classic Disney Modell“
6.1 Disneyfizierung von Schneewittchen
6.2 Disneyfizierung von Dornröschen

7 Stilmerkmale des Märchens nach Lüthi
7.1 Die Eindimensionalität
7.2 Die Flächenhaftigkeit
7.3 Der abstrakte Stil
7.4 Isolation und Allverbundenheit
7.5 Sublimation und Welthaltigkeit

8 Einhaltung der Stilmerkmale des Märchens nach Lüthi
8.1 Schneewittchen (und die sieben Zwerge)
8.1.1 Eindimensionalität
8.1.2 Flächenhaftigkeit
8.1.3 Abstrakter Stil
8.1.4 Isolation und Allverbundenheit
8.1.5 Sublimation und Welthaltigkeit
8.2 Dornröschen
8.2.1 Eindimensionalität
8.2.2 Flächenhaftigkeit
8.2.3 Abstrakter Stil
8.2.4 Isolation und Allverbundenheit
8.2.5 Sublimation und Welthaltigkeit

9 Resümee

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„In der möglichen Konstruktion einer unmöglichen Welt liegt gleichsam das grundlegende Gemeinsame von Märchen und Film.“[1]

(Fabienne Liptay)

Es ist eine rührende Geschichte, die am 4. Juni 2015 von der englischen Zeitschrift „Sunderland Echo“ veröffentlicht wurde.[2] Eine zweifache Mutter ist an einer äußerst seltenen Krebsform erkrankt. Ihr letzter Wunsch: mit ihren Kindern nach Disneyland fahren. Sie möchte ihnen noch so viele schöne Momente wie möglich bereiten. Kein anderer Ort eignet sich dafür besser als das Disneyland. Unzählige Attraktionen, fantasievolle Gärten und lebendige Märchencharaktere begeistern Groß und Klein und entführen sie in eine Welt ohne Kummer und Sorgen. Was sonst nur auf der großen Kinoleinwand oder dem Bildschirm zu Hause existiert, wird im Disneyland Wirklichkeit. Seit nun mehr als 80 Jahren begeistert Disney mit seinen Filmen Kinder und Erwachsene. Aus einer kleinen Zeichentrick Maus entwickelte sich ein gigantisches Unterhaltungsimperium. Jedes Mal aufs Neue stürmen die Zuschauer scharenweise in die Kinos. Jeder Film ist ein erfolgreiches und liebevolles Meisterwerk, das den Zuschauer in seinen Bann zieht – u. a. auch die Autorin dieser Arbeit. Ein Großteil der Produktionen sind Adaptionen von Märchen. Diese literarische Gattungsart wurde vor allem durch die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm geprägt. Als diese begannen Märchen zu sammeln um sie in einem Buch festzuhalten, ahnten sie mit Sicherheit nicht, welchen Bekanntheitsgrad ihr Werk „Die Kinder- und Hausmärchen“ mal erreichen würde. Die meisten deutschen Kinder und auch viele ihrer englischen Altersgenossen machten anhand ihrer Werke erste Lektüreerfahrungen.[3] Aus mündlichen Überlieferungen entstanden zunächst verschriftliche Sammelbände, deren Inhalte heute in zahlreichen Verfilmungen wiederzufinden sind.

Die vorliegende Arbeit behandelt die Frage wie viel von den grimmschen Märchen in den Märchenadaptionen Disneys wiederzufinden ist. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf der Analyse der Stilmerkmale eines Märchens nach Max Lüthi. Durch den Vergleich einzelner Texte im hermeneutischen Verfahren hat der Schweizer Literaturforscher versucht einen Idealtypus des Märchens herauszuarbeiten. Seine Untersuchungen veröffentlichte er 1947 in seinem Buch „Das europäische Volksmärchen“. Welche Stilmerkmale Lüthis in den Volksmärchen der Brüder Grimm und in den Märchenverfilmungen Disneys vorkommen, wird in dieser Arbeit untersucht. Inwieweit haben Disneys Werte und Vorstellungen die Inhalte der Grimm Märchen verändert? Um dieser Frage nachgehen zu können, muss zunächst erläutert werden welche Weltanschauung der Disney-Konzern hat.

Die folgende Untersuchung wird anhand der Disney Filme „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1937) und „Dornröschen“ (1959) durchgeführt. Nicht alle Märchenadaptionen Disneys basieren auf einer Vorlage der Brüder Grimm. Aus dem Grund wurden diese zwei Filme ausgewählt, weil sie direkte Adaptionen der Grimm Märchen „Schneewittchen“ und Dornröschen“ sind. Der Vergleich basiert auf der Grimm Version in der letzten herausgegebenen Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ aus dem Jahr 1857. Die Ausgabe letzter Hand beinhaltet die vollständig überarbeitete Version der Märchen, die weltweit bekannt ist und auf die auch die Adaptionen Disneys basieren. Die Untersuchung konzentriert sich nur auf die wichtigsten und prägnantesten Elemente, da eine Analyse jedes Details den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.

Zunächst wird der Begriff „Märchen“ definiert, da die folgenden Untersuchungen auf dieser literarischen Gattung basieren. Was versteht man im Allgemeinen unter einem Märchen und was zeichnet es aus?

Die zwei darauffolgenden Kapitel beschäftigen sich mit dem Leben der Brüder Grimm und dem Walt Disneys. Wie kamen die Grimms überhaupt dazu Märchen zu sammeln und wie konnte aus einer kleinen Zeichentrick Maus so ein riesiger Konzern entstehen?

Danach wird die Problematik der Verfilmung von Märchen aufgegriffen. Das Märchen zeichnet sich durch ein hohes Maß an Bildhaftigkeit aus. Trotzdem ist eine Visualisierung schwierig. Kritiker unterstellen dem Märchenfilm, dass er dem Zuschauer keinen Interpretationsraum lässt und die eigene Vorstellungskraft verdrängt.

Das sechste Kapitel beschreibt die Merkmale der Disney Filme und das sogenannte „Classic Disney Modell“. Was zeichnet einen Disney Film aus? Welche Motive kehren immer wieder und auf was legt Disney besonderen Wert?

Das darauffolgende Kapitel greift die Forschungsergebnisse von Max Lüthi auf und stellt seine untersuchten Stilmerkmale des Idealtyps eines Volksmärchens dar.

Das letzte Kapitel untersucht die Stilmerkmale Lüthis in den Märchen der Brüder Grimm und in den Disney Filmen. Welche Merkmale werden eingehalten oder können gar nicht eingehalten werden?

Im abschließenden Resümee fasse ich meine Untersuchungsergebnisse zusammen.

2 Märchen

Da die vorliegende Arbeit Bezug auf die literarische Gattung Märchen nimmt, wird versucht der Frage nachzugehen, was unter dem Begriff „Märchen“ verstanden werden kann. Damit soll eine Grundlage für weitere Diskussionen geschaffen werden.

2.1 Zum Begriff Märchen

Das Wort „Märchen“ ist eine Verkleinerungsform des mittelhochdeutschen Wortes „maere“, das „Nachricht“, „Kunde“, „Bericht“, „Erzählung“ oder „Gerücht“ bedeutet. Im Mittelalter hat sich schließlich die Übersetzung „Erzählung“ durchgesetzt.[4] Die Bedeutung des Begriffs musste sich im Laufe der Zeit (13.-16. Jahrhundert) einer Verschlechterung unterziehen. Mit dem Märchen wurde etwas Negatives assoziiert, da erfundene, unwahre Geschichten mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Es entstanden Begriffe wie „lügemaere“ und „tandmaere“, die bis in die heutige Zeit unserem Sprachgebrauch erhalten geblieben sind. Zu nennen sind hier der Begriff „Lügenmärchen“ und die Äußerung „Erzähl mir keine Märchen!“. Im 18. Jahrhundert. setzte eine Gegenbewegung ein. Französische Feenmärchen und Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ entstanden und Herder sowie andere Vertreter des Sturm und Drang schafften literarische Werke. Im 19. Jahrhundert wurden die ersten Märchensammlungen von Ludwig Brechstein und den Brüdern Grimm veröffentlicht. Diese literarischen Texte trugen erheblich zu einem Bedeutungswandel des Märchens bei.[5]

Im Deutschen steht das mitteldeutsche Wort „Märchen“ heute für eine bestimmte wertungsfreie Erzählgattung und grenzt sich deutlich von anderen Gattungen wie der Sage, Novelle, Fabel und Legende ab. In anderen Sprachen bleibt der Begriff problematisch, da ihm eine allgemeinere Bedeutung zugeschrieben wird (z.B.: engl. tale, franz. conte), er auch für benachbarte Gattungen gilt (z.B.: engl. folktale, franz. légende) oder er nur einen Teil des Machtguts bezeichnet (z.B.: engl. fairy tale, franz. conte de fées).[6] Aus diesem Grund hat sich auch bei ausländischen Forschern der Begriff „Märchen“ durchgesetzt. Die Märchendefinition des amerikanischen Professors Stith Thompson liefert ein Beispiel: „A Märchen is a tale of some length involving a succession of motifs or episodes.”[7]

Zwar sind wir von Kindheit auf an mit dem Märchen vertraut, doch eine spontane Definition des Begriffs ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint. Viele Wissenschaftler und Spezialisten haben sich an einer eindeutigen Definition versucht, jedoch lässt sich an jeder etwas aussetzen oder etwas Entscheidendes wird gar nicht erst aufgeführt.[8] Als wichtigste Charakteristika des Märchens werden häufig die Ausdrücke „Zauber, Wunder [und] Übernatürliches“[9] genannt. Der Definitionsversuch von Bolte und Polívka liefert beispielsweise keine Information über die Bauart des Märchens:

„Unter einem Märchen verstehen wir seit Herder und den Brüdern Grimm eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte, die hoch und niedrig mit Vergnügen anhören, auch wenn sie diese unglaublich finden.“[10]

Kurt Ranke nimmt ebenfalls Bezug auf den Zauber, definiert jedoch sehr abstrakt: „Eine von den Bedingungen der Wirklichkeitswelt in ihren Kategorien Zeit, Raum und Kausalität unabhängige Erzählung wunderbaren Inhalts, die keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit hat.“[11] Karlinger betont, dass eine Beschränkung auf das Wunderbare und Zauberhafte im Märchen zu einseitig und unvollständig sei.[12] Als gelungener erachtet er Lüthis Definition, die Auskunft über Funktion und Wesen der Gattung gibt: „Das Märchen ist eine welthaltige Abenteuererzählung von raffender, sublimierender Stilgestalt.“[13] Auch hier muss angemerkt werden, dass diese Definition zu einseitig ist und nicht alle Charakteristika eines Märchens umfasst.

Die eben angeführten Begriffsbestimmungen verdeutlichen die Problematik einer einheitlichen Märchen-Definition. Lüthi erklärt, dass ein Prototyp fehlt, der formale und inhaltliche Kriterien festsetzt.[14] Wenn von einem Grundtyp des Märchens ausgegangen wird, dann muss dieser laut Lüthi „als Idealtyp aufgefasst werden; die einzelnen Erzählungen umkreisen ihn, nähern sich ihm, ohne ihn je ganz zu erreichen.“[15]

2.2 Volksmärchen

Es gibt zwei Hauptformen des Märchens. Die Volks- und Kunstmärchen. Allerdings bezieht sich die Bezeichnung „Märchen“ heute nur noch auf die Volksmärchen, die aufgrund ihrer Popularität auch als „eigentliche Märchen“ bezeichnet werden.

Volksmärchen haben sich durch mündliche Überlieferung bewahrt. Sie sind anonymer Herkunft ohne feste Textgestalt. Folgende Aussage Lüthis stützt diese These: „Der Archetypus der Volkserzählung ist nämlich nicht ein Text und kann nie ein Text sein, was durch die mündliche Tradition des Märchens bedingt wird. Er ist Stoff, der sich als Sinnzusammenhang bietet.“[16] Es ist wichtig, wo und wie das Volksmärchen erzählt wird und wer seine Zuhörer sind, hebt Karlinger hervor. Die Erzählung kann der Situation angepasst werden, ist jedoch nicht rekonstruierbar. Unterschiedliche Erzählversionen eines Volksmärchens entstehen, weil die eigene Intention des Erzählers eine große Rolle spielt. Mimik und Gestik bestimmen die Erzählung und erzeugen bestimmte Reaktionen und Stimmungen bei den Zuhörern. Eine gedruckte Fassung kennt keine erlebte Erzählsituation.[17] Karlinger betont: „Die Erzählsituation steht […] in gewissem Umfang vor und über dem Text.“[18]

Das Volksmärchen zeichnet sich durch einen schellen Handlungsablauf ohne große Ausschweifungen aus. Figuren und Requisiten werden nur knapp benannt. Selten wird ein Einblick in die Gefühlswelt der handelnden Personen geboten. Angaben zu Ort und Zeit gibt es nicht.[19] Weitere Gattungsmerkmale sind eine „meist einsträngig geführte Handlung“[20] und „die Vorliebe […] für alles klar ausgeprägte […] Extreme und Kontraste“[21]. Im Mittelpunkt steht der Kampf zwischen Gut und Böse, wobei das Gute letztendlich immer siegt. Am Anfang stehen Mängel, Notlagen, Aufgaben, Bedürfnisse oder andere Schwierigkeiten, die bewältigt werden müssen. Die Handlung ist leicht nachvollziehbar und wird oft in einem Zweierrhythmus (nach einem Erfolg geraten die Figuren in eine neue Notlage) oder Dreierrhythmus (z. B. drei Brüder) dargestellt. Reale und irreale Situationen treffen aufeinander. Das Märchen unterscheidet nicht zwischen Wirklichkeit und Fantastik. Die Hauptfiguren befinden sich im Diesseits und werden als Held oder Heldin bezeichnet. Antagonisten, Helfer- oder Jenseitsfiguren stehen immer im Zusammenhang mit dem Helden und können in Tiergestalt auftreten. Eingeleitet wird das Märchen durch eine Eingangsformel (z. B. „Es war einmal…“), beendet durch eine Schlussformel (z. B. „Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.“).[22]

Im Gegensatz zu den Volksmärchen werden die Kunstmärchen immer mit namentlich bekannten Autoren (z. B. Hans Christian Andersen oder Wilhelm Hauff) in Verbindung gebracht. Sie gehören der Individualliteratur an und sind bewusste Schöpfungen, die schriftlich festgehalten und früher durch Auswendiglernen überliefert wurden.[23]

Jacob und Wilhelm Grimm waren es, die die literarische Gattung Märchen prägten. Das nächste Kapitel gibt einen kurzen Überblick über ihr Leben und schildert, wie sie die Märchen für sich entdeckten.

3 Die Brüder Grimm

Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) wurden in Hanau geboren und wuchsen in bäuerlichen und kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Ihre Jugend verbrachten sie zusammen mit ihren vier jüngeren Geschwistern, ihrer Mutter Dorothea und ihrem Vater Philipp Wilhelm in Steinau. Als Jacob zwölf und Wilhelm elf Jahre alt war, starb ihr Vater. Die Familie hatte danach mit finanziellen Problemen zu kämpfen.

Bildung spielte in der Familie Grimm immer eine große Rolle. Nach ihrem Abitur in Kassel studierten Jacob und Wilhelm Jura an der Marburger Universität. Der Einfluss ihres Professors Friedrich Carl von Savigny war prägend für die Brüder. Er stellte ihnen wichtige gesellschaftliche Kontakte her und weckte in ihnen das Interesse an Traditionen, Sprachen und Bräuchen der alten Zeit. Außerdem gewährte er ihnen Zugang zu seiner Privatbibliothek. Dort hatten die Brüder „ihr entscheidendes erstes Erlebnis mit dem Geist der Romantik.“[24] Unter anderem fanden sie dort mittelalterliche Manuskripte[25] und Minnesänge[26]. Savigny war mit einer Schwester des Dichters Clemens Brentano verlobt. Durch diese Verbindung lernten später auch die Brüder Grimm Brentano persönlich kennen.[27]

Im Januar 1805 erhielt Jacob Grimm von Savigny eine Einladung nach Paris. Er sollte ihm an der Universität als wissenschaftlicher Helfer zur Seite stehen. Jacobs Interesse an eigenen Literaturstudien wurde immer größer und auch Wilhelms Interesse wuchs. Bereits im Herbst 1805 beendete Jacob die Arbeit für Savigny und kehrte nach Kassel zurück.[28] Ein entscheidender Grund dafür war auch der Trennungsschmerz zu seinem Bruder. Wilhelm schloss sein Jurastudium in Marburg erfolgreich ab, während Jacob sich immer mehr auf die Literatur und Philologie konzentrierte.

Die Romantiker Brentano und Achim von Arnim strebten einen zweiten und dritten Band ihrer Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ an. In Kassel trafen sie die Brüder Grimm und beauftragten sie 1807 Märchen zu sammeln und aus mündlicher Überlieferung aufzuschreiben.[29] Im Oktober 1810 bekam Brentano die Originalmanuskripte der Brüder Grimm zugeschickt. Da die Brüder befürchteten, diese nie wieder zu bekommen – was dann auch so war – fertigten sie Abschriften an. Sie ermöglichten ihnen das Erstellen einer eigenen Märchensammlung. Gerstner betont:

Im Gegensatz zu ihren Dichterfreunden wollten Jacob und Wilhelm nicht eigene dichterische Werke aus der Überlieferung her gestalten; vielmehr ging es ihnen darum, das, was das Volk sich erzählte, so echt und schlicht wie möglich zu bewahren.“[30]

In der Forschung wird angenommen, dass Jacob und Wilhelm ihre Abschriften später selbst vernichteten.[31] Die Originalmanuskripte sind als einzige erhalten geblieben und wurden per Zufall in der Bibliothek des Trappistenklosters in Ölenberg im Elsass gefunden.[32]

Ihr Freund Achim von Arnim vermittelte den Brüdern den Verleger Georg Andreas Reimer. Die ersten Exemplare des ersten Bandes der „Kinder- und Hausmärchen“ folgten im Dezember 1812.[33]

Entgegengesetzt den Vorstellungen sind die Brüder Grimm nicht durchs Land gezogen und haben die Märchen ganz zufällig überliefert bekommen. Vor allem junge unverheiratete Frauen aus dem Bürgertum gingen selbst zu Jacob und Wilhelm um ihnen ihre Märchen zu erzählen oder schickten den Brüdern Texte zu.[34] Die hessische Bäuerin Dorothea Viehmann trug entscheidend zu der grimmschen Märchensammlung bei. Sie entstammte einer hugenottischen Familie und hatte in ihrem Gedächtnis über 40 Märchen, die sie exakt wiedergeben konnte.[35] Zum großen Teil waren es französische Märchen, die aber deutliche Einflüsse der Geschichten von Charles Perrault (1628-1703) aufwiesen.[36] Viehmann ist „die einzige Person, die die Grimms in ihren eigentlichen Märchenbänden je öffentlich nennen.“[37] Auch Dortchen Wild, aus einer Apothekerfamilie, beeinflusste die Grimms stark. 1825 heiratete sie Wilhelm.[38] Der größte Teil der Märchenerzähler war weiblich. Es gab jedoch auch einige männliche Gewährsleute, die Einfluss auf die Grimms nahmen. An dieser Stelle ist u. a. Wachmeister Krause zu nennen.

Zwischen 1812 und 1857 veröffentlichten Jacob und Wilhelm insgesamt sieben Auflagen ihrer Märchensammlung. Die Kinder- und Hausmärchen sind von ihnen gesammelt, aufgeschrieben und somit auch stark beeinflusst worden. Vor allem Wilhelm war bestrebt die festgehaltenen Märchen zu überarbeiten und zu verbessern. Zeitgenössische Wertvorstellungen beeinflussten ihn in diesem Zusammenhang stark. Er passte die Märchen den Idealen und Werten der Zeit der Romantik und des Biedermeier an. Die Themen Ordnung, Fleiß, Bescheidenheit, Häuslichkeit und Reinlichkeit stellte Wilhelm in den Vordergrund. 45 Jahre verbrachte er mit der Überarbeitung bis zur „Ausgabe letzter Hand“ von 1857. Er nahm stilistische und ideologische Veränderungen vor. Er fügte Redewendungen hinzu, ersetzte indirekte durch direkte Rede, schmückte Passagen aus und fügte neue hinzu. Die Märchen wurden größtenteils um – aber auch neu geschrieben. Mit seinen Überarbeitungen gab Wilhelm den Märchen einen bestimmten Ton und Stil. „Diese Stilform hat die Grimmschen Märchen literaturfähig gemacht, so daß [sic!] wir heute geradezu von einem Grimmschen Märchenstil reden können“[39] , hebt Schoof hervor.

Walt Disney verarbeitete in seinem ersten abenderfüllenden Zeichentrickfilm das Märchen „Schneewittchen“ der Brüder Grimm. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit seinem Leben und der Entstehung der Walt Disney Company.

4 Walt Disney und die Disney Company

Mit dem bürgerlichen Namen Walter Elias Disney wurde „Walt Disney“ am 5. Dezember 1901 in Chicago (USA) geboren. Sein Vater Elias war irisch-kanadischer, seine Mutter Flora deutsch-amerikanischer Abstammung. Walt hatte noch drei ältere Brüder Herbert, Raymond und Roy, sowie eine jüngere Schwester namens Ruth. Zu Roy hatte er die engste Beziehung, da er ihm auch altersmäßig am nächsten stand. Aus finanziellen Gründen musste die Familie oft umziehen. In Marceline (Missouri), wo die Eltern eine Obstplantage züchteten, zeigten sich zum ersten Mal Walts Zeichenkünste. Von seiner Tante Maggie bekam er einen Zeichenblock geschenkt. Auf ihm kopierte Walt Karikaturen aus Zeitungen und verkaufte seine erste Zeichnung an einen Landarzt für fünf Cent.[40]

Nach einem erneuten Umzug nach Kansas City begann für Walt im Alter von neun Jahren eine harte Zeit. Roy und er arbeiteten als Zeitungsjungen um die Familie finanziell zu unterstützen. Ihre Schicht begann morgens um halb vier. Freizeit blieb ihnen kaum. Von seinem verdienten Geld durfte Walt nichts behalten, weswegen er sich heimlich immer wieder neue Nebenjobs suchte. Da er sich weiterhin für das Zeichnen begeisterte, schrieb er sich 1916 für Kunstkurse am „Cansas City Art Institute“ ein. Unter dem Namen „The Two Walts“ begann Walt ab 1914 gemeinsam mit seinem Schulkameraden Walt Pfeifer gelegentlich als Amateurkabarettist aufzutreten.[41]

Im Herbst 1918 scheiterte sein Versuch sich beim Militär anzumelden, da er mit 16 Jahren noch zu jung dafür war. Ersatzweise ging er zum amerikanischen Roten Kreuz und wurde dann auch nach Frankreich versetzt. Die High School schloss er 1919 ab und arbeitete in Kansas als Zeichner in einem Werbestudio. Dort lernte er den Zeichner Ub Iwerks kennen. Mit ihm produzierte er seinen ersten Zeichentrickfilm, einen Werbekurzfilm. Mit seinem Bruder Roy machte sich Walt später selbstständig. Iwerks stellte er als Art-Director ein. Zusammen erstellten sie kommerzielle Kurzcartoons, die „Laugh-O-Grams“ und später auch eine siebenteilige Märchenreihe.[42] Der Erfolg blieb jedoch aus und die Produktion musste aus finanziellen Gründen eingestellt werden. 1912 ging Walt nach Hollywood um dort weitere Studien zu unternehmen.[43]

Früh erkannte er, dass den Tieren in Zeichentrickfilmen menschliche Züge fehlten. Er wollte sie so menschlich wie möglich darstellen, damit sich das Publikum mit ihnen identifizieren kann. Bei Investoren stieß seine Idee allerdings auf Ablehnung. Nach langem Suchen konnte Walt schließlich einen Geldgeber in Kalifornien von seiner Idee überzeugen. Die erste Disney-Produktion „Oswald der lustige Hase“ feierte schon bald einen großen Erfolg. Walt schütze den Film allerdings nicht durch Kopierrechte und somit ging ein großer Teil des Geldes verloren. Das Geld reichte aber für die Gründung der „Disney Company“ zusammen mit Roy. Am 16. Oktober 1923 unterschrieben sie ihren ersten Vertrag. Die Firma vergrößerte sich ab diesem Zeitpunkt stetig.[44] 1925 heiratete Walt Lillian Bounds, die in seiner Firma als Zeichnerin arbeitete. Sie bekamen zwei Töchter: Diane Marie und Sharon Mae.[45]

Als Walt eines Tages im Zug nach Hollywood saß, kam ihm die Idee der Maus. Ursprünglich hatte er für sie den Namen „Mortimer Mouse“ angedacht. Der Vorschlag seiner Frau, „Mickey Mouse“, gefiel ihm aber besser. Walt versuchte sich an Zeichnungen Mickeys übergab dann aber die Arbeit an Iwerks. Das war der Beginn einer langen und erfolgreichen Karriere. Mit dem dritten Mickey-Mouse Film „Steamboat Willie“ im Jahre 1928 brach Walt eine neue Ära des Zeichentrickfilms an, denn der Film war mit Ton unterlegt. Schon bald darauf folgten Mickeys Gefährten Donald Duck, Pluto und Goofy.[46]

Der Erfolg des Mickey-Mouse Films ermöglichte Walt sich einen alten Traum zu verwirklichen. Endlich konnte einen ersten abendfüllenden Zeichentrickfilm mit „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ auf die Kinoleinwand bringen. Als erster Zeichentrickfilm überhaupt wurde er 1937 mit einem Oscar ausgezeichnet. In den 1940 Jahren folgten die Klassiker „Pinocchio“, „Bambi“ und „Fantasia“.[47]

Walt zeichnete nach eigenen Angaben nach 1926 an keinem Film mehr mit. Auch die bekannte Disney-Unterschrift gleicht nicht seiner echten. Sie wurde ebenfalls von einem Zeichner entwickelt.[48]

Im März 1934 kehrten nach einem langen Streik viele gute Zeichner Walt den Rücken zu. Sie kritisierten u. a. die unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Wirtschaftlich befand sich das Unternehmen danach auf keinem guten Stand. Mehrere Musikfilme sowie Mischfilme aus Trick- und Realfilm folgten. Der große Erfolg blieb zwar aus, aber nach einiger Zeit hatte das Unternehmen dadurch wieder die finanziellen Mittel um einen weiteren abendfüllenden Zeichentrickfilm zu produzieren. So entstand 1950 der Disney Klassiker „Cinderella“.[49]

Walt entdeckte bald danach das Fernsehen für sich und moderierte seine eigene Fernsehshow. Dadurch war er überall als der „Märchenonkel“ bekannt.[50]

Parallel dazu konzentrierte er sich auf sein großes Bauwerk. „Disneyland“ und später „Disney World“ sollten entstehen. Walt steckte sein ganzes Herzblut in die Umsetzung des Freizeitparks und zog sich aus den Filmen immer mehr zurück.[51]

1966 war „Das Dschungelbuch“ der letzte Film, an dem Walt noch persönlich mitwirkte. Im selben Jahr starb er am 15. Dezember an Lungenkrebs.[52]

Sein Bruder Roy erfüllte Walts letzten Wunsch und stellte „Disney World“ fertigt. Im Oktober 1971 fand die Eröffnung zum geplanten Zeitpunkt statt.[53]

Von dem Namen, den sich Walt Disney zu seinen Lebzeiten gemacht hat, profitiert die Walt Disney Company noch heute. Das Publikum hat bestimmte Erwartungen an die Filme. Bis heute konnten diese immer erfüllt werden. Disney ist etwas Einzigartiges, das so schnell nicht in Vergessenheit geraten wird.

Was die Produktionen Disneys so besonders machen wird im 6. Kapitel erläutert.

Da der Fokus dieser Arbeit auf dem Vergleich zweier unterschiedlicher Medienarten liegt, beschäftigt sich das folgende Kapitel mit der Problematik der Verfilmung eines Märchens.

[...]


[1] Liptay, Fabienne (2004): WunderWelten, Märchen im Film, Remscheid, S. 111

[2] Vgl. Sunderland Echo (Hrsg.): Disney Dream of Sunderland mum who has cancer which effects one in five million. 04.06.2015, In: http://www.sunderlandecho.com/news/health/disney-dream-of-sunderland-mum-who-has-cancer-which-affects-one-in-five-million-1-7292713 (Zugriff am 11.06.2015)

[3] Budde, Gunilla-Friederike (1994): Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840-1914, Göttingen, S. 128

[4] Vgl. Panzer, Friedrich (1926): Märchen. In: Deutsche Volkskunde, Leipzig, http://www.maerchenlexikon.de/texte/archiv/panzer01.htm (Zugriff am 19.05.2015)

[5] Vgl. Lüthi, Max (1990): Märchen. 8., durchgesehene Auflage, Stuttgart, S. 1

[6] Vgl. Lüthi (1990): S. 1 f.

[7] Thompson, Stith (1977): The Folktale. University of California Press, Berkeley Los Angeles London, S. 8 [Hervorh. d. Verf.]

[8] Vgl. Hetmann, Frederik (1999): Märchen und Märchendeutung. erleben & verstehen, Klein Königsförde, S. 13

[9] Lüthi (1990): S. 2

[10] Bolte, Johannes / Polívka, Georg (1930): Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Bd. 4., Leipzig, S. 4

[11] Hetmann (1999): S. 15

[12] Vgl. Karlinger, Felix (1988): Geschichte des Märchens im deutschen Sprachraum. 2., erweiterte Auflage, Darmstadt, S. 2

[13] Lüthi, Max (1978): Das europäische Volksmärchen. 6., durchgesehene Auflage, Stuttgart, S. 77

[14] Vgl. Karlinger (1988): S. 1

[15] Lüthi (1990): S. 25

[16] Ebd.

[17] Vgl. Karlinger (1988): S. 2 f.

[18] Ebd., S. 3

[19] Vgl. Lüthi (1990): S. 29

[20] Lüthi (1990): S. 29

[21] Ebd.

[22] Vgl. Lüthi (1990): S. 25 ff.

[23] Vgl. Ebd., S. 5

[24] Gerstner, Herrmann (1973): Brüder Grimm. Reinbeck bei Hamburg, S. 12 f.

[25] Vgl. Kamenetsky, Christa (1992): The Brothers Grimm and their Critics: Folktales and the Quest for Meaning. Athen, S. 9 ff.

[26] Vgl. Gerstner (1973): S. 13

[27] Vgl. Ebd.

[28] Vgl. Ebd., S. 16 f.

[29] Vgl. Ebd., S. 18

[30] Gerstner (1973): S. 38

[31] Vgl. Rölleke, Heinz (1985): Wo das Wünschen noch geholfen hat. Gesammelte Aufsätze zu den „KHM“ der Brüder Grimm, Bonn, S. 75

[32] Vgl. Rölleke, Heinz (1974): Die Urfassung der Grimmschen Märchensammlung von 1810. Eine Rekonstruktion ihres tatsächlichen Bestandes, In: Rainer Gruenter / Arthur Henkel (Hrsg.): Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, 68. Bd., Heidelberg, S. 332

[33] Vgl. Röllecke (1985a): S. 75

[34] Vgl. Röllecke, Heinz (1985b): Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung, München, S. 72

[35] Vgl. Belemann, Claudia (2015): Die Brüder Grimm. 07.01.2015, In: http://www.planet-wissen.de/kultur_medien/literatur/maerchen/portraet_brueder_grimm.jsp (Zugriff am 01.05.2015)

[36] Vgl. Hagen, Rolf (1955): Perraults Märchen und die Brüder Grimm. In: Peuckert / Stammler (Hrsg.), o. O., S. 392 ff.

[37] Weishaupt, Jürgen (1985): Die Märchenbrüder. Jacob und Wilhelm – ihr Leben und Wirken, Kassel, S. 58

[38] Vgl. Gerstner (1973): S. 39

[39] Schoof, Wilhelm (1955): Stilentwicklung der Grimmschen Märchen. In: Will-Erich Peuckert / Wolfgang Stammler (Hrsg.): Zeitschrift für deutsche Philologie. 74. Bd., München, S. 428

[40] Vgl. Reitberger, Reinhold (1979): Walt Disney. Reinbeck bei Hamburg, S. 14 ff.

[41] Vgl. Ebd., S. 18 f.

[42] Vgl. Ebd., S. 22 ff.

[43] Vgl. Ebd., S. 23 ff.

[44] Vgl. Reitberger (1979): S. 34 ff.

[45] Vgl. Ebd., S. 36 ff.

[46] Vgl. Finch, Christopher (2011): The Art of Walt Disney: From Mickey Mouse to the Magic Kingdoms and Beyond. New York, S. 37

[47] Vgl. Reitberger (1979): S. 67 ff.

[48] Vgl. Ebd., S. 9

[49] Vgl. Finch (2011): S. 202 ff.

[50] Vgl. Reitberger (1979): S. 8

[51] Vgl. Ebd., S. 7

[52] Vgl. Ebd., S. 132 f.

[53] Vgl. Ebd., S. 122 ff.

Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Wie grimmig ist Disney? Ein Vergleich zwischen Disney Filmen und ihren grimmschen Originalvorlagen
Hochschule
Hochschule Mittweida (FH)
Veranstaltung
Angewandte Medien
Note
1,85
Jahr
2015
Seiten
58
Katalognummer
V304437
ISBN (eBook)
9783668026124
ISBN (Buch)
9783668026131
Dateigröße
702 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Disney, Grimm, Brüder Grimm, Märchen, Märchenadaptionen, Disney Filme, Schneewittchen, Dornröschen, Walt Disney, Max Lüthi, Stilmerkmale, Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit, Abstrakter Stil, Isolation und Allverbundenheit, Sublimation und Welthaltigkeit
Arbeit zitieren
Anonym, 2015, Wie grimmig ist Disney? Ein Vergleich zwischen Disney Filmen und ihren grimmschen Originalvorlagen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/304437

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