Warum kam es zur Gründung der Piratenpartei Deutschland? Erklärungsmodell nach der Cleavage-Theorie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

28 Seiten, Note: 1,3

Rene Haiber (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Cleavage Theorie
2.1 Merkmale einer Konfliktlinie (Cleavage)
2.2 Das Modell nach Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan
2.3 Erweiterung nach Inglehart: Materialismus vs. Post-Materialismus

3. Gesellschaftlicher Wandel in Deutschland

4. Die Piratenpartei Deutschland
4.1 Genese
4.2 Ein Cleavage, eine Partei
4.3 Auswertung / Ergebnis

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang

1. Einleitung

Klarmachen zum Ändern!

Mit diesem Wahlspruch tritt die Piratenpartei Deutschland bis heute auf ihrer Homepage auf. Sie sorgten in ihrem nun fünfjährigen Bestehen in Politik, Presse und Wissenschaft für Wirbel und viele Fragen, aber auch Bewunderung, Faszination und Hoffnung. Inzwischen gab es jedoch auch Wut, Fassungslosigkeit und Zweifel gegenüber dieser Partei. In der politikwissenschaftlichen Literatur gibt es inzwischen einiges zur Analyse der Partei. Diese beschreiben meistens detailliert die Entstehungsgeschichte, versuchen ihre Wähler zu identifizieren und untersuchen, warum diese Partei so viele Wahlen gewonnen hat. Die Presse interessiert sich neben diesem vor allem dafür, ob diese Partei 2013 in den Bundestag einziehen wird. Diese Arbeit soll einen weiteren Beitrag zur Analyse der Piratenpartei Deutschland leisten. In diesem Zusammenhang habe ich mir die Frage gestellt: „Warum kam es zur Gründung der Piratenpartei Deutschland?“. Mich interessiert bei der Beantwortung dieser Forschungsfrage, was sich in der Gesellschaft geändert hat und welcher Konflikt dazu führte, dass sich eine neue Partei bilden musste. Deshalb steht im Fokus dieser Arbeit, welche Konfliktlinie zur Gründung der Piratenpartei führte oder ob sich gar eine neue Konfliktlinie in der deutschen Gesellschaft herauskristallisiert hat. Es interessiert dabei weniger, aber es ist auch nicht irrelevant, wer die Piraten wählt oder wo sie sich jetzt als Partei hinbewegt. Wichtig ist der Grund für ihre Entstehung. Es soll in dieser Arbeit um den Wandel in der deutschen Gesellschaft gehen, weshalb sie für die aktuelle Gesellschaftsforschung von Relevanz ist.

Um eine Konfliktlinie in einer Gesellschaft zu finden, wird zuerst definiert, was ein Cleavage, also eine Konfliktlinie ist. Dieser Begriff wurde von Lipset und Rokkan geprägt, deren Rekonstruktionsmodell des 1920 bestehenden Parteiensystems Europas im Anschluss dargestellt wird und folgend die Erweiterung von Ingleharts Cleavage des Postmaterialismus. Im Empirieabschnitt wird der deutsche gesellschaftliche Wandel untersucht, um nach einer kurzen Genese der Piratenpartei Schlussfolgerungen zu ziehen. Es wird erklärt, welcher Faktor die Gesellschaft bewegt und wie dieser dazu führte, dass sich die Piratenpartei Deutschland gründen musste.

2. Die Cleavage Theorie

2.1 Merkmale einer Konfliktlinie (Cleavage)

Was genau ist ein Cleavage ? Wie wird dieses definiert und welche Merkmale müssen erfüllt werden? Nach dem Konzept von Lipset und Rokkan sind Cleavages politisierte soziale Spannungslinien, die einen sozialstrukturellen, institutionellen und einen Werte Aspekt erfüllen müssen (Falter 2005: 147). Zunächst muss sich in der Gesellschaft eine tiefe Spaltung ausprägen, die sowohl in eine subjektive als auch objektive Identifikation zweier Gruppen führt. Diese Trennung kann sich um kulturelle Ansichten drehen, wobei dieser Wertekonflikt eine stärkere und längerfristige Wirkung zuzurechnen ist, oder um ökonomische Verteilungskonflikte, dabei handelt es sich um materielle Interessen, die durch Kompromisse beigelegt werden können (Falter 2005: 149). Doch in beiden Dimensionen müssen die gegnerischen Gruppen ein „Wir“ und „Ihr“ Gefühl entwickeln, welches sich über die Sozialstruktur, wie Arbeitnehmer und Arbeitgeber, hinaus in einem kulturellen Aspekt wiederspiegelt, sodass die Mitglieder der Gruppe eine ähnliche Vorstellung besitzen und sich diese genau entgegen den Vorstellungen der anderen Gruppe stellt (Lipset/Rokkan 1967; Falter 2005: 147-149). Solche Gemeinsamkeiten gedeihen am besten in eigens entwickelten Strukturen, wie etwa durch „institutionalisierte Segmentierung“ (Falter 2005: 148). Hier werden den Gruppenzugehörigen für viele Lebensbereiche eigene gruppenexklusive Parallelorganisationen, wie Sportverein oder Jugendgruppe, angeboten, um den Kontakt untereinander zu fördern und sich weiter abzugrenzen (Falter 2005: 148). Dies stärkt die Gruppendynamik auch generationsübergreifend, welches ein stabiles und langfristiges Cleavage herstellt (Falter 2005: 148). Nun muss dieser Konflikt seine institutionelle Ausprägung in der politischen Arena erreichen. Dabei müssen die führenden Akteure der jeweiligen Gruppe abwägen, wie sie ihre Interessen auf der politischen Entscheidungsbühne Ausdruck verleihen. Dies ist sowohl von den externen Bedingungen (Bsp. Staatsaufbau), als auch der Tatsache abhängig, welche Methode ihrer Sache dienlicher ist. Sie können eigene Verbände gründen oder sich mit einer bereits etablierten Partei verbünden oder eben selbst eine Partei gründen. Für die Durchsetzung ihrer Forderungen müssten sie vier Schwellen überwinden (Lipset/Rokkan 1967: 27). Erstens die Legitimationsschwelle: Von der Gruppe geäußerte Kritik muss berechtigt und objektiv nachvollziehbar sein. Zweitens Inkorporationsschwelle: Die Anhänger der Gruppe müssen über politische Rechte verfügen. Drittens die Repräsentationsschwelle: Praktisch also der Einzug in das Parlament, wobei man unterscheidet, ob dies aus eigener Kraft oder nur im Bündnis möglich war. Die letzte Schwelle beschreibt die Einschränkungen einer Partei, auch wenn sie über die parlamentarische Mehrheit verfügt (z.B. checks and balances) um ihre Forderungen zu gesamtgesellschaftlich verbindlichen Regeln zu machen.

Damit verfügt das Cleavage-Konzept über eine anspruchsvolle Definition und es handelt sich nicht zwangsläufig bei jedem politischen Konflikt um ein Cleavage. Denn der Cleavagebegriff wird häufig in der englischsprachigen Literatur als Konfliktlinie deklariert, ohne die drei oben genannten Merkmale zu erfüllen. So sind zum Beispiel der Geschlechter-Cleavage oder social cleavage keine echten Cleavages im Sinne von Lipset und Rokkan (Falter 2005: 150).

2.2 Das Modell nach Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan

Als 1967 die beiden Soziologen ihren Aufsatz „Party Systems and Voter Alignments“ präsentierten, legten sie den ersten bedeutenden Grundstein auf Makrosoziologischer Ebene zur Rekonstruktion des Parteiensystems in westeuropäischen Demokratien. Sie stützten sich dabei auf das AGIL-Schema von Talcott Parsons (Lipset/Rokkan 1967, Abbildung 1 und 2 s. Anhang). Sie folgerten daraus einerseits die territoriale Dimension, welche aufgrund der tiefgreifenden Ereignisse während der Nationalen Revolutionen entstand, bei der es sich sowohl um die Kompetenzverteilung als auch die Kontrolle über Organisation und politische Zielsetzung des gesamten neu zu entstehenden Systems handelt. Aus dieser Dimension entstanden im Originaltext die Konflikte Subject vs. Dominant Culture (Zentrum vs. Peripherie) und Church(es) vs. Government (Kirche vs. Staat) (Lipset/Rokkan 1967: 14). Im Zentrum-Peripherie-Konflikt werden die Gruppen der herrschenden nationalen, also zentralistischen Eliten und den Vertretern ethnischer Minderheiten, die sich der Nationalstaatsbildung widersetzen deutlich. Im Konflikt zwischen Kirche und Staat werden die Anhänger derer dargestellt, die das Machtzentrum über gesamtgesellschaftliche Bereiche wie Bildung, Normen und Werte in den Händen der Kirche belassen und derer, die dies in die Hände des Nationalstaates legen wollen (Lipset/Rokkan 1967).

Außerdem folgerten sie die funktionale Dimension. Diese entstand aus der Industriellen Revolution, welche in Europa nach der Nationalen Revolution aufkam und somit auch ihre Konflikte Primary vs. Secondary Economy (Stadt vs. Land) und Workers vs. Employer, Owners (Arbeit vs. Kapital) erst nach den zwei anderen Konflikten aufkommen ließ (Lipset/Rokkan 1967: 14). Während der Industriellen Revolution ging es zunächst um die Frage, welche Gruppe des Konflikts Stadt-Land eine konstante Einflussnahme auf staatliche Entscheidungen nehmen konnte. Die eine Gruppe vertrat die ländlich-agrarischen Interessen der alten Wirtschaftselite, den feudalistisch geprägten Großgrundbesitzern und Landadel, die andere vertrat die städtisch-industriellen Interessen der neuen Wirtschaftsmacht, den städtischen Großunternehmern. Als letztes Cleavage entstand der Konflikt zwischen den Arbeitgebern oder Eigentümern und Arbeitern. (Lipset/Rokkan 1967) Der Konflikt auf dem Arbeitsmarkt zwischen dem rasch wachsenden „Proletariat“ und den industriellen Führern drehte sich um die „Soziale Frage“ der Industrialisierung. Der Übergang von einer Agrar- zu einer urbanisierten Industriegesellschaft war von sozialen Begleit- und Folgeproblemen, wie der Umgang mit Kinder-/Frauenarbeit, 12-Stunden-Arbeit, Abwanderung der ländlichen Gebiete, Slum-Bildung in den Städten, Arbeitsbedingungen etc. geprägt. Die daraus resultierende Arbeiterbewegung wollte die Rechte der abhängigen Arbeiter und die Pflichten ihrer Arbeitgeber ausweiten. Die führenden Unternehmer ihrerseits die Pflichten der Arbeiter und die Rechte der Arbeitgeber aufrechterhalten und auferlegte Pflichten weitestgehend gering halten.

Die trotz derselben gesellschaftlichen Konfliktkonstellation sehr unterschiedlich ausgeprägten Parteiensysteme in Europa, lassen sich durch die vier Schwellen für die Oppositionsbewegung erklären. Lipset und Rokkan erkennen, dass den führenden Akteuren ein großer Handlungsspielraum gegeben ist, in dem sie entscheiden, wie ein sozialer Konflikt parteipolitisiert wird und seinen Niederschlag im Parteiensystem findet (Falter 2005: 147). Des Weiteren beeinflusst das kulturelle oder materielle Interesse eines Konflikts die Ausprägung im Parteiensystem. So kann das Cleavage Arbeit-Kapital als materielles Interesse gesehen werden, bei der die Sinn- und Identitätsstiftung für die Gruppenmitglieder noch geleistet werden muss (Falter 2005: 149). Wird jedoch eine soziale Bewegung stark unterdrückt und isoliert, verfestigt sich die Überzeugung und das Feindbild der Mitglieder immer weiter und umso mehr ideologisch belastet wird diese Konfliktlinie.

Mit diesem Modell kann man die Parteiensysteme in Europa um 1960 aufgrund der gesellschaftlichen Konfliktkonstellation um 1920 rekonstruieren. Die Parteien eines Staates zeichnen somit die historische Entwicklung der Gesellschaft mit ihren ausgetragenen Konfliktlinien wieder.

2.3 Erweiterung nach Inglehart: Materialismus vs. Post-Materialismus

Der von Ronald Inglehart eingebrachten Theorie der „Stillen Revolution“ (Inglehart 1971, 1977, 1990) kam in den letzten Jahrzenten eine große Aufmerksamkeit zu. Sie beinhaltet, dass in den Industrienationen nach dem zweiten Weltkrieg ein Prozess der schleichenden Verdrängung materialistischer durch postmaterialistische Werteorientierungen einsetzte (Falter 2005: 437). Die Theorie des Wertewandels bezieht sich dabei auf zwei von Inglehart formulierte Schlüsselhypothesen (1989: 92):

1. „Die Mangelhypothese. Die Prioritäten eines Menschen reflektieren sein sozioökonomisches Umfeld: Den größten subjektiven Wert mißt [sic!] man den Dingen zu, die relativ knapp sind.
2. Die Sozialisationshypothese. Wertprioritäten ergeben sich nicht unmittelbar aus dem sozio-ökonomischen Umfeld. Vielmehr kommt es zu einer erheblichen Zeitverschiebung, denn die grundlegenden Wertvorstellungen eines Menschen spiegeln weithin die Bedingungen wider, die in seiner Jugendzeit vorherrschend waren.“

Die Mangelhypothese basiert auf der Maslowschen Bedürfnishierarchie (bekannt als „Bedürfnispyramide“). Maslow stellte fest, dass manche Bedürfnisse Priorität vor anderen haben und erstellte folgende hierarchische Anordnung: Physiologische Grundbedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, Soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse und Selbstverwirklichung (Grafik 3 s. Anhang). Dabei kann die nächst weitere Stufe erst erreicht bzw. als Ziel und Motivation gesetzt werden, wenn, je nach individuellem Befinden, die vorige befriedigt wurde (Maslow 1978). Inglehart unterscheidet nun zwischen den materiellen Bedürfnissen, also Stufe 1, 2 und teilweise 3 und den postmaterialistischen Werten wie Wertschätzung, Selbstverwirklichung und ästhetische Befriedigung, also Stufe 3, 4 und 5 (Falter 2005: 437). Weil der von ihm beschriebene Wertewandel einer ständigen Veränderung in Abhängigkeit der ökonomischen Situation stehen würde, da wirtschaftliche Prosperität die Ausbreitung postmaterialistischer Werte fördert, wirtschaftlicher Niedergang das Gegenteil bewirkt, muss die Mangelhypothese zusammen mit der Sozialisationshypothese interpretiert werden. Diese besagt zusammenfassend, dass die Persönlichkeitsstruktur von Menschen vor allem bis zum Erwachsenenalter geprägt wird und sich danach nur noch kaum verändere (Inglehart 1989: 93). Seine Hypothesen bestätigt er mit Zeitreihendaten aus der Nachkriegszeit von Deutschland und Japan, sowie der Analyse von Wertprioritäten in Westeuropa seit 1970 (Inglehart 1989: Kap.2).

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Details

Titel
Warum kam es zur Gründung der Piratenpartei Deutschland? Erklärungsmodell nach der Cleavage-Theorie
Hochschule
Universität Bremen
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
28
Katalognummer
V303715
ISBN (eBook)
9783668026841
ISBN (Buch)
9783668026858
Dateigröße
885 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Piratenpartei, Parteien, Cleavage, Rokkan, Lipset
Arbeit zitieren
Rene Haiber (Autor:in), 2013, Warum kam es zur Gründung der Piratenpartei Deutschland? Erklärungsmodell nach der Cleavage-Theorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/303715

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