Kommunikationsmodelle in Shanghai: Selbstdefinition durch individuelle Sprachformen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

32 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Entstehung einer multilingualen Stadtbevölkerung
2.1. Wirtschaftliche Faktoren
2.2. Anziehungskraft einer Metropolregion
2.3. Verbreitung der Hochsprache
2.4. Kulturrevolution

3. Kommunikationssysteme
3.1. Shanghaihua
3.2. Putonghua
3.3. Regionaldialekte
3.4. Sonstige Sprachformen

4. Gebrauch der verschiedenen Systeme
4.1. Präferenzen
4.2. Kompetenzen und Sprachempfinden
4.3. Interaktion: Prozesse des Sprachwandels

5. Folgen
5.1. Identitätsprobleme
5.2. Individuelle Sprachsysteme

6. Entwicklungstendenzen

7. Anhang
7.1. Kommunikatives Profil Familie in Shanghai

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Betrachtet man die Bevölkerung Shanghais etwas näher, so wird ziemlich schnell deutlich, dass sie vor allem eins nicht ist: homogen. In der ganzen Stadt wimmelt es nur so vor Fremdsprachen, Dialekten und Aussprachevarianten. Das ist nicht weiter verwunderlich, da Shanghai nicht nur als internationaler Finanzmarkt Investoren, Geschäftsleute, Arbeiter und Glücksritter aus dem In- und Ausland anlockt, sondern auch als Kulturzentrum gilt, und sich daher Künstler und Freigeister in den Akademien und Bars der Stadt tummeln.

Bereits vor der Gründung der Volksrepublik 1949 machten Immigranten zwei Drittel der Stadtbevölkerung Shanghais aus. Vor allem aus den Nachbarprovinzen Jiangsu und Zhejiang, sowie aus Guangdong strömten die Menschen nach Shanghai, um dort vor allem zu wirtschaftlichem Erfolg zu gelangen. Und dieser Trend setzte sich auch nach der Befreiung fort.[1]

So wurde in Shanghai eine vielschichtige Sprachgemeinschaft geschaffen, die ihre ganz eigenen Methoden für das Miteinander geschaffen hat. Sprache dient hier zur sozialen und regionalen Abgrenzung von anderen Gruppen und fördert gleichzeitig die Solidarität innerhalb der Gemeinschaft. Jos Gamble schreibt zur Sprachsituation in China im Allgemeinen:

„In China, dialect is a crucial marker in definitions of self

and others. It is a key way in which distinctions between

‘inside’ and ‘outside’, inclusion and exclusion, are created.”[2]

Aber nicht nur Dialekte aus den verschiedenen Regionen Chinas spielen eine große Rolle in der Selbstdefinition der Shanghaier. Auch ausländische Sprachen fließen in den Sprachgebrauch ein und wirken sich auf die soziale Kompetenz eines jeden Bürgers aus. Zudem werden wir im Folgenden sehen, dass der Shanghaier ein Meister darin ist, sich seine ganz individuellen Kommunikationssysteme zu erschaffen, und dies vor dem Hintergrund einer auf Veränderung angelegten Stadtbevölkerung.

2. Entstehung einer multilingualen Stadtbevölkerung

Mit einer Bevölkerungszahl von über 16 Millionen[3] gehört der Verwal­tungs­bezirk Shanghai zu den beliebtesten Lebensräumen in China. Als ich während eines Aufenthalts in Hangzhou, in der Nachbarprovinz Zhejiang, einige Chinesen fragte, was ihr größter Traum sei, antworteten alle mit: „In Shanghai zu arbeiten“. Auf die Frage warum, erhielt ich die Antwort, dass es in Shanghai mehr und besser bezahlte Arbeit, sowie bessere soziale Absicherung gebe – ohnehin besäße Shanghai alles, was das moderne Leben zu bieten habe.

Die Geschichte Shanghais wurde von mehreren Phasen der Zu- und Abwanderung bestimmt, die von politischen und wirtschaftlichen Ereignissen geprägt wurden. Vor allem bei der wirtschaftlichen Entwicklung Shanghais kann man Parallelen zur verstärkten Beliebtheit der Stadt erkennen. Aber auch die aufblühende Kulturszene hat zum Ansehen der Stadt beigetragen (siehe: Kap.2.2.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Zu- und Abwanderung nach/aus Shanghai, 1970-1994[4]

Diese demographischen Entwicklungen (siehe: Tabelle 1) waren aber nicht allein bestimmend für die sprachliche Situation, wie sie heute in Shanghai zu finden ist. Auch in der Verbreitung der Hochsprache, des Putonghua (普通话), sowie in der Kulturrevolution lassen sich Gründe für die vielschichtige Kommunikationsgemein­schaft finden. Zunächst werde ich mich jedoch mit den wirtschaftlichen Einflüssen beschäftigen, die bereits vor einigen Jahrhunderten den Grundstein für den Aufstieg Shanghais geliefert haben.

2.1. Wirtschaftliche Faktoren

Die heutige Stadt Shanghai war aufgrund ihrer Küstennähe bereits zur Song­- und Yuan-Dynastie ein wichtiger Wirtschaftsstandort und war im 13. Jahrhundert regionales Handelszentrum. Von einem Binnenhafen entwickelte sich die Stadt dann im 19. und 20. Jahrhundert zu einer internationalen Industrie- und Finanzmetropole und war 1930 bereits die siebtgrößte Stadt der Welt.[5] Vor allem der Reichtum an natürlichen Ressourcen, sowie die Entwicklung eines Talentpools (auch: human resources) stärkten die regionale Position Shanghais und brachten mit der wirtschaftlichen Macht auch politische Freiheiten mit sich.[6]

In den Anfangsjahren der Volksrepublik (1950-54) brachte der Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg eine Schwemme von Zuwanderern in die Stadt.[7] Doch die politische Führungsriege blickte mit Skepsis auf die kosmopolitische Metropole, und ihre wirtschaftliche Position sollte fortan auf den Binnenmarkt beschränkt werden. Fast alle Ausländer verschwanden aus Shanghai und somit auch ihre Einflüsse auf die städtische Sprachkultur.[8] Von nun an übernahm Shanghai die wirtschaftliche Vorreiterrolle in der VR, und „Made in Shanghai“ wurde zum Qualitätsmerkmal. Die Zuwanderung wurde durch strikte Planung[9] begrenzt und verlieh so der Shanghaier Bevölkerung eine Privilegstellung – schließlich war die reiche Metropole für die meisten in unerreichbare Ferne gerückt.[10]

Der Große Sprung nach Vorn (1958-60) brachte jedoch viele, wenn teilweise auch nur temporäre, Abwanderungen mit sich. Das Land sollte aufgebaut werden, und dafür waren gerade die hochqualifizierten Shanghaier von Nutzen.[11]

Auch wenn Shanghai in den folgenden Jahrzehnten seine dominante Rolle in der chinesischen Wirtschaft an andere Wirtschaftszonen zeitweise verlor (z.B. Fujian und Guangdong), hatte die Shanghaier Bevölkerung keine finanzielle Not zu leiden – im Gegenteil. Die Stadt florierte weiterhin und gewann in den 90ern an Autarkie. Damit wurde der Grundstein für einen erneuten Wirtschaftsaufschwung in der Region gelegt. Den Shanghaiern wurde weitgehende wirtschaftliche Eigenverantwortung gewährt, und die Stadt übernahm nun wieder eine Führungsposition: als „Kopf des Drachens“ des Yangzi-Gebiets. Das ‚Neue Gebiet Pudong’ (浦东新区) ist hierbei Schwerpunkt der neuesten Reformbemühungen und bestimmt immer mehr das Stadtbild entlang des Huangpu-Flusses.[12]

Die wirtschaftliche Öffnung Chinas hat für Shanghai auch einen erneuten Zuwachs an Immigranten mit sich gebracht. Die Neuankömmlinge sind meist bereit, unbeliebte Arbeiten für wenig Geld zu verrichten, und werden von den meisten Bürgern als notwendiges Übel geduldet – auch wenn sie teilweise aufgrund ihrer Masse als Bedrohung wahrgenommen und als „guerilla force“[13] bezeichnet werden. Insgesamt haben die Reformen der Regierung eine größere soziale Mobilität mit sich gebracht: Die Möglichkeiten für Chinesen und Ausländer,[14] Arbeit in Shanghai zu finden oder zu wechseln, haben sich vervielfacht,[15] und dies hat zu einer vielschichtigen Bevölkerung geführt.

2.2. Anziehungskraft einer Metropolregion

Wie bereits erwähnt, war nicht nur die rapide wirtschaftliche Entwicklung Shanghais verantwortlich für die Zusammensetzung dieser besonderen Sprachgemeinschaft. In den 1920ern und 30ern war Shanghai bereits eine der modernsten Städte Asiens – nicht nur mit unzähligen nationalen und internationalen Handelsfirmen, sondern auch mit Einkaufszentren, öffentlichen Einrichtungen und Universitäten, die ihresgleichen suchten. Shanghai wurde zum führenden kulturellen Zentrum Chinas: Hier befindet sich die Wiege der chinesischen Filmindustrie, und Schriftsteller wie Xu Zhimo und Lu Xun trugen zum literarischen Aufblühen der Stadt bei. Auch die Kommunistische Partei Chinas wurde hier 1921 gegründet, was von der geistigen Toleranz der Shanghaier Bürger zeugt.[16]

Doch die Weltoffenheit und Akzeptanz gegenüber neuen Ideen wurden den Shanghaiern mit der Gründung der Volksrepublik offiziell untersagt. Die Autarkie, die die Führungsspitze für China im Sinn hatte, gefährdete Freundschaften mit Ausländern oder denjenigen, die das Ausland mit Toleranz betrachteten.[17]

Die Öffnungspolitik brachte die Vorliebe der Shanghaier für neue Ideen wieder zu Tage. Junge Shanghaier gingen mit Vorliebe zum Studieren in den Westen,[18] und immer mehr Touristen besuchten diese aufstrebende Metropole.

„The diverse range of Chinese migrants were joined by many

foreign companies, workers, missionaries, tourists, and

refugees creating a highly cosmopolitan city.”[19]

Die relativen Freiheiten, die Shanghai besaß, erlaubten die Entwicklung vieler unterschiedlicher Lebensstile, die man heute vor allem in der Clubszene antreffen kann. Schriftstellerinnen wie Wei Hui oder Mian Mian beschreiben das pulsierende Leben der Metropole, das auch von südchinesischen Einflüssen geprägt ist. Vor allem Musik und Essen aus Guangdong und Hongkong erfreuen sich allgemeiner Beliebtheit und tragen auch sprachlich zu neuen Entwicklungen bei.[20]

Das Stadtbild ist zudem von den Studenten geprägt, die aus ganz China (und dem Ausland) hierher kommen, um an den besten Universitäten und Privatschulen des Landes ausgebildet zu werden. Zwar können auch Peking und Hangzhou Top-Universitäten aufweisen, aber Shanghai hat immer noch den Ruf, politische Eliten heranzuzüchten.[21] So stammt z.B. auch Jiang Zemin (derzeit Staatspräsident und ehemaliger Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas) aus dieser Kaderschmiede.[22]

Aber auch das Umland und die benachbarten Provinzen locken Investoren und Touristen gleichermaßen. Als Beispiel hierfür dienen Hangzhou und Suzhou in den Provinzen Zhejiang und Jiangsu. Die beiden Städte gelten unter den Chinesen nicht nur als das Paradies auf Erden (laut einem Sprichwort) und locken jährlich Tausende von Besuchern an, sondern profitieren auch wirtschaftlich von dem Erfolg Shanghais. Der Produktionsstandort Shanghai ist für viele Firmen zu teuer geworden, und diese orientieren sich nun um: auf das Umland und insbesondere auf Hangzhou und Suzhou.[23] Die Nähe zur Metropole erleichtert Verkehrswege und den Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften. Zudem bietet das glitzernde Shanghai Möglichkeiten zur Entspannung am Abend, und die Region ist daher insgesamt auch für Pendler ein attraktiver Wohnsitz. Die Metropolregion Shanghai boomt und ist damit für Chinesen und Ausländer gleichermaßen attraktiv.

2.3. Verbreitung der Hochsprache

In China gibt es ungefähr 50 verschiedene Sprachen,[24] die das Land in Han- und Nicht-Hansprecher unterteilen. Die große Vielfalt an Sprachen und Dialekten,[25] die eine Kommunikation unter den verschiedenen Grup­pen teilweise nicht zulässt, hat dem vereinigten Reich schon seit langem Kopfzerbrechen bereitet. Die endgültige Lösung scheint in den 1950ern gefunden worden zu sein, als eine Kommission die Verbreitung der ‚Allgemeinsprache’[26], des Putonghua (PTH) beschloss[27] – auch wenn Stimmen laut wurden, der Shanghaier Dialekt solle zum Standard erklärt werden, da Shanghai schließlich Chinas größte Industriestadt sei.[28] Das PTH basiert hauptsächlich auf dem Pekinger Dialekt – beinhaltet jedoch auch einige Merkmale anderer Dialekte, die als elegant oder korrekt angesehen wurden. Ab1955 begann die Kampagne zur landesweiten Verbreitung.[29] Das PTH wurde zur offiziellen Instruktionssprache an Universitäten und Schule,[30] zur Beamten­sprache, sowie zur verwendeten Sprache in den Massenmedien.

[...]


[1] Sit, S.109

[2] Gamble, S.82

[3] Schüller, S.104

[4] On, S.127

[5] Gamble, S.5 ff.

[6] On, S.119

[7] Sit, S.108

[8] Interkulturelle Spracheinflüsse vor 1949 siehe: Chao, Kap.14

[9] Städtische Aufenthaltsgenehmigungen siehe: Gamble, S.68

[10] Gamble, S.8 u. S.75

[11] Sit, S.109

[12] Gamble, S.10 ff.

[13] Gamble, S.32

[14] Beispiel hierfür ist die Greencard für Ausländer, die zwar von der Pekinger Regierung für das gesamte Land vorgesehen ist, aber von der Stadt Shanghai in einer ähnlichen Version bereits im Juni 2002 ausgehändigt wurde und damit einen längerfristigen Aufenthalt und einen gleichgestellten Status im Sozialsystem ermöglicht (siehe: „Produktion im preiswerten Paradies“).

[15] Gamble, S.31 ff.

[16] Gamble, S.6

[17] Gamble, S.xxi

[18] Gamble, S.31

[19] Gamble, S.65

[20] Gamble, S.32

[21] On, S.120

[22] Chinas Osten, S.451

[23] Kühl, S.23

[24] Calvet, S.119-125

[25] Vgl. Ramsey, Kap.1 zur Diskussion über den Sinn und Unsinn, chinesische Dialekte als Sprachen zu bezeichnen.

[26] Ich habe mich hier für die Übersetzung ‚Allgemeinsprache’ entschieden, da meiner Meinung nach so am besten der Unterschied zur staatlich verordneten, zum Standard erklärten ‚Landessprache’ (Guoyu) deutlich wird. Auch wenn dieser Unterschied eher ideologischer Natur sein sollte, so soll mit diesem Begriff verdeutlicht werden, dass es sich beim PTH um einen an die Allgemeinheit angepassten Standard handeln sollte und nicht um einen theoretischen Standard. Vgl. Ramsey, S.13-15.

[27] Zwar gab es auch schon lange vorher Bestrebungen und Bewegungen hin zu einer allgemein gebräuchlichen Nationalsprache, aber auf diese werde ich hier nicht eingehen, da sie für die weitere Analyse ohne Bedeutung sind. Hierzu siehe: Chao, Kap.8 oder Ramsey, Kap.1

[28] Li, S.322

[29] Siehe hierzu auch: Martin, S.107 ff.

[30] Ramsey berichtet hierzu: „For a child growing up in Canton or Shanghai, Putonghua is the language of education. Immersion might be less complete in rural areas, but in city schools today the primary medium of instruction from the end of the first year on is the standard language.” (Ramsey, S.28)

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Kommunikationsmodelle in Shanghai: Selbstdefinition durch individuelle Sprachformen
Hochschule
Universität Hamburg
Veranstaltung
Kommunikative Strategien in Asien und Afrika
Note
gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
32
Katalognummer
V30317
ISBN (eBook)
9783638316002
ISBN (Buch)
9783638760874
Dateigröße
619 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kommunikationsmodelle, Shanghai, Selbstdefinition, Sprachformen, Kommunikative, Strategien, Asien, Afrika
Arbeit zitieren
Anja Schmidt (Autor:in), 2003, Kommunikationsmodelle in Shanghai: Selbstdefinition durch individuelle Sprachformen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30317

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