Armut im "Lazarillo de Tormes"


Seminararbeit, 2015

23 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 historischer Hintergrund: Siglo de Oro
2.2 Arten von Armut
2.3 Sozialkritische Aspekte in der novela picaresca
2.4 literarische Analyse
2.4.1 Ökonomische Armut
2.4.2 Soziale Armut
2.4.3 Kulturelle Armut

3. Resümee und Ausblick

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit thematisiert ein Phänomen, dessen Existenz seit Beginn der Zivilisation in jeder Gesellschaft Bestand hat – die Armut.

Egal, wohin wir unseren Blick schweifen lassen: Mittellose Menschen sind allgegenwärtig. Denken wir an den Alexanderplatz in Berlin. Dort herrscht ein friedliches Nebeneinanderleben: auf der einen Seite finden wir Bettler, Obdachlose und umherziehende Musikanten, auf der anderen Seite Banker, Geschäftsmänner und Führungskräfte, die alle tagein tagaus ihrem Alltag nachgehen. Auf der sozialen Ebene trennen sie Kontinente, im geographischen Sinne liegen allerdings nur einige Meter zwischen ihnen. Dieses Nebeneinander- und Voneinanderleben von Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten finden wir auch im Roman Lazarillo de Tormes.

Im Vordergrund der folgenden Seminararbeit steht die Fragestellung, wie sich die Armut im anonym veröffentlichten Roman Lazarillo de Tormes gestaltet. Ziel der Arbeit ist es, verschiedene Armutsarten herauszuarbeiten und diese im Bewusstsein der Charakteristika des Siglo de Oro zu analysieren.

Um einen ersten Einblick in die Thematik des Romans zu bekommen, wird im ersten Teil der Arbeit der historische Kontext erläutert. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf der sozialen Ungleichheit und dem damaligen Leben der Armen und Unterprivilegierten. Anschließend

werden einige Definitionen von Armut genannt und Kategorien festgelegt, anhand derer die literarische Analyse durchgeführt wird. Weiterhin werden gesellschaftskritische Aspekte in der novela picaresca gezeigt, die sich auch in der literarischen Analyse wiederfinden. In jener Analyse wird der Roman im Bezug auf die herausgearbeiteten Armutsarten untersucht. Dabei werden Zusammenhänge zwischen den Typen von Armut näher beleuchtet und rhetorische Mittel interpretiert. Abschließend werden im Resümee die Ergebnisse der Analyse zusammengefasst und ausgewertet.

Als Grundlage für die Textanalyse dient die übersetzte und kommentierte Ausgabe aus dem Reclam-Verlag „Lazarillo de Tormes / Klein Lazarus vom Tormes“ von Hartmut Köhler aus dem Jahre 2006.

2. Hauptteil

2.1 historischer Hintergrund: Siglo de Oro

Als Siglo de Oro, das Goldene Zeitalter, bezeichnet man die Epoche der spanischen Kultur, die das 16. und 17. Jahrhundert umfasst. Dieser von besonderer Prosperität und politischer Macht geprägte Begriff täuscht zunächst ein sorgloses Leben im damaligen spanischen Königreich vor.

Namen wie Lope de Vega, Miguel de Cervantes und Francisco de Quevedo waren nur einige wenige, die Spanien hinsichtlich der Literatur zu seinem goldenen Status verhalfen, aber zugleich mit ihren Werken die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von der außerliterarischen Welt weglenkten.

In diesem Zusammenhang ist auf die hierarchisch-vertikale Aufteilung zu verweisen, die in der spanischen Gesellschaft deutlich wurde und sich folgendermaßen unterteilen lässt: Eine erste Gruppe bildete das Bürgertum, das nur in geringem Maß vertreten war. Diese setzten sich mehrheitlich aus Handwerkern zusammen, die in Zünften organisiert waren[1]. Die Bauern formten eine zweite Gruppe, wozu ungefähr 80% der Bevölkerung zählten[2]. Die überwiegende Mehrheit besaß kein eigenes Land zur Bebauung und litt deswegen unter hohen Abgaben, die sie dem Grundherren aufgrund der Pachtung schuldeten. Hinzu kamen königliche Steuern und kirchlicher Zehnt[3]. Eine dritte Gruppe umfasste die Unterprivilegierten, dessen Anzahl „aufgrund einer zunehmenden Verarmung des Mittelstandes und des niederen Adels, verstärkt jedoch des Bauernstandes, und aufgrund der massiven Abwanderung der Landbevölkerung“[4] anstieg. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ungefähr 20% der Gesamtbevölkerung auf der Iberischen Halbinsel als arm bezeichnet werden konnten, „so arm, da[ß] sie wirklich täglich um das Überleben kämpften“[5].

Mit der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und der Abschluss der Reconquista mit der Eroberung von Granada im Jahre 1492 festigte Spanien unter Karl V. (1516 – 1556) seine machtvolle Position innerhalb Europas und ließ das Land extrem reich werden. Im scharfen Gegensatz dazu standen die ‚normalen’ Spanier, die im eigenen Lande um das tägliche Brot kämpften. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts thematisierte die Literatur besonders die sorglose Welt, ein Beispiel sind die Ritterromane dieser Zeit, so war mit der anonymen Veröffentlichung des Lazarillo de Tormes (1554) eine neue literarische Gattung geboren, der Schelmenroman.

Die Werke verkörperten nun nicht mehr die Welt der Könige, des Adels und der hidalgos, sondern „die andere Seite der spanischen Medaille“[6]: die Seite des Elends, des Hungers, der Arbeitslosigkeit, des sozialen Abstiegs sowie der Korruption.

Der pícaro wird zum Protagonisten und muss unter den Umständen, dass fortuna ihm eine Herkunft aus den unteren gesellschaftlichen Schichten beschert hat, von klein auf mehrere Dienstherren durchlaufen und „mit List, aber ohne Anstrengung“[7] für sein Überleben sorgen.

Die novela picaresca im Allgemeinen wird als fiktive autobiographische Darstellung des Werdegangs des Antihelden betrachtet. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, ob die einzelnen tractados auf wahren Begebenheiten beruhen. Dies ist aber, im Rahmen dieser Analyse, keine Forschungsfrage, da sie den Rahmen der Arbeit überschreiten würde.. Trotzdem werden - ausgehend von der Annahme, dass Lazarillo de Tormes fiktive autobiographische Züge enthält und demnach die damaligen sozialen Verhältnisse der spanischen Gesellschaft verkörpert - die sich in diesem Werk darstellenden Formen von Armut herausarbeiten und diese in Verbindung mit dem zugrunde liegenden Text offenlegen.

Dafür bedarf es jedoch zunächst einer kurzen Differenzierung der Armutsformen, die im folgenden Kapitel dargestellt werden.

2.2 Arten von Armut

Das Elend besteht nicht im Mangel der Dinge, sondern im Verlangen danach.

(Jean-Jacques Rousseau)

Für den Genfer Philosophen Jean-Jacques Rousseau ist nicht derjenige arm, der wenig oder nichts besitzt, sondern derjenige, der verlangt und wünscht. Der Umkehrschluss daraus ist zugleich die allgemeingültige Bedeutung von Armut: Arm ist, wer nichts besitzt.

Bereits im abendländischen Kulturkreis war die Armut nach Schäfer allgegenwertig, wobei er folgende Typen unterscheidet[8]:

1. Der erste Typus von Armut umfasst die strukturell Armen, d.h. die Bedürftigen, die in Normalzeiten nicht in der Lage waren, für unbedingt Lebensnotwendiges aufzukommen. Diese Art von Armut war gesellschaftlich anerkannt. Entsprechend erhielten die Betroffenen Unterstützung.
2. Die zweite Gruppe bilden die konjunkturell Armen, d.h. die Unterschichten, die in Krisenzeiten Gefahr liefen, in die Bedürftigkeit abzusinken.
3. Als dritte Gruppe kommen Menschen in Betracht, deren Armut gesellschaftlich nicht anerkannt war: Personen, die als arbeitsfähig galten, aber nicht als arbeitswillig, die „unehrenhaften“ Armen und „falschen“ Bettler. Sie hatten keinen Anspruch auf Unterstützung und glitten meist in die Nichtsesshaftigkeit ab.
4. Während diese Menschen aufgrund von Armut heimatlos geworden waren, kamen die „Zigeuner“, die die vierte Gruppe bilden, als Fremde nach Europa. Sie blieben von der gesellschaftlichen Fürsorge ausgeschlossen.
5. In einem weiteren Verständnis konnte als arm gelten, wem es an den Gütern mangelte, die für ein standesgemäßes Leben als notwendig erachtet wurden.

Diese Klassifizierungen beziehen sich ausnahmslos auf die ökonomische Armut. Sie ist gewiss die „auffälligste und am leichtesten zu messende Größe der Armut, jedoch keineswegs die einzige“[9]. Wichtiger Bestandteil der Analyse ist daher noch die Betrachtung von soziokulturellen Faktoren.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu erweitert den Armutsbegriff um die kulturelle und soziale Komponente. Er unterscheidet in der von ihm entwickelten Kulturtheorie drei Kapitalbegriffe: ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital und soziales Kapital[10]. Auf dieser Grundlage und mit kleinen Änderungen meinerseits lassen sich Arten von Armut klassifizieren, die mithilfe des Umkehrschlusses des Kapitalbegriffs – also des Besitzens, des Habens – möglich sind. Jene bilden in der vorliegenden Arbeit die Basis:

- ökonomische Armut
- finanzielle Armut
- materielle Armut
- soziale Armut
- kulturelle Armut

Unter der ökonomischen Armut verstehen wir den Mangel bzw. das Nichtvorhandensein von finanziellen Mitteln und materiellem Besitz. Daraus leiten sich selbsterklärend die finanzielle und materielle Armut ab, die gemeinsam die ökonomische Armut bilden. In Bourdieus Kulturtheorie ist das ökonomische Kapital das wichtigste und liegt den anderen Kapitalarbeiten zugrunde[11].

Unter der finanziellen Armut verstehen wir das Nichtvorhandensein von finanziellen Ressourcen zur Sicherung von Nahrung. Sie tritt ohne materielle Armut nur selten auf; denn ohne genügend Zahlungsmittel ist keine Grundversorgung (Nahrung) mehr möglich. Es kann die Vorstufe von materieller Armut sein, da bei finanzieller Armut beispielsweise noch Haus und Grund zum Verkauf vorhanden sind und dadurch Geld erwirtschaftet werden könnte.

Materielle Armut tritt auf, wenn keine Ressourcen (mehr) zu Verfügung stehen. Folglich wurden Geld und weitere Mittel verbraucht oder genommen. Entscheidet sich eine Person aktiv auf materielle Gegenstände zu verzichten, so ist dies im Folgeschluss keine materielle Armut. Denn es besteht die Möglichkeit, diese in finanzielle Ressourcen umzuwandeln.

Die soziale Armut besteht aus dem Mangel an sozialen Kontakten in der Gesellschaft. Als Konsequenz derer fehlt die Möglichkeit, jemanden um Hilfe zu bitten und im Notfall Unterstützung zu erhalten. Wichtig hierbei ist die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung innerhalb des Netzes der sozialen Beziehungen. Bourdieu nennt in diesem Zusammenhang die Ungewissheit, ob „diese Beziehungen einen erwünschten Vorteil abwerfen“[12].

Die sogenannte kulturelle Armut tritt auf, wenn ein Individuum keine oder wenig kulturelle Kenntnisse Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzt; was laut Bourdieu in der deutschen Sprache Bildung heißt, im französischen culture und im englischen cultivation[13]. Diese Art von Armut ist körpergebunden und kann nur durch persönliche Bemühungen und Erfahrungen entronnen werden.

In Bourdieus Kulturtheorie sind die verschiedenen Kapitalsorten mehr oder weniger gegenseitig konvertibel. Die Umwandlung der Kapitalformen ist immer mit Kosten verbunden und es gilt das Prinzip, dass Gewinne auf einem Gebiet zu Kosten auf einem anderen Gebiet führen[14]. So lässt sich beispielsweise ökonomisches Kapital in kulturelles Kapital umwandeln. Der Erwerb von kulturellem Kapital (z.B. Studienabschluss) setzt einen Aufwand an Zeit voraus, der durch die Verfügung über ökonomisches Kapital ermöglicht wird. Auch in unserem Fall der Armutsarten nehmen wir die Möglichkeit der Umwandlungen an.

Selbstverständlich existieren weitere Blickwinkel und Kriterien, nach denen Armut klassifiziert werden kann. In dieser Arbeit dienen die drei oben beschriebenen Armutstypen als maßgebend. Interessant für die literarische Analyse ist weiterhin der Bezug zu den sozialkritischen Aspekten, die im Roman vermehrt auftauchen. Deshalb wird im nachfolgenden Kapitel ein Blick auf die Gesellschaftskritik in der novela picaresca geworfen, um im Anschluss die literarische Analyse darzustellen.

[...]


[1] Vgl. Simson, Ingrid (2001): Das Siglo de Oro. Spanische Literatur, Gesellschaft und Kultur des 16. Und 17. Jahrhunderts. Stuttgart: Klett. S.33.

[2] Vgl. Edelmayer, Friedrich (2004): Die spanische Monarchie der Katholischen Könige und der

Habsburger (1474-1700). In: Schmidt, Peer (Hrsg.) (2004): Kleine Geschichte Spaniens. Stuttgart: Reclam. S.158.

[3] Vgl. Ebd.: S.159.

[4] Simson (2001): S.33.

[5] Edelmayer (2004): S. 160.

[6] Neuschäfer, Hans-Jörg (Hrsg.) (2011): Cervantes und der Roman des Siglo de Oro. In: Ebd. (Hrsg.): Spanische Literaturgeschichte. 4. Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler. S. 133.

[7] Strosetzki, Christoph (1996): Der Roman im Siglo de Oro. In: Ebd. (Hrsg.): Geschichte der spanischen Literatur. Tübingen: Niemeyer. S. 108.

[8] Schäfer, Gerhard K. (2008): Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis. In: Huster, Ernst Ulrich / Boeckh, Jürgen / Mogge-Grotjahn Hildegard (Hrsg.): Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung. 2., überarb. und erweit. Auflage. Wiesbaden: Springer. S. 268.

[9] Schmid, Susanne / Wallimann, Isidor (1998): Armut: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein». Wege zur soziokulturellen Existenzsicherung. Bern: Haupt. S.14.

[10] Vgl. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.) (1983): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt. Sonderband 2. Göttingen: Nomos. S. 183-198

[11] Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner / König, Alexandra (2011): Pierre Bourdieu: eine Einführung. 2. überarb. Aufl. Konstanz: UVK-Verlag. S.161

[12] Fuchs-Heinritz / König (2011): S. 168.

[13] Vgl. Fuchs-Heinritz / König (2011): S.163

[14] Vgl. Bourdieu (1983): S. 196.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Armut im "Lazarillo de Tormes"
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Philosophische Fakultät II)
Veranstaltung
la novela picaresca
Note
1,3
Jahr
2015
Seiten
23
Katalognummer
V302597
ISBN (eBook)
9783668007697
ISBN (Buch)
9783668007703
Dateigröße
431 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
novela picaresca, Lazarillo de Tormes, Schelmenroman, Armut, Siglo de Oro, Gesellschaftskritik, Pierre Bourdieu, ökonomisches Kapital, soziales Kapital, kulturelles Kapital
Arbeit zitieren
Anonym, 2015, Armut im "Lazarillo de Tormes", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/302597

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