Das Versagen der Deutschen Strafverfolgung beim Abtauchen des NSU-Trios

Welche Behörde war verantwortlich?


Bachelorarbeit, 2014

48 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Stand der Literatur und Quellenlage

3 Die Methode des causal process tracing
3.1 Grundlagen, Vorgehen und Ziel
3.2 Die Bedeutung des CPT für das Zuschreiben von Verantwortung
3.3 Die Fallauswahl

4 Ereignisgeschichte
4.1 Phase 1: Hintergrund
4.2 Phase 2: Vorgeschichte
4.3 Phase 3: Der 26.01.1998
4.4 Phase 4: Nachgeschichte

5 Die Analyse des Behördenversagens am 26.01.1998
5.1 Die primäre Kausalkette – Böhnhardts Entkommen
5.2 Die erweiterte Kausalkette – die unzureichenden Vorbereitungen
5.3 Schlussfolgerungen – kritische Weggabelungen und kausale Mechanismen

6 Generalisierbarkeit der Ergebnisse

7 Schluss

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) terrorisierte in den Jahren von 1998 bis 2011 ganz Deutschland. Er bestand aus Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Die Rolle Beate Zschäpes (der einzigen Überlebenden des „Zwickauer Trios“) wird derzeit in einem Gerichtsprozess geklärt. Ob weitere Personen an den Taten des NSU beteiligt waren, ist unbekannt. Sicher ist hingegen, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe am 26.01.1998 in den Untergrund gingen. Vielerlei Indizien wiesen zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass vor allem Böhnhardt mit Funden von Bomben und Bombenattrappen im Jenaer Stadtgebiet im Zusammenhang stand. Die Suche nach der Bombenwerkstatt war der nächste logische Schritt der Ermittlungsbehörden. Nach einem Hinweis des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz (LfV)[1] kamen hierfür drei Garagen infrage, die alle am 26.01.1998 durchsucht werden sollten. Das Thüringer Landeskriminalamt (LKA) fand in einer dieser Garagen, die durch Zschäpe angemietet worden war, eine noch nicht fertiggestellte unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung (USBV). Beinahe zeitgleich gelang es allen dreien zu fliehen und abzutauchen. Bis in das Jahr 2011 beging der NSU im Folgenden zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und fünfzehn Raubüberfälle. Dies alles hätte verhindert werden können, wenn das Zwickauer Trio am 26.01.1998 nicht entkommen wäre.

Die beteiligten Behörden versagten insofern, als sie das Abtauchen des Trios nicht verhinderten. Dabei drängt sich die Frage auf, wessen Versagen genau die ausschlaggebende Ursache für das Abtauchen des NSU-Trios am 26.01.1998 war. Oder anders formuliert: Welche Behörde trägt die Verantwortung dafür, dass es dem NSU-Trio gelang am 26.01.1998 zu entkommen? Die Relevanz dieser Fragestellung ergibt sich aus den dramatischen Folgen, die das erfolgreiche Abtauchen des NSU nach sich zog. Um in Zukunft zu verhindern, dass Strafverfolgungsbehörden derartige Dysfunktionen aufweisen, ist es von größter Bedeutung, exakt zu analysieren, welche der beteiligten Verwaltungen die Verantwortung trägt.

Hierzu nimmt diese Arbeit ein causal process tracing (CPT) vor, bei dem eine Kausalkette von notwendigen und hinreichenden Bedingungen identifiziert wird. Das Ziel dieses Vorgehens ist einerseits einen möglichen kausalen Mechanismus zu identifizieren, der bei diesem sehr speziellen Fall von Verwaltungsversagen im Hintergrund wirkte. Andererseits soll gezeigt werden, dass das CPT eine geeignete Methode ist, um in komplizierten Falllagen historische Verantwortung zuzuschreiben.

Am Ende der Analyse steht die Erkenntnis, dass die beiden entscheidenden kritischen Weggabelungen in der Kausalkette beim LKA und beim LfV anzusiedeln sind. Das Versagen dieser beiden Behörden ist also verantwortlich für das Ermöglichen der Flucht des NSU-Trios am 26.01.1998. Obgleich die StA fragwürdiges Fehlverhalten an den Tag legte, ist sie an der Kausalkette nur sekundär beteiligt und dementsprechend nicht verantwortlich für das Ergebnis. Die kritische Weggabelung im Verantwortungsbereich des LfV war das falsche framing der Bedrohungssituation. Dies führte zu einer perceptual defense-Haltung (Jervis 1976) bei den BeamtInnen der unterschiedlichen Behörden. Man wollte nicht wahr haben, wie groß die Bedrohung durch einen möglichen „Terrorismus von rechts“ im Thüringen der 90er Jahre wirklich war, weil die Verfassungsschutzberichte diese immer wieder herunterspielten. Die zweite kritische Weggabelung fällt in den Verantwortungsbereich des LKA. Dieses war nicht in der Lage eigentlich alltägliche Maßnahmen korrekt vorzubereiten, was zum Teil auf die trained incapacity (Merton 1964) der BeamtInnen zurückzuführen ist. So ist es im LKA üblich im Vorfeld von Durchsuchungsmaßnahmen nicht zu erörtern, wie man Zugang zu einem Objekt erlangt. Die Verzögerungen, die aus dieser erlernten Routine resultierten, eröffneten für Böhnhardt das Zeitfenster zur Flucht.

Nach dieser kurzen Einleitung geht das Kapitel 2 auf den momentanen Stand der Literatur und die Quellenlage zur „NSU-Affäre“ ein. Im Anschluss erläutert Kapitel 3 die Methode dieser Fallstudie. Dabei spielt nicht nur das Vorgehen selbst, sondern auch die Zielsetzung eine Rolle. Außerdem soll erklärt werden, inwiefern das Verwenden des Verantwortungsbegriffs die CPT-Analyse voraussetzt. Erst dann beginnt das Kapitel 4 mit der Beschreibung der Ereignisgeschichte selbst. Dabei gliedert es die Geschehnisse in vier Phasen auf: den Hintergrund, die Vorgeschichte, den Stichtag 26.01.1998 und die Nachgeschichte. Das Kapitel 5 stellt schließlich die eigentliche Analyse dar. Zwei Kausalketten werden identifiziert, die letztlich in Kapitel 5.3 zusammengeführt werden. Dabei werden die anwendbaren Theorien und der zugrunde liegende kausale Mechanismus vorgestellt. Das Kapitel 6 stellt Überlegungen zur Generalisierbarkeit der Ergebnisse an. Das letzte Kapitel stellt den abrundenden Schluss dieser Studie dar. Unter anderem soll hier eine kontrafaktische Erzählung illustrieren, wie eine erfolgreiche Strafverfolgung im Thüringen der 90er Jahre hätte aussehen können.

2 Stand der Literatur und Quellenlage

Der Forschungsstand zum NSU-Komplex ist momentan bestenfalls als mangelhaft zu bezeichnen. Mit punktuellen Ausnahmen ist das Gros der Literatur eher journalistischer Natur (vgl. Sundermeyer 2012, Gensing 2012). Eine Ausnahme hiervon ist der Sammelband „NSU Terror: Ermittlungen am rechten Abgrund“ (Schmincke & Siri 2013), der einige wissenschaftliche Essays zu diesem Themenkomplex enthält. Es fehlt allerdings auch hier eine fallstudienartige Analyse des Behördenversagens beim Abtauchen des NSU. Im Folgenden soll eine auszugartige Übersicht zu dieser Literaturlage gegeben werden.

Das Buch „Terror von Rechts“ des Journalisten Patrick Gensing (2012) gibt einige gut belegte Informationen zum NSU-Komplex. Allerdings enttarnt schon die Gliederung das Werk als journalistisch-deskriptiv. Auch wenn es inhaltlich recht ausführlich ist, so lässt sich doch kein wissenschaftliches Vorgehen erkennen.

Das Buch „Rechter Terror in Deutschland“ des Journalisten Olaf Sundermeyer (2012) beschreibt allgemein den rechtsradikalen Terrorismus in Deutschland von 1970 bis heute. Das Werk gibt einen guten Einblick in die gewaltbereite rechtsradikale Szene. Jedoch wird es dem wissenschaftlichen Standard einer Fallstudie nicht gerecht. Es subsumiert außerdem den NSU-Terror unter den breiteren Begriff „rechter Terror“. Dementsprechend entfällt weniger Platz auf das Zwickauer Trio selbst.

Einzig einige Essays aus dem Sammelband „NSU Terror: Ermittlungen am rechten Abgrund“, herausgegeben von Imke Schmincke und Jasmin Siri (2013), sind als wirklich wissenschaftlich zu bezeichnen. Einige Beispiele sollen hier Erwähnung finden: Die Politikwissenschaftlerin Lotta Mayer (2013) belegt in ihrem Beitrag, warum der NSU nicht „beispiellos“, sondern vielmehr typisch für die deutsche rechtsradikale Szene ist. Prof. Dr. Fabian Virchow (2013) argumentiert ähnlich, wenn er beschreibt, wie man durch den NSU als Prisma den Rechtsradikalismus in Deutschland analysieren kann. Heike Kleffners (2013) Essay „NSU: Rassismus, Staatsversagen und die schwierige Suche nach der Wahrheit“ kommt dem Bestreben dieser Arbeit schließlich am nächsten. Sie berichtet, dass

„[d]ie vier Untersuchungsausschüsse [...] massenhaft Belege zur Untermaue-rung der These von Versagen, Verharmlosung und Vertuschung durch Polizei und Geheimdienste gefunden [haben], aber keine Belege für eine aktive Unterstützung des NSU aus dem Sicherheitsapparat.“ (Kleffner 2013, 30)

Abschließend stellt sie fest, dass es nicht nur eine Kombination aus „Ignoranz und Inkompetenz“ (Kleffner 2013, 34) war, die dazu führte, dass der NSU so lange unerkannt morden konnte. Vielmehr steht bei ihr der latente Rassismus einiger BeamtInnen als Ursache des Staatsversagens im Zentrum (ebd.). Ihre Analyse beschränkt sich allerdings auf die Ermittlungen der unterschiedlichen Mordkommissionen zu der Českà-Mordserie. Zu den Umständen beim Abtauchen des Zwickauer Trios äußert sie sich nicht.

Eine wissenschaftliche Aufarbeitung des behördlichen Versagens beim Nichtfassen des NSU am 26.01.1998 fehlt bis dato. Die entsprechenden Arbeiten lassen entweder die wissenschaftliche Methode missen oder ihr Fokus ist nicht auf das Abtauchen der Zelle gelegt. Diese Arbeit soll beides leisten. Drei Berichte stellen die empirische Grundlage hierfür dar.

Der erste ist der „Zwischenbericht“ des Untersuchungsausschusses des Thüringer Landtags vom 07.03.2013, der sich hauptsächlich mit möglichem Fehlverhalten der Thüringer Behörden beschäftigt (THL DrS 5/5810 2013). Vor allem geht es in diesem Bericht darum, welche Behörde, zu welchem Zeitpunkt, über welche Information verfügte.

Die zweite Quelle ist das „Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des ‚Zwickauer Trios‘“ der sogenannten „Schäfer-Kommission“ vom 14.05.2012. Diese unabhängige Kommission unter dem Vorsitz des Vorsitzenden Richters am Bundesgerichtshof a.D. Gerhard Schäfer wurde durch den Thüringer Innenminister beauftragt. Sie untersuchte, ob die Thüringer Behörden sich aus einer juristischen Perspektive unachtsam verhielten (Schäfer et al. 2012).

Die letzte Quelle schließlich ist die sehr umfangreiche „Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 22 des Grundgesetzes“. Dieser Untersuchungsausschuss wurde am 26.01.2012 durch den Deutschen Bundestag eingesetzt und tagte 16 Monate lang. Das Ergebnis ist ein 1.357 Seiten langer Bericht, der sich mit dem NSU, seinem Abtauchen und der Rolle der deutschen Behörden dabei beschäftigt (BT DrS 17/14600 2013).

3 Die Methode des causal process tracing

Bevor die eigentliche Fallarbeit beginnt, muss die Methode dieser Analyse näher erläutert werden. Das Kapitel 3.1 geht auf die Grundlagen, das Vorgehen und vor allem das Ziel eines causal process tracing (CPT) ein. Das Kapitel 3.2 definiert zunächst den Begriff der Verantwortung und erklärt dann, warum diese Methode besonders zum Klären der Frage nach derselben geeignet ist. Das letzte Kapitel 3.3 beschreibt die Fallauswahl, wobei es die Relevanz der Forschungsfrage erläutert.

3.1 Grundlagen, Vorgehen und Ziel

Ziel des Kapitels ist es die Methode dieser Fallstudie, ihre theoretischen Implikationen und die dazugehörigen Begriffsdefinitionen darzulegen. Fallstudien sehen sich der paradoxen Situation gegenüber, dass sie zwar sehr viel Wissen über die empirische Welt liefern, ihre Methode allerdings häufig verkannt wird (Gerring 2007). Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Methode häufig nicht ausreichend reflektiert und dementsprechend nicht hinreichend verstanden wird (ebd.). Dem soll dieses Kapitel entgegenwirken.

Diese Arbeit verfolgt den methodischen Ansatz des CPT (Blatter & Haverland 2012). Dabei handelt es sich um eine Y-zentrierte Analyse, die sich ausschließlich innerhalb eines Falls bewegt. Eine solche Fallstudie versucht komplexe Konfigurationen unterschiedlicher kausaler Ursachen (X) zu identifizieren, die ein bestimmtes outcome[2] (Y) nach sich ziehen (Blatter & Haverland 2012).

Die Grundlage des CPT ist ein „konfigurationales Verständnis von Kausalität“ (Blatter & Haverland 2012, 80, eigene Übersetzung). Das heißt der Analyst nimmt an, dass fast alle outcomes auf eine Kombination mehrerer Kausalfaktoren bzw. ein Set unterschiedlicher Bedingungen zurückzuführen ist. Verschiedene Kausalfaktoren können dementsprechend zum gleichen Ergebnis führen (Äquifinalität) oder ein und derselbe Kausalfaktor kann in verschiedenen Kontexten unterschiedliche outcomes erzeugen (kausale Heterogenität). Die Bausteine für dieses konfigurationale Denken sind notwendige und hinreichende Bedingungen (Blatter & Haverland 2012). Eine notwendige Bedingung ist ein Kausalfaktor (X) dann, wenn das outcome (Y) ohne ebendiesen nicht auftaucht. Nichtsdestotrotz muss die Existenz von X nicht unbedingt zu Y führen. Eine hinreichende Bedingung hingegen ist ein Kausalfaktor (X), bei dessen Existenz das outcome (Y) immer auftaucht. Aber auch wenn X immer zu Y führt, so ist Y doch auch ohne X möglich. Schließlich gibt es noch den beitragenden Faktor (contributing factor), der nicht den gleichen kausalen Stellenwert wie notwendige und hinreichende Bedingungen hat (Goertz & Levy 2007). Er stellt einen dritten Typus des Kausalfaktors dar, der weder notwendig noch hinreichend für das outcome ist. Und doch ist er „part of the set of conditions which are sufficient for Y“ (Goertz & Levy 2007, 10).

Entscheidend ist zu bedenken, dass das Argumentieren mit notwendigen Bedingungen immer einer kontrafaktischen Vorgehensweise entspricht. Oder wie Goertz und Levy (2007, 15) schreiben: „To assert a necessary condition is simultaneously to assert a counterfactual: they are bound together“. Eine Schlussfolgerung über kausale Inferenz findet in dieser Analyse also immer über die kontrafaktische Überlegung statt, dass das outcome Y nicht zustande hätte kommen können, wenn die Bedingung X nicht gewesen wäre. Da die Bedingung X und das outcome Y aber de facto aufgetreten sind und kein Vergleichsfall vorliegt, ist diese Argumentation kontrafaktisch. John Gerring (2007, 182) beschreibt diesen Umstand wie folgt: „[O]ne finds oneself comparing states of affairs as they exist to states of affairs as they might have existed“.

Die Argumentationsweise einer CPT-Analyse begründet sich also auf mehrere Annahmen über das Wesen von Kausalität. Einerseits bedient sie sich eines konfigurationialen Verständnisses von Ursache-Wirkungs-Prinzipien, andererseits impliziert dieses vor allem aufgrund seiner Verwendung von notwendigen Bedingungen eine kontrafaktische Vorgehensweise bei der Argumentation.

Konkreter geht das CPT dieser Arbeit wie folgt vor: Zunächst gibt der Autor im Kapitel 4 die Ereignisgeschichte in Form eines einheitlichen Handlungsstrangs (comprehensive storyline) wider (Blatter & Haverland 2012). Notwendige und hinreichende Bedingungen werden dann im Kapitel 5 zu einer Kausalkette zusammengesetzt, die den Wirkungsprozess darstellt (Goertz & Levy 2007). Die Arbeit geht noch im gleichen Kapitel auf beitragende Faktoren ein. Dabei werden mögliche kritische Weggabelungen (critical junctures) identifiziert. Zeitlich vor einem solchen kritischen Moment ist eine ganze Bandbreite von outcomes möglich. Danach wird diese Bandbreite allerdings durch situationelle oder strukturelle Faktoren massiv eingeschränkt (Goertz & Levy 2007). Die Idee der kritischen Weggabelung hängt offensichtlich eng mit dem Konzept der Pfadabhängigkeit zusammen (Pierson 2000). Sie gleicht einer „Weichenstellung“, die eine Pfadabhängigkeit für zukünftige Ereignisse fixiert.[3]

Das Ziel dieses Vorgehens ist nicht nur historische Wahrheit zu finden und Verantwortung für bestimmte geschichtliche Vorkommnisse zuzuschreiben (Blatter & Haverland 2012). Noch wichtiger ist, dass die Ergebnisse dabei helfen „to identify many possible steps for intervention to prevent the same outcome from occuring again“ (Blatter & Haverland 2012, 84). Es gibt dem Beobachter die Möglichkeit zu beurteilen, an welcher Stelle des Kausalprozesses man in Zukunft eingreifen müsste, um das unerwünschte outcome zu verhindern. Das CPT kann Lernprozessen vorausgehen. Damit deutsche Behörden aus dem Geschehenen lernen können, bedarf es einer eingehenden Analyse des Falls, denn

„organizations adapt their behaviour in terms of their experience, but that experience requires interpretation. They learn under conditions in which goals (and therefore “success“ and “failure“) are ambiguous or in conflict, in which what happened is unclear, and in which causality of events is difficult to untangle.“ (March & Olsen 1975, 148; eigene Hervorhebungen)

Das CPT kann eine solche Interpretation der Vorkommnisse liefern und die komplexe Konfiguration von Kausalfaktoren entschlüsseln.

Eine passende Analogie zum CPT entwirft Gerring (2007), der es aufgrund seines Umgangs mit empirischen Beobachtungen als „Detektivarbeit“ bezeichnet:

„In these respects, process tracing is akin to detective work. The maid said this; the butler said that; and the suspect was seen at the scene of the crime on Tuesday, just prior to the murder. Each of these facts is relevant to the central hypothesis – that Jones killed Smith – but they are not directly comparable to one another.“ (Gerring 2007, 173)

Das Bild des Detektivs, der einem Mörder auf der Spur ist, passt in mehrerlei Hinsicht zum CPT. Um in Zukunft zu verhindern, dass jemand auf dieselbe Art und Weise ermordet wird, ist es einerseits notwendig, den Mord Schritt für Schritt zu analysieren. Andererseits muss durch das Finden von historischer Wahrheit Verantwortung zugeschrieben werden, um den Mörder letztendlich zu identifizieren.

Schließlich ist anzumerken, dass sich die Arbeit des rational choice-Ansatzes von Barabara Geddes (2003) bedient. Vor allem im Hinblick auf das Konzept von kritischen Weggabelungen ist ihr Ansatz äußerst nützlich. Wie sie selbst betont, liefern „rational choice arguments often [...] sufficient leverage for explaining path-dependent outcomes“ (Geddes 2003, 190). Eine ausführliche Darstellung ihres rational choice-Ansatzes überstiege allerdings die Kapazität dieser Arbeit.[4] Erwähnung sollen nur drei ausgewählte Aspekte finden, die laut Geddes (2003) bei einer guten Analyse im Zentrum stehen sollten:

Das Individuum ist die Handlungseinheit (methodologischer Individualismus).

Psychologische und kognitive Mechanismen sollen besonders berücksichtigt werden.

Vor allem müssen kontextuelle Faktoren identifiziert werden, die die Entscheidungsfähigkeit der Akteure beeinträchtigen (Zugang zu Informationen, Kapazität diese zu verarbeiten, Risikoverhalten, etc.).

All diese Punkte sollen in der folgenden Arbeit berücksichtigt werden. Geddes‘ Ansatz unterstreicht zudem die Bedeutung einer individuellen Analyseebene. Vor allem psychologisierende Erklärungstheorien – wie sie von Jervis (1976) und Merton (1964) entworfen werden – eignen sich hervorragend dazu, in einer solchen Analyse Anwendung zu finden (McDermott 2004).

3.2 Die Bedeutung des CPT für das Zuschreiben von Verantwortung

Die Frage nach den Verantwortlichen für ein historisches Phänomen gestaltet sich selten als einfach. Vor allem wenn ein Unglück, ein Verbrechen oder eben das Versagen einer zuständigen Behörde vorliegt, wird sie relevant. Der Philosoph Kurt Bayertz (1995) formuliert seinen Verantwortungsbegriff mit einem konkret individuell-menschlichen Bezug. „Verantwortlich“ ist demnach diejenige Person, deren Handeln die kausale Ursache für das beobachtete Phänomen ist (ebd.). Es geht also um die Zurechnung von Folgen zum handelnden Subjekt. Diese Konzeption deckt sich auch mit dem Sprachgebrauch und der moralphilosophischen Tradition des Schuldbegriffs (ebd.). Die Suche nach dem „Verantwortlichen“ gleicht der Suche nach dem „Schuldigen“. Außerdem unterstreicht diese Definition, dass der Gebrauch des Verantwortungsbegriffs eines eingehenden Nachdenkens über Kausalitäten bedarf. Oder anders gesagt: Dem Nachdenken über Verantwortung muss das Nachdenken über die Natur von Ursache-Wirkungs-Beziehungen vorausgehen. Dies sollte im Kapitel 3.1 geleistet werden.

John Kaler (2002) nimmt im Gegensatz dazu bei seiner Definition eine Zweiteilung vor. Es gibt demnach die „kausale“ Verantwortung, wie sie auch bei Bayertz (1995) beschrieben wird. Diese ist allerdings nur sekundär, denn es geht ihr eine sogenannte „duties owed“-Verantwortung voraus (Kaler 2002, 327). Diese „primäre Verantwortung“ ist gleichbedeutend mit dem Begriff Pflicht oder Verpflichtung. Sobald eine Person gegen eine ihr zugeschriebene Pflicht verstößt, ist sie für die Resultate dieses Verstoßes verantwortlich. Der Strafvollzug ist eine staatliche Kernaufgabe (Bogumil & Jann 2009). Dies entspricht der primären Verantwortungskonzeption nach Kaler (2002). Dementsprechend ist für ein nicht erfolgreiches Umsetzen des Strafvollzugs die jeweilige staatliche Verwaltung verantwortlich. Oder wie es Kaler (2002, 328) mit Hinblick auf seine primäre Verantwortungskonzeption selbst ausdrückt: „It must be that bringing about bad situations involves a failure to fulfil responsibilities.“

In diesem Zusammenhang soll noch kurz darauf eingegangen werden, inwiefern der Verantwortungsbegriff dieser Arbeit von dem allgemein philosophischen abweicht. Das philosophische Verständnis geht zumeist auf zwei Bedingungen aus Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik zurück (Sher 2010). Dementsprechend muss das Subjekt einerseits frei aus unterschiedlichen Handlungsalternativen wählen können (ebd.). Andererseits muss es sich seiner Handlung selbst und der dazugehörigen Konsequenzen bewusst sein (ebd.). Die letztere epistemische Implikation wird der Analyse dieser Arbeit allerdings nicht gerecht. Der Autor folgt der Annahme von March und Olsen (1975, 148), dass Organisationen „frequently act on incom-plete or incorrect information and without being aware of all their alternatives“. Speziell bei einer „Ordnungsverwaltung“ (Bogumil & Jann 2009) wie den deutschen Strafverfolgungsbehörden müssen BeamtInnen auch für Handlungsergebnisse, die sie nicht intendiert haben, als verantwortlich bezeichnet werden. Hier weicht der Verantwortungsbegriff dieser Arbeit von der metaphysischen Definition der Philosophie ab, weil er sich auf eine staatliche Behörde und ihren primären Verantwortungsbereich bezieht. Um es mit Robert Merton (1936) zu sagen, ist eine öffentliche Verwaltung auch für nicht-antizipierte Folgen ihres eigenen Handelns verantwortlich.

Eine für diese Arbeit schlüssige Definition könnte die folgende sein: Eine Strafverfolgungsbehörde ist dann für ein Phänomen verantwortlich, wenn ihr Handeln (oder Nicht-Handeln) als entscheidende kausale Ursache dafür anzusehen ist (Campbell et al. 2010).[5]

Der CPT-Ansatz ist als Methode für diese Verantwortungskonzeption von besonderer Bedeutung. Er unterscheidet Arten von Kausalfaktoren, die es erlauben, differenziert zu beurteilen, bei wem die Verantwortung für ein bestimmtes outcome wirklich liegt. Wie oben angesprochen, ist ein systematisches Aufarbeiten von kausalen Konfigurationen für die Klärung von Verantwortungszuschreibungen unerlässlich. So einfach die Frage nach den Verantwortlichen oberflächlich erscheinen mag, so komplex ist der Versuch einer Antwort. Die folgende Analyse wird zeigen, wie das CPT dazu verwendet werden kann.

3.3 Die Fallauswahl

Die Fallauswahl erfüllt beim CPT andere Kriterien als bei vielen anderen Studien. Es sollte ein Fall gewählt werden, bei dem die entsprechende Quellenlage sehr gut ist. Da das CPT sehr viel Recherchearbeit und eine sehr detailreiche Kenntnis des Falls erfordert, ist eine leicht zugängliche und umfangreiche Primärliteratur gewissermaßen eine notwendige Bedingung (Blatter & Haverland 2012). Auf die konkrete Quellenlage dieses Falls ist bereits an anderer Stelle hingewiesen worden (siehe Kapitel 2).

Noch wichtiger für die Fallauswahl ist aber die gesellschaftliche, politische und soziale Relevanz des Falls (Blatter & Haverland 2012). Die Relevanz der Frage, wie der NSU überhaupt abtauchen konnte, ergibt sich aus den dramatischen Folgen, die dies nach sich zog. Das Kapitel 4.4 liefert eine kurze Zusammenfassung der Straftaten des NSU in den Jahren 1998 bis 2011. Vor allem für deutsche Behörden und deren Blick in die Zukunft sollte es von größtem Interesse sein, welcher Aspekt die entscheidende kausale Ursache war.

[...]


[1] Die Abkürzungen der beteiligten Behörden LKA, LfV und StA beziehen sich im Folgenden immer konkret auf die Landesbehörden in Thüringen.

[2] Der Autor hat sich bemüht alle englischen Begriffe ins Deutsche zu übersetzen. In Ermangelung einer exakten Übersetzung des systemischen Begriffs „outcome“ (Blatter & Haverland 2012, 95) soll in dieser Arbeit hierfür ausnahmsweise die englische Version verwendet werden.

[3] Eine kritische Weggabelung kann bereits ein kleines Vorkommnis sein, denn „large consequences may result from relatively small or contingent events“ (Pierson 2000, 251).

[4] Verkürzt ließe sich zusammenfassen, dass der rational choice-Ansatz ihrer Meinung nach vier Kernelemente besitzt: „(1) methodological individualism [...]; (2) explicit identification of actors and their goals or preferences; (3) explicit identification of the institutions and other contextual features that determine the options available to actors and the costs and benefits associated with different options; and (4) deductive logic“ (Geddes 2003, 191).

[5] Betont werden muss an dieser Stelle, dass es sich hier nicht um die Suche nach der „juristischen Verantwortung“ handelt. Die im Sinne dieser Arbeit „verantwortliche“ Verwaltung muss keine Gesetze gebrochen haben. Dementsprechend versucht diese Arbeit auch nicht zu untersuchen, ob eine gewisse Verwaltung im juristischen Sinne schuldig ist.

Ende der Leseprobe aus 48 Seiten

Details

Titel
Das Versagen der Deutschen Strafverfolgung beim Abtauchen des NSU-Trios
Untertitel
Welche Behörde war verantwortlich?
Hochschule
Universität Konstanz
Veranstaltung
Politikwissenschaft
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
48
Katalognummer
V301561
ISBN (eBook)
9783668000445
ISBN (Buch)
9783668000452
Dateigröße
798 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rechtsextremismus, Thüringen, Strafverfolgung, Behördenversagen, NSU, Nationalsozialistischer Untergrund, Terrorismus
Arbeit zitieren
Maximilian Woidich (Autor:in), 2014, Das Versagen der Deutschen Strafverfolgung beim Abtauchen des NSU-Trios, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/301561

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