Rezension des Werkes "Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500 bis 1800" von Paul Münch


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

16 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.) Einleitung

2.) Erkenntnisinteresse der Monographie

3.) Lebenswelten in der Frühen Neuzeit

4.)Lebensformen in der Frühen Neuzeit
4.1.) Mensch und Klima
4.2.) Haus und Familie
4.3.) Kranheit, Alter und Tod

5.) Kritische Würdigung der Monographie

Literaturverzeichnis

1.) Einleitung

Die frühe Neuzeit in ihrer Kompaktheit und Komplexität zu erfassen und den historischen Erkenntniswert aus der heutigen Betrachtungsweise zu dekodieren, gestaltet sich aufgrund einer diffusen Quellensituation oftmals als ein sehr schwieriges bis hin zu einem zwecklosen Unterfangen. Nicht zuletzt ist es demnach umso erstaunlicher, dass Paul Münch dieser Versuch mit seiner Monographie „Lebensformen in der frühen Neuzeit 1500-1800 Jahrhundert“, bemerkenswert gelungen ist. Münchs Monographie wurde im Jahr 1992 erstmals aufgelegt, ehe sie 1996 in einer überarbeiteten Taschenbuchvariante - welche als Vorlage der Rezension dient - durch den Ullstein Verlag neu präsentiert werden konnte.

Der Autor der vorliegenden Studie, Paul Münch, ist ein bekannter Historiker und wurde 1941 geboren. Der Forschungsschwerpunkt seiner Studien liegt im Themenbereich der Frühen Neuzeit und den damit verbunden kulturellen, geographischen und soziostrukturellen Konfliktherden.1

Die vorliegenden Studie richtet sich an an breit gefächertes Publikum und kann sowohl Schülern, Lehrern, Studenten und Professoren aber auch historisch interessierte Personen, die sich nicht auf einem akademischen Pfad befinden, als Einstieg und Überblick in eine komplexe Epoche der Geschichtsschreibung dienen. Münch bemüht sich, eine Vielzahl von Untersuchungsmethoden anzuwenden und greift somit nicht nur auf herkömmliche Schriftquellen, sondern ebenfalls auf empirische Forschungen, Analysen und Statistiken zurück. Weiterhin bedient er sich Quellen, in Form von Briefen, Tagebucheinträgen und Memoiren, wodurch seine Studie eine besondere Intensität und Glaubwürdigkeit erlangt. Allgemein stützt sich Münch auf unzählige Quellen und empirische Untersuchungen, die für intensives und detailliertes Arbeiten in diversen Archiven sprechen.

Die Zielsetzung der folgenden Rezension ist es, den Inhalt und das Erkenntnisinteresse der Monographie aufzuschlüsseln und aus heutiger historischer Betrachtungsweise näher zu beleuchten. Dafür soll der Forschungskontext, der dieser Studie zugrunde liegt untersucht und erweitert werden, sowie die verwendeten Quellen vorgestellt und in Relation zur Studie gesetzt werden. Zum Abschluss der Rezension folgt eine kritische Würdigung Münchs Werk, unter Berücksichtigung weiterer Literatur.

2.) Erkenntnisinteresse der Monographie

Paul Münchs Studie besteht aus zwei Hauptteilen, die sich wiederum in diverse Unterthemen gliedern. Diesen Kapitel ist ein Vorwort zur Taschenbuchausgabe und ein kurzer Essay des Autors, der sich „Riskierte Zeiten“ nennt vorangestellt. Hier schreibt Münch, dass „das historische Gedächtnis der Gesellschaft die Ära zwischen Mittelalter und dem industriellen Zeitalter weitgehend ausblendet. Was von den dreihundert Jahren zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert Aufmerksamkeit findet, gleicht einem kruden Gemisch isolierter Daten und Fakten, ohne innere Einheit, voller Widersprüche“2 Münch versucht zu veranschaulichen. Dass viel Potenzial in dieser Epoche steckt, wenn sich der interessierte Leser auf das Thema einlassen kann. Aus heutiger Betrachtungsweise wird deutlich, dass die Frühe Neuzeit mehr darstellt, als die Geschichte von Modernisierung und Rationalisierung. Die Epoche eröffnet die Möglichkeit, das vorindustrielle Zeitalter neu zu sehen und anders wahrzunehmen, wenn der Leser es „riskiert“, die eigenen Begrenzungen abzulegen „und die vormoderne Zeit aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus neu zu rekonstruieren“3 Das Hauptziel seiner Monographie ist dementsprechend der Versuch, Erkenntnisse aus der Frühen Neuzeit herauszustellen, die sich auf heutige Betrachtung von Geschichte auswirken. Diesen Versuch hat vor Paul Münch bereits Arno Borst4 unternommen, der mit seiner Monographie „Lebensformen im Mittelalter“, welche 1973 im Propyläen-Verlag erschien, ein ähnliches Themengebiet bearbeitet. Hierbei handelt es sich um einen frühen Versuch, die Frühe Neuzeit unter diversen Blickwinkeln zu betrachten, um eine Sichtweise auf die Lebenswirklichkeit zu generieren. Beide Autoren sind darauf bedacht, den Schleier der Unwissenheit zu durchbrechen, um zu zeigen, dass „viele in der Frühen Neuzeit erwachsenen Lebensformen […] [überdauern].5 Münch geht in seinen Überlegungen allerdings weiter als Borst, indem er das Erleben von Geburt, Krankheit und Tod, den Umgang der Menschen miteinander, das Wohnen. Arbeiten und Feiern sowie den Zusammenschluss in Gruppen spezifisch benennt und als Argumente für seine These verwendet.

Das Vorwort „Riskierte Zeiten“ eröffnet die Zielsetzung und das Erkenntnisinteresse des Autors. Er umschreibt damit eine Lebensgemeinschaft, die zwar aus dem Mittelalter herausgerissen war, den Gesellschaftsvertrag der Moderne mit den damit verbundenen Normen und Werten allerdings noch nicht herausgebildet hat.

3.) Lebenswelten in der Frühen Neuzeit

In der Kapiteleinteilung orientiert sich Paul Münch noch sehr stark an Arno Borsts Vorgehensweise, dessen erstes Kapitel „Condicio Humana“6 heißt und ebenfalls die Lebenswelten der Frühen Neuzeit beschreibt. Hierbei begeben sich Paul Münch und Arno Borst auf dem Pfad von Alltags- und Mentalitätsgeschichte und dem sogenannten „Lebensweltkonzepts“

Beide Autoren betrachten die Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und evaluieren die politische sowie die soziale Struktur. Nicht zuletzt entwickelt Münch in seinen Ausführungen auch einen kritischen Blick auf das sogenannte „Alte Reich“, indem er herausstellt, dass es schwierig ist, eine gemeinsame Identität der Bevölkerung auszumachen und klare Grenzen zu ziehen. Eine derartige Aussage lässt sich bei Arno Borst hingegen nicht finden, was nicht zuletzt auf die 20 Jahre Forschung zwischen den Veröffentlichungen zurückzuführen ist.

Darüber hinaus behandelt Münch in seinem Kapitel „Lebenswelten“ die Sozialstruktur in der Frühen Neuzeit. Er widmet sich den Ständen und Schichten und der Frage nach Ordnung und Unordnung, sowie nach Hierarchie und den damit verbundenen Problemen. Die Ordnung stellt ein zentrales Thema der Frühen Neuzeit dar. 1630 schrieb der Philosoph Johann Heinrich Alsted in seiner Enzyklopädie „Nichts ist schöner, nichts ist fruchtbarer als die Ordnung. Die Ordnung verschafft auf dem riesigen Theater dieser Welt allen Dingen Wert und Rang. […]“.7 Das Entstehen einer Ordnung erklärten sich die Menschen mithilfe der Bibel und der Kirche. „Man glaubt, das Gott die Sterne ein für allemal an ihre Orte am Himmel gesetzt habe und dass ihre Kraft und Wirkung verhindert würden, wenn ihr Platz auch nur die geringste Änderung erführe.“8 Diese Sichtweise wurde auf die gesellschaftlichen Strukturen übertragen. Allgemein wurde davon ausgegangen, dass ein Leben nur funktionieren könne, wenn es auf dieser kosmischen Vorstellung aufbauen würde. Damit einhergehend war ein hierarchisches System verbunden, das zwangsweise zur Ungleichheit führen musste. Während heutzutage die Gesellschaft ein Konstrukt aufeinander aufbauender und miteinander harmonisierender Teile darstellt, wurde diese in der frühen Neuzeit als wirksame „Herrschaftskreise, in dem die Position jedes Einzelnen genau umrissen war“9 beschrieben. An der Spitze stand immer die Obrigkeit, die sich den Untertanen zur Friedenswahrung und Einhaltung der Gerechtigkeit verpflichtete. In einem Haus, setzte sich die sogenannte ideale Form aus drei verschiedenen „Gesellschaften“ zusammen. Zunächst handelt es sich hierbei um die „Societas coniugalis“, der Ehe zwischen Mann und Frau. Weiterhin um die „Societas paternalis“, der Elternschaft und schließlich um die „Societas herilis“, einem Arbeitsverhältnis zwischen Hausherr und Knecht bzw. Magd.10 Insgesamt handelt es sich hierbei um die typischen Kennzeichen der ständischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit.

Um Münchs Ausführungen noch weiter zu vertiefen und zu erweitern, lohnt sich das Heranziehen weiterer Autoren, die sich ebenfalls - unter anderen Blickwinkeln - mit Ordnung und Unordnung in der Frühen Neuzeit beschäftigten. Michaela Hohkamp nimmt in ihrer Studie „Häusliche Gewalt, Beispiele aus einer ländlichen Region des mittleren Schwarzwaldes im 18. Jahrhundert“ beispielsweise das Thema Gewalt besonders in den Fokus. Hohkamp selbst grenzt sich von Positionen in der Geschichtsforschung ab, welche Gewalt in der Vormoderne als alltäglich angesehen und als legitimes Mittel der Konfliktregulierung verstanden haben. Ihrer Ansicht nach, ist Gewalt keine Bagatelle und ein zentrales Forschungsthema der Frühen Neuzeit.11 Während bei Paul Münch keine Aussagen zur Gewaltentwicklung und -bereitschaft getroffen werden, schildert Michaela Hohkamp, dass vor allem Frauen durch die Gewalt betroffen waren. Die meisten Gewaltanzeigen wurden allerdings von Männern als Vormund des Hauses eingereicht, die andere Männer anzeigten, die den Frauen ihres „ganzen Hauses“ Gewalt antaten. Aus Furcht vor Statusverlust kamen solche Anzeigen dennoch relativ selten vor, da die sozialen Netze in denen die Familien eingebunden waren sehr stark wirkten. Lediglich der große öffentliche Druck durch die Nachbarschaft beispielsweise oder die Tatsache, dass die ökonomische Basis des Hauses unter den Gewaltakten so stark gelitten hatte, dass es ohnehin zu immensen wirtschaftlichen Schäden kommen würde, waren laut Hohkamp Gründe, die zu einer Anzeige führten.12 Es wäre durchaus wünschenswert gewesen, hätten sich Paul Münch und Arno Borst diesem Thema mit ähnlichem Interesse angenommen wie es Michaela Hohkamp getan hat. Stattdessen steht bei den beiden Autoren vielmehr die Ungleichheit im Fokus. Die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft wurde als natürlich oder von Gott gegeben betrachtet und steht dementsprechend immer im Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung in der frühen Neuzeit. Es entstand eine Sozialstruktur, in welcher es immer einen Herrschenden und einen Untertanen geben musste. „Auf jeder Ebene gab es privilegierte Menschen, die herrschen, und abhängige, die gehorchen müssen.“13 Ungleichheit war für die Menschen in der frühen Neuzeit selbstverständlich. Mit einer Umkehrung von hierarchischen Strukturen verband man Unordnung und Anarchie und den Verfall in chaotische Zustände.

4.)Lebensformen in der Frühen Neuzeit

In dem zweiten Kapitel der Monographie setzt sich Münch sehr detailliert mit den Lebensformen und somit der mit Alltagsgeschichte in der Frühen Neuzeit auseinander. Auch hierbei orientiert sich Münch an seinem Vorgänger Borst, dessen zweites Kapitel ebenfalls die Alltagsgeschichte behandelt und als „Societas Humana“ gekennzeichnet ist. Im Vergleich zum ersten Kapitel der Monographie „Lebenswelten“ und in Abgrenzung zum Aufbau von Arno Borst, handelt es sich bei den Lebensformen um den dreifachen Umfang. Während Arno Borst beiden Kapitel ungefähr gleich viel Bearbeitungsraum zugesprochen hat, legt Münch sehr bewusst den Fokus auf die Alltagsgeschichte, um das Leben der Menschen aus heutiger Geschichtsschreibung greifbar zu machen.

Münch beschäftigt sich in diesem Kapitel mit dem Menschen und dem Klima, dem Lebensrythmus und dem Zeitbewusstsein, dem Haus und der Familie, der Kindheit und Jugend, der Geselligkeit, der Nahrung und Wohnung, der Arbeit und Fleiß, der Freizeit, der Krankheit, dem Alter und Tod sowie dem Verkehr und der Kommunikation. Im folgenden werden in dieser Rezension Münchs Überlegungen zum Menschen und Klima, zum Haus und der Familie und zur Krankheit, Alter und Tod genauer beleuchtet, um einen Einblick in die Arbeitsweise zu ermöglichen und den methodischen Zugang zu gewähren .

4.1.) Mensch und Klima

Das Wetter stellte in der frühen Neuzeit eine existenzielle Komponente dar. „Wetterkatastrophen mit Blitz- und Hagelschlägen, Überschwemmungen, Sturmfluten, extremen Kälte- oder Hitzeperioden führten regelmäßig zu tiefen Störungen, deren Folgen oft Jahre dauernde existenzielle Krisen bedeuteten.“14 Münch beschreibt, wie die Menschen versuchen, das Wetter vorhersagen zu können und somit die eigene Existenz zu sichern. „Es unterstreicht Münchs Einfühlungsvermögen, dass er astrologische Vorhersagepraktiken nicht einfach als abergläubischen Nonsens abtut, sondern als einen ersten Versuch des neuzeitlichen Menschen ansieht, seine Zukunft zu planen und dadurch in den Griff zu bekommen.“15 Für die heutigen Debatten über die globale Erwärmung und die Klimaveränderungen sind Münchs Schilderungen über die kleine Eiszeit, die zum Ende des 16 Jahrhunderts einsetzte, besonders erwähnenswert. Dieser Abkühlung des Klimas sind jahrelange Wärmephasen im Mittelalter vorausgegangen. Zwischen 1000 und 1200 wurde sogar von einem Klimaoptimum gesprochen, das den Bauern mehrere ertragreiche Jahre einbrachte und das persönliche Kapital steigerte.16 Um 1560 herum änderte sich das Klima schließlich bedenklich. Die Winter wurden sehr lang, hart und kalt. Oftmals gab es eine über Wochen anhaltende, geschlossene Schneedecke, die ein landwirtschaftliches Arbeiten nicht möglich machten. Die einsetzende Schneeschmelze führte schließlich zu Überschwemmungen und Sturmfluten, die sich mit mitunter als so verehrend präsentierten, dass zahlreiche Menschen und Tiere in den Fluten ertranken und erhebliche Schäden an Wohnhäusern, Scheunen oder Feldern entstanden.17 Ähnlich wie die Ungleichheit wurden die klimatischen Bedingungen als Schicksal und von Gott gegeben betrachtet. „Dahinter stand die Anschauung von einer generellen Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur, die man sich lange von Gott als der letztlich bestimmenden Instanz gesteuert dachte.“18

Münch knüpft Verbindungen zwischen den dramatischen Wetterentwicklungen und den soziokulturellen Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft. Aufgrund des geringen Ertrages, gab es auch weniger Nahrung und weniger Abgaben. Der Daseinskampf innerhalb der Bevölkerung wurde dementsprechend verschärft. Münch verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass der starke Anstieg der Hexenverfolgung in diesem Zeitraum durchaus nicht als Zufall zu betrachten ist. Ähnlich wie Wolfang Behringer19, der in seiner Studie „Hexen und Hexenprozesse in Deutschland“ herausstellt, dass Schuldige für die dramatischen Entwicklungen gefunden werden mussten, greift Paul Münch diese Erklärung auf. Allgemein bedient sich Münch zahlreicher historischer Wetterdaten, die er in einem logischen Aufbau miteinander vergleicht und in Beziehung setzt. Seinen Ausführungen kann somit eine Plausibilität nicht abgesprochen werden.

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass Münch sich so ausführlich mit dem Klima in der Frühen Neuzeit beschäftigt und somit ein neues Feld bearbeitet, das bei Arno Borst überhaupt nicht zur Sprache kam. Dass Münch mit seinen Überlegungen zum Klima einen durchaus wichtigen Beitrag zur historischen Wahrnehmung des Wetters geleistet hat, zeigt sich spätestens seit Wolfgang Behringer im Jahr 2007 dem Wetter in der Geschichtsforschung eine gesamte Monographie widmete. In „Kulturgeschichte des Klimas von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung“ beschreibt Behringer sehr detailliert, welche Konsequenzen die dramatischen Wetterentwicklungen in der Frühen Neuzeit für das Leben der Menschen hatte. Ähnlich wie Münch schildert Behringer, dass das Klima eine sehr angespannte Stimmung innerhalb der Gesellschaft schuf. In Erweiterung zu Münch nennt er allerdings neue Formen der Anpassung. „Es begann der typisch europäische rationale Umgang mit Krisen. Man hortete Vorräte, verbesserte den Anbau etwa durch Einsatz von Düngern, schaffte Infrastrukturen.“20 Behringer sieht in diesen anfänglichen Bestrebungen der Menschen mit der „kleinen Eiszeit“21 umzugehen, den Anfang der industriellen Revolution sowie die Möglichkeit, weitere bahnbrechende Erfindungen zu kreieren. 22

4.2.) Haus und Familie

Mit dem Begriff des „ganzen Hauses“ wird ein Konzept vorgestellt, das einen wichtigen Beitrag zur Analyse und zur Erklärung der Gesellschaft in der Frühen Neuzeit leistet. Geprägt wurde dieses Konzept zunächst durch Otto Brunner, der anhand der Hausväterliteratur23 des 17./18. Jahrhunderts die grundsätzlichen Prinzipien des vormodernen häuslichen Lebens und Wirtschaftens zu rekonstruieren versucht. Paul Münch greift dieses Konzept in seinen Ausführungen zu den Lebensformen komplett auf und orientiert sich dabei zunächst stark an den vorherrschenden Forschungsmeinungen sowie den Überlegungen von von Otto Brunner.

Münch stellt als eine Besonderheit des „ganzen Hauses heraus, dass meistens eine Verbindung von Haushalt und Betrieb vorhanden war. Dementsprechend mussten sich die Bewohner des Hauses mit anfallenden Arbeiten in der Landwirtschaft, der Werkstatt oder der Produktion auseinandersetzen.24 Aufgrund der vielen verschiedenen Parteien, die allesamt ihre Aufgaben- und Tätigkeitsfelder zu bewältigen hatten, gab es hierarchische Strukturen innerhalb eines Hauses, die der gesellschaftlichen Norm entsprachen. Otto Brunner spricht in seinem Aufsatz „Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik““ von einem Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- und Herrschaftsverband, der durch die Einheit von Produktion und Reproduktion gekennzeichnet ist. Brunner beschreibt weiterhin die vielfältigen Funktionen des „ganzen Hauses“. Zunächst handelt es sich hierbei um primäre und sekundäre wirtschaftliche Produktion, sowie die Fortpflanzung und Kindererziehung. Nicht zuletzt spielen allerdings auch die Vermittlung von kirchlichen und weltlichen Normen sowie die Versorgung von Alten und Kranken eine übergeordnete Rolle in der Hierarchie des „ganzen Hauses“25

In Paul Münchs Monographie gibt es keine Überlegungen zu den vielfältigen Funktionen innerhalb des „ganzen Hauses“, sondern vielmehr zur Struktur und zur Ordnung der Lebensgemeinschaft. An der Spitze der Hierarchie stand der sogenannte „Hausvater“, dem die ganze Macht und Entscheidungsgewalt in den häuslichen Angelegenheiten zukamen. „Als Herr eigenen Rechts war er für den Hausfrieden verantwortlich und übte ein im Wortsinne patriarchalisches Regiment über die Angehörigen des „ganzen Hauses“.26 Dem Hausherren wurden weiterhin besondere Rechte gewährt. So war es in erster Linie nur ihm, und nicht seiner Frau oder seinen Kindern möglich, das Haus und den Betrieb in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Innerhalb des Hauses war das Verhältnis zwischen dem Mann und der Frau allerdings relativ ausgeglichen. Münch geht in seinen Ausführungen soweit, dass es von einer „Kollegialität“ und „Funktionsteilung“ spricht.27 Mit dieser Aussage übt Münch Kritik am Modell von Otto Brunner, der in seinen Ausführungen von einem ausschließlich patriarchalischen Verhältnis ausgeht. Auch Heide Wunder kritisiert in ihrem Aufsatz „Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert. Zur geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit“ Brunners Vorstellungen innerhalb der Hausgemeinschaft. Die Aufgaben waren zwar anders verteilt, dennoch leisteten beide Ehepartner einen Beitrag, der zur Sicherung der Existenz des gesamten Hauses beitrug. Während sich der Mann vor allem um das Funktionieren des Betriebes kümmerte, sorgte die Frau für eine angemessene Erziehung der Kindern, für ausreichend Nahrung und gegebenenfalls für die Pflege des Viehs.28 Münch und Wunder stellen somit die These auf, „dass Mann und Frau unter den Bedingungen des „ganzen Hauses“ die anfallenden Aufgaben stets nur gemeinsam lösen konnten.“29 und, dass die einseitige Verwendung des Begriffs des Patriarchalismus der Alltagspraxis nicht mehr gerecht werden kann. Münchs Ansicht nach, wäre es sinnvoller von „formeller männlicher“ und „informeller weiblicher“ Herrschaft im Haus zu sprechen.30 Wunder spricht von einem gemeinsamen Beitrag der Eheleute, die „nicht nur gleichrangig, sondern gleichartig“31 erschienen. Beide Autoren unterstreichen somit den Stellenwert der früh-neuzeitlichen Frau , die zwar vorwiegend im Hintergrund die Fäden zog, aber dennoch für die Existenz des „ganzen Hauses“ von enormer Bedeutung war.

[...]


1 Paul Münch schlug eine akademische Laufbahn als Professor für neuere Geschichte an der Universität Essen (mittlerweile Duisburg-Essen) ein. Seine Promotionsschrift veröffentlichte er 1973, 1982 habilitierte er schließlich. 3

2 Münch, Paul Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500 bis 1800, Frankfurt a. Main. 1998, S.12.

3 Ebd., S. 19.

4 Arno Borst, geboren 1925, lehrte bis zu seiner Emeritierung Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Konstanz. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit der Carl-Friedrich-Gauß-Medaille für seine mathematischen Darlegungen. Arno Borst starb 2007 in Konstanz.

5 Ebd., S. 11 4

6 Vgl. Borst, Arno, Lebensformen im Mittelalter, Hamburg 1973, S. 7.

7 Trunz Erich, Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur, o.O. 1931, S. 147

8 Münch, S.67

9 Vgl. Ebd. S. 67.

10 Vgl. Ebd. S. 191.

11 Hohkamp Michaela, Häusliche Gewalt, Beispiele aus einer ländlichen Region des mittleren Schwarzwaldes im 18. Jahrhundert. In: Thomas Lindenberger (Hrsg. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. Main 1995, S.276-302)

12 Vgl. Ebd.

13 Münch, S. 68.

14 Vgl., Ebd S.127.

15 Priesner Claus in: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 131 .

16 Vgl. Münch, S.139.

17 Vgl. Ebd. S. 144f.

18 Ebd. S.148.

19 Wolfgang Behringer, geboren 1956 in München, studierte Geschichte, Politologie und Germanistik. Er lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität des Saarlandes. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten seiner Forschung zählen neben Klima, Umwelt und die Verarbeitung von Krisenerfahrungen insbesondere auch die Hexenforschung, in der er als einer der aktuell führenden deutschen Wissenschaftler gilt . Seine Publikation „Hexen und Hexenprozesse in Deutschland“, gilt als eine der ansprechendsten und detailliertesten Studien im Umgang mit Hexen in der Frühen Neuzeit.

20 Behringer Wolfgang, Kulturgeschichte des Klimas von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007.

21 Kleine Eiszeit: Der Begriff wurde Ende der 1930er Jahre geprägt. Die Ursachen sind aufgrund diffuser Quellenlage ungewiss. Als wichtigste Erklärung für die globale Abkühlung wird ein leichter Rückgang der Sonnenaktivität betrachtet. Weiterhin lassen sich verstärkter Vulkanismus als Ursache anführen. Für die prekären Jahrzehnte zwischen 1580 und 1600 wurden fünf Vulkanausbrüche identifiziert, die auch die europäische Geschichte beeinflusst haben, ohne dass Historiker je von ihnen gehört hätten. (Vgl. Behringer S. 121)

22 Behringer. S.204

23 Hausväterliteratur: Die Hausväterliteratur ist eine literarische Gattung des 16. bis 18. Jahrhunderts in Deutschland. Ausgangspunkt ist der Hausvater, der durch diese meist sehr umfangreichen Werke für das häusliche Leben gebildet werden sollte. Man spricht daher von einer Lehre des „ganzen Hauses“. Sie beschäftigt sich mit den Beziehungen innerhalb der Familie befasst sowie mit dem Verhältnis des Herrn zum Gesinde, bzw. den Sklaven. Auch die Tätigkeiten, die innerhalb des Hauses verrichtet werden müssen, sind Teil dieser Lehre (Julius Hoffmann: Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über den christlichen Hausstand“. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. Und 18. Jhdt., Berlin 1959.)

24 Vgl. Münch, S. 196f.

25 Vgl. Brunner Otto, Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“ In: F. Oetter (Hrsg.: Familie und Gesellschaft. Mohr 1966. S. 23-56)

26 Münch, S.197.

27 Vgl. Münch, S. 198

28 Vgl. Wunder Heide, Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert. Zur geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit In: Hausen Karin (Hrsg.: Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung: zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen. Göttingen 1993, S. 19-40)

29 Münch. S. 198.

30 Vgl. Ebd. S. 198.

31 Wunder, S. 25

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Rezension des Werkes "Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500 bis 1800" von Paul Münch
Hochschule
Universität Bielefeld
Veranstaltung
Familie, Haus, Arbeit Gesellschaftliche Ordnungskonzepte und Alltagspraktiken in der Vormoderne und Moderne
Note
2,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
16
Katalognummer
V301149
ISBN (eBook)
9783656975298
ISBN (Buch)
9783656975304
Dateigröße
449 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rezension, werkes, lebensformen, frühen, neuzeit, paul, münch
Arbeit zitieren
Dennis Bleck (Autor:in), 2012, Rezension des Werkes "Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500 bis 1800" von Paul Münch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/301149

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