Die ACCADEMIA DEI LINCEI Wissenschaft im Spannungsfeld kirchlicher und politischer Macht


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

31 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1. Pierre Bourdieus Homo academicus und die Theorie der kulturellen Reproduktion
2.2. Die Theorie der kulturellen Reproduktion und die Bildungs- institutionen des 16. Jahrhunderts
2.2.1. Die Universität
2.2.2. Die Akademie
2.2.3. Zusammenfassung und Ausblick

3. Die Accademia dei Lincei
3.1. Die Accademia dei Lincei und ihr Umfeld
3.2. Die Organisation der Accademia dei Lincei
3.3. Die Impulse der Accademia dei Lincei nach außen

4. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Hausarbeit beschäftigt sich mit der Rolle der wissenschaftlichen Akademien bei der Verbreitung und Entwicklung von Wissen. Ich werde versuchen im Folgenden darzustellen, dass es gerade die Institutionsform der Akademie war, die innovatives, wissenschaftliches Arbeiten zu Beginn des 17. Jahrhunderts ermöglichte.

Die ersten wissenschaftlichen Akademien entstanden um 1600 in Italien, entsprechende Institutionen wurden bald auch in ganz Europa gegründet. Diese Akademien beschäftigten sich, im Gegensatz zu den literarisch-sprachlichen Akademien der Renaissance, mit Naturphilosophie.

Eine der ersten und wohl auch bedeutendsten Akademien in diesem Bereich war die Accademia dei Lincei. Sie nahm eine gewisse Vorreiterrolle bei der Erforschung der Natur ein, weswegen ich an ihr exemplarisch die innovative Form der Wissensentwicklung und –verbreitung der Akademien darstelle.

Die Überlegungen, warum gerade von dieser Institutionsform wissenschaftliche Innovationen ausgegangen sind, benötigen zunächst eine theoretische Grundlage. Pierre Bourdieus Theorie der kulturellen Reproduktion bildet die Basis des Erklärungsansatzes. Etablierte Bildungseinrichtungen tendieren demnach dazu, Bestehendes zu reproduzieren, da hier ein massives Interesse besteht, die gesicherte Stellung zu behalten. Neue Entwicklungen und wissenschaftliche Innovationen bilden sich dagegen eher in randständigen Institutionen, da hier der Reproduktionskreislauf noch nicht greift. Die Darstellung dieser theoretischen Grundlagen ist Inhalt des folgenden Kapitels.

Da diese Theorie jedoch aus dem 20. Jahrhundert stammt und Bourdieus Homo academicus[1] sich zudem noch auf einen bestimmten Ort und Zeitpunkt bezieht, werde ich als nächstes versuchen die Theorie auf die Situation um 1600 zu übertragen. Dazu werde ich die Bildungseinrichtungen der Zeit, ihre Arbeit und Organisation, beschreiben und mit den theoretischen Überlegungen verknüpfen.

Demnach haben die Akademien, hinsichtlich ihres Innovationspotentials, gerade davon profitiert, dass sie nicht etabliert waren und keine gefestigte Position im Bildungswesen innehatten. Ihrer Außenseiterrolle im Vergleich zu den Universitäten kommt also besondere Bedeutung zu.

Den theoretischen Grundlagen folgt eine konkrete Analyse der Accademia dei Lincei.

Zunächst stelle ich kurz die Geschichte der Akademie und das gesellschaftliche und wissenschaftliche Klima ihrer Zeit dar.

Danach werde ich versuchen die Lincei unter den im vorherigen Kapitel dargestellten Prämissen für wissenschaftlich innovatives Arbeiten zu untersuchen.

Von besonderer Bedeutung ist dabei die Integration der Akademie in ihr gesellschaftliches Umfeld. Sie unterstand, wie jede andere Institution auch, gesellschaftlichem Druck, im besonderen von Seiten der Kirche, dem sie durch Patronage zu entgehen suchte. Dadurch machten sie sich jedoch zu einem gewissen Grad von mächtigen Adelsfamilien abhängig. Ihre Position im Spannungsfeld kirchlicher und politischer Macht zeigt, ob sich die Lincei die notwendige Unabhängigkeit bewahren konnten.

Auch die interne Organisation der Accademia dei Lincei ist bezüglich ihres Innovationspotentials interessant. Die wenig formalisierten Regeln ihrer Zusammentreffen und der Informationsfluss zwischen den Mitgliedern machte die Akademie wandlungs- und anpassungsfähiger als die etablierten Universitäten. Abschließend versuche ich aufzuzeigen, was die Lincei tatsächlich geleistet haben und welche innovativen Impulse sie nach außen setzten konnten. Es geht dabei darum deutlich zu machen, dass die Akademie bezüglich der Entwicklung der modernen Wissenschaft eine wichtige Rolle gespielt hat.

Zum Schluss fasse ich noch einmal die Ergebnisse zusammen und ziehe ein Fazit, welche Rolle den wissenschaftlichen Akademien, namentlich der Accademia dei Lincei, bei der Verbreitung und Entwicklung von Wissen zukam.

2. Theoretische Grundlagen

Zur theoretischen Untermauerung meiner These, dass den wissenschaftlichen Akademien des 17. Jahrhunderts, im besonderen der Accademia dei Lincei, bei der Produktion und Verbreitung von innovativem Wissen eine besondere Bedeutung zukam, stütze ich mich auf Pierre Bourdieu. Grundlage bildet dabei sein Werk Homo academicus[2], eine Analyse des höheren französischen Bildungssystems im Schatten der Pariser Studenten-Revolte im Mai 1968.

Der französische Soziologe Bourdieu beschreibt darin das Unvermögen der etablierten Bildungseinrichtungen auf Veränderungen zu reagieren und Neues zu produzieren: ein Problem, das er mit seiner Theorie der kulturellen Reproduktion erklärt. Der daraus resultierende Kreislauf ständiger Reproduktion kann jedoch unter bestimmten Bedingungen durchbrochen werden. Auch darauf geht Bourdieu in Homo academicus ein.

Diese, vor dem Hintergrund spezifischer Umstände entstandene, theoretische Grundlage versuche ich dann auf die Situation des Bildungssystems im 16. Jahrhundert zu beziehen.

2.1. Pierre Bourdieus Homo academicus und die Theorie der kulturellen Reproduktion

Homo academicus ist eine Analyse des Wissenschaftsbetriebs, Untersuchungsobjekt ist der Wissenschaftler selbst, der „homo academicus“. Bourdieu untersucht dabei speziell die Situation in Frankreich, wo die Proteste der Studenten und das Aufkommen neuer Fächer, im besonderen der Soziologie, das Universitätssystem angriffen und dessen Fundament zum wanken brachten.

Die etablierten Bildungseinrichtungen werden als unflexibel beschrieben. Die Professoren fürchten um ihre Stellung und Reputation und sind somit auf Wahrung des Status Quo bedacht. Jede Veränderung oder neue Entwicklung wird aus diesen Gründen abgelehnt und ihre Verfechter mit Sanktionen abgestraft. Bourdieu beschränkt sich natürlich nicht auf eine polemische Situationsbeschreibung, sondern untersucht die Vorgänge mit wissenschaftlichen Methoden und legt ihnen eine Theorie, ebendie der kulturellen Reproduktion, zugrunde.

Er stellt die These auf, dass die etablierten Bildungseinrichtungen sich permanent selbst reproduzieren und diese Reproduktion zum Selbstzweck geworden sei.

Die Universität vermittelt durch die Ausbildung, die sie bietet, etabliertes Wissen und bestimmte Werte und Fähigkeiten.[3] Sie produziert also spezielle Dispositionen, die der erfolgreiche Student subjektiv verinnerlicht und dementsprechend handelt. Da die höheren Bildungseinrichtungen ihr Personal aus den eigenen Reihen rekrutieren, also selbst ausbilden, sind die Handlungen der Belegschaft vorgeprägt durch die von eben dem Bildungssystem übermittelten Dispositionen. Durch die Handlungen wird dann wiederum die objektive Struktur der Institution reproduziert und der Kreis schließt sich.[4] Dies ist der einfache Reproduktionskreislauf.

Zudem ziehen Bildungseinrichtungen eine bestimmte Gruppe von Studenten an, die bereits über einen speziellen Habitus verfügen[5], da sie sich aus dieser subjektiven Investition in Bildung die höchsten objektiven Renditen erhoffen können[6]. Diese Nutzenüberlegung geht in der Regel deshalb auf, da sie über genau die Fähigkeiten verfügen, die gefordert werden; und gefordert werden ebendie Eigenschaften und Kenntnisse, die wiederum das System reproduzieren.[7]

Dies geschieht, etwas konkreter, durch den Rekrutierungsmodus. Ein Professor setzt sich vornehmlich dann für die akademische Karriere einer seiner Studenten ein, wenn dieser dasselbe Wissenschaftsverständnis hat und somit erwarten lässt, dass er seine Arbeit ähnlich der des besagten Professors führt (hinsichtlich des Forschungsgebiets, der Methode, des Stils,…). Der Vorteil des Studenten liegt auf der Hand: Er kann Karriere machen. Aber auch der Mentor profitiert von der Reproduktion des Bestehenden, da seine Werke nicht an Wert verlieren und weiterhin einen Markt finden. Seine Reputation bleibt unangetastet.[8] Es ist somit die Werterhaltung des eigenen kulturellen Kapitals, die diejenigen, die Kontrolle über die Reproduktionsmechanismen besitzen, namentlich den Rekrutierungsmodus, dazu veranlasst, am Bestehenden festzuhalten.

Dies führt zu einem Reproduktionskreislauf, der die Institution vor Veränderungen bewahrt und Neuerungen oder Modernisierungen verhindert. Bourdieu beschreibt das Problem folgendermaßen:

Mit der Verselbständigung der Organisation, die zum Selbstzweck gerät, werden die externen Funktionen tendenziell denen der internen Selbstreproduktion geopfert.[9]

Bourdieus Analyse endet also mit einer Kritik am System. Die Universitäten sollten doch gerade die Institutionen sein, die neues Wissen produzieren, die forschen, und nicht am Bestehenden festhalten.

Diese Theorie Bourdieus ist nicht unwidersprochen geblieben. Der offenkundigste Kritikpunkt ist natürlich, dass der Analyse das Bildungssystem Frankreichs (und das auch noch zu einem außergewöhnlichen Zeitpunkt – nämlich 1968) zugrunde liegt und sich die theoretischen Überlegungen somit auch nur auf die Verhältnisse in Frankreich beziehen lassen. Dies sollte man natürlich immer im Hinterkopf behalten, aber einige Merkmale teilt das französische auch mit anderen Bildungssystemen.

Außerdem wurde ihm vorgeworfen, dass er die Interventionsmöglichkeiten des Staates außer Acht lasse. Eine Institution wird immer auch von ihrer Umwelt beeinflusst und kann, zumindest im Ganzen, nicht isoliert analysiert werden.[10]

Kritisiert wurde auch, dass Bourdieus Theorie der kulturellen Reproduktion keinen Platz für Wandel und Veränderung lasse. Der Reproduktionskreislauf sei deterministisch und die Theorie zu statisch.[11]

Im Homo academicus beschreibt er, dass sich die etablierten Lehranstalten entsprechend seiner Theorie verhalten[12], nichtsdestotrotz kommt es auch zu Veränderungen. Neue Fächer und Fakultäten entstehen und etablieren sich. Die Entwicklung folgt jedoch keinem vorgegebenen Schema. Sie etablieren sich vielmehr langsam, gegen den Widerstand der alteingesessenen Einrichtungen, über randständige Institutionen beziehungsweise mit ihnen.[13]

Neuerungen, die die etablierte Ordnung bedrohen, sind somit möglich, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Innovatives wissenschaftliches Arbeiten wird unter anderem begünstigt durch eine randständige Institution, Austausch mit anderen (ausländischen) Wissenschaftlern und natürlich dem Bereitstellen entsprechender Forschungsmittel. Es ist Freiraum nötig, Unabhängigkeit von Einschränkungen durch Lehrpläne, Statuten, Traditionen etc.[14], denn

Die Außenseiterpositionen dagegen schließen – ungeachtet des Prestiges, das einige von ihnen genießen mögen – häufig mehr oder minder vollständig die Verfügungsgewalt über die Reproduktionsmechanismen aus.[15]

So erscheint den Professoren der Einfluss der Neuerer zu gering zu sein, als das er eine ernsthafte Bedrohung ihres kulturellen Kapitals darstellen könne.

Ausgelöst wird institutioneller Wandel durch Veränderungen im sozialen, kulturellen oder personalen Bereich, wodurch die Idee, bzw. der Zweck, auf den eine Institution sich begründet hat, an Anziehungs- und Integrationskraft verliert.[16] Bourdieu beschreibt die Zunahme der Studentenzahlen und das gestiegene Interesse an vormals randständigen Fächern (und dessen damit verbundener Bedeutungszuwachs) als Hintergrund der von ihm aufgezeigten Veränderungen.

2.3. Die Theorie der kulturellen Reproduktion und die Bildungsinstitutionen des

16. Jahrhunderts

Die Theorie Bourdieus soll jetzt auf die Situation der Bildungseinrichtungen des

16. Jahrhunderts übertragen werden. Dies erscheint zunächst problematisch, bezieht der Homo academicus sich doch speziell auf die französischen Institutionen des 20. Jahrhunderts. Daher nehme ich als Ausgangspunkt den abstrakten einfachen Reproduktionskreislauf:

Objective structures tend to produce structured subjective dispositions that produce structured actions which, in turn, tend to reproduce objective structures.[17]

Die entscheidende Frage ist also, was die objektiven Strukturen im 16. Jahrhundert waren. Zu dieser Zeit spielte die römisch-katholische Kirche eine bedeutende Rolle. Sie hatte seit mehreren Jahrhunderten eine Vormachtstellung inne und sie wirkte dementsprechend institutionalisierend, auch, beziehungsweise sogar besonders, auf das Bildungssystem. Die meisten Gelehrten waren Kleriker und die Kirche hatte Einfluss auf den Inhalt der Bildung.[18]

[...]


[1] Pierre Bourdieu: Homo academicus. Frankfurt am Main 1988.

[2] Bourdieu, Pierre: Homo academicus. Frankfurt am Main 1988.

[3] Bourdieu spricht hierbei von “Habitus”. Das meint ein Set relativ stabiler Dispositionen, die zwischen objektiver Struktur und subjektivem Handeln vermitteln.

[4] Swartz, David: Pierre Bourdieu: The Cultural Transmission of Social Inequality, in: Robbins, D. (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Volume II. London 2000. S. 210.

[5] Dieser wird z.T. durch Sozialisation vermittelt, ist also auch von der sozialen Schicht abhängig. Daraus leitet sich Bourdieus These ab, das Bildungssystem reproduziere soziale Schichtungen. Vgl. hierzu: Jenkins, Richard: Pierre Bourdieu. London 1993. S. 110ff. und Swartz, David: Pierre Bourdieu: The Cultural Transmission of Social Inequality, in: Robbins, D. (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Volume II. London 2000.

S. 211f.

[6] Es gibt eine Korrelation zwischen subjektiven Hoffnungen und objektiven Möglichkeiten. Swartz, David: Pierre Bourdieu: The Cultural Transmission of Social Inequality, in: Robbins, D. (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Volume II. London 2000. S. 209.

[7] Bourdieu spricht von einer “zirkulären Kausalbeziehung zwischen Positionen und Dispositionen, Habitus und Feld”. Bourdieu, Pierre: Homo academicus. Frankfurt am Main 1988. S. 172. Vgl. hierzu außerdem a.a.O. S. 173ff.

[8] Bourdieu, Pierre: Homo academicus. Frankfurt am Main 1988. S. 228.

[9] Ebd. S. 302.

[10] Vgl. Kapitel 3.1.

[11] Vgl. zur Kritik: Jenkins, Richard: Pierre Bourdieu. London 1993. S. 117f.

[12] Bzw. er begründet seine Theorie auf deren Verhalten.

[13] Siehe hierzu insbesondere die Analyse der Ecole pratique des hautes études . Bourdieu, Pierre: Homo academicus. Frankfurt am Main 1988. S. 185-190.

[14] Vgl. ebd. S. 186.

[15] Ebd. S. 182.

[16] Gukenbiehl, Hermann L.: Institution und Organisation, in: Korte, H.; Schäfers, B. (Hrsg.): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie. Opladen 2000. S. 149.

[17] Swartz, David: Pierre Bourdieu: The Cultural Transmission of Social Inequality, in: Robbins, D. (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Volume II. London 2000. S. 210.

[18] Dear, Peter: Revolutionizing the Sciences. European Knowledge and Its Ambitions, 1500 – 1700. Hampshire 2001. S. 15.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Die ACCADEMIA DEI LINCEI Wissenschaft im Spannungsfeld kirchlicher und politischer Macht
Hochschule
Technische Universität Dresden
Veranstaltung
Hauptseminar Akademien
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
31
Katalognummer
V30109
ISBN (eBook)
9783638314459
Dateigröße
592 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ACCADEMIA, LINCEI, Wissenschaft, Spannungsfeld, Macht, Hauptseminar, Akademien
Arbeit zitieren
Dominique Gelf (Autor:in), 2003, Die ACCADEMIA DEI LINCEI Wissenschaft im Spannungsfeld kirchlicher und politischer Macht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30109

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