Das Bild Polens und der Polen in der deutschen Literatur am Beispiel ausgewählter Texte von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart


Magisterarbeit, 2000

66 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Fragestellung
2.1 Gegenstand der Untersuchung
2.2 Der Einfluß von Stereotypen
2.3 Kategorien
2.4 Zwischen Panorama und Spiegelbild
2.5 Literarische Bilder vom Land Polen und von polnischen Menschen

3. Zur Illustration des Bisherigen: Bestandsaufnahme
3.1 Die Zeit der Polenlieder
3.2 Der Umschwung

4. Bilder der polnischen Nation
4.1 Die Verwendung nationalistischer Termini in der Literatur
4.2 Die Vermeidung von Nationalitätsbezeichnungen
4.3 „E bißche vom polnischen Leichtsinn“
4.4 Nationalität als abgrenzende Eigenschaft
4.5 Die Relativität von nationalen Stereotypen
4.6 Von der Ebene des Konkreten zu übergreifenden Erklärungen

5. Bilder der Individuen
5.1 Zwischen deklarierter Völkerfreundschaft und Individualität
5.2 Gemeinsamkeiten
5.3 Einzelne Menschen im Fokus der literarischen Beschreibung
5.3.1 Die Witwe Piątkowska
5.3.2 Kindheiten
5.4 Objekte im Zoom

6. Wahrgenommenes
6.1 Städtebilder
6.2 "Daß Häuser altern, hast du gewußt."
6.3 Landschaften
6.4 Ausdruck der Eindrücke

7. Alltagsdarstellungen – Die Bedingtheit des täglichen Lebens
7.1 Gastfreundschaft
7.2 Auseinandersetzungen
7.3 Markttage
7.4 Schwarzmarkt und Jugend
7.5 Entwicklungen: Kirche und Solidarność
7.6 Maßstäbe

Bibliographie

Primärtexte

Sekundärtexte

1. Einleitung

Eines wird schnell deutlich auf der Zugfahrt durch Niederschlesien von der deutschen Grenze, von Dresden und Görlitz, in Richtung Breslau[1]: Alles ist polnisch. Die Menschen auf den Bahnhöfen und in den Zugabteilen sprechen und verstehen kein Deutsch, jedenfalls nicht erkennbar. Sie sind freundlich und zuvorkommend und versuchen, trotz der Sprachbarriere Kontakt aufzunehmen, auch wenn es nur mit einem Lächeln ist.[2]

Weil sie in ihrer Umhängetasche aus Kalbsleder jederzeit zwei von den sechs [Einkaufsnetzen, AH] mit sich führte, leitete er diese Vorsorge von der in allen Ostblockstaaten herrschenden Mangelwirtschaft ab: ‚Plötzlich gibt es irgendwo frischen Blumenkohl, Salatgurken, oder ein fliegender Händler bietet neuerdings aus dem Kofferraum seines Polski Fiat Bananen an, und sogleich sind die praktischen Netze greifbar, denn Plastiktüten sind im Osten immer noch rar.[3]

Zwei Menschen beschreiben ihre Eindrücke in Polen. Der – nicht fiktive - Journalist Strothmann leitet seine Reportage „Polens Wille zum Wandel“ mit Feststellungen ein, die zu einigen polemischen Bemerkungen herausfordern könnten.[4] Doch soll ein Vergleich zur Illustration genügen: Türkei- oder Amerikareisende werden sich wohl kaum darüber wundern, wenn sie in ein Land einreisen, in dem kein Deutsch gesprochen und verstanden wird. Man mag dem Autor zugute halten, daß er mit seinen Feststellungen auf die wechselvolle Geschichte Niederschlesiens anspielen will. Man kann aber auch zu dem Schluß kommen, daß Strothmann hier ein gewisses Mißtrauen ausdrückt, wenn er sagt, daß Kenntnisse der deutschen Sprache auf Seiten der Polen, die ihm begegnen, nicht erkennbar sind. Denn dies impliziert ja, daß sie dem Fremden, womöglich der polnischen Sprache Unkundigen, reserviert entgegentreten. Was der Autor aufgrund der Rolle der Deutschen in der Vergangenheit sicher auch verstehen würde, so scheint es mitzuklingen. Und gerade diese subtile Mischung von Mißtrauen und Verständnis ist es, welche die Wirksamkeit der Vorbehalte deutlich macht. Verständnis basiert hier auf der Nutzung des Verstandes, ist rational begründet und wird positiv bewertet. Doch unter der Schicht des Verständnisses entlarvt der Autor die emotionale Ebene seines Mißtrauens unbeabsichtigt selbst. Die Beschreibung der Freundlichkeit und des Bemühens um Kontakt, denen er begegnet, ist nur auf den ersten Blick positiv konnotiert. Ist es doch nur ein Lächeln, mit dem man mit ihm kommuniziert. Darüber hinaus erinnert seine Beschreibung der Kontaktaufnahme bei ungenügender fremdsprachlicher Qualifikation an die Beschreibung von Ureinwohnern in zu kolonisierenden Gebieten. Die eigene Unfähigkeit, die Menschen in deren Muttersprache anzusprechen, wird nicht reflektiert und keineswegs in Frage gestellt, die Muttersprache des Reisenden erscheint als Maßstab.

Die Kritik an dieser einführenden Passage einer Reportage ist sicher stark pointiert. Besonders da man bei der weiteren Lektüre des Textes davon ausgehen kann, daß der Autor auf der rationalen Ebene durchaus positiv zu bewertende Absichten verfolgt, aber unterschwellig immer wieder in die Falle seiner nicht reflektierten und deshalb wirksamen Vorurteile tappt.

In der Romanpassage von Grass wird mit dem Einkaufsnetz ein Alltagsgegenstand aus der Sicht seines Protagonisten Reschke zu einem Charakteristikum sozialistischer und postsozialistischer Mangelwirtschaft. Allerdings, und das ist wichtig, zieht der Erzähler zuvor eine Parallele zu der wissenschaftlichen Arbeit Reschkes. Er analysiere die Einkaufsnetze „wie in seiner Doktorarbeit“[5] das „Flachrelief eines Grabsteins“[6]. Damit leistet Grass dreierlei: Erstens eine detaillierte naturalistische Beschreibung des dinglichen Umfelds. Zweitens wird diese Beschreibung mit den Interpretationen Reschkes verknüpft. So wird auf Kausalitäten hingewiesen und das zumindest für den Rezipienten aus den alten Bundesländern fremde Phänomen „Einkaufsnetz“ wird dem Verständnis nahegebracht. Drittens stellt der Erzähler den Hintergrund des interpretierenden Reschke dar: „so deutelte er an den geerbten Einkaufsnetzen der Witwe.“ Damit wird das Urteil Reschkes zwar nicht relativiert, wohl aber in einen Rahmen gestellt, der es nicht verabsolutiert. Grass läßt den Protagonisten seines Romans „Unkenrufe“ seine Beobachtungen in einen übergeordneten Kontext einbetten, ihn Ungewohntes entdecken und ihn eine Erklärung in den wirtschaftlichen Strukturen Polens finden – so muß Reschke nicht auf stereotype Erklärungsmuster zurückgreifen. Dabrowska[7] führt eine Reihe von Stereotypen auf, mit denen Polen bedacht werden; unter anderem, daß Polen Waren organisieren würden. Zu diesem hätte auch Reschke in seiner Interpretation der Einkaufsnetze ohne nähere Differenzierung greifen können.

Dabrowska[8] stellt einige Stereotype zusammen, die sie in der deutschen Presse gefunden hat. Zur Illustration seien diese hier aufgeführt:

- Polen sind sehr religiös.
- Polen sind disziplinlos.
- Polen sind trinkfreudig.
- Polen organisieren Waren auf unkonventionelle Weise.
- Polen sind russenfeindlich.
- Polen sind den Westdeutschen freundlich gesonnen.
- Polen ist [war[9], AH] ein kommunistischer Staat = Polen ist rückständig.

Wirken sich diese und andere Stereotype in der deutschen Literatur der Nachkriegs- und Nachwendezeit aus? Es ist sicher nicht immer so, (wie die Beispiele nahelegen könnten,) daß die Literaturschaffenden ihr Weltbild fernab von Stereotypen und Vereinfachungen bilden, während in anderen Bereichen Stereotype determinierend sind. Doch die Frage bleibt, ob in der Literatur die Reflexion des eigenen Denkens zu einem differenzierten Bild des Nachbarstaates geführt hat? Wie ist die Darstellung Polens im Roman, im Gedicht oder im Reisebericht konnotiert? Wie wirkt sich die polnisch-deutsche Vergangenheit aus, wie die unterschiedlichen politischen Systeme? Im Kontext dieser Arbeit wird davon ausgegangen, daß ein möglichst differenziertes Bild die beste Möglichkeit ist, Stereotypen und ihrer Bildung entgegenzuwirken. Eine mögliche Subjektivität einzelner Darstellungen steht der Differenziertheit nicht unbedingt entgegen; denn es kann nicht darum gehen, endlich die gültige Wahrheit über den Nachbarstaat auszudrücken. Diese vermeintliche Wahrheit würde nur die Grundlage für neue Vorurteile bilden. Vielmehr ist davon auszugehen, daß Offenheit für unvoreingenommene Sichtweisen letztlich die größte Chance auf ein differenziertes Polenbild bietet.

2. Zur Fragestellung

Die Darstellung Polens, der polnischen Bevölkerung und des Alltags in Polen innerhalb der deutschen Literatur soll untersucht werden. Darin begründet sich ein rein imagologischer Anspruch an diese Untersuchung und ihre Ergebnisse. Es wird in der Hauptsache nicht gefragt werden, inwieweit sich die Literatur Polens und die deutsche Literatur gegenseitig beeinflussen oder beeinflußten und ob oder wie Autoren beider Länder von der jeweils anderen Nation und deren Literatur beeinflußt wurden. Da sich jedoch eine imagologische Untersuchung im Kontext der Komparatistik bewegt, werden im Detail entsprechende Fragen an die Texte und das Umfeld ihrer Entstehung herangetragen, jedoch ohne in den Mittelpunkt gestellt zu werden.

Nicht außer Acht zu lassen ist die Historizität national-imagotyper Erscheinungen, wie Fischer[10] sie darstellt. Schon die zeitliche Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes impliziert dessen Entwicklung in der Dimension der Zeit oder zumindest einen Unterschied im Verhältnis zu dem Bild Polens, welches in der Zeit vor dem untersuchten Zeitraum in der deutschen Literatur entstand. Deshalb wird im Vorfeld auf entsprechende Erkenntnisse der Forschung hingewiesen. Darüber hinaus wird kontextabhängig auf historische Fakten verwiesen, sofern dies zum Verständnis erforderlich ist. Gleiches gilt für gesellschaftswissenschaftliche Erklärungshilfen. Zwei der untersuchten Texte seien exemplarisch genannt, um die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens deutlich zu machen: Bei der Untersuchung von Anna Seghers Text „Die Tochter der Delegierten“[11] wird genau wie bei der Auseinandersetzung mit „Reise nach Polen“ von August Scholtis[12] der historische Entstehungskontext eine wichtige Rolle spielen. Der Zeitpunkt der Entstehung ist in diesen Fällen allerdings weit weniger bedeutsam als der ideologische Hintergrund.

Mit der wechselvollen Geschichte Polens ist auch das Problem der Ortsbezeichnungen verknüpft. Sollte man die polnischen oder die deutschen Namen verwenden? Sofern es sich um Zitate handelt, ist die Entscheidung vorgegeben. Die Ortsnamen werden so zitiert wie vorgegeben, sie werden auch im Kontext der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text in der dort benutzten Sprache verwandt. Wo Ortsnamen unabhängig von literarischen Texten genannt werden, werden grundsätzlich die heutigen polnischen Namen benutzt. Eine mögliche Ausnahme bildet der historische Bezug einer Aussage. In einem solchen Fall wird der in der besprochenen Zeitspanne übliche Name benutzt.

2.1 Gegenstand der Untersuchung

Da eine wesentliche Motivation zu dieser Untersuchung die übergeordnete, Frage nach Existenz und Wirksamkeit aktueller Stereotype ist, beschränkt sich die Fragestellung nicht auf eine bestimmte Form literarischer Texte: Die Auseinandersetzung mit Lyrik, Roman, Gebrauchsprosa und mit journalistischen Texten ist möglich, wenngleich der Schwerpunkt bei den im engeren Sinne literarischen Texten liegt. Wesentliches Auswahlkriterium ist, daß die Texte in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg entstanden. Die Existenz zweier deutscher Staaten in der Nachkriegszeit und schließlich eines gesamtdeutschen Staates wirft die Frage nach der Wirksamkeit der jeweiligen politischen Strukturen auf.

Zu differenzieren sind also die beiden deutschen Literaturen der Nachkriegszeit und die gemeinsame deutsche Literatur der Zeit nach der Vereinigung Deutschlands. Sozialistisches und demokratisches System setzten sich von unterschiedlichen Standpunkten aus mit Polen auseinander. Es ist zu erwarten, daß die Literaturen dies widerspiegeln. Die Herkunft der Texte wird trotzdem keine übergeordnete Kategorie bilden, sondern die Texte werden unabhängig von ihrem Herkunftsstaat gemeinsam behandelt werden. Während der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Texten wird daher immer der Entstehungskontext mit einbezogen werden müssen.

Eine wichtige Frage ist, ob die Erfahrung mit dem totalitären Staat, dem zweiten Weltkrieg und vor allem den Vernichtungslagern des Dritten Reiches im Kontext der Imagination Polens in der Literatur sensibilisierend gewirkt hat. Diese Erfahrung muß keine persönliche Erfahrung der jeweiligen Autoren sein. Interessanter ist möglicherweise sogar die vermittelte kollektive Erfahrung und deren Wirksamkeit oder eben Nichtwirksamkeit. Wesentlich ist, ob diese Kollektiverfahrungen zu einer erhöhten Sensibilität bei der Beschreibung anderer Nationen geführt haben. Die direkte Betroffenheit großer Teile der polnischen Bevölkerung von den deutschen Kriegsverbrechen mag den Umgang mit der anderen Nation noch erschweren. Die Texte von Christa Wolf[13] und Johannes Bobrowski[14] können Hinweise auf die unterschiedlichen Möglichkeiten in der Auseinandersetzung mit der nationalen Nachbarschaft geben. Wolfs Roman „Kindheitsmuster“ greift die Problematik des Verhältnisses zu Polen auf und verdeutlicht deren historische Dimension, soweit es die individuelle Sozialisation anbetrifft. Bobrowski hingegen, und das wird zu zeigen sein, nutzt die Möglichkeit, strukturelle Voraussetzungen nationalistischer Denkmuster auf einer abstrakteren Ebene darzustellen, indem er die Handlung seines Romans in einen zeitlichen Rahmen verlegt, den die Rezipienten nicht selber erfahren haben und indem er die Irrelevanz der spezifischen Handlungsumstände betont.[15]

Es gibt keine inhaltlichen Vorgaben, nach denen die behandelten Texte ausgewählt werden. Auch der Zeitrahmen, in dem die Handlung eines Textes sich ereignet, ist grundsätzlich ohne Bedeutung. Beide Kategorien würden eine überflüssige Reglementierung bedeuten, denn interessant ist nicht, welche Gegenstände und welche Zeit dargestellt werden, sondern in welcher Weise. Gleichfalls und aus analogen Gründen werden formale Aspekte als nachrangig angesehen. So stehen also ganz unterschiedliche Texte, beispielsweise Ernst Wiecherts Roman „Die Jerominkinder“[16] und Anna Seghers Erzählung „Die Tochter der Delegierten“[17] zur Verfügung, um dem Ziel der Untersuchung näher zu kommen.

Wie Jaroszewski[18] schreibt, ist die Polenthematik nicht häufig der Mittelpunkt literarischer Texte. Oft taucht das Motiv am Rande auf. Dementsprechend liegt der Textauswahl nicht der Anspruch zugrunde, das sie sich ausschließlich oder hauptsächlich mit Polen befassen. Das ist auch nicht notwendig, um eine Imagination Polens oder seiner Menschen heraufzubeschwören. Jaroszewski behauptet übrigens, daß sich hinter der Thematik oft nur die Behandlung deutscher Fragen verbirgt, was zu klären wäre.

2.2 Der Einfluß von Stereotypen

Laut Lilli ist ein Stereotyp

eine festgefügte, für längere Zeit gleichbleibende, durch neue Erfahrungen kaum

veränderbare, meist positiv oder negativ bewertende und emotional gefärbte Vorstellung über Personen und Gruppen [...], Ereignisse oder Gegenstände in der Umwelt [...] Bei der Bildung der dem Stereotyp zugrunde liegenden Urteile werden nur wenige oberflächliche Merkmale des betreffenden Sachverhalts berücksichtigt [...][19]

Wenngleich es hier darum geht, die Imaginationen Polens nachzuzeichnen, welche in Texten entstehen, und nicht um die Absicht, die Wirksamkeit von Stereotypen innerhalb der Literatur aufzuzeigen, indem man sie kenntlich macht, soll der Begriff des Stereotyps doch genutzt werden, um das Maß der Differenzierung einer Darstellung im Vergleich besser darstellen zu können.

Der Aspekt der wertenden und emotionalen Vorstellung ist ein wichtiger Punkt. Es ist zu vermuten, daß ein differenzierter Blick auf eine ethnische Gruppe davor schützen kann, Stereotype zu reproduzieren. In Texten kann sich dies auch als Reflexion der emotionalen Bedingtheit der eigenen Sichtweise darstellen, was ein wichtiger Schritt zu einem differenzierten Bild von Fremdgruppen wäre. Dies kann und soll auch gar nicht jeglichen Verzicht auf Bewertungen durch Autoren bedeuten. Aber diese Wertungen werden für die Autoren selbst begründbar und in Ihrem Entstehungsprozeß beschreibbar. So besteht für die Leser die Möglichkeit der Nachvollziehbarkeit und damit der Distanz zum Urteil des Autors. Christa Wolfs „Kindheitsmuster“[20] sind unter diesem Aspekt zu betrachten, aber auch Horst Bieneks „Reise in die Kindheit“[21]. Nicht zuletzt werden entsprechende Fragen auch an August Scholtis‘ „Reise nach Polen“[22] herangetragen.

Der Verzicht auf oberflächliches Repetieren von vorgegebenen Urteilen ist innerhalb von Texten nur möglich, wenn die Strukturen und Kausalitäten von beschriebenen Phänomenen, seien sie fiktiv oder nicht, genau hinterfragt und auch beschrieben werden. Eine Frage, wenn nicht die Leitfrage, dieser Arbeit ist dementsprechend die Frage nach der Differenziertheit der Darstellung.

2.3 Kategorien

Entsprechend der These, daß mit der Entfernung zu einem Gegenstand dessen Fremdsein wächst und umgekehrt mit Nähe und Vertrautheit die Identifikationsmöglichkeiten wachsen, wird das Untersuchungsgebiet in vier Kategorien aufgeteilt:

- Das Bild Polens als Nation

Die abstrakteste Ebene der Darstellung findet sich in der übergreifenden Betrachtung der polnischen Nation als nicht differenziertes Ganzes. In dieser Kategorie werden Darstellungen betrachtet, die lediglich verallgemeinernde Bilder vermitteln. Die Bilder können sich sowohl auf Eigenschaften beziehen, die bei den Individuen als allgemein vorhanden vorausgesetzt werden, als auch auf Genese und Existenzformen des Staates Polen. Ersteres ist allerdings von primärem Interesse. Auch die Auseinandersetzung mit dieser Problematik und das Bemühen, gerade keine neuen Stereotype zu produzieren, ist in vielen Texten von Bedeutung und soll in dieser Kategorie mit angesprochen werden. Die Betrachtung beispielsweise der Romane „Die Jerominkinder“ von Ernst Wiechert[23] und „Levins Mühle“ von Johannes Bobrowski[24] wird versuchen, hier einen Einblick in die Bandbreite der literarischen Möglichkeiten zu geben.

- Das Bild der Individuen

Die literarische Imagination eines Individuums bietet dem einzelnen Leser die Möglichkeit zur Identifikation, mindestens aber die zum Vergleich mit der Vorstellung von der eigenen Person. Zwischen Empathie und Ablehnung breitet sich in vielen Nuancen die Ebene emotionaler Stellungnahme aus. Diese Ebene der Konfrontation mit dem imaginierten Gegenüber bietet die direkteste und auch die emotionalste Möglichkeit der Auseinandersetzung. Es ist aber auch die am wenigsten reflektierte und damit rationalen Betrachtungen am wenigsten zugängliche Form der Auseinandersetzung. Sie wirkt intensiv und nachhaltig, gerade weil sie meist nicht rational bearbeitet wird. Aufgrund dieser Wirkweise wird dieser Bereich eine besonders umfassende Betrachtung erfahren.

- Das Bild der sinnlich wahrnehmbaren Welt

Auch die literarische Darstellung sinnlicher Eindrücke, die verschriftliche Darstellung von Gerüchen, Farben, Geräuschen und Formen, wecken beim Leser Emotionen. Wenngleich in der Literatur sprachlich vermittelt, ist solchen Darstellungen eine ähnliche Wirksamkeit zuzusprechen wie der Darstellung von Individuen. Häufig sprechen evozierte sinnliche Eindrücke die eigenen sinnlichen Erfahrungen der Leser an und schaffen so eine Vergleichsbasis. Wie sich schon im Grass-Zitat in der Einleitung andeutet, evozieren sinnliche Eindrücke ein wenig von der beschriebenen Gegenwart im Text. Die Ausprägung dieser Gegenwart wird in einigen Texten untersucht, dabei wird sich zeigen, in welcher Weise eigene Einstellungen oder Erinnerungen, letzteres besonders im Falle von Bieneks[25] "Reise in die Kindheit", die Anschauungen der Autoren bestimmen.

- Das Bild des Alltags

Alltag soll in diesem Zusammenhang als synonymer Begriff für strukturelle Bedingtheiten jeglicher Art verstanden werden, die das tägliche Leben der Menschen bestimmen. Die Darstellung von aktionsbegründenden Zusammenhängen ermöglicht auch im literarischen Kontext ein rationales Verständnis der Determiniertheit menschlicher Handlungen. Das aufklärerische Moment ist in dieser Kategorie bestimmend, was aber nicht zu seiner Überbewertung führen soll. Die Trennung von den anderen Kategorien ist artifiziell, was keinesfalls außer Acht gelassen werden darf. Auch hier wird wieder auf die Unkenrufe[26] zurückgegriffen werden. Aber es rücken auch andere Texte ins Blickfeld, so „Die Jerominkinder“[27] von Ernst Wiechert und Rolf Schneiders Roman „Die Reise nach Jarosław“[28].

Wenngleich die Trennung der Kategorien in dieser Form gewaltsam erscheinen mag, fällt aus Gründen einer strukturierbaren Darstellung die Entscheidung für diese Kategorisierung, die jedoch nicht immer ohne Überschneidungen einzuhalten ist. Trotzdem soll sie innerhalb der Betrachtung des Polenbildes in den verschiedenen Texten die Rolle einer Richtschnur übernehmen. Unabdingbar ist allerdings, daß das Konstrukt als solches bewußt bleibt und daß die Ergebnisse der Untersuchung in allen Kategorien, in rationalem und emotionalem Bereich im Anschluß wieder zusammengeführt werden.

2.4 Zwischen Panorama und Spiegelbild

Das Bild, daß ein Autor von einem Gegenstand evoziert, transportiert zugleich Informationen nicht nur über den Autor selbst, sondern auch über das diesen Gegenständen Heterogene. In bezug auf das vorliegende Thema ist die Wechselbeziehung von nationalem Fremd- und Selbstbild interessant. Doch soll nicht etwa das nationale Selbstbild innerhalb der deutschsprachigen Literaturen untersucht werden.

Vielmehr gehe ich von einer Bandbreite der Betonung in der Fremddarstellung Polens in der deutschen Literatur aus, die sich von der Auseinandersetzung mit dem nationalen oder individuellen Selbst über die Beschreibung des Verhältnisses zu Polen und seinen Menschen bis hin zum eindimensionalen Blick auf Polen erstreckt. Natürlich kann es sich hierbei immer nur um eine Verschiebung des Akzentes handeln, in reiner Form werden diese Ausprägungen kaum vorhanden sein. Doch ist es interessant, zu erfahren, auf welchem Abschnitt dieser Skala Schwerpunkte der Auseinandersetzung mit dem heutigen Nachbarstaat Polen zu finden sind und wie in der jeweiligen Betonung der Auseinandersetzung die Fremddarstellung konnotiert ist. Überspitzt formuliert, läßt sich fragen, ob innerhalb der Fremddarstellung überhaupt eine Auseinandersetzung mit Polen stattfindet oder ob es sich um Selbstdarstellung über den Umweg der Darstellung des anderen handelt. Dem Zweck der Darstellung kann man sich wiederum nur nähern, wenn der historische Kontext berücksichtigt wird.

2.5 Literarische Bilder vom Land Polen und von polnischen Menschen

Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Beschaffenheit des Bildes oder der Bilder vom Nachbarstaat Polen und seiner Bevölkerung, die in der deutschen Literatur gezeichnet werden: Welche Tendenzen zeichnen sich ab? Wie wird mit den Konflikten der Vergangenheit umgegangen? Gibt es oder entsteht ein Bild des heutigen Polen und der heutigen Bevölkerung? Welche Rolle spielen Begriffe wie Heimat oder Herkunft in den literarischen Begegnungen mit dem Land Polen?

Bei all diesen Fragen geht es nicht um den Nachweis von Wahrheit oder Unwahrheit der literarischen Darstellung. Es geht um eine Bestandsaufnahme. Gesucht wird nicht die Antwort auf die Frage, wie das Land Polen und seine Menschen sind, sondern eine Antwort auf die Frage, wie sich die deutschsprachige Literatur diesem Land nähert. Oder, grundsätzlicher formuliert, auf die Frage, ob die deutsche Literatur einen Beitrag zum besseren Verständnis Polens leisten will, leisten kann und leistet.

Die Liste der Fragen wird im Laufe der Untersuchung der Revision bedürfen. Manche Frage, die jetzt erwartet wird, wird sich vielleicht gar nicht mehr stellen, andere werden hinzukommen. Insofern handelt es sich bei dieser Untersuchung auch um einen Erfahrungsbericht.

3. Zur Illustration des Bisherigen: Bestandsaufnahme

Einige Standpunkte zum Polenbild in der deutschen Literatur seien schlaglichtartig skizziert, um einen Eindruck der Bandbreite des Polenbildes und der Konnotationen zu verschaffen, die mit bestimmten Vorstellungen verknüpft waren. Zur Illustration werden zwei unterschiedliche Momentaufnahmen des Polenbildes in der deutschen Literatur gewählt, die sowohl die Beziehung zu historischen Entwicklungen als auch den Umschwung zwischen zwei fast gegenläufig interpretierbaren Haltungen zu verdeutlichen geeignet scheinen.

3.1 Die Zeit der Polenlieder

Preußen hingegen kann man bezeichnen als „staatliches Ordnungsamt“ mit der Leitvorstellung, jede wirtschaftliche, politische und kulturelle Veranstaltung [...] zu kontrollieren – eine unglaubliche Zumutung, die jeder polnische Szlachtiz [Adlige, AH] mit Empörung von sich gewiesen hätte (und die die Deutschen fast nie von sich gewiesen haben).[29]

Fuhrmanns Sicht der Unterschiede zwischen polnischer und deutscher Mentalität bietet einen Ansatz zum Verständnis der Entstehungssituation der Polenlieder und den in ihnen festgestellten Imaginationen Polens. Das Wunschdenken reformorientierter Kräfte in Deutschland fand eine Projektionsfläche des eigenen Wunsches nach politischer Handlungsfähigkeit. Klin[30] beschreibt das Polenbild dieser Zeit: Die Polendichter beschreiben die Polen als Menschen mit edlem Charakter, Kampfbereitschaft, Treue zum Vaterland und Tapferkeit.

Zugleich weist Klin auf die Tendenz hin, „die Aufständischen lediglich in der Masse zu zeigen“[31], was eine Individualisierung des Bildes verhindere. Hierin kann ein Indiz dafür entdeckt werden, daß die Motivation der Dichter eher in der eigenen Situation gesehen werden kann, als in dem Wunsch, den Rezipienten Polen und polnisches Leben nahezubringen, wie es ein differenzierteres Bild vielleicht vermocht hätte. Daß es sich vor allem um die Darstellung von Adligen oder zumindest privilegierter Polen handelt, darf nicht vergessen werden. Orłowski[32] weist auf die Schilderung der Leibeigenen als „halbnackte Wilde“ hin.

Nach der Niederlage des Novemberaufstandes 1830/1831 wird emphatisch die schwierige Lage der Emigranten dargestellt. Hier findet Klin aber eine größere Vielfalt: „Das Image der polnischen Emigranten gehört aber auch zu den variantenreichsten Polenbildern jener Zeit.“[33] Man finde vor allem die Darstellung hoffender und leidender Emigranten. Aber auch abgewiesene Emigranten werden dargestellt; Klin weist auf die Darstellung der an die Grenze zu Kongreßpolen gebrachten Emigranten hin.[34] Diese Imaginationen können auch als Reflex auf die eigene Rolle als Gastgeber und auf die eigene, von reformorientierten Kräften gewünschte, Solidarität gelesen werden. Zudem handelt es sich hier um die Auseinandersetzung mit einem Phänomen, mit dem man im eigenen Land konfrontiert wird. Somit kann man kaum zu dem Schluß kommen, daß hier tatsächlich eine Beschäftigung mit polnischen Lebensformen intendiert war. Eher muß konstatiert werden, daß das Bild der Fremden deutlich das Selbstbild bzw. die Forderung liberaler Kräfte nach Reformen, Humanität und Solidarität widerspiegelt. Ein Beispiel: In der Darstellung polnischen Heldenmutes klingt nach Klin durchaus die Unsinnigkeit dieses Handelns an und damit wohl auch die keimende Furcht vor der Hoffnungslosigkeit der eigenen liberalen Bemühungen.

Trotz aller genannten Einschränkungen kann man Stüben[35] zustimmen, wenn er konstatiert, daß die Polenlieder das Polenbild vorübergehend vom Image der Unreinlichkeit befreien. Allerdings mag dies auch daran liegen, daß die krassen Gegensätze zwischen Adelsleben und der sozialen Armut der Bauern nicht in das Blickfeld gelangten, wie es später zum Beispiel bei Max Halbe der Fall sei.

3.2 Der Umschwung

Nachdem die gescheiterte Revolution von 1848 auch den liberalen preußischen Kräften bewußt machte, daß das polnische Nationalbewußtsein, der polnische Anspruch auf einen eigenen polnischen Staat, auch dem preußischen Staat widerständig ist, (der im Großherzogtum und in Westpreußen schließlich seine Herrschaft durchsetzte,) wandelt sich das Polenbild in der Literatur: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt an die Stelle der Solidarität eine ablehnende Haltung gegenüber Polen.

Zunächst trifft man auf eine häufig ironisierende Haltung gegenüber dem „edlen“ Polen. Orłowski[36] verweist darauf, daß dieser Wandel nur auf der Basis des bisherigen Bekanntheitsgrades des Motivs des „edlen Polen“ möglich war. Nach und nach entwickelt sich aus dieser Haltung mehr und mehr eine deutlich ablehnende Einstellung. Das einst idealisierte Stereotyp des „edlen Polen“ wird nicht nur trivialisiert, es wird vielmehr negativ konnotiert und als Überbewertung von Äußerlichkeiten interpretiert und herausgestrichen. Was zuvor als Tugend der polnischen Patrioten interpretiert wurde, wird erst als Inszenierung verschlüsselt, um späterhin ganz in das Gegenteil verkehrt zu werden.

Der preußisch-polnische Interessengegensatz verschiebt das Bild Polens in einen mehr und mehr negativ konnotierten Bereich. Antipolnische Tendenzen weist Klin[37] eindrücklich für die Dramen Max Halbes nach. Er zeigt auf, wie Halbe ein Bild Polens entwirft, das aus dem edlen einen schlechten Polen, aus der schönen eine verächtliche Polin werden läßt. Neben Charakterschwächen und Lasterhaftigkeit wird den Polen Alkoholsucht, Arglist und Gerissenheit zugeschrieben. Ungebildete Landarbeiter würden charakterisiert und lächerlich gemacht, ohne daß die Ursachen von Armut und Bildungsmisere erwähnt werden und ohne daß ihnen positive polnische Charaktere an die Seite gestellt würden.

Frank[38] konstatiert für die Zeit der Weimarer Republik das Übergewicht eines negativen Polenbildes. Und Klin[39] führt aus: “Diese negative Tendenz gipfelte später im nationalsozialistischen Inferno, in dem das Image des Polen zu einem Feindbild und der Vorstellung des Untermenschen ausartet...“ Zur Illustration eignet sich das von Stüben[40] behandelte Beispiel August Scholtis’: In der ersten Fassung seines Romans "Fürstenkron", die den Titel Fürstenstein trägt, verwende der Autor „unbekümmert” den Begriff vom „Untermenschen”, der allerdings nach 1945 mit dem durch Scholtis zitierten Begriff der „tierischen Kreatur” ersetzt wird. Es steht in Frage, wie sich das Polenbild August Scholtis’ nach der Zeit des Dritten Reiches gestaltet. Anhand seines Berichtes „Reise nach Polen” wird auch dieser Frage nachgegangen werden.

4. Bilder der polnischen Nation

4.1 Die Verwendung nationalistischer Termini in der Literatur

August Scholtis schrieb das Buch „Reise nach Polen. Ein Bericht“ 1962 anläßlich einer vierwöchigen Reise in das Nachbarland. Die Neuordnung der Staatsgrenzen und die historischen Entwicklungen der Beziehungen zwischen Polen und Deutschland vor dieser Neuordnung sind ebenso zentrale Themen seines Textes wie der explizite Versuch, den Menschen beider Länder gerecht zu werden:

Zwischen Deutschland und Polen ausgleichende Worte zu versuchen, scheint mir heute ein fast vergebliches Unterfangen. [...]

Trotzdem wird mein Bericht bemüht sein, den Deutschen und den Polen zu gleichen Teilen gerecht zu werden.[41]

Auch ohne beim Lesen den Vorwurf Stübens[42] an Scholtis, er hätte während des Dritten Reiches unbekümmert nationalsozialistische Termini verwandt, ständig zu beachten, mutet Scholtis‘ Ausdrucksweise doch manches Mal reaktionär an: „Gesichter, schmal, weder backenknochig noch ostisch.“[43] In der Negation nationalsozialistischer Stereotype verweist der Sprachgebrauch immer noch auf ein nationalistisches Bedürfnis nach Abgrenzung. Zuweilen ist die Ausdrucksweise Scholtis erschreckend. Zum Beispiel im Anschluß an ein Zitat Ludendorffs, daß an die Schlacht von Tannenberg anknüpft und in dem Ludendorff den Verlust Jahrhunderte alter [deutscher, AH] Kultur befürchtet.

Die einen wollen Kultur dorthin gebracht haben, die andern wollen von dieser Kultur nichts wissen. Hitler hat den Polen jede Kulturberechtigung überhaupt abgesprochen, die Polen gehören zu den Siegern über Hitler, stehen nun an der Oder und Neiße.[44]

Der erste Satz stellt die deutsche Kulturgabe immerhin in Frage, stellt aber zugleich fest, daß die Polen zumindest von dieser Kultur nichts wissen wollen. Der Eindruck drängt sich auf, daß die personifizierte Zuweisung der Schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen und am zweiten Weltkrieg an Hitler nicht nur den Autor, sondern Deutschland insgesamt von Verantwortung freisprechen soll. Besonders bedenklich stimmt der Schluß, daß die Polen nun an Oder und Neiße stünden. Die Formulierung erinnert an Kriegsberichte und hinterläßt das Gefühl, daß der Autor die Westgrenze Polens nicht hinnehmen will, daß er die Polen an „Oder und Neiße“ als eine vorübergehende Erscheinung betrachtet, die erstens nicht von Deutschland zu verantworten sei und zweitens nicht von Dauer sein könne.

Der Einfluß nationalsozialistischer Propaganda ist bei folgendem Vergleich polnischer Menschen mit Insekten unverkennbar:

Auf dem schon skizzierten Schwarzmarkt geht es immer noch so zu wie unter Fliegen, die auf den Leim krochen.[45]

Der nicht problematisierte, unreflektierte Sprachgebrauch deutet trotz der Aussage, daß sich ethnische Stereotype bei alltäglicher Anschauung nicht verifizieren lassen, auf tiefgehende Denkmuster hin, die letztlich nationalistische Wurzeln haben. Immer wieder finden sich in Scholtis Bericht Hinweise auf die Bedeutung, die er der Nationalität der Menschen beimißt.

Nach einer Stunde nimmt eine ältere Dame in meinem Abteil Platz. Wir kommen bald ins Gespräch, schon nach kurzer Zeit lehnt sie demonstrativ jeglichen Nationalismus ab. Sie sei Humanistin. In der Lubliner Gegend hätten Russen fast alle ihre Angehörigen umgebracht. Offensichtlich hat sie etwas gegen die Russen.[46]

Indem Scholtis auf polnischer Seite nationalistisches Gedankengut beschreibt, scheint er seine eigene Determiniertheit durch nationalistische Ideen rechtfertigen zu wollen. So wie er seiner Zufallsbekanntschaft aus dem Zug historische Ursachen ihrer Vorbehalte gegen „die Russen“ zugesteht, ordnet er auch seine eigene Haltung immer wieder in ihren historischen Kontext ein, um sie zu rechtfertigen. Scholtis Auseinandersetzung mit der polnischen Nation und insbesondere mit dem polnischen Nationalismus soll so seinen eigenen Standpunkt legitimieren. An anderer Stelle zitiert er eine polnische Analyse der Figur Kaczmarek aus seinem Roman Ostwind, in der Scholtis eine linke Gesinnung attestiert wird, die den Verdacht des Nationalsozialismus zurückdrängt[47]:

„Der Ostwind von Scholtis hat für uns Polen dokumentarischen Wert. Sein Verfasser war gegen Hitler, er ist links gesonnen und schrieb nicht etwa wie Arnolt Bronnen. Er ist ein Kind Oberschlesiens, in die heimatlichen Bezirke mit dem - Selbstschutz zurückgekehrt...“[48]

Für den westdeutschen Autor Scholtis ist die Reise in den sechziger Jahren, in der Zeit des Kalten Krieges, zugleich eine Reise in das politische und wirtschaftliche System der sozialistischen Staaten. Vielfach vergleicht Scholtis die wirtschaftlichen Bedingungen, die Sozialismus und Kapitalismus den Bürgern bieten. Immer wieder sucht er in Gesprächen Hinweise auf die wirtschaftliche Situation der polnischen Bürger. Seine Auseinandersetzung mit der polnischen und der deutschen Nation und deren Beziehung zueinander wird so vielfach in eine Beurteilung der politischen Systeme transformiert. Seine zwar subtilen, aber spürbaren Ressentiments versucht der Autor damit dem Verdacht nationalistischen Denkens zu entziehen. Ob Scholtis auf diese Weise beiden Nationen gerecht werden kann, ist fraglich. Daß Scholtis die historische Determiniertheit seiner eigenen Denkweise aufzuzeigen versucht, dient seiner eigenen Rechtfertigung, kann aber trotz aller Vorbehalte grundsätzlich zum Verständnis beitragen. Wenn er es wohl auch nicht intendierte, so zeigt er doch unbeabsichtigt, wie nachhaltig sozialisationsbedingte Muster und damit historische Phänomene wirken.

[...]


[1] Die Namen polnischer Städte werden, der einfacheren Zitierweise wegen, so benutzt, wie sie von den jeweiligen Autoren benutzt werden.

[2] Strothmann, Dierk: Polens Wille zum Wandel. 1999. Z. 1 - 15.

[3] Grass, Günter: Unkenrufe. 1992. S. 17, Z. 28 – S. 18, Z. 6.

[4] Da es sich hier um eine Reportage handelt, sei angemerkt, daß zwar literarische Texte den Hauptteil der zu untersuchenden Texte darstellen, daß aber keine grundsätzlichen Einschränkungen aufgrund formaler Kriterien als nötig erachtet werden.

[5] Grass 1992, S. 17, Z. 21.

[6] Ebd. S. 17, Z. 23.

[7] Dabrowska 1995, S. 2 - 3.

[8] Ebd.

[9] Dabrowska erarbeitete diese Stereotype exemplarisch anhand eines Artikels aus dem Jahre 1980. Es ist als logisch anzunehmen, daß das Stereotyp in analoger Form verwendet wird, indem die Ursachen für postkommunistische Wirtschaftsprobleme in der kommunistischen Vergangenheit gesucht werden.

[10] Fischer 1979.

[11] Seghers, Anna 1977.

[12] Scholtis, August 1963.

[13] Wolf, Christa: Kindheitsmuster. 1976.

[14] Bobrowski, Johannes: Levins Mühle. 1997.

[15] Ebd. S. 7, Z. 15 – 23.

[16] Wiechert, Ernst: Die Jerominkinder. 1998.

[17] Seghers, Anna 1977.

[18] Jaroszewski 1995, S. 10f.

[19] Fuchs-Heinritz u. a. 1994, S. 649.

[20] Wolf, Christa 1977.

[21] Bienek, Horst 1988.

[22] Scholtis, August 1963.

[23] Wiechert, Ernst 1998.

[24] Bobrowski, Johannes 1997.

[25] Bienek, Horst 1988.

[26] Ebd.

[27] Wiechert, Ernst 1998.

[28] Schneider, Rolf 1979.

[29] Fuhrmann, Rainer W.: Polen: Handbuch. Geschichte, Politik, Wirtschaft. 1990. S. 58.

[30] Klin 1988, S. 93 / 94

[31] Ebd. 1988, S. 94.

[32] Orłowski 1996, S. 198.

[33] Klin 1988, S. 99.

[34] Ebd. S. 100.

[35] Stüben 1994.

[36] Orłowski 1996, S. 198.

[37] Klin 1988, S. 128 ff.

[38] Frank 1983, S. 190.

[39] Klin 1988, S. 3.

[40] Stüben 1995, S. 260.

[41] Scholtis, August: Reise nach Polen. 1962. S. 7, Z. 1 - 8.

[42] Stüben 1995, S. 260.

[43] Scholtis 1962, S. 39, Z.19 / 20.

[44] Ebd. S. 61, Z. 10 - 14.

[45] Scholtis, August: Reise nach Polen. 1962. S. 52, Z. 12 / 13.

[46] Ebd. S. 90, Z. 6 - 11.

[47] Ebd. S. 166, Z. 25 – S. 167, Z. 12.

[48] Ebd. S. 167, Z. 4 - 8.

Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Das Bild Polens und der Polen in der deutschen Literatur am Beispiel ausgewählter Texte von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
2,3
Autor
Jahr
2000
Seiten
66
Katalognummer
V30102
ISBN (eBook)
9783638314381
ISBN (Buch)
9783638703215
Dateigröße
697 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bild, Polens, Polen, Literatur, Beispiel, Texte, Nachkriegszeit, Gegenwart
Arbeit zitieren
Magister Artium Andrea Himmelstoß (Autor:in), 2000, Das Bild Polens und der Polen in der deutschen Literatur am Beispiel ausgewählter Texte von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30102

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