Die Unmöglichkeit, man selbst zu sein. Therapeutisierung und Psychologisierung des modernen Lebens


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

17 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Unfähig zu leben
2.1 Depression früher und heute
2.2 Die Entwicklung der Depression zur Modekrankheit
2.3 Die moderne Gesellschaft der wählbaren Alternativen
2.4 Ökonomisierung des Gesundheitssystems
2.5 Zusammenfassung

3 Die Optimierung des Selbst
3.1 Lifestyle Drogen
3.2 Therapie und Beratung
3.3 Das ideale Individuum

4 Sind wir wirklich krank?
4.1 Die kranken Gesunden

5 Schluss

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Der verheerende Anstieg an psychisch kranken und ratsuchenden Menschen, sowie die Vervielfältigung geistiger Erkrankungen um die Jahrtausendwende, sind nicht mehr zu übersehen. Während 1986 noch 2.588 Nervenärzte beschäftigt waren, sind es 2002 bereits 4.811 Nervenärzte, 5597 Psychiater und 14193 psychologische Psychotherapeuten (Jurk 2008: 97). Die Ratgeberanzahl hat sich von den späten 80ern bis 1998 verdoppelt (Maasen 2011: 8). Die Anzahl der verschiedenen Krankheitskategorien stieg von 180 im DSM-II über 292 im DSM-III auf heute 395 im DSM-IV (Jurk 2008: 116). Fast jedes seelische Leid ist mit der Gleichsetzung zum körperlichen Leiden kassenabrechnungsfähig geworden (Jurk 2008: 116).

Alte Probleme werden zu Krankheiten hochstilisiert und bekommen immer mehr Behandlungsmöglichkeiten durch Medikamente oder Therapien geboten. Die Anzahl therapeutischer Schulen, Verfahren, Personal und Klienten nimmt stetig zu, während sich gleichzeitig therapeutische Praktiken in immer neuen Settings und Handlungsfeldern institutionalisieren, wie z.B. in Schulen, Kirchen und Gefängnissen. Unterschiedliche therapeutische Strömungen konkurrieren miteinander und beleben somit den Diskurs um immer weitere neue Ansätze und Praktiken, wie die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie oder körperorientierte, esoterische Praktiken zur Selbstentfaltung. Die „neuen“ Krankheiten werden zum Gegenstand von Therapien gemacht, denn ihre Vielfalt verlangt ein diversifiziertes Angebot (Maasen 2011: 12, 13). Besonders auffällig ist die weite Verbreitung der Depression. Die Zahl der verschriebenen Antidepressiva hat sich von 1993- 2001 bereits verdoppelt (Jurk 2008: 200). In England stieg der Anteil der Antidepressiva an verschriebenen Arzneimitteln von 1 % 1991 auf 32% im Jahre 1995. In Frankreich versiebenfachte sich dieser zwischen 1981 und 2001 und in Deutschland stieg er von 2001 bis 2005 um 25 % (Jurk 2008: 96).

Wie hat sich die Depression zu der Modekrankheit entwickelt, die sie heute ist? Und wodurch wurde der Boom der Therapien und Beratungen begünstigt? Mit diesen Fragen werde ich mich im ersten Teil dieser Hausarbeit beschäftigen. Der zweite Teil thematisiert den Wandel von Heilung zu Selbstverbesserung. Anschließend werde ich im dritten Teil der Frage nachgehen, ob wir tatsächlich so krank sind, wie es die Statistiken bezeugen.

2 Unfähig zu leben

Die Depression ist zu einer allgegenwärtigen Erscheinung geworden. Der Begriff taucht nicht nur vermehrt in der Medizin auf, sondern hat sich ebenfalls im alltäglichen Sprachgebrauch etabliert. So sind uns Redewendungen wie „Das macht mich total depressiv“ oder „Ich glaube, ich werde noch depressiv“ schon lange nicht mehr fremd. Die Präsenz der Krankheit ist enorm; ihre gesellschaftliche Akzeptanz wächst, während die Ablehnung negativer Gefühle und Empfindungen stetig zunimmt. Lieber sind wir krank, lieber entziehen wir uns der Verantwortung für unser Handeln und Fühlen, lieber lassen wir uns beraten, therapieren oder gar Tabletten verschreiben (Ehrenberg 2008: 17).

Der Ausdruck Modekrankheit fällt häufig im Zusammenhang mit der Depression. In Anbetracht ihrer Präsenz ist es nicht abwegig, sie als solche zu bezeichnen.

Jedoch ist die Depression nicht die erste Modekrankheit. Vor ihr nahmen die Hysterie und die Neurasthenie Ende des 19. Jahrhunderts eine ähnliche Position ein, als weit verbreitete und doch kaum fassbare Krankheiten (Ehrenberg 2008: 14).

2.1 Depression früher und heute

„Der Begriff Depression steht heute für die verschiedensten Facetten psychischen Leidens“ (Ehrenberg 2008: 13).

Obwohl jeder den Begriff kennt und scheinbar auch sein Bedeutung, fällt es schwer eine Definition herauszuarbeiten. Wie entscheidet man, ob ein Patient depressiv ist? Wo hören Emotionalität, Stimmungsschwankung, Trauma auf und wo beginnt die krankhafte Depression?

Zum einen liegt die Schwierigkeit die Depression als Krankheit in eindeutige Grenzen zu fassen und messbar zu machen an der breit gefächerten, vage beschriebenen Symptomatik. Zum anderen tritt die Depression oftmals nicht alleine auf, sondern in Kombination mit anderen psychischen Störungen (Ehrenberg 2008: 14). Angesichts der Stofflichkeit der Seele löst der Begriff den der Melancholie in der Psychiatrie Anfang des 20. Jahrhunderts ab (Jurk 2008: 12, 13). Bis in die 1940er taucht die Depression lediglich als Symptom auf, das viele Geisteskrankheiten begleitet, wie z. B. den Wahn (Ehrenberg 2008: 13).

Nach Ende des zweiten Weltkrieges öffnet sich der Psychiatrie mit der Entdeckung der Psychopharmaka die Tür in die Allgemeinmedizin. Ihre theoretische Ausrichtung ändert sich hin zur biochemischen These. Die Verbreitung der Psychopharmaka, besonders vorangetrieben durch das erste Trendantidepressivum Prozac im Jahr 1987, macht die Depression behandelbar und lässt ihr Symptomspektrum noch weiter anwachsen. Alles, was mittels Antidepressiva heilbar zu sein scheint, gilt von nun an als Depression. Ab 1990 wird sie als gut behandelbare Massenerkrankung verstanden; Gesundheitsbürokraten, Pharmaforscher, Trendforscher und Anlageberater verbreiten die These, Gesundheit sei ein kaufbares Produkt, eine gesunde Psyche müsse jeder haben oder erwerben und versuchen dahingehend ein Marktbedürfnis zu befriedigen. Symptome wie Angst, Zwang, körperliche Beschwerden, Grübeln, Zweifeln etc. werden ebenfalls der Krankheit Depression zugeordnet, da auch diese Unpässlichkeiten mit Hilfe von Medikamenten behandelbar geworden sind und der Anspruch besteht, sie behandeln zu müssen. Der Begriff wird immer weiter „verwässert“, Depression gilt heutzutage als Synonym für jegliche Verstimmtheit. Sind wir demnach nicht alle depressiv? Tatsächlich zeigen Studien, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens mindestens eine depressive Phase durchlebt (Jurk 2008: 12-14). Doch was hat eine derartige Flut an Depressiven bewirkt? Was veranlasst den modernen Menschen immer mehr zu Therapien, Beratungen und Tabletten zu greifen?

2.2 Die Entwicklung der Depression zur Modekrankheit

Das moderne Individuum wird durch vielerlei Gegebenheiten verunsichert. Die 1960er erschüttern die gewohnten Strukturen des menschlichen Lebens, die Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur unterliegen strukturellen Veränderungen mit revolutionärer Qualität. Neue Produktions- und Wirtschaftsregime entstehen (digitaler Finanzmarkt Kapitalismus), im Arbeitsmarkt vollzieht sich ein Strukturwandel, neue wissenschaftlich- technische Entwicklungen werden gemacht, die Revolution der Massenmedien geht vonstatten, soziokulturelle Veränderungen (Wandel von Pflicht- zu Selbstentfaltungswerten), die Emanzipation der Frau und antiautoritäre Bewegungen (Entkirchlichung) begünstigen den Wandel der Sozialstruktur (Maasen 2011: 24)

Wesentlich für die Verunsicherung des Menschen ist die Veränderung der Norm. Wo gestern strenge, disziplinäre Rollenzuweisungen, Verhaltenssteuerung herrschten und jeder seine Rolle in der Gesellschaft erfüllen sollte, besteht heute die Aufforderung zu persönlicher Initiative und Selbstverwirklichung (Ehrenberg 2008: 15). Die Emanzipation hat die kollektive Psyche des Menschen erschüttert, die demokratische Moderne lässt sie ohne Führer zurück. Jedes Individuum soll für sich selbst entscheiden können, muss seine eigenen Orientierungen konstruieren oder wählen. Moralische Gesetze, Traditionen, Vorschriften wer man zu sein hat und wie man sich zu verhalten hat, schwinden und schaffen reine, auf sich selbst zurückgeworfene Individuen in ständiger Bewegung, damit beschäftig, ihren Selbstverwirklichungsauftrag auszuführen. Die Anforderung an die Persönlichkeit steigert sich soweit, dass der Mensch Sinn und Identität aus sich selbst gewinnen muss und die Individuen immer mehr aus der Gemeinschaft herausgelöst als „Einzelkämpfer“ agieren. Die Dichotomie erlaubt – verboten verliert in den 1960ern ihre Bedeutung, die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem weicht einer Spannung zwischen Möglichem und Unmöglichem. Die Relativierung des Verbotsbegriffs bringt eine Veränderung der Individualität mit sich: Statt der Schuld rückt nun die Verantwortung in den Vordergrund. Ehrenberg bezeichnet die Depression deshalb als „Krankheit der Verantwortlichkeit“. Das Individuum wird nicht mehr am Gehorsam gemessen, sondern an seiner Initiative. Es wird nicht mehr durch eine äußere Ordnung bewegt, sondern bewegt sich selbst aus eigenem Antrieb, mit eigener geistiger Kraft, um den neuen Normen Projekt, Motivation und Kommunikation gerecht zu werden. Initiative zu zeigen liegt fortan in der Verantwortung jedes Einzelnen. Schafft ein Individuum es nicht die nötige Motivation, Kraft aufzubringen, um sich selbst zu verwirklichen und ist der ihm auferlegten Verantwortung nicht gewachsen, so weicht es ab von der Norm und kann erkranken bzw. als krank gelten (Ehrenberg 2008: 18, 19).

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Details

Titel
Die Unmöglichkeit, man selbst zu sein. Therapeutisierung und Psychologisierung des modernen Lebens
Hochschule
Universität Münster
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
17
Katalognummer
V300795
ISBN (eBook)
9783656971948
ISBN (Buch)
9783656971955
Dateigröße
576 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychiatrie, Depression, Modekrankheit, Therapie
Arbeit zitieren
Veronika Pril (Autor:in), 2014, Die Unmöglichkeit, man selbst zu sein. Therapeutisierung und Psychologisierung des modernen Lebens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/300795

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