Der Neoformalismus und das Konzept der Verfremdung in der Filmkunst


Hausarbeit, 2015

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Kontext
2.1 Russischer Formalismus
2.2 Neoformalistischer Ansatz

3 Konzept der Verfremdung
3.1 Automatisierung und Zweck der Kunst
3.2 Verfremdungsverfahren im Film

4 Kritische Einschätzung

5 Fazit

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Um [] die Empfindung des Lebens wiederzugewinnen, die Dinge wieder zu fühlen, den Stein steinern zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen.“1

Es ist das Privileg der Kunst, Wahrnehmungsprozesse zu beeinflussen - sie lässt Gewohntes fremd wirken und Alltägliches in neuen Kontexten erscheinen. Der russische Begriff ostranenie steht für diesen grundlegenden Zweck der Kunst: das Konzept der Verfremdung. Es besagt, dass Kunstwerke fähig sind automatisierter Wahrnehmung entgegenzuwirken indem sie mithilfe spezifischer Verfahren das Rezeptionsempfinden des Betrachters verfremden. Ihren Ursprung finden diese Gedanken in den Aufsätzen der Literaturtheoretiker des russischen Formalismus.2

Angelehnt an das formalistische Verständnis der ostranenie soll in dieser Arbeit das Verfremdungskonzept in Bezug auf die Filmkunst im Fokus der Betrachtung stehen. Filmtheoretischen Kontext bildet dabei der neoformalistische Ansatz nach Kristin Thompson und David Bordwell, die die Kernthesen der russischen Formalisten auf die Filmkunst übertragen und diese weiter ausführen. Ziel der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Neoformalismus ist dabei primär die Beantwortung der folgenden forschungsleitenden Fragen:

Welche Bedeutung hat das Konzept der Verfremdung im neoformalistischen Sinn für die Filmkunst?

- Wie kann Kunst Wahrnehmungsprozesse beeinflussen?
- Worin liegt das Verfremdungspotential von Filmen und wie lässt es sich analysieren?

Um auf den zentralen Aspekt der Verfremdung näher eingehen zu können, sollen zunächst der russische Formalismus sowie der Neoformalismus, die den theoreti- schen Kontext für die Fragestellung liefern, in ihren wesentlichen Thesen vorge- stellt werden. Daran schließt sich eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Verfremdungskonzept an, das anhand zwei theoretischer Abhandlungen expliziert wird. Zum einen soll Viktor Schklowskis Aufsatz „Kunst als Verfahren“3 der Erläuterung des eingangs erwähnten allgemeinen Zwecks der Kunst aus Sicht der russischen Formalisten dienen; zum anderen soll auf der Basis von Kristin Thompsons Überlegungen in „Neoformalistische Filmanalyse - Ein Ansatz, viele Methoden“4 daraufhin das Verfremdungspotential von Filmen beleuchtet werden. Vor einer abschließenden Bilanzierung der Ergebnisse gilt es die untersuchten Texte kritisch zu hinterfragen sowie ihre Relevanz für aktuelle filmwissenschaft- liche Betrachtungen festzuhalten.

2 Theoretischer Kontext

Der Ansatz, Filme anhand ihres jeweiligen Verfremdungspotentials zu analy- sieren, ist konstitutiv für den Neoformalismus. Dieser greift dabei weitgehend auf die theoretischen Arbeiten der russischen Formalisten und ihr Verständnis von Kunst zurück und übernimmt zentrale Thesen, Verfahren und Terminologien, von denen im Folgenden partikular die Wesentlichsten vorgestellt werden sollen.

2.1 Russischer Formalismus

Der eingangs erwähnte Viktor Schklowski gehörte einer Gruppe von Philologen an, die zur Zeit des ersten Weltkriegs um 1916 in Petrograd und Moskau die literaturtheoretische Denkrichtung des russischen Formalismus begründeten. Die Anhänger strebten nicht danach, eine umfassende Methodologie zur Literaturanalyse zu konzipieren, sie intendierten vielmehr Literatur als spezifischen wissenschaftlichen Gegenstand zu fassen.5

Die Namenszuschreibung der Schule erfolgte durch ihre marxistischen Gegner, die die Theoretiker damit auf die Dichotomisierung von Form und Inhalt festlegen wollten. Genau um die Vermittlung dieser beiden Komponenten waren die russischen Literaturtheoretiker jedoch bestrebt. Ihren Annahmen folgend bestimmt das spezifisch Ästhetische eines Kunstwerkes seine Wahrnehmung, wodurch die Form zum zentralen Analysegegenstand wird. Sie ergibt sich wiederum in ihrer Gesamtheit aus vielen Elementen, den sogenannten Verfahren (russisch priom), zu denen auch der Inhalt des Werkes zählt.6 Die Bezeichnung der Schule als formalistisch blieb, obgleich sich die Anhänger selbst lieber als Spezifikatoren oder Morphologen bezeichnet hätten.7

Im Zentrum der formalistischen Kunstauffassung steht folglich der Begriff des Verfahrens, mithilfe dessen sich die Form eines Kunstwerkes analysieren lässt. Verfahren sind diejenigen Mittel, die „Dinge möglichst eindeutig als Kunst wahrnehmbar werden […] lassen.“8 Sie betonen die Konstruiertheit eines Kunst- werkes, bestimmen seine spezifische ästhetische Wirkung und differenzieren es damit von anderen Werken.9 Dieses Begriffsverständnis ermöglicht es den russi- schen Formalisten, „Kunst als autonome Sphäre und die einzelnen Kunstformen als spezifische Operationsweisen zu bestimmen.“10 Für die konkrete Werkanalyse stellt sich dabei stets die Frage, welche Funktion und Motivation ein Verfahren in einem künstlerischen Text aufweist, wobei sich eine der zentralsten Funktionen in dem Verfremdungseffekt widerspiegelt.11 Die Verfremdung gilt damit als Schlüs- selkonzept der formalistischen Theorie und soll als primärer Untersuchungsgegen- stand dieser Arbeit in einem separaten Kapitel behandelt werden.

Weiterhin unterscheiden die Formalisten narratologisch zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene einer Erzählung und führen dafür die Begriffe fabula und syuzhet ein. Fabel meint „die zeitlich-lineare, chronologische und kausal verknüpfte Kette von Ereignissen und handelnden Figuren“12, die der Rezipient aktiv mithilfe seiner Wissensbestände während der Präsentation des Sujets konstruieren muss. Das Sujet offeriert die Fabelereignisse in ihrem zeitlichen Verlauf gemäß dem vorliegenden Erzähltext. Diese Differenzierung illustriert die - im formalistischen Verständnis - aktive Rolle des Kunst Rezipierenden durch kognitiv-mentale Prozesse.13

Die kunsttheoretischen Überlegungen der russischen Formalisten beziehen sich vordergründig auf die Literatur, wobei der Fokus dabei auf dem besonderen poetischen Gebrauch der Sprache liegt. Ende der 20er Jahre erweitert sich ihr Gegenstandsbereich auf filmtheoretische Abhandlungen, die den Film als Kunst- werk in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen. Neben den klassischen Filmtheo- rien erfährt der russische Formalismus in der Wissenschaft jedoch lange Zeit eine eher geringe Beachtung.14 Eingang in die wissenschaftliche Diskussion finden die formalistischen Überlegungen primär mit der Etablierung des neoformalistischen Ansatzes zu Beginn der 80er Jahre.15 Die formalistische Schule selbst gerät aus ideologischen Gründen um 1930 aus dem Blickfeld der literarischen Öffentlich- keit.

2.2 Neoformalistischer Ansatz

Im Zentrum des Neoformalismus stehen die Arbeiten von Kristin Thompson und David Bordwell, die ihren filmtheoretischen Ansatz mit der Publikation „Film Art. An Introduction“ von 197916 im wissenschaftlichen Diskurs etablieren.17 Thompson und Bordwell lehren beide an der Universität von Wisconsin in Madison Filmwissenschaft, weswegen ihr Arbeiten auch häufig unter der Bezeich- nung Wisconsin-Project zusammengefasst werden. Neben dem russischen Forma- lismus, finden auch Gedanken anderer Film-, Literatur- und Kunsttheorien18 Einzug in den Ansatz.

Grundlegend versteht sich der Neoformalismus nicht als eine universelle Filmtheorie oder konkrete Methode zur Filmanalyse, vielmehr ist er als ästheti- scher Ansatz zu begreifen, der nach Thompson „zumindest in Umrissen eine allgemeine Kunsttheorie“19 skizziert. Der Neoformalismus bezieht sich demnach „auf eine Reihe von Annahmen bezüglich der Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Kunstwerken, bezüglich der Abläufe, mittels derer die Zuschauer Kunstwerke verstehen, und bezüglich der Beziehungen zwischen Kunst und Gesellschaft.“12 Damit bewegt sich der Ansatz in einem Dreieck von Filmanalyse, Filmtheorie und Filmgeschichte, wobei alle Teildisziplinen in einem ständigen Austausch stehen und im Folgenden in Umrissen erklärt werden sollen.20 Der Filmanalyse als Werkanalyse widmet sich vor allem Thompson, die sich mit der Einordnung des Films als Kunstwerk an die formal-ästhetischen Überlegungen der russischen Formalisten anlehnt. Auch sie betrachtet den Film als Summe seiner Verfahren, die es analytisch auf ihren Verfremdungseffekt hin zu untersuchen gilt. Die im Film angewandten Verfahren bestimmen dabei die ästhetische Wirkung des Films. Der Neoformalismus versteht unter Verfahren „jedes einzelne Element oder jede Struktur, die im Kunstwerk eine Rolle spielt - eine Kamerabewegung, eine Rahmenhandlung, ein wiederholtes Wort, ein Kostüm, ein Thema usw.“21 Auch die Bedeutung bzw. der Inhalt eines Filmes stellt im neoformalistischen Sinn lediglich eine solche Komponente dar. Diese Zuord- nung rückt einen zentralen, ebenfalls dem russischen Formalismus entnommenen, Aspekt des Ansatzes in den Fokus: Die Aufhebung der Trennung von äußerer Form und Inhalt. Die filmische Form repräsentiert nach Bordwell und Thompson das übergeordnetes System eines Films, welches alle Elemente - so auch den Inhalt - zu einem Ganzen ordnet:

„If form is the total system which the viewer attributes to the film, there is no inside or outside. Every component functions within the overall pattern that is perceived. Thus we shall treat as formal elements many things that some people consider content. From our standpoint, subject matter and abstract ideas all enter into the total system of the artwork.“22

Abgesehen von dem an den russischen Formalismus angelehnten Ansatz zur Film- analyse, wie ihn Thompson verfolgt und der mittels ihres Aufsatzes „Neoformalis- tische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden.“ in Kapitel 3.2 noch näher expli- ziert werden soll, umfasst der Neoformalismus noch zwei weitere Teildisziplinen.

Erzähltheoretisch beruft sich der Neoformalismus auf ein kognitives Narrationsmodell, das „das interaktive Verhältnis von Zuschauer und Textstruktur zu bestimmen und den Prozeß [sic!] filmischer Textverarbeitung schematheore- tisch zu modellieren versucht.“23 Damit übernimmt der Ansatz das Konzept seiner

[...]


1 Schklowski, Viktor (1987): Kunst als Verfahren. Leipzig, S. 17.

2 Vgl. Kessler, Frank (1996): Ostranenie. Zum Verfremdungsbegriff von Formalismus und Neoformalismus. Marburg, S. 53.

3 Vgl. Schklowski 1987.

4 Vgl. Thompson, Kristin (1995): Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden. Marburg, S. 23-62.

5 Vgl. Ejchenbaum, Boris (1965): Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur. Frankfurt am Main, S. 7ff.

6 Vgl. Beilenhoff, Wolfgang (2005): Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus. Frankfurt am Main, S. 413f.

7 Vgl. Mierau, Fritz (1987): Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule. Leipzig, S. 6.

8 Schklowski 1987: 13.

9 Vgl. Beilenhoff 2005: 421.

10 Ebd. 2005: 421.

11 Vgl. Schklowski 1987: 18.

12 Hartmann, Britte/Wulff, Hans J. (2007): Neoformalismus, Kognitivismus, Historische Poetik des Kinos. Mainz, S. 199.

13 Vgl. ebd. 2007: 199.

14 Vgl. Beilenhoff 2005: 9.

15 Vgl. ebd. 2005: 402.

16 Vgl. Bordwell, David/Thompson, Kristin (2004): Film Art. An Introduction. Boston [u.a.].

17 Vgl. Hartmann/Wulff 2007: 196.

18 Zu nennen wären hier unter anderem der Prager Strukturalismus, Arbeiten von Gérard Genette, Tzvetan Todorov, Roland Barthes, Meir Sternberg sowie stilanalytische Abhandlungen von André Bazin und Noël Burch (Vgl. Hartmann/Wulff 2007: 195).

19 Thompson 1995: 23.

12 Thompson 1995: 23.

20 Vgl. Hartmann/Wulff 2007: 196.

21 Thompson 1995: 35.

22 Bordwell/Thompson 2004: 50.

23 Hartmann/Wulff 2007: 196.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Der Neoformalismus und das Konzept der Verfremdung in der Filmkunst
Hochschule
Universität Leipzig  (Kommuniaktions- und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Filmtheorie
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
18
Katalognummer
V300721
ISBN (eBook)
9783656968627
ISBN (Buch)
9783656968634
Dateigröße
612 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
neoformalismus, konzept, verfremdung, filmkunst
Arbeit zitieren
Nadine Keller (Autor:in), 2015, Der Neoformalismus und das Konzept der Verfremdung in der Filmkunst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/300721

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