Ernst Moritz Arndt. Eine sprachliche Untersuchung seiner Texten über eine deutsche Nation


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

26 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Sprache als Werkzeug
2.1. Konstruktionen sprachlicher Wirklichkeiten
2.2. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen zur Sprache und Wirklichkeit
2.3. Entwicklung eines völkisch-nationalen Sprachgebrauchs

3. Ernst Moritz Arndt als politischer Denker und Publizist

4. Die sprachlichen Konstruktionen einer deutschen Nation in Arndts Publikationen
4.1. Darstellungsweisen einer deutschen Nation
4.2. Sprachliche Besonderheiten bei der Darstellung einer deutschen Nation

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der heutigen Zeit gilt Ernst Moritz Arndt als eine stark umstrittene Persönlichkeit. In den sich um Arndt drehenden Diskussionen werden seine Errungenschaften immer wieder seinen antisemitischen und nationalpatriotischen Schriften gegenübergestellt. Ziel dieser Arbeit soll es jedoch nicht sein am Ende diesbezüglich eine Aussage machen zu können oder zu wollen. Vielmehr geht es darum folgenden Fragen nachzugehen:

Wie konstruiert Arndt sprachlich eine deutsche Nation?

Welche Darstellungsweisen lassen sich dabei in seinen Texten finden?

Welche sprachlichen Besonderheiten weisen diese Texte auf?

Hingewiesen werden sollte an dieser Stelle, dass Arndt bereits von einem Deutschland sprach bevor die Reichsgründung sich vollzogen hatte. Um die Auseinandersetzung mit der verwendeten Sprache am Ende der Arbeit gewährleisten zu können, ist es der Sache dienlich, vorab allgemeine Themenbereiche anzuschneiden. Daher wird zur Realisierung dessen der Konstruktivismus kurz behandelt, um auf den Ideenansatz hinzuweisen, dass jedes Weltbild ein auf Konventionen beruhendes Konstrukt einer Gemeinschaft ist. Diese Gedanken sowie die formulierten Erkenntnisse der Sprachwissenschaft bezüglich Wirklichkeit und Sprache sollen schlussendlich behilflich sein, unter Hinzunahme dieser Punkte die aufgeworfenen Fragestellungen zu bearbeiten.

Des Weiteren ist es unablässig sich mit dem völkisch-nationalen Sprachgebrauch ganz allgemein zu beschäftigen. Dieser Themenkomplex wird sich sowohl zeitlich gesehen vor Arndt orientieren, als auch Definitionen zu den Begriffen „völkisch“ und „Nation“ beinhalten, welche nach Arndt entworfen worden sind. Sie sollen für ein besseres Verständnis behilflich sein. Nachfolgend wird im nächsten Punkt Arndt als politischer Denker und Publizist vorgestellt werden. Hintergrund dafür ist, dass Arndt auf diese Weise besser eingeordnet werden kann zum einen und sich zum anderen eventuell auch ein Stück weit sein eigenes Selbstverständnis offenbart.

Der vierte Gliederungspunkt mit seinen zwei Unterpunkten befasst sich mit der Analyse ausgewählter Schriften Arndts. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass der Rahmen der Arbeit begrenzt ist und somit eine enge Auswahl der Schriften erfolgen musste. Diese Auswahl beschränkte sich allein auf Texte, welche sich mit der deutschen Nation, dem deutschen Volk beziehungsweise dessen Sitten und Kultur befassen. Andere Texte, welche möglicherweise im Detail widersprüchliche Aussagen aufweisen könnten, finden hier keinen Eingang.

Sicherlich wäre für die Analyse eine vergleichende Darlegung zu anderen, von Arndt beschriebenen Nationen äußerst aufschlussreich gewesen, dennoch kann auch diesem Umstand in der Arbeit im Detail nicht nachgegangen werden. Der Ausschluss dieser Überlegungen beruht auf der Überzeugung, dass eine solche vergleichend ausgearbeitete Analyse zu oberflächlich ausgefallen wäre.

Im Fazit wird ausgewertet werden, auf welche Weise die oben aufgeworfenen Fragen mit Hilfe der Analyse beantwortet werden konnten.

Die Ausführungen zu dem Thema Konstruktivismus stützen sich auf verschiedene Beiträge von Hejl, Watzlawick, Glasersfeld und Gergen. Mit Hilfe der von ihnen gegebenen Einführung in die Thematik und Sichtweisen des Konstruktivismus soll auf theoretischer Ebene verdeutlicht werden, auf welche Weise innerhalb einer Gemeinschaft ein Bild von der Wirklichkeit erzeugt wird. Zusätzlich müssen sprachwissenschaftliche Betrachtungen zu Sprache, Sprachgebrauch und Wirklichkeit Eingang in die Arbeit finden. Dafür wird unter anderem das von Bühler entworfene Organon-Modell hinzugezogen.

Bezüglich Arndt kann man reichlich Literatur finden, welche teilweise auf einem sehr aktuellen Stand ist. Größtenteils betrifft dies Diskussionen über Arndt als Namenspatron. Jedoch sind auch einige Biografien über ihn aufzufinden sowie Auslegungen seiner Texte. Hauptsächlich stützt sich die Arbeit für eine kurze Vorstellung Arndts auf die Autoren Otte und Kuhn. Die zur Analyse herangezogenen Texte wurden einem Buch entnommen, in welchem schon vorab eine Auswahl der Schriften Arndts getroffen worden ist.

2. Die Sprache als Werkzeug

Das folgende Kapitel der Arbeit soll darlegen, wie Sprache als Werkzeug fungiert. Dazu befasst sich der erste Unterpunkt mit der Theorie des Konstruktivismus. Dessen sprachpsychologische und philosophische Herangehensweise hat es sich zum Ziel gesetzt, die mittels Sprache realisierten Bilder zu untersuchen bezüglich des Aspekts, wie Individuen Realitäten erzeugen. Da diese konstruierten Wirklichkeiten durch Sprache erzeugt und weiter kommuniziert werden, müssen konsequenterweise sprachwissenschaftliche Betrachtungen zur Sprache selbst und deren Auffassungen zur Gestaltung von Wirklichkeiten betrachtet werden, um die Möglichkeit zu erarbeiten, im weiteren Verlauf dieser Arbeit sprachkritische Beobachtungen vornehmen zu können. Der dritte und letzte Unterpunkt setzt sich mit dem völkisch-nationalen Sprachgebrauch auseinander, seiner historischen Entwicklung und damit, wie politische, wirtschaftliche und soziale Aspekte auf den Sprachgebrauch und das Sprachempfinden einwirkten.

2.1. Konstruktionen sprachlicher Wirklichkeiten

Allen voran stellt sich die Frage: Was ist Wahrheit? Der Konstruktivismus findet dazu die folgende Aussage, dass es eine Wahrheit nur dann geben könne, wenn sie mit einer objektiven und losgelösten Wirklichkeit kongruent sei. Der radikale Konstruktivismus zeichnet sich dadurch aus, dass er zwischen Wissen und Wirklichkeit eine Anpassung sieht. Es gilt nun die Frage zu erörtern, ob der Mensch überhaupt in der Lage ist, eine objektive Wirklichkeit wahrzunehmen.[1] Wenn an diesem Punkt davon ausgegangen werden kann, dass die Menschen zumindest eine allgemeingültige Wirklichkeit empfinden, fügen sich weitere Fragen der ersten an: Was ist Wirklichkeit und wie entsteht sie? Auch Watzlawick setzt sich in seinen Arbeiten mit der Perspektive einer gemeinsamen Wirklichkeit auseinander. In seinen Erkenntnissen, die er unter anderem aus der Psychotherapie gewonnen hat, wirft er die Frage auf, warum unsere Wirklichkeitskonstruktionen divergieren. Ebenso führt er an, dass der Sinn nicht das sei, was der Objektivität entspricht, sondern dass Sinn nur innerhalb von Kontexten vorhanden sein könne. Er gibt an, dass, um gesunde und geistig gestörte Menschen voneinander unterscheiden zu können, der Ausgangspunkt eine angenommene und feststehende Wirklichkeit sei.[2] Im Allgemeinen erleben wir unsere Erlebenswelt als einen relativ stabilen und beständigen Zustand. Die Umwelt spielt laut Glasersfeld nur insofern eine Rolle, als sie das als nicht mehr brauchbar erwiesene Wissen ausmerzt. Lediglich solches Wissen, was sich als relevant und damit zielführend erweist, besteht weiterhin fort. Die gesammelten Erfahrungen ordnen und sortieren sich nach dem Verhältnis von bewusster Intelligenz und Umwelt. Darunter muss die willentliche Auseinandersetzung mit Ereignissen und gesammelten Erfahrungen verstanden werden. Um nun von einer formstabilen und konsistenten Wirklichkeit ausgehen zu können, gilt es sich mit dem Problem auseinanderzusetzen, ob Wissen und Wirklichkeit überhaupt übereinstimmen können - das bedeutet, ob die getätigten Beobachtungen unserer Umwelt alle Eigenschaften eines Gegenstandes im vollen Umfang abdecken können. Der radikale Konstruktivismus verneint dies und zwar solange der Beschreibende nicht auch selbst der Konstrukteur der beschriebenen Sache ist. Nur dann kennt er die Beschaffenheit aller Elemente, aus denen die Sache zusammengesetzt wurde. Bemüht man sich hier, den Bezug zum Wissen herzustellen, so wird deutlich, dass dieser Wissens- und Erkenntniserwerb ein aktiver Vorgang ist. Diese bewusste Tat wird als Operieren begriffen, mit welchem die aufgefasste Welt und das eigene Selbst organisiert werden.[3] Watzlawick greift diesen Punkt auf und führt ihn dahingehend weiter aus, dass sich die Wirklichkeit nur dort tatsächlich offenbare, wo sie anzeige, was sie darstellt. Das hat zur Folge, dass sich der Mensch so lange im Einklang mit seiner Umwelt fühlt, wie er mit der für ihn nicht sichtbaren Umwelt auch nicht in Berührung kommt. Um derartige Irritationen zu vermeiden, sind die Menschen bemüht, ihrer Erlebenswelt per Strukturen Gestalt zu geben. Watzlawick benennt zwei Schritte zur Orientierung in der Welt. Der eine Schritt ist die Erforschung des Lebensraums nach wissenschaftlichen, beispielsweise physikalischen, Merkmalen, die den Versuch darstellen, der Beschaffenheit der Objekte auf den Grund zu gehen. Im zweiten Schritt wird den Gegenständen in der Regel noch ein weiterer Aspekt beigemessen, welcher durch die Menschen den Dingen zugeordnet wird. Diese eben erwähnten Schritte werden von Watzlawick unterschieden in eine erste Ordnung, also z.B. wissenschaftlich nachweisbare Eigenschaften, und eine zweite Ordnung, das sind Werte, Eigenschaften und Sinnzuschreibungen. Die zweite Ordnung versucht sich an der ersten Ordnung zu orientieren, indem sie unter anderem nach einer Anpassung der individuellen Werte an die materiellen Eigenschaften trachtet. Hauptsächlich ist unsere erkennbare und definierte Wirklichkeit durch die zweite Ordnung bestimmt, die von uns konstruiert wird mittels Entscheidungen, Gedanken, Gefühlen usw. Fehlerhaft ist dabei die Annahme der Menschen, dass diese konstruierte Umwelt die Wirklichkeit spiegeln würde. Sie entspricht lediglich unseren gewonnenen Auffassungen.[4] Zu einer Erweiterung unserer Wahrnehmung kommt es nur dann, wenn dies zur erfolgreichen Durchführung einer Handlung notwendig ist. Glasersfeld geht davon aus, dass das handelnde Subjekt sich stets an zurückliegenden Erfahrungen und Verhaltensmustern orientiert, die in der Vergangenheit zu dem gewünschten Erfolg führten. An dieser Stelle, an der das Subjekt sich neu orientiert, wird erkennbar, was unter der Anpassung des Wissens an die Wirklichkeit zu verstehen ist, nämlich die eventuelle Erweiterung des gewohnten Interaktionsraumes. Um in der Folge von einer objektiven Realität oder Wirklichkeit reden zu können, müssen unterschiedliche Individuen fähig, sein dieselben Gegenstände wahrnehmen zu können und zwar auf dieselbe Art und Weise. Damit eine gemeinsame Erlebenswelt konstruiert werden kann, wird vorausgesetzt, dass die eigenen entworfenen Kategorien und daraus entstandenen Modelle dem anderen ebenfalls unterstellt werden können. Das heißt, der andere ist ebenfalls eine Konstruktion von einem selbst, was Piaget als Akkommodation definiert. Die erlebte Wirklichkeit wird nun dadurch allgemeingütig, dass man sich zum einen sprachlich darüber austauschen kann und darüber hinaus auch in der Lage ist, die Handlungen der anderen erfolgreich zu deuten. Jedoch soll die sprachliche Komponente nicht so verstanden werden, dass sie als Wissensaustausch dienen könnte. Die Dinge, die innerhalb der sprachlichen Interaktion formuliert werden, steigern dadurch lediglich ihren Überlebenswert. Zuerst werden die eigenen Modelle und Begrifflichkeiten auf das Gegenüber übertragen, danach werden ihm ähnliche kognitive Vorstellungen von den Dingen unterstellt; erfahren sie in diesem Teil des Prozesses Bestätigung, so erreichen sie Allgemeingültigkeit.[5] Watzlawick geht davon aus, dass der Prozess der Übereinstimmung dadurch gelingt, weil das Beurteilen der Umwelt ein erlernter Vorgang ist. Dabei werden nicht Einzelteile eines Systems transportiert, sondern das gesamte vermittelte System wird übernommen. Die Folgen stützen sich dabei auf die Ursachen. Dieses lässt sich nur durch Kommunikation erschließen, welche den Schlüssel zur Sozialisation darstellt, durch die der Mensch in der Gruppe überlebensfähig wird, da er das kommunizierte System übernommen hat. Dieses System, das in der Kombination aus erster und zweiter Ordnung ein Ganzes ergibt, existiert nur in unserer Vorstellung und ermöglicht es trotzdem, Entscheidungen zu treffen. Dies begründet sich dadurch, dass angenommen wird, dass die Objekte weiterhin fortbestehen, auch wenn sie durch die Sinne nicht mehr erfasst werden können. Ebenfalls bleiben im selben Moment des Nicht-Wahrnehmens der Dinge die ihnen zugeordneten Beurteilungen und Sinnzuschreibungen bestehen. Es ist durchaus möglich, die Wirklichkeitskonstruktion eines Menschen abzuändern, indem als Erstes dessen Konstruktion offen gelegt wird. Die Konstruktion lässt sich nach Watzlawick aber nicht dadurch ermitteln, dass die Person sie einer zweiten beschreibt, sondern wird erst dann erkennbar, wenn das Individuum mitteilt, wo deren Problemlösungsstrategien nicht greifen. Um eine Veränderung der Wirklichkeitsauffassung zu erreichen, ist nun eine Umdeutung der genannten Problemsituation mittels einer zweiten Person notwendig. Diese bietet neue Lösungswege und Varianten zur Verwendung an. Eine andere Möglichkeit, in das bestehende Konzept einzugreifen, besteht darin, nicht zuerst die Ursache des Problems zu ermitteln, sondern per Verhaltensverschreibung eine neue Reaktion für Situationen einzuüben. Dieses neue Verhalten muss nicht zwingend zielführend sein.[6] Beide Vorgänge bedeuten jedoch nicht, dass es zu einer Auflösung des gesamten Systems kommt. Die Systeme gelten „als zwar energetisch offen, aber funktional und informationell geschlossen“ (Hejl (1992, S.116.) Hejl spricht damit den Punkt an, dass die bestehenden Modelle externe Einflüsse zulassen, um mit Hilfe dieser interne Umstrukturierungen vornehmen zu können. Ob nun ein Individuum oder eine Gesellschaft, stets ist das System bemüht, erfolgreich zu agieren. Erweisen sich in diesem Vorgang die kognitiven Strukturen oder Handlungsmuster als unzulässig, müssen im Sinne der Selbsterhaltung neue Problemlösestrategien ermittelt werden. Inwieweit sich Veränderungen durchsetzen, steht immer in Abhängigkeit vom System selbst, dessen Zustand ein Abbild der bisherigen Erfahrungen mit der Wirklichkeit ist. Ähnlich wie Glasersfeld definiert auch Hejl das Zustandekommen eines sozialen Systems. Zum einen muss demzufolge jedes der daran teilhabenden Systeme in mindestens einem Aspekt des Systems mit den anderen übereinstimmen. Zusätzlich müssen alle Mitglieder des Systems der gleichen Realität anhängen und darauf bezogen angepasst handeln und kommunizieren. An dieser Stelle muss nachvollzogen werden, dass ein Individuum gleichzeitig Teil mehrerer sozialer Systeme ist, die dadurch miteinander vernetzt werden.[7] Im eben beschriebenen Part wurde dargelegt, wie soziale Systeme oder Gemeinschaften entstehen. Dabei spielt die Übereinkunft gleicher Werte und Bewertungen eine wichtige Rolle. Daneben wurde erwähnt, dass die Erziehung innerhalb eines sozialen Systems ebenfalls substantiell ist, welche durch Sprache vermittelt wird. Um nun ein und dieselbe Sache darzulegen gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten, dies sprachlich zu realisieren. Ein Rahmen wird dadurch gesetzt, dass davon auszugehen ist, dass bestimmte Wörter oder Wortformeln in dem entsprechenden Kontext oder einer Situation Verwendung finden. Erst im Verlauf des Kommunikationsaktes können die genutzten Wörter ihren Sinn entfalten. Aufgrund dieses Umstandes, dass bestimmte Wörter nur in Verbindung mit bestimmten Handlungen oder in gewissen Situationen geäußert werden, kann die Sprache einfach nicht der Abbildung der Wirklichkeit dienen. Sie ist allenfalls ein Anzeichen für die Auffassungen des Nutzers. Sprache wird also zielorientiert angewendet, mit Hilfe derer während der Interaktion etwas erreicht werden soll. Die Abbildung der Welt durch Wörter gelingt dadurch, dass wir bereit sind, innerhalb gesellschaftlich anerkannter Konventionen diese oder jene Beschreibung als wahr gelten zu lassen. Dabei gilt es zu beachten, dass in den sozialen Systemen die Beschreibungen einer Wirklichkeit auf unterschiedliche Weise verdeutlicht werden können, jedoch in anderen sozialen Systemen nicht zwangsläufig die gleiche Gültigkeit besitzen müssen. Es wird offensichtlich, dass die sozialen Systeme jeweils eigene Begriffe heranziehen und in ihrem Gebrauch prägen. Gergen nennt diese disziplinären Ordnungen, welche mittels Sprache die Wirklichkeit zu kategorisieren versuchen. Er führt zum Beispiel die Medizin an, die in gesund und krank unterteilt, sowie weitere Disziplinen, deren Sprachurteil sich viele stellen und es in die ihrigen integrieren. Derart gelingt es den disziplinären Ordnungen, ihren Machtanspruch auszudehnen, indem die durch Sprache suggerierte Weltansicht übernommen wird. Um nun komplette Texte verstehen und deuten zu können, ist dafür das Wissen einer bestimmten disziplinären Ordnung notwendig. „Die Gemeinschaft ist stets der Bedeutung eines Textes vorgeschaltet.“(Gergen 2002, S.59) Aus deren Konventionen bezüglich der Sinnzuschreibungen von Wörtern und Wortgruppen entsteht ein Textverständnis. Dass der Text damit auch reflexive Aussagen über die Gemeinschaft macht, klingt schlüssig. Die Identität eines Einzelnen oder einer Gruppe formt sich jedoch nicht nur durch Selbstdarstellung, sondern auch durch die Sichtweisen Außenstehender. In dieser Mischung aus Fremd- und Selbstdarstellung zeigt sich ein relativ beständiges Bild, in das sich die Gruppenmitglieder mehr oder weniger einfügen. Das Einfügen in eine Gruppe bedeutet an dieser Stelle, dass Individuen zu Gruppen gezählt werden, weil sie mit diesen ganz spezifische Eigenschaften teilen. Diese Eigenschaften können Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Bildungsstand, Religion und viele weitere sein, nach denen Kategorien gebildet werden. Inwiefern das einzelne Gruppenmitglied das entworfene Bild für sich übernimmt oder sich in den Beschreibungen, welche über diese Gruppe getätigt wurden, vertreten fühlt, kann damit nicht ausgesagt werden. Damit das, was wir tun bedeutungsvoll werden kann, braucht es die Interaktion mit einem anderen. Erst wenn dieser, auf welche Weise auch immer, darauf reagiert, kann sich der Rahmen schließen. Neben dem eben genannten Faktum kommt noch ein weiterer Punkt hinzu. Dieser Sachverhalt umfasst nach Gergen die Erfahrungen, die in zurückliegenden Beziehungen gemacht wurden, sowie die Beziehung zu dem jetzigen Interaktionspartner und den Erwartungen an Beziehungen, die in der Zukunft legen werden. Das soll bedeuten, dass das Subjekt über einen Vorrat an Ritualen verfügt, aber darüber hinaus in der Lage ist, mit der begrenzten Anzahl an zur Verfügung stehenden Wörtern eine Vielzahl an neuen Satzvariationen bilden zu können. Es wurde also festgestellt, dass die zurückliegenden Beziehungen und die Erfahrungen, die daraus mitgenommen wurden, einen Einfluss auf gegenwärtige Interaktionen haben. Gergen zufolge formiert sich das Bewusstsein für Wirklichkeit innerhalb eines Dialoges. Die Eigenschaften, die einen zu gewissen Gruppen zählen lassen, bedeuten auch eine Abgrenzung zu anderen, welche über die Merkmale oder Eigenschaften nicht verfügen. Wichtig zu verstehen ist, dass Ethik und Wirklichkeitsbewusstsein innerhalb dieser Gruppen entstehen. Diese soziale Gruppe erhebt also die Maßstäbe, was für gut und richtig gehalten wird. Ergo muss es auch eine Einstellung zu den Haltungen und Auffassungsweisen geben, die anderen Gruppen eigen sind und ihnen zugeschrieben werden. Das schließt automatisch mit ein, dass die eigenen Normen und Werte gegenüber denen der anderen erhöht werden, und dies findet somit auch in der Sprache Anwendung, indem sie differenzierend eingesetzt wird: differenzierend in Bezug auf die Dinge, die erwähnenswert scheinen im Kontrast zu jenen, die sprachlich keine Beachtung finden. Sprache in ihrer Verwendung als unterscheidendes Mittel nimmt dieserart einen wertenden Charakter an. Aus der Erkenntnis heraus, dass die unterschiedlichen Gruppen heterogen sind, kann es zur Vermeidung der anderen kommen. Es wird versucht die anderen zu umgehen und sich nicht weiter mit ihnen auseinanderzusetzen. Die nächste Stufe auf dem Weg zur Stereotypenbildung ist sich zum einen nicht selbst zu hinterfragen und gleichzeitig die Lebensweisen der anderen zu simplifizieren.[8] Die Abgrenzung der eigenen sozialen Gruppe gegenüber den anderen Gruppen wird einerseits in dem Wunsch nach Legitimation liegen und andererseits dem Bestreben nach Stabilität und Sicherheit. Um die eigenen Werte und Normen nach innen und außen absichern zu können, müssen konträren Ansichten zwangsläufig als schlechter abgetan werden.

[...]


[1] Petry, Ursula: Die Entstehung einer Landschaft. Zur Dialektik des Drinnen und Draußen bei Adalbert Stifter. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft Königshausen & Neumann. Heft 2. Würzburg 1967, S. 127.

[2] Vogel, Juliane: Stifters Gitter. Poetologische Dimensionen einer Grenzfigur. In: Schneider, Sabine, Hunfeld, Barbara (Hrsg.): Die Dinge und die Zeichen: Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Verlag Königshausen & Neumann GmbH: Würzburg 2008, S. 44.

[3] Irmscher, Hans Dietrich: Adalbert Stifter. Wirklichkeitserfahrung und gegenständliche Darstellung. Fink: München 1971, S. 140.

[4] Moussa, Brahim: Heterotopien im poetischen Realismus. Andere Räume, Andere Texte. In: Baßler, Moritz; Stein, Mark u.a. (Hrsg.): Münstersche Arbeiten zur Internationalen Literatur, Band 5. Aisthesis Verlag: Bielefeld 2012, S. 25.

[5] Ebd., S. 26f.

[6] Becker, Sabina; Grätz, Katharina: Einleitung: Ordnung, Raum, Ritual bei Adalbert Stifter. In: Becker, Sabina; Gätz, Katharina (Hg.): Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Universitätsverlag Winter: Heidelberg 2007, S. 11.

[7] Begemann, Christian: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren: Stuttgart 1995, S. 32.

[8] Schoenborn, Peter A.: Adalbert Stifter. Sein Leben und Werk. Francke: Bern 1999, S. 80.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Ernst Moritz Arndt. Eine sprachliche Untersuchung seiner Texten über eine deutsche Nation
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Institut für Deutsche Philologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
26
Katalognummer
V300303
ISBN (eBook)
9783656966982
ISBN (Buch)
9783656966999
Dateigröße
436 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ernst, moritz, arndt, eine, untersuchung, texten, nation
Arbeit zitieren
Marianne Behrens (Autor:in), 2013, Ernst Moritz Arndt. Eine sprachliche Untersuchung seiner Texten über eine deutsche Nation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/300303

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