Linguistische Gesprächsanalyse einer Unterrichtskommunikation

Transkript einer Unterrichtssequenz


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

35 Seiten, Note: 1,0

Luisa Jahnke (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Ableitung der Forschungsfrage
2.1 Mündliche Kommunikation und ihre Rolle im Unterricht
2.1 Ordnung im Unterricht
2.2.1 Thematische Ordnung
2.2.2 Kommunikative Ordnung
2.2.3 Unterrichtsformen und Kritik
2.2.4 Forschungsfragen

3. Methodischer Zugang

4. Analyse
4.1 Untersuchung der Unterrichtsform
4.1.1 Analyse der thematischen Ordnung
4.1.2 Analyse der kommunikativen Ordnung
4.2 Merkmale der Förderung mündlicher Sprachkompetenz

5. Resümee

Literaturverzeichnis

Anhang

Anhang 1: Transkript

Anhang 2: Transkriptionskonventionen

Anhang 3: Primärtext

Anhang 4: Unterrichtsstruktur

1. Einleitung

Sprache ist, in ihrer mündlichen und schriftlichen Realisation, im menschlichen Alltag omnipräsent. Ihre drei zentralen Funktionsbereiche (Interaktion, Kognition und Kommunion) werden onto- und phylogenetisch zunächst diskursiv mündlich erlernt und realisiert, wobei das Gespräch die grundlegende Form des Sprachgebrauchs darstellt (vgl. Linke, Nussbaumer & Portmann1, 2004: 297; Becker-Mrotzek, 2009a: 4). Sprache ist entsprechend auch das vorherrschende Medium des Lernens und der Wissensvermittlung, bzw. der Kompetenzentwicklung, ab der frühesten Kindheit, sowohl in produktiver als auch in rezeptiver Form (vgl. Vogt, 2009: 78).

Ein in unserer Gesellschaft bedeutsamer Ort hierfür ist die Institution Schule, deren zentrale Funktion in ebendieser Kompetenzentwicklung besteht (vgl. Richert, 2005: 402) und bei der die, weitestgehend mündlich organisierte, Unterrichtskommunikation eine entscheidende Rolle spielt (vgl. Vogt, 2004: 78). Hierbei stellt der mündlich realisierte, institutionell organisierte Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden im Unterricht ein zentrales Medium dar (vgl. ebd.). Dieser unterliegt einer spezifischen Ordnung, die von der Ordnung der Alltagskommunikation abweicht (Becker-Mrotzek, 2009c: 110 f.), und die sich in verschiedenen Unterrichtsformen manifestiert (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 64 f.), welche in Bezug auf ihren Beitrag zur Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern (SuS) durch bestehende Forschungsergebnisse und in der linguistischen Theorie unterschiedlich bewertet werden. Kritisiert wird vor allem die lehrerzentrierte Ordnung, wie sie im Lehrervortrag und dem Lehrergespräch als fragend-entwickelnder Unterricht realisiert werden (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009). Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Kritik generell zutreffend für alle Altersstufen ist und ob nicht auch eine Form des fragend-entwickelnden Unterrichts durchaus produktiv für die Entwicklung von Sprachkompetenzen im Fachunterricht sein kann. Dies könnte besonders in Bezug auf den Anfangsunterricht gelten, da die SuS zu dieser Zeit noch über begrenzte Kommunikationsfähigkeiten verfügen und ihre mündlich-sprachlichen sowie kognitiven Kompetenzen noch stark entwickeln müssen. Eine kleinschrittige Hinführung könnte also sowohl deduktiv-kognitiv förderlich sein, als auch durch die begrenzte Sprachkompetenz notwendig gemacht werden. Ein fragend-entwickelnder Anfangsunterricht könnte sich so in der Entwicklung von Mündlichkeit als ergiebig erweisen.

Diese Hypothese ergibt sich aus der ersten Sichtung einer authentischen, transkribierten Unterrichtseinheit im Fachbereich Mathematik in der ersten Klasse einer Grundschule. Das Datenmaterial vermittelt den Eindruck einer geordneten, ruhig und flüssig verlaufenden Unterrichtseinheit in dem die SuS durchaus sowohl fachlich als auch mündlich-sprachlich gefordert werden. Diesen Eindruck gilt es mittels eines geeigneten methodischen Vorgehens, in diesem Falle der linguistischen Gesprächsanalyse, entweder zu bestätigen oder zu verwerfen.

In der Bearbeitung dieser übergreifenden Fragestellung werden im Folgenden, den bestehenden Konventionen wissenschaftlichen Schreibens und Arbeitens entsprechend2, zunächst im theoretischen Teil linguistisch wichtige Eigenschaften eines Unterrichtsgesprächs dargelegt, die auf die Forschungsfragen hinführen. Im Anschluss wird das methodische Vorgehen beschrieben, gefolgt von der Anwendung der genutzten theoretischen Grundlage auf die transkribierte Unterrichtskommunikation im Analyseteil. Im abschließenden Resümee wird auf die Fragestellung zurückgegriffen.

2. Theoretische Ableitung der Forschungsfrage

In diesem Kapitel werden die wesentlichen theoretischen Inhalte dargelegt, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen, sowie die aus dem Transkript resultierenden Forschungsfragen hergeleitet. Nach einer kurzen Einleitung zu den Merkmalen mündlicher Sprache und deren Rolle in der Kompetenz- und Wissensvermittlung wird zunächst auf die spezifische Ordnung des schulischen Unterrichts eingegangen. Anhand der Erläuterung zur thematischen und kommunikativen Ordnung werden darauffolgend unterschiedliche Unterrichtsformen abgeleitet und ihre Rolle in der Kompetenzentwicklung kritisch betrachtet. Abschließend werden hiervon die Untersuchungsfragen abgeleitet.

2.1 Mündliche Kommunikation und ihre Rolle im Unterricht

Sprache, bzw. Kommunikation kann sowohl mündlich als auch schriftlich realisiert werden. Mündliche Kommunikation3 unterscheidet sich dabei in seinen Merkmalen grundlegend von denen der Schrift (vgl. Ehlich 1983 in Quasthoff & Heller, 2014: 14). So ist erstere multimodal (verbal, körperlich und inferenzgestützt) und flüchtig, erfolgt in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum sequentiell und in wechselseitiger Beeinflussung der Aktanten, und „hat ihre zentrale Funktion in der interaktiven Bewältigung aktueller Situationen“, wohingegen Schrift u.a. beständig ist, in einem zerdehnten Sprech-Zeit-Raum (vgl. Ehlich, 1983) produziert und rezipiert wird sowie einem höheren Normierungsgrad unterliegt (vgl. Fiehler, 2009: 28 ff.). In der vorliegenden Arbeit steht aufgrund der Natur des Datenmaterials der verbale Aspekt im Vordergrund.

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, besteht die zentrale Funktion von mündlicher Kommunikation im Unterricht in der Wissensvermittlung (vgl. Richert, 2005: 402; Vogt, 2004: 78), bzw. in der Wissens- und Kompetenzentwicklung4 (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 200). Sprachhandlungen (vgl. Becker-Mrotzek, 2009b: 68) bzw. sprachlich-kommunikative Praktiken (vgl. Fiehler, 2009: 25 ff.) haben beim Lernen also eine Doppelfunktion inne, denn sie sind Lernziel und Lernmedium zugleich (vgl. Quasthoff, 2009: 84). Somit ist die produktive und rezeptive Partizipation am sprachlich konstituierten mündlichen Unterrichtsgeschehen eine grundlegende Bedingung erfolgreichen Lernens (vgl. Becker-Mrotzek & Quasthoff, 1998 in Quasthoff & Heller, 2014: 6), indem hierdurch sowohl kommunikative als auch kognitive Ressourcen aktiviert und ausgebildet werden, welche die Grundlage aller (weiteren) fachlichen und nichtfachlichen Lernprozesse bilden. Sprich: mündliche Sprachkompetenz5 wird im Unterrichtsgeschehen parallel ausgebildet und genutzt, denn Sprachentwicklung ist in einen Sozialisationsprozess eingebettet (vgl. Jude, 2008: 16). Damit ist (sprachliches) Lernen ein sozial konstituierender und interaktiver Prozess (vgl. Heinzel, 1999 in Richert 2005: 401) und Wissen aus gesprächsanalytischer Perspektive ein „von den Interaktions- und Kommunikationsbeteiligten gemeinsam festgestelltes und insofern auch beobachtbares Ergebnis sprachlicher und praktischer Interaktionsprozesse“ (Dausenschön-Gay, Domke & Ohlhus, 2010 in Heller, 2014: 144). Unterrichtskommunikation hat also an der Ausbildung nicht nur fachlicher, sondern auch sprachlicher Kompetenz einen zentralen Anteil. Krummheuer (1992, 1997) zeigt dabei, dass mathematisches Lernen durch Partizipation an Argumentationsprozessen erfolgt. So kann also auch der Fachunterricht eine bedeutende Rolle in der Ausbildung mündlicher Sprachkompetenzen spielen.

2.1 Ordnung im Unterricht

Im Unterricht unterscheiden sich die Interaktionsprozesse6 jedoch von denen der Alltagskommunikation (Becker-Mrotzek, 2009c: 110 f.). So unterliegt Unterrichtskommunikation einer eigenen Ordnung, die in der Alltagskommunikation nicht anzufinden ist (vgl. ebd.): Bei dieser Art institutionalisierter Kommunikation sind die Rollen der Gesprächsteilnehmer nicht gleichberechtigt (vgl. LNP, 2004: 325). Vielmehr steht die Lehrkraft hierarchisch über den SuS und hat hierdurch sowohl andere Rechte als auch Pflichten inne, z.B. die, einen „geordneten Kommunikationsprozess zu organisieren“ (Vogt, 2004: 86). Dieser erwünschte reibungslose Gesprächsablauf im Unterricht soll durch zwei übergreifende Ordnungsdimensionen gewährleistet werden, die den Unterrichtsprozess koordinieren und so die Wissensvermittlung unterstützen sollen: Einerseits durch eine von der Unterrichtsform abhängigen thematischen Ordnung und andererseits durch eine von der gewählten Sozialform bestimmten kommunikative Ordnung (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 152 ff.).

2.2.1 Thematische Ordnung

Um den Lernerfolg der SuS, den Zweck der schulischen Bildung, zu gewährleisten muss die Institution Schule eine bestimmte Ordnung hinsichtlich der thematischen Abläufe garantieren. Die thematische Ordnung kann auf der Makro- Meso- und Mikroebene analysiert werden. Die Makro-Struktur konstituiert sich aus der Anfangsphase, der Gesprächsmitte und der Endphase (vgl. LNP, 2004: 318). In der Eröffnungsphase etabliert die Lehrkraft die Unterrichtsöffentlichkeit (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 161), schafft kommunikative Ordnung und organisiert die thematischen Inhalte, um eine gemeinsame Rahmung zu schaffen (vgl. ebd.: 163, 167). Die Gesprächsmitte, auch Instruktionsphase genannt, behandelt die thematisch-inhaltlichen Aspekte des Fachunterrichts. In der Abschlussphase werden Unterrichtsöffentlichkeit durch auflösende Äußerungen und im Idealfall auch der thematische Rahmen durch ein Resümee aufgehoben (vgl. ebd. 165). Diese Unterrichtsabschnitte sind wiederum in kleinere Phasen (Meso-Ebene) und Phasierungen7 unterteilt (vgl. ebd.: 167 ff.), in denen die Lehrkraft auf der Mikro-Ebene durch Strukturierungen8 den Lehr-Lernprozess organisiert (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 152; 168) und es den Schülern so ermöglicht, sich thematisch einzubringen.

2.2.2 Kommunikative Ordnung

Dies kann allerdings nur gelingen, wenn neben der thematischen auch eine kommunikative Ordnung herrscht, die eine sprachliche Rahmung setzt. Becker-Mrotzek und Vogt (2009) unterscheiden drei Arten der Kommunikativen Ordnung: lehrerzentriert, schülerzentriert und prozessorientiert (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 180 ff.). Bei der lehrerzentrierten kommunikativen Ordnung kontrolliert die Lehrkraft den Kommunikationsprozess, indem er das Rederecht erteilt und dieses nach Beendigung des Redebeitrags an ihn zurück fällt (vgl. ebd.).

Innerhalb der lehrerzentrierten Ordnung identifiziert Redder (1984) drei methodische Arrangements, nach denen die turn-Vergabe erfolgen kann. Im Lehrer-initiierten Verfahren wird ein SuS durch Aufrufen „zur Übernahme des Rederechts verpflichtet“ (Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 181). Wird dabei jedoch ein Schüler aufgerufen, obwohl dieser sich nicht meldet, handelt es sich um einen aufgezwungenen turn (vgl. Füssenich, 1981: 20 f.). Im Lehrer-Schüler-initiierten Verfahren eröffnet der Lehrer den SuS ungerichtet die Möglichkeit, sich durch turn-Bewerbung (sprich: melden) am Unterricht zu beteiligen. Im Schüler-initiierten-Verfahren melden sich die SuS von sich aus, ohne vorherige Aufforderung der Lehrkraft und erhalten durch sie das Wort (vgl. ebd.). In dieser Organisationsform herrscht also die Fremdwahl (vgl. LNP, 2004: 301) bzw. die programmierte Selbstauswahl (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt 2009: 180) vor. Von einer expliziten Fremdwahl9 wird gesprochen, wenn der Hörer mittels direkter Anrede aufgefordert wird einen Sprachbeitrag zu leisten (vgl. LNP, 2004: 301). Selbstwahl erfolgt dagegen, wenn ein Sprecher (nach Beitragsbeendigung des vorherigen Sprechers) von sich aus das Rederecht ergreift, ohne (vom Lehrer) fremdgewählt worden zu sein (vgl. ebd.). Sofern dabei die Grundfesten der Gesprächsverhaltensnorm10 (ebd.) eingehalten werden, handelt es sich hierbei nicht um einen Verstoß gegen die Gesprächsnorm. Als programmierte Selbstwahl sieht Mazeland das Melden von Schülern. Dadurch zeigen die Schüler dem Lehrer nach Beendigung seines Wortbeitrags, „dass sie bereit sind, den nächsten turn zu übernehmen (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt 2009: 180).

Verstöße durch nicht-programmierte Selbstauswahl (vgl. ebd.: 181), in der das Rederecht nicht erteilt wird, werden nach Ermessen der Lehrkraft geahndet (vgl. ebd.). Kommt es zu so einer Verletzung der kommunikativen Ordnung, kann der Lehrer durch die Störung entweder ignorieren (Brandenburg & Buhrfeind, 2014: 184) oder disziplinierend eingreifen (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 191). Füssenich (1981) unterscheidet hier zwischen einfachen und komplexen Ermahnungen sowie Mischformen (ebd.). Als Beispiele werden für eine einfache Ermahnung „Schrei nicht so laut!“ (Brandenburg & Buhrfeind 2014: 184), für eine komplexe Ermahnung u.a. direkte Ansprache und plötzliches Lehrerschweigen angeführt (Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 192), wohingegen Mischformen durch Betonung oder Lautstärkeveränderungen deutlich werden. In dieser Weise werden Disziplinierungen von Lehrkräften als sprachliches Handlungsmuster eingesetzt, um auf Normverstöße aufmerksam zu machen, bzw. diese zu unterbinden (vgl. ebd.).

In einer schülerzentrierten kommunikativen Ordnung (vgl. ebd.: 184) überträgt die Lehrkraft einen „Teil [der] organisatorischen Verantwortung auf die Schüler“ (Vogt 2004: 98): Die SuS können sich hier gegenseitig dran nehmen ohne dass das Rederecht zwischendurch auf die Lehrkraft zurück fällt. Diese behält jedoch das Recht, jederzeit in den turn-Apparat einzugreifen oder die Gesprächsleitung wieder zu übernehmen. Bei der verfahrensgeregelten kommunikativen Ordnung (vgl. ebd.: 187) wird am Anfang der Phase bestimmt wie das Rederecht verteilt werden soll. Diese(s) ist dann für den Abschnitt festgelegt (vgl. ebd.: 190). Entsprechend lässt sich durch die Form der Rederechtsverteilung die vorherrschende kommunikative Ordnung rekonstruieren11.

Vogt (2002) stellt heraus, dass die drei Arten der kommunikativen Ordnung den sprachlichen Handlungsrahmen der SuS elementar bestimmen und so einen großen Einfluss auf die Realisierung von Lernprozessen und die Entwicklung kommunikativer und argumentativer Kompetenz nehmen (vgl. Vogt, 2002: 319). So gehen kommunikative und thematische Ordnung im rahmenkonstituierenden Wissensvermittlungsprozess des schulischen Unterrichts einher mit dem fachlichen und sprachlichen Wissenserwerbsprozess der SuS und ergeben in ihrer Verflechtung unterschiedliche Unterrichtsformen.

2.2.3 Unterrichtsformen und Kritik

Becker-Mrotzek und Vogt (2009) identifizieren fünf solcher Formen, die ersten zwei lehrerzentriert, die letzten drei schülerzentriert: den Lehrervortrag bzw. den Lehrervortrag mit verteilten Rollen12, das Lehrergespräch als fragend-entwickelnder Unterricht13, das Schülergespräch, den Gruppenunterricht und die Schülerpräsentation. Aufgrund empirischer Befunde heben die Autoren die schülerzentrierten Unterrichtsformen hervor, da sie den SuS einen weiteren kommunikativen Handlungsraum eröffneten. Dagegen kritisieren sie die beiden lehrerzentrierten Varianten, da sie durch das Fehlen von Freiwilligkeit, die hierarchische Ordnung sowie das Ungleichgewicht von Klienten zu Agenten (hier: Schülern zu Lehrern im Klassenraum mit unausgeglichener Rederechtsverteilung) kein ausreichendes Potential für die Entwicklung von Gesprächskompetenz böten (vgl. Becker-Mrotzek, 2009c: 114; Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 93). Dabei wird Lehrervortrag mit verteilten Rollen aufgrund der engen thematischen Steuerung als unzureichend für die Entwicklung sprachlicher, fachlicher und kognitiver Kompetenzen angesehen (vgl. Becker-Mrotzek und Vogt, 2009: 77). Der fragend-entwickelnde Unterricht resultiere in Wissens-Fragmentarisierung, die den SuS den notwendigen Gesamtzusammenhang ungenügend vermittele (vgl. ebd.: 101 f.). Beide Ansätze werden deshalb als potentiell demotivierend betrachtet (vgl. ebd.: 200).

Auch auf den mathematischen Fachunterricht bezogen, kritisieren die Autoren die Dominanz des fragend-entwickelnden Unterrichts, da einerseits die Nutzung des Trichter-Musters14 (vgl. Bauersfeld, 1983: 25) zu einer kognitiven Reduktion15 führe (vgl. von Kügelgen, 1994: 23), die ein Verständnis des Gesamtzusammenhangs und die eigenständige Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten verhindere. Andererseits würden im verwendeten Material die subjektive Erfahrungswelt und alltagsweltlichen Begriffskonzepte der SuS nicht hinreichend thematisiert (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 50 ff.). Der Lösungsvorschlag sieht vor, dass SuS lernen, Probleme (mit Alltagsbezug) selbst zu erkennen und zu lösen (nicht dass die Lehrerkraft Aufgaben stellt) und dass jede gefundene (Teil-)Lösung nicht auf Richtigkeit, sondern auf mentalen Nachvollzug geprüft und gemeinsam reflektiert werden sollte (vgl. ebd.: 53). Insbesondere in den Phasen der (gemeinsamen, interaktiven) Lösungssuche und der Reflektion sind hier Potentiale für die parallele Entwicklung fachlicher und sprachlicher Kompetenzen sichtbar. Entsprechend lautet die zentrale Konklusion „vorhandene Kommunikationsanlässe [im Unterricht] systematisch für die Förderung der Gesprächskompetenz [zu nutzen]“ (Becker-Mrotzek, 2009c: 111; Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 201).

2.2.4 Forschungsfragen

Die (aufeinander aufbauenden) Untersuchungsfragen, die sich hieraus ableiten lassen, sind folgende:

Untersuchungsfrage 1: Welche Unterrichtsform(en) liegt/liegen in der transkribierten Unterrichtssequenz vor?

Da es sich um eine Grundschulklasse im Anfangsunterricht handelt, ist es zu erwarten, dass das Lehrergespräch im fragend-entwickelnden Unterricht als Unterrichtsform vorherrscht. Dies würde nach der vorliegenden Kritik auf eine ungenügende fachliche und sprachliche Förderung hindeuten. Daraus folgt die zweite Untersuchungsfrage:

[...]


1 Im Folgenden zu LNP verkürzt.

2 Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden ausschließlich die männliche Form genannt (mit Ausnahme von „Schülerinnen und Schülern“, abgekürzt als SuS), schließt jedoch ausdrücklich die weibliche Form inhaltlich mit ein.

3 Mündliche Kommunikation bezeichnet die aktuale Verständigung mindestens zweier Aktanten in einem gemeinsamen Sprech-Zeit-Raum, so dass akustische und visuelle Informationen verbal und non-verbal zur Verfügung stehen (vgl. Becker-Mrotzek, 2009b: 69). Innerhalb dieses Prozesses konstruieren die Aktanten Sinn und konstituieren Verständigungshandlungen (vgl. Mönnich & Spiegel, 2009: 429).

4 Kompetenz ist definiert als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösung in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert, 2001: 27 f.).

5 „Sprachkompetenzen befähigen Menschen zum Handeln mithilfe spezifischer sprachlicher Mittel“ (Council of Europe, 2001: 21 in Jude, 2008: 15).

6 Da „derselbe Partner einmal Hörer und einmal Sprecher ist“ (LNP, 2004: 297) verändert sich die Rollenverteilung nach Hörer und Sprecher während des Gesprächs fortwährend. Dieser Prozess des Sprecherwechsels im Gespräch wird auch als turn-taking bezeichnet (vgl. LNP, 2004: 300) und vollzieht sich auch im Unterrichtsgeschehen. Der turn (oder Gesprächsbeitrag) stellt dabei die Grundeinheit jeder Kommunikation (vgl. Brandenburg & Buhrfeind 2014: 186).

7 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich aus Platzgründen auf die Makro- und Meso-Struktur.

8 Eingeleitet werden Strukturierungen oft durch Fragen oder Behauptungen (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 179).

9 Implizite Fremdwahl erfolgt bei nonverbalen Aufforderungen wie Blickkontakt oder Gesten (vgl. ebd.) und kann aufgrund des Datenmaterials nicht ausgewertet werden.

10 Die wichtigste Regel ist die, dass immer nur eine Person spricht und die anderen die ‚Hörerrolle‘ übernehmen. „Parallelsprechen mehrerer Personen“ (ebd.) ist nicht erwünscht und möglichst zu unterlassen. Zudem hat die Person, die nach Ende eines Beitrags als erste das Wort ergreift, das Rederecht (vgl. ebd.). Diese Regel gilt jedoch nicht, wenn durch „ältere Rechte“ (ebd.) das Rederecht jemand anderem zugesprochen wird. So ein „ältere[s] Recht“ (ebd.) ist beispielsweise die Wahl eines neuen Sprechers durch Fremdzuweisung.

11 Weiter Aspekte der kommunikativen Ordnung, auf die hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann, sind Kommunikationspannen durch Schweigen oder Unterbrechungen, Hörerrolle und -aktivität, sowie Partikel (Füllwörter). Nonverbales Verhalten entfällt aufgrund der Datengrundlage.

12 Darunter verstehen die Autoren einen Unterrichtstyp, in dem die Lehrkraft mittels Regiefragen versucht, den SuS „genau die Antworten [zu entlocken], die in [ihren] Vortragsplan passen“ (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2009: 66).

13 Im fragen-entwickelnden Unterricht versucht die Lehrkraft durch gezielte Fragestellung kognitive Prozesse bei den SuS anzuregen und sie so zu selbsttätigem Wissenserwerb zu führen (vgl. ebd.: 79).

14 Hier verengt die Lehrkraft sukzessive den Handlungsrahmen als Hilfestellung, um die SuS schrittweise zur antizipierten Lösung zu leiten.

15 Da ihre Aufgabe lediglich darin besteht komplettierende Rechenoperationen auszuführen.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Linguistische Gesprächsanalyse einer Unterrichtskommunikation
Untertitel
Transkript einer Unterrichtssequenz
Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg  (Institut für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik (IDD))
Veranstaltung
Orientierung auf Sprache
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
35
Katalognummer
V299501
ISBN (eBook)
9783656959755
ISBN (Buch)
9783656959762
Dateigröße
1806 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Unterrichtsanalyse, Gesprächsanalyse, Linguistische Gesprächsanalyse, Unterrichtskommunikation, Unterrichtssequenz, Transkription, Thematische Ordnung, Kommunikative Ordnung, mündliche Kommunikation, mündliche Sprachkompetenz, lehrerzentrierte Ordnung, Fragen-entwickelnder Unterricht
Arbeit zitieren
Luisa Jahnke (Autor:in), 2014, Linguistische Gesprächsanalyse einer Unterrichtskommunikation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299501

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