Das Gefühl, wertvoll zu sein. Die Bedeutung des Selbstwertgefühls in der frühen Kindheit


Facharbeit (Schule), 2015

31 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsbestimmungen

3. Die Entwicklung des Selbstwertgefühls

4. Merkmale gesunden Selbstwertgefühls

5. Das Bild vom Kind
5.1. Kindliche Integrität
5.2. Der Drang nach Kooperation

6. Die Rolle des Pädagogen
6.1. Entwicklungsfördernde Aspekte in der pädagogischen Praxis
6.2. Entwicklungshemmende Aspekte in der pädagogischen Praxis

7. Die pädagogische Haltung
7.1. Erziehungsstile und ihre Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl
7.2. Selbstreflexion in der pädagogischen Arbeit
7.3. Regeln und Grenzen als persönliche Botschaft

8. Schlüsselsituationen in der pädagogischen Praxis
8.1. Die Eingewöhnung
8.2. Mahlzeiten
8.3. Schlaf- und Ruhephasen
8.4. Pflege

9. Fazit

10. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Eins der Ziele des Berliner Bildungsprogramms ist es, dass Kinder sich ihrer selbst bewusst werden und eigeninitiativ handeln1. Werden Stellenbeschreibungen oder gar Kontaktanzeigen näher untersucht, so wird schnell festgestellt, dass unsere Gesellschaft starke und vor allem selbstbewusste Persönlichkeiten verlangt. Bedenkt man die hierarchischen Strukturen im Arbeits- und Familienleben Mitte des 20. Jahrhundert, so ist dies für unsere Gesellschaft ein gewaltiger Fortschritt. Zudem ist wissenschaftlich bewiesen, dass ein gesundes Selbstwertgefühl die Lebensqualität eines Menschen positiv beeinflusst2. Meiner Meinung nach wird gerade dieses Ziel von vielen Pädagogen immer wieder aus den Augen verloren. Gehorsam, Regeln und Strafen schränken das Kind in der Entwicklung seines Selbstwertgefühls häufig ein.

Während eines Praktikums erlebte ich mit einem zweijährigen Mädchen eine Situation, welche mich sehr nachdenklich machte und ausschlaggebend für diese Facharbeit war. Die Situation fand während des Mittagessens statt. Zum Nachtisch wurde ein Obstteller herumgereicht, von dem sich alle Kinder selbstständig nehmen durften. E griff nach einer Weintraube und wurde dabei von der Erzieherin sofort ermahnt, dass sie diese ohnehin nicht essen würde. E entschied sich dennoch für die Weintraube. Als die anderen Kinder nach und nach den Tisch verließen, saß sie noch immer mit dieser Weintraube am Tisch. Sie probierte immer wieder die Weintraube zu essen, konnte sich aber nicht überwinden. Die Erzieherin war mittlerweile sehr verärgert und sagte zu E im barschen Ton: „Du bleibst so lange am Tisch bis du diese Weintraube gegessen hast“. E war nun sichtlich verängstigt. Die Begründung der Erzieherin lautete: „Sie muss endlich lernen, dass sie nicht machen kann, was sie will. Erst zugreifen, dann wegschmeißen. Woanders verhungern Kinder.“ Nun saß ich da mit der zweijährigen E und ihrer Weintraube. Ich versuchte mich in ihre Lage zu versetzen. Der Gedanke, jemand würde mich zwingen etwas zu essen, was ich nicht mag oder einfach nicht möchte, löste Unbehagen in mir aus. Nach ein paar Minuten löste ich den Konflikt, in dem ich E zulächelte, ihre Weintraube entsorgte und der Erzieherin erzählte, was sie hören wollte. Ich wage zu bezweifeln, dass E sich aufgrund dieser Situation zu einem egoistischen, verschwenderischen Menschen entwickelt, welcher nicht in der Lage ist, sich in die Gesellschaft zu integrieren.

Die Situation war für den Moment schnell vergessen. Dennoch stelle ich mir seitdem die Fragen: „Wann werden Regeln zu einer Demütigung des Kindes?“ und „Was löst das in dem Kind aus?“. Während erster Recherchen wurde mir bewusst, dass sich derartiges Verhalten besonders auf das Selbstwertgefühl des Kindes auswirkt. Doch gerade Pädagogen sollten um die Entwicklung des Selbstwertgefühls und des Selbstbewusst- seins bemüht sein. Was genau bedeutet das für die pädagogische Arbeit? Wie fördere ich das Selbstwertgefühl eines Kindes? Wie hindere ich dessen Entwicklung? Was für Folgen hat mangelndes Selbstwertgefühl im späteren Leben? Diese Fragen möchte ich unter anderem in der vorliegenden Facharbeit beantworten.

Hierzu beschäftige ich mich unter anderem mit der Theorie des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul. Erfahrungen aus der Praxis sollen diese Theorien unterstützen und veranschaulichen.

2. Begriffsbestimmungen

Um ein Kind bei der Entwicklung des eigenen Selbst unterstützen zu können, ist es wichtig sich zu Beginn mit den Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen. Häufig werden die Begriffe Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen im gleichen Zusammenhang benutzt. Allen voran steht der Begriff „Selbst“. Die Definitionen des Begriffes sind in der Literatur und dem Internet sehr vielfältig und damit nicht ganz eindeutig. Eine offizielle Definition lautet „reflexive psychologische Struktur des Ich, das von sich ein von den innerseelischen Bildern anderer Personen versch. Bild entwirft“3. Um mich dem Begriff besser annähern zu können, habe ich ihn nach einigen Überlegungen für mich selbst definiert. Für mich bedeutet das „Selbst“ die eigene Identität - das Ich - mit all seinem Wissen, seinen Emotionen, Eigenschaften, Fähigkeiten und Interessen. Das Selbst ist also „ein Konzeptsystem, das aus den Gedanken und Einstellungen über sich selbst besteht.“4.

„Der Selbstwert ist das eigene Bewertungssystem des Selbstbildes“5 (Selbstbild bedeutet, die „[.] Summe, der Überzeugungen und Bilder, die ein Mensch über sich selbst hat“6 ). Wird vom Selbstwertgefühl einer Person gesprochen, meint dies die "[...] generalisierte wertende Einstellung dem Selbst gegenüber.“7. Also wie der Mensch seine Identität wahrnimmt und bewertet. Damit eng verbunden ist das „Selbstbewusstsein“, welches im Duden als „das Überzeugt sein von seinen Fähigkeiten, von seinem Wert als Person […]“8 beschrieben wird.

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul benutzt in seinen Werken die Begriffe „Selbstgefühl“ und „Selbstwertgefühl“ synonym. Diese erklärt er als das „[...] Wissen und Erleben davon, wer wir sind. Selbstgefühl handelt davon, wie gut wir uns selbst kennen und wie wir uns zu dem verhalten, was wir wissen.“9. Nach Juul ist das gesunde Selbstgefühl, ein Gefühl des In - sich - Ruhens und des Sich - Wohlfühlens. Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl sehen sich als wertvoll, aufgrund ihrer Existenz. Sie sprechen und handeln mit der Überzeugung, dass sie die ihnen gestellten Lebensaufgaben meistern10. Wohingegen sich das ungesunde Selbstwertgefühl in Unsicherheit, Selbstkritik und Schuld äußert11.

Der Begriff „Selbstvertrauen“ beschreibt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Es handelt sich um die Dinge, die ein Mensch kann und tut12.

In dieser Facharbeit werde ich mich hauptsächlich mit dem Selbstwertgefühl des Kindes befassen. Dabei werde ich die Begriffe Selbstwert, Selbstwertgefühl und Selbstgefühl ebenfalls synonym benutzen.

3. Die Entwicklung des Selbstwertgefühls

Die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls ist eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben eines Kindes13. Das Selbstwertgefühl beeinflusst die Gefühle des Kindes bezüglich seines Wohlbefindens und seiner Kompetenzen14. „Haben mich meine Eltern lieb?“, „Sind meine Ängste und Sorgen wichtig?“, „Schaffe ich es auf die große Rutsche zu klettern?“, „Bin ich im Kindergarten willkommen?“. All diese Fragen beantwortet sich ein Kind über sein Selbstwertgefühl. Damit die Antworten auf diese Fragen möglichst positiv ausfallen, bedarf es hier die Unterstützung von Eltern und Pädagogen15.

Wie ein Kind sich selbst sieht, hängt zuerst davon ab, wie es von seinen Bezugspersonen gesehen wird. Die Bindungserfahrungen in den ersten Lebensjahren beeinflussen die Entwicklung des Selbstgefühls nachhaltig16. Dabei kommt es besonders darauf an, das Kind tatsächlich zu sehen, statt es zu „werten“. Dies möchte ich mit einem Praxisbeispiel erläutern.

Derzweijährige B. kommt seit einem Jahr in die Kindertagesst ätte.Bs

Eltern arbeiten Vollzeit in höheren Positionen. Daher ist B. meist neun bis zehn Stunden in der Kita. An solch langen Tagen bringen seine Eltern oft Geschenke für B. mit in die

Abholsituation. Am darauffolgenden Tag brachte B. sein neues Feuerwehrauto mit in die

Kita und hielt es dem Erzieher M. stolz entgegen. M. begr üß te B. mit den Worten: „ Wow, du hast ja ein tolles Feuerwehrauto! “

Die Reaktion des Erziehers ist logisch und nachvollziehbar und mit Sicherheit lieb gemeint. Er reagiert auf B. und registriert seinen neusten Besitz. Doch statt B. für sein Feuerwehrauto zu loben, hätte in dieser Situation ein einfaches „Guten Morgen B., ich freue mich, dass du da bist.“ ausgereicht. Jesper Juul geht in solchen Situationen davon aus, dass es Kindern dabei selten um das Bewundern des neusten Spielzeuges geht, sondern dass sie gesehen werden wollen17. Daher ist die Reaktion des Erziehers etwas ungeschickt, da hier Dasein und Leistung bzw. Besitz miteinander vermischt werden.

B. weiß selbst, dass sein Feuerwehrauto toll ist, was er eventuell nicht weiß, ist, dass er selbst toll ist, ganz einfach weil er da ist.

Auch andere Entwicklungsforscher gehen davon aus, dass sich der Selbstwert größtenteils in der Interaktion mit Bezugspersonen entwickelt18. Das Kind erhält Rückmeldung auf Eigenschaften, Verhalten und Leistungen. „Ich mag dich“, „Du bist eine tolle Künstlerin.“, aber auch „Das schaffst du sowieso nicht.“ oder „Aus dir wird nie was werden.“ Über solche „Bewertungen“ entwickelt das Kind ein Bild von sich selbst, seinen Stärken und Schwächen. Eine qualitativ hochwertige Beziehung vermittelt Wertschätzung und Liebe, was maßgeblich zur Entwicklung des gesunden Selbstwertes beiträgt19.

Im Laufe der Entwicklung beeinflussen auch andere Faktoren das kindliche Selbstgefühl. So können auch die Peer - Groups der Kinder Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl eines Kindes haben. Soziale Anerkennung und Beliebtheit sind laut dem amerikanischen Psychologen Abraham Maslow wichtige Bedürfnisse des Menschen. Die Qualität sozialer Beziehungen kann die Entfaltung des Selbstgefühls stark beeinflussen20. Auch die Leistungen, die ein Kind im Laufe seiner Kindergarten- bzw. Schulzeit erbringt, wirken sich auf das Selbstgefühl aus. Sie geben dem Kind ein realistisches Bild von seinen Stärken und Schwächen. Doch hier besteht eine gegenseitige Beeinflussung. Kinder mit einem gesunden Selbstwertgefühl, erleben Niederlagen als weniger enttäuschend21.

Mit voranschreitendem Alter erlangen auch die medialen Einflüsse eine immer größere Bedeutung für die Entwicklung des Selbstwertgefühls22. Es werden Schönheitsideale und menschliche Eigenschaften präsentiert, die Jungen und Mädchen oftmals verwirren können. Das Streben diesen Idealen zu entsprechen, kann die Zufriedenheit mit dem eigenen Selbst erheblich beeinflussen.

Auch der Erziehungsstil beeinflusst die kindliche Entwicklung des Selbstwertgefühls. Ein stark autoritärer Erziehungsstil gibt dem Kind das Gefühl, dass es selbst nicht in der Lage ist die eigenen Bedürfnisse und Interessen zu wahren. Es bekommt vermittelt, dass diese falsch seien. Dieses Bild kann sich im Laufe der Entwicklung festigen und das Selbstgefühl negativ beeinflussen. Kinder, die permissiv erzogen werden, entscheiden schon sehr früh, wie sie ihre Bedürfnisse befriedigen. Dabei werden ihnen nur selten Grenzen gesetzt. So entwickelt das Kind ein unrealistisch hohes Selbstwertgefühl. Das Kind erlebt sich zwar als autonomes Wesen, fühlt sich dabei aber häufig alleingelassen23. Die Bedeutung des Erziehungsstils wird in Kapitel 7 noch einmal näher erläutert.

Die Grundsteine für eine gesunde Entwicklung des Selbstwertgefühls werden also in der Kindheit gelegt. Jedoch ist es auch im Erwachsenenalter möglich am Selbstwertgefühl zu arbeiten. Die Entwicklung ist zu keinem Zeitpunkt abgeschlossen und kann immer Fortoder Rückschritte machen24.

4. Merkmale eines gesunden Selbstwertgefühls

Um zu erkennen, wie es um das Selbstgefühl eines Kindes bestellt ist, bedarf es genaue Beobachtungen der Erzieher. Selbstverständlich gibt es keine Liste mit Merkmalen, die abgehakt werden können. Es kommt immer auf die Individualitäten des Kindes an. Dennoch wurde mit dem Ansatz der Bildungs- und Lerngeschichten des Deutschen Jugendinstituts, Erziehern ein Werkzeug an die Hand gelegt, mit dem es möglich ist zu erkennen, wie das Selbstwertgefühl eines Kindes entwickelt ist25. Kern des Ansatzes sind die Lerndispositionen. Diese Lerndispositionen bilden eine grundlegende Voraussetzung für weitere Bildungsprozesse. Bei der Beobachtung eines Kindes wird in fünf Lerndispositionen unterschieden:

- interessiert sein,
- engagiert sein,
- Standhalten bei Herausforderungen und Schwierigkeiten,
- sich ausdrücken und mitteilen,
- an der Lerngemeinschaft mitwirken und Verantwortung übernehmen26

Zur Veranschaulichung:

Die sechsjährige M ist ein freundliches aufgeschlossenes Kind. Sie kommt meist fröhlich in den Kindergarten. M ist zu Beginn eher zurückhaltend. Doch sie geht mit großer Neugier an neue Situationen / Angebote heran. Nach einiger Zeit kann sich M auf neue Dinge immer besser einlassen. Sie zeigt großes Interesse an naturwissenschaftlichen Angeboten. Besonders hier kann sie viel Begeisterung zeigen. Ihre Ergebnisse präsentiert sie mit Stolz . Trifft sie auf ein Problem, versucht sie stets mehrere Wege um eine Lösung zu finden . Dabei zeigt sie Ausdauer und Fantasie . Doch auch bei Misserfolgen, bleibt M gelassen.

In der Gruppe ist M gut integriert. Sie hat mehrere feste Spielpartnerinnen mit denen sie häufig die Freispielzeit verbringt. M ist in der Lage ihre Bedürfnisse zuäußern. Fühlt sie sich ungerecht behandelt, sucht sie den Konflikt und trägt ihn altersangemessen aus .

In dieser Beobachtung kommen die Lerndispositionen deutlich zum Ausdruck. Diese und andere Indikatoren ermöglichen dem Erzieher eine Einschätzung von M s Selbstwertgefühl und dessen Auswirkungen auf ihr Handeln.

5. Das Bild vom Kind

Wer Kinder in ihrer Entwicklung begleiten möchte, sollte sich immer bewusst machen, wie er ein Kind sieht. Viele Jahrzehnte kursierte in den Köpfen Erwachsener vor allem das Bild, dass Kinder als asoziale, unfertige kleine Menschen zur Welt kommen27. Diesen kleinen Menschen sollte der Erwachsene beibringen, sich möglichst sozial zu entwickeln. Dabei kam es vor allem darauf an, dass das Kind „funktionierte“. Viele Verhaltensweisen galten als nicht gesellschaftsfähig wie etwa trotzen, wiedersprechen, toben oder schreien. Diese Verhaltensweisen wurden nur wenig hinterfragt, aber vor allem sollten sie abgelegt werden. Erziehung war wichtig, bedeutete damals jedoch die Ausübung von Macht. Verbote und Strafen sollten das Kind auf den richtigen Weg bringen. Erst wenn es „funktioniert“, wird es als richtiger Mensch gesehen.

Ich denke, dass dieses Bild in abgeschwächter Form, wenn auch unbewusst, noch immer in vielen Köpfen vorhanden ist. Glücklicherweise lässt sich dennoch behaupten, dass die Gesellschaft ihr dahingehendes Bild vom Kind verändert hat. Hierarchische Familienstrukturen wurden aufgebrochen und eine neue Wertevorstellung entstand28. Im Zuge dieses Wertewandels veränderte sich auch das Bild vom Kind. Wie auch in der Reformpädagogik sieht man das Kind heute als selbstständigen, handlungsfähigen emphatischen, aber vor allem einzigartigen Menschen. Auch Jesper Juul betont, dass Kinder von Anfang an kompetente Menschen sind29. Sie gestalten aktiv ihre Entwicklung und erkennen ihre Bedürfnisse.

Ich finde es außerdem besonders wichtig, dass wir Kindern mit dem Respekt begegnen, den wir auch von unseren Mitmenschen erwarten. Wenn wir Kinder als vollwertige Menschen betrachten, so ist es für mich unabdingbar, dass wir Kinder auch als solche behandeln. Eine freundliche Begrüßung oder Verabschiedung, zuhören, aussprechen lassen, Höflichkeitsformen wie „Bitte“, „Danke“ oder „Entschuldigung“, das Respektieren von Grenzen sind für mich Zeichen, dass ich respektiert werde. Ich finde es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ich auch Kindern dieses Gefühl gebe.

Mit der stets andauernden Diskussion über Kindererziehung entstand auch das Bild des autonomen, gleichberechtigten Kindes. Diese Kinder sind es gewohnt über die Mahlzeiten, Zubettgehzeiten oder Tagesabläufe zu bestimmen. Ich möchte die Autonomie eines Kindes in keinster Weise in Frage stellen. Doch Autonomie bedeutet nicht, dass das Kind das gesamte Leben seiner Bezugspersonen zu bestimmen hat. Ich finde es wichtig, dass Kinder ihre Autonomie in ihrer kindlichen Welt ausleben können. Im Spiel, im Kontakt mit anderen Kindern, in ihrer Fantasie. Sicherlich überschneidet sich die kindliche Welt mit der der Erwachsenen. Doch in der Erwachsenen - Welt braucht ein Kind die liebevolle Führung/Unterstützung seiner Bezugspersonen. Dass ein Kind einem Erwachsenen gleichwürdig ist, bedeutet noch nicht, dass es auch gleichberechtigt ist30. Kinder wissen zwar worauf sie Lust haben, aber sie müssen erst lernen, was sie tatsächlich brauchen31.

5.1. Die kindliche Integrität

Die Bezeichnung „Integrität“ ist laut Jesper Juul ein Sammelbegriff für die physische und psychische Existenz des Kindes. Es umfasst unter anderem die Selbstständigkeit und die persönlichen Grenzen.

Bereits Säuglinge sind in der Lage für ihre Integrität zu sorgen. Sie tun dies, indem sie durch lautes Weinen oder gar Schreien die Aufmerksamkeit ihrer Bindungspersonen verlangen. Im Weiteren Leben können Kinder immer deutlicher für die eigene Integrität einstehen. Sie teilen sich und ihre Bedürfnisse mit, indem sie zu uns sprechen, aber auch indem sie fordern, weinen, schreien oder trotzen. Immer wieder wird diese bedeutungsvolle Fähigkeit als ungehorsames Verhalten verstanden. Dabei ist gerade das „ungehorsame Verhalten“ ein bedeutsamer Schritt. Das Kind versucht in diesen Fällen für sich selbst zu sorgen. Allerdings ist das Kind nicht allein in der Lage seine Integrität zu schützen. Es braucht Erwachsene, die ihm dahingehend entgegenkommen32. Wird die Integrität eines Kindes häufig verletzt, so kommt das Kind zu dem Entschluss, dass seine Bedürfnisse falsch seien müssen. Das Kind verliert den Zugang zu seinen eigenen Gefühlen und damit auch an Selbstwertgefühl.

Eine Situation, die sowohl die psychische, als auch die physische Integrität des Kindes verletzten kann, ist das Wickeln.

B , 59 Jahre alt, arbeitet seit 34 Jahren in der Kindertagesstätte . Gemeinsam mit ihrer Kollegin S leitet sie die Krippengruppe.

Jeden Tag um 10:30Uhr steht das Wickeln der Kinder auf dem Tagesplan. B geht zum Wickeltisch und ruft alle Kinder ins Bad. Der zweijährige N wird auf den Wickeltisch gelegt, während die restlichen zehn Kinder im Waschraum sitzen und warten. Während N von B gewickelt wird, führt diese eine Diskussion mit ihrer Kollegin Süber die Ungerechtigkeiten des aktuellen Dienstplans. N möchte sich die bunten Aufdrucke auf seiner Windeln anschauen, doch wird von B unterbrochen: „ Finger weg! “ . N wird diese Situation sichtlich unangenehm. Er möchte sich aufsetzen, doch B drückt ihn nach unten und sagt: „ Liegen bleiben! “ Die anderen Kinder im Waschraum fangen an miteinander zu spielen, was B schnell versucht zu unterbinden: „ Ruhe hier! Ich verstehe ja mein eigenes Wort nicht! “ . B setzt N ohne Ansprache auf den Boden und nimmt das nächste Kind auf den Wickeltisch.

In dieser Situation wird deutlich, dass B die Wickelsituation als „notwendiges Übel“ betrachtet. Mit dieser intimen Situation geht sie weder feinfühlig, noch bedürfnisorientiert um. Noahs Gefühle werden nicht ernst genommen. Auch als er signalisiert, dass er mit der Situation nicht zufrieden ist, wird er übergangen. N S Integrität könnte Schaden nehmen. In Kapitel 8.4. wird die Thematik und Bedeutung von pflegerischen Aufgaben in der Kindertagesstätte noch einmal aufgegriffen um Handlungsalternativen aufzuzeigen.

[...]


1 Vgl. Berliner Bildungsprogramm 2004, S. 26

2 Vgl. Brandl, Dal Cero 2004, S. 4

3 Psychrembel 2004, S. 1666

4 Siegler et al. 2011, S. 429

5 Fischer, Erziehung zur Selbstachtung, S. 4

6 Ebd., S. 4

7 Zimbardo 1995, S. 502

8 Duden 2014

9 Vgl. Juul 2003, S. 96

10 Vgl. Fischer, Erziehung zur Selbstachtung, S. 1

11 Vgl. ebd. S. 96

12 Vgl. Svarre 2013, S. 14

13 Vgl. Brandl, Dal Cero 2010, S. 4

14 Vgl. Siegler et al. 2011, S. 429

15 Vgl. Brandl, Dal Cero 2010, S. 4

16 Vgl. Siegler et al. 2011, S. 429

17 Vgl. Juul 2003, S. 100

18 Vgl. Brandl, Dal Cero 2010, S. 9

19 Vgl. ebd., S. 13

20 Vgl. Brandl, Dal Cero 2010, S. 13

21 Vgl. Juul 2003, S. 97

22 Vgl. Brandl, Dal Cero 2010, S. 13

23 Vgl. Brandl, Dal Cero 2010 S. 33

24 Vgl. Svarre 2013, S. 124

25 Vgl. Schweikl 2014

26 Vgl. ebd.

27 Vgl. Juul 2003, S. 10 ff.

28 Vgl. Roux, Veränderte Kindheit - andere Kinder - andere Räume - andere Möglichkeiten

29 Vgl. Juul, Interview Familylab

30 Vgl. Juul 2012, Interview Süddeutsche Zeitung

31 Vgl. Juul 2003, S. 212

32 Vgl. Juul 2003, S. 66

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Das Gefühl, wertvoll zu sein. Die Bedeutung des Selbstwertgefühls in der frühen Kindheit
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
31
Katalognummer
V299491
ISBN (eBook)
9783656958789
ISBN (Buch)
9783656958796
Dateigröße
516 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gefühl, bedeutung, selbstwertgefühls, kindheit
Arbeit zitieren
Doreen Kleingünther (Autor:in), 2015, Das Gefühl, wertvoll zu sein. Die Bedeutung des Selbstwertgefühls in der frühen Kindheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299491

Kommentare

  • Gast am 29.3.2016

    Super interessant. Vor allem die Einleitung beschreibt genau das Problem, nach dem ich gesucht hab. Ich versuche nämlich durch Unternehmensberatung Firmen zu beschreiben, warum zu hohe Hierarchien und der Umgang mit Mitarbeitern als "Austauschbar", sich negativ auf die Firma auswirken kann. Mehr Krank-Meldungen etc.
    Das ist bereits mit dem ersten Satz Ihrer Facharbeit gut ersichtlich.
    Vielen Dank.

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