Paradoxa und Widersprüche in Kleists „Erdbeben in Chili“


Hausarbeit, 2015

21 Seiten, Note: 2,7

Taylor Bruhn (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Widersprüchlichkeit und Ambiguität in „Erdbeben in Chili“
2.1 Historisches Erdbeben – Literarisches Erdbeben
2.2 Verschiedene Deutungen des literarischen Erdbebens
2.3 Unstimmigkeiten – Sprache, Erzähler, Religion, Ende
2.4 Mögliche Erklärung der Widersprüchlichkeit in Kleists Texten

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Niemand weiß, was der Schreiber beim Schreiber dachte oder meinte […].“[1] So leitet Kittler seine Analyse zu „Erdbeben in Chili“ ein. Was genau hat es mit diesem Zitat auf sich? Betrachtet man verschiedene Texte von Kleist, fällt einem insbesondere seine Affinität zu Widersprüchlichkeit und Paradoxa auf. „Erdbeben in Chili“ bildet hier keine Ausnahme. Der Text weist eine ganze Reihe von Widersprüchen, Paradoxa, Unstimmigkeiten auf und zeigt eine gewisse Unvollkommenheit.

Der Hauptteil dieser Arbeit soll genau diese Unvollkommenheit in „Erdbeben in Chili“ herausstellen. Hier soll die Widersprüchlichkeit näher betrachtet und an Beispielen analysiert, als auch interpretiert werden. Hierzu soll zunächst das literarische Erdbeben vom historischen abgegrenzt werden und so die Authentizität des Erdbebens hinterfragt werden. Anschließend soll die mögliche Wirkung dieses Vorgehens von Kleist gedeutet werden.

Das nächste Kapitel soll weitere Unstimmigkeiten aufdecken. Dies soll unter dem Gesichtspunkt der Sprache, des Erzählers, der Religion und des Endes der Erzählung geschehen. Bei der Sprache wird das Hauptaugenmerk auf die Nutzung der Grammatik gelegt. Außerdem soll der Erzähler im Hinblick auf seine Unvollkommenheit und in seiner Funktion für den Leser analysiert werden. Anschließend werden religiöse Anspielungen und die Entfremdung von religiösen Motiven eine Rolle spielen. Die hier verwendete Widersprüchlichkeit soll ebenfalls in ihrer Wirkung für die Handlung erklärt werden. Der letzte Punkt dieses Kapitels wird sich mit dem Ende der Erzählung im Hinblick seiner auf den ersten Blick unbefriedigenden Schlusspassage und der Funktion dessen beschäftigen.

Abschließend wird das letzte Kapitel des Hauptteils mögliche Beweggründe Kleists für die Nutzung von Paradoxa präsentieren. Hierzu soll das Leben Kleists näher betrachtet werden, um so auf dieser Grundlage mögliche Schlüsse ziehen zu können.

2. Widersprüchlichkeit und Ambiguität in „Erdbeben in Chili“

2.1 Historisches Erdbeben – Literarisches Erdbeben

Schlägt man die Erzählung Kleists auf, fällt einem zunächst der Titel ins Auge. Der Leser erwartet eine fiktive Erzählung, doch der Titel „Erdbeben in Chili“ suggeriert etwas anderes. Man denkt unausweichlich an das tatsächliche Erdbeben in Chile im Jahre 1647. Im Folgenden sollen nun Unterschiede gelistet und erklärt werden, die Kleists Text vom historischen Erdbeben abgrenzen. Zusätzlich soll die Wirkung von Kleists Vorgehensweise interpretiert werden.

Der erste Punkt, der hier angesprochen werden soll, ist der Titel. Kleists Novelle hieß ursprünglich „Jeronimo und Josephe. Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647“. Aus diesem Titel entstand später „Das Erdbeben in Chili“. Grund für diese Änderung sei der Versuch Kleists, das eigentliche Ereignis in den Vordergrund zu stellen. Die Geschichte von zwei sich liebenden Personen werde in seiner Bedeutung für die Gesamthandlung zurückgestellt.[2] So wirkt der spätere Titel insgesamt eher als authentischer und wahrheitsgetreuer Ereignisbericht und nicht als fiktionale Erzählung. Kleist änderte den Titel also, um eine möglichst hohe Authentizität und Glaubwürdigkeit zu erzielen. Doch genau hier entsteht der Widerspruch. Der spätere Titel lokalisiert das Erdbeben in einem Ort namens Chili. Das historische Erdbeben hingegen fand in Chile statt. Die Titeländerung hebt das Erdbeben hervor und suggeriert seine Echtheit. Gleichzeitig aber verwendet Kleist nicht den tatsächlichen Ort des Erdbebens im Titel, sondern bekanntermaßen eine leicht abgewandelte Form.

Neben dem Titel lässt auch der Zeitraum des Erdbebens Widersprüche zu. Das historische Erdbeben war am 13. Mai 1647.[3] Kleists „Erdbeben in Chili“ spielt ebenfalls im Jahr 1647. Allerdings verlegt Kleist das Ereignis in seiner Novelle um einige Zeit nach hinten. Die Geschehnisse in „Erdbeben in Chili“ tragen sich „am Fronleichnamsfeste“[4] zu. Fronleichnam fällt im Jahr 1647 allerdings auf den 20. Juni.[5] Kleist verschiebt das Erdbeben im seinem Werk also um mehr als zwei Monate. Der Grund Kleists für die Wahl dieses Tages könnte die tragische und paradoxe Situation Josephes sein. Sie als Novizin, welcher der Geschlechtsverkehr untersagt ist, sinkt „bei dem Anklage der Glocken, in Mutterwehen auf den Stufen der Kathedrale“[6] nieder. Dass es sich hier aber um einen christlichen Feiertag handelt, verstärkt das Absurde an der Situation noch zusätzlich. Man kann also sagen, dass Kleist mit der zeitlichen Verschiebung des Erdbebens das Paradoxe an der Lage Josephes auf die Spitze treibt. Eine schwangere Novizin fällt am Fronleichnamstag aufgrund ihrer Wehen vor einer Kathedrale zu Boden. Die Verlegung des Unglücks auf Fronleichnam hingegen erscheint selbst äußerst unstimmig und fragwürdig. Fronleichnam fällt auf der Südhalbkugel auf den Winter. Die Beschreibung der Idylle lässt aber vermuten, dass sich das Erdbeben im Sommer zugetragen haben muss.[7] So setzen sich Josephe und Jeronimo unter „einen prachtvollen Granatapfelbaum, der seine Zweige, voll duftender Früchte, weit ausbreitete“[8]. Die Beschreibung der sommerlichen Natur unterstreicht die harmonische und friedvolle Situation der beiden. Die Idylle als Mittelteil der Erzählung steht hier im Kontrast zu dem zerstörerischen Erdbeben am Anfang und den verhängnisvollen Morden am Ende. Es war so „als ob das Firmament einstürzte“[9] und das Ende der Welt gekommen sei. Dieser Aussage folgt wenig später die Schilderung der Idylle und dessen Vergleich mit dem „Tal von Eden“[10].[11]

Die Bedeutung des Fronleichnamsfests kann für die Erzählung aber noch auf andere Weise interpretiert werden. An Fronleichnam wird die Transsubstantiation gefeiert. Bei der Transsubstantiation handelt es sich die Verwandlung des Irdischen ins Göttliche. Das Brot und Wein Christi habe sich in dessen Leib und Blut verwandelt. Hierbei entmensche sich die katholische Christenheit[12] und „im Namen des Gottessohns werden Menschen geopfert, die auf die Präsenz des Ewigen den Schatten des sündhaft Vergänglichen werfen“[13]. Das Erdbeben fordert Todesopfer und übernimmt hier also folglich die Funktion der Vollstreckung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verschiebung des Erdbebens auf Fronleichnam vor allem eine religiöse Funktion erfüllt. Kleist kritisiert hier die Kirche und Religion. Dieser Aspekt soll in Kapitel 2.3 ausführlicher aufgegriffen werden.

Hamacher geht in seiner Arbeit „Beben der Darstellung“ ebenfalls auf den Widerspruch zwischen literarischem und historischem Erdbeben ein. So weist er zum Beispiel darauf hin, dass obwohl Kleist durch die Nennung von überprüfbaren Namen und Zahlen besonderen Wert auf die historische Authentizität lege, er viele Szenen in „Erdbeben in Chili“ aus der Novelle „Candide ou l'optimisme“ von Voltaire übernommen und ausgearbeitet habe. So werden an inhaltliche Momente, wie beispielsweise der zufälligen Betroffenheit durch ein Erdbeben, der zufälligen Errettung vom Opfertod und dem zufälligen Wiederfinden der Geliebten angeknüpft.[14] Hier wird also erneut die Glaubwürdigkeit von „Erdbeben in Chili“ in Frage gestellt, da “Candide ou l'optimisme“ „seinerseits […] eine Travestie auf die Klischees der zeitgenössischen Romanproduktion enthält“[15] und so auch die Glaubwürdigkeit dieser Erzählung hinterfragt werden muss.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Kleist scheinbar keine Unterscheidung zwischen literarischem und historischem Erdbeben macht. „Erdbeben in Chili“ weicht direkt von der Zeit des historischen Erdbebens ab und zusätzlich auch indirekt vom Ort. Man hat den Eindruck, dass sich die Erzählung nicht nur auf das Erdbeben in Chile beschränkt, sondern auch auf andere Beben, die in zeitlicher und räumlicher Nähe Kleists stattfanden. Hier drunter fällt auch das Beben in Form der Französischen Revolution.[16] Das literarische Erdbeben bei Kleist spiegelt die zeitgenössische Situation in Frankreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts wieder. Die Ambiguität des Erdbebens soll im nächsten Kapitel noch einmal aufgegriffen und weiter analysiert werden.

2.2 Verschiedene Deutungen des literarischen Erdbebens

Im Folgenden soll das literarische Erdbeben im Hinblick auf seine Ambiguität betrachtet werden. Wie viele Elemente in „Erdbeben in Chili“ hat auch die Naturkatastrophe symbolischen Charakter. Es sollen zwei mögliche Deutungsmöglichkeiten vorgestellt werden.

So kann man das Erdbeben im Hinblick auf die Französische Revolution analysieren werden Außerdem soll die Bedeutung des Erdbebens für Josephe und Jeronimo geklärt werden

Das Beben der Französischen Revolution

Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen […] einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte.[17]

Schlüsselt man die Worte des Erzählers auf, fällt einem zunächst die Gleichstellung der verschiedenen Personengruppen auf. Menschen aus verschiedenen Ständen bemitleiden und helfen sich gegenseitig. Unter dem Gesichtspunkt von Kleists zeitgenössischem Umfeld kann man sagen, dass diese Worte das Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich ziemlich genau widerspiegeln. Die Französische Revolution fand unter dem Motto der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit statt. Herkunft, Besitz und der gesellschaftliche Stand der Menschen spielt hier also keine Rolle mehr. Allerdings verwendet Kleist in diesem Zusammenhang auch negativ konnotierte Wörter. So wird das Beben, also die Französische Revolution als „allgemeine[s] Unglück“[18] aufgefasst. Zudem erscheint durch die Verwendung der „als-ob Struktur“ und des Konjunktivs „hätte“ der Zusammenhalt der Menschen als unbeständig und instabil. Kleist kritisiert hier also scheinbar Aspekte der Französischen Revolution.

Im Folgenden soll nun die Haltung Kleists zur Französischen Revolution analysiert werden. Hierzu soll kurz der Aufbau in „Erdbeben in Chili“ näher betrachtet und anschließend dessen Umsetzung auf die Französische Revolution angewendet werden. Kleists Erzählung lässt sich in drei Teile gliedern. Zunächst wird die Naturkatastrophe geschildert, die zum „Umsturz aller Verhältnisse“[19] führt. Der Mittelteil beschäftigt sich mit der Schilderung der Tal-Idylle und der letzte Teil der Erzählung handelt von dem Gottesdienst, an dem Josephe und Jeronimo teilnehmen und neben vielen anderen zu Tode kommen. Welche Beziehung hat der Aufbau mit der zeitgenössischen Situation in Frankreich? Das Erdbeben am Anfang steht, wie bereits erwähnt, für die Französische Revolution. Interessant wird es, wenn man den Mittelteil der Erzählung in den historischen Kontext der Revolution einbettet. In Kapitel 2.1 wurde festgestellt, dass die Idylle im Kontrast zum Erdbeben am Anfang steht. Im Kontext der Französischen Revolution erscheint diese Schilderung der Idylle hingegen als Folge des Erdbebens. Das Ergebnis der Französischen Revolution ist der eben angesprochene „Umsturz aller Verhältnisse“[20]. Als Folge des Bebens in „Erdbeben in Chili“ scheint in dieser Idylle nun der „menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume aufzugehen“[21] Die Schilderung der Tal-Idylle erinnert also an die Ideale einer ständelosen Gesellschaft, wie sie auch in der Französischen Revolution propagiert wurden.[22] Die gesellschaftlichen Strukturen, die zu Anfang der Erzählung vorgestellt werden, werden aufgebrochen. Bis hier korrespondiert der Aufbau von Kleists „Erdbeben in Chili“ grob mit den zeitgeschichtlichen Gegebenheiten der Französischen Revolution. Sowohl Beben, als auch Französische Revolution sorgen für einen Umbruch in der Gesellschaft. Gesellschaftlichen Strukturen, die zu Anfang der Erzählung vorgestellt werden, werden aufgebrochen und auch im historischen Frankreich findet eine Umstrukturierung der Gesellschaft statt. So kommt es in der Erzählung beispielsweise auch zu „kollektiver Gehorsamsverweigerung“[23]: „wie man einer Wache, die auf Befehl des Vizekönigs verlangte, eine Kirche zu räumen geantwortet hätte: es gäbe keinen Vizekönig von Chili mehr!“[24] Außerdem werden bestimmte von den Erderschütterungen betroffene Gebäude hervorgehoben. So wird von der Zerstörung des Gefängnisses, der Kathedrale, des Palastes des Vizekönigs, des Gerichtshof und des väterlichen Hauses berichtet.[25] Diese Einrichtungen repräsentieren die Autorität der Kirche und des Staates. Im letzten Teil der Erzählung wird nun Kleists Haltung zur Französischen Revolution erkennbar. Hier wird auch der Grund für die Verwendung der als-ob Struktur und des Konjunktiv deutlich. Die Idylle hält nur sehr kurz an. Zwar wurden Gebäude zerstört, doch das Erdbeben konnte die Institutionen nicht vernichten, sondern nur vorübergehend außer Kraft setzten.[26] Die alten Verhältnisse werden restituiert und bereits am nächsten Morgen wird ein Gottesdienst abgehalten, an dem Josephe und Jeronimo teilnehmen und schließlich auch getötet werden. Der Klerus bedient sich des Volkszorns, um die alte Ordnung wiederherzustellen. Kleist scheint also nicht mit der Französischen Revolution zu sympathisieren und nutzt „Erdbeben in Chili“ als Allegorie der Französischen Revolution um genau dies zu zeigen.[27] Welche Beweggründe könnte Kleist gehabt haben? Am 18. Juli 1801 schreibt Kleist an Karoline von Schlieben:

Seit 8 Tagen sind wir nun hier in Paris […] Ich habe dem 14. Juli, dem Jahrestage der Zerstörung der Bastille beigewohnt, an welchem zugleich das Fest der wiedererrungenen Freiheit und das Friedensfest gefeiert ward. Wie solche Tage würdig begangen werden könnten, weiß ich nicht bestimmt; doch dies weiß ich, daß sie fast nicht unwürdiger begangen werden können, als dieser. […] keine von allen Anstalten erinnerte an die Hauptgedanken, die Absicht, den Geist des Volks durch eine bis zum Ekel gehäufte Menge von Vergnügen zu zerstreuen, war überall herrschend Rousseau ist immer das 4. Wort der Franzosen; und wie würde er sich schämen, wenn man ihm sagte, daß dies sein Werk sei?[28]

Kleist spricht sein Bedauern über die dekadente Gesellschaft Frankreichs aus[29] Er beruft sich zusätzlich auf Rousseau und meint, dass dieser sich schämen würde. Kleist ist also nicht mit der Art einverstanden, mit der die Franzosen diesen Tag feiern. Ein anderer Brief vom 12. Januar 1802 an Ulrike von Kleist spiegelt seine politische Resignation aufgrund der Enttäuschungen in Zusammenhang mit den Auswirkungen der Französischen Revolution wider. So schreibt er, dass er überhaupt keine politische Meinung mehr habe.[30]

Insgesamt kann man festhalten, dass der Aufbau von „Erdbeben in Chili“ grob mit dem Beben der Französischen Revolution korrespondiert. Außerdem zeigt Kleist seine Ablehnung gegenüber dieser. Es sei hier also erwähnt, dass Kleist seine subjektive Meinung insbesondere im dritten, dem letzten Teil seiner Erzählung einfließen lässt. Das Ende zeigt ein Scheitern der Revolution. Diese hat unsere moderne Demokratie aber nachhaltig geprägt und es ist unbestreitbar, dass die Französische Revolution, als eines der wichtigsten Ereignisse in Europa betrachtet werden muss.

Die Bedeutung des Erdbebens für Josephe und Jeronimo

Neben der französischen Revolution kann das Erdbeben auch ausschließlich in seiner Funktion innerhalb der Geschehnisse in „Erdbeben in Chili“ analysiert werden. Welche Bedeutung hat das Erdbeben für Josephe und Jeronimo? Josephe soll wegen ihres “zärtlichen Einverständnis[ses][31] mit Jeronimo den Tod finden. Jeronimo hört die Glocken, die Josephes Hinrichtung verkünden und will sich im Gefängnis ebenfalls „den Tod […] geben“[32]. Das Erdbeben fungiert hier auf der Ebene der privaten Beziehungen als rettendes Ereignis. Josephe und Jeronimo werden aus der Gewalt kirchlicher und staatlicher Strafinstanzen befreit und finden wieder zusammen.[33] So musste erst viel Elend über die Welt, damit sie glücklich werden[34]. Das Erdbeben steht für die allgemeine Vernichtung und rettet gleichzeitig die Liebenden vom Tod. Es lässt sich also sagen, dass die Bedeutung der Naturkatastrophe im Hinblick auf die Errettung der Liebenden paradox zugespitzt wird. So befindet sich Josephe bereits kurz vor ihrer Hinrichtung, als sie das zerstörerische Erdbeben rettet. Bei Jeronimo unterbricht das Erdbeben seinen Selbstmordversuch. Hier lässt sich erneut ein Widerspruch erkennen. Jeronimo sucht freiwillig den Tod[35], um sich wieder mit Josephe zu vereinen. Allerdings ist er beim Ausbruch des Erdbebens „starr vor Entsetzen“[36] und hält sich „gleich ob als ob sein ganzes Bewußtsein zerschmettert worden wäre […] an dem Pfeiler [fest], an welchem er hatte sterben wollen“[37]. Doch gegen Ende wird das Todesstigma, mit dem der Pfeiler behaftet ist, eingelöst. So werfen die Pfeiler beim Gottesdienst „geheimnisvolle Schatten“[38] und deuten das verhängnisvolle Ende der Erzählung voraus.[39] Der kleine Juan wird schließlich von einem Kirchpfeiler zerschmettert.[40] Die Tatsache, dass der Pfeiler letztlich zur Rettung Jeronimos, aber auch zum Tod des Juan beiträgt, findet sich auch in einer anderen Form in den Schlussversen von Goethes „Torquato Tasso“ wieder.[41] „Ich fasse dich mit beiden Armen an! / So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.[42] Die Parallelität besteht an dem symbolischen Festhalten am Leben und dem letztendlichen Scheitern hieran.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Erdbeben eine wichtige Funktion für die Protagonisten erfüllt. Ohne diese Katastrophe wären die beiden nie gerettet worden. Doch die Hoffnung ist nur von kurzer Dauer und letztlich finden die beiden den für sie seit Anfang vorgesehenen Tod.

Als Abschluss dieses Kapitels kann man festhalten, dass sich das Erdbeben in der Erzählung auf verschiedene Art und Weise interpretieren lässt. Die zwei vorgestellten Deutungen des Erdbebens zeigen nur einen Ausschnitt aus den noch möglichen Analysemöglichkeiten. Zunächst wäre der physikalische Aspekt, also die allgemeine Zerstörung, als Folge der Erderschütterungen zu nennen. Dieser spielt eine wesentlich geringe Rolle in der Erzählung. Vielmehr hebt sich der politische Aspekt von der Erschütterung der gesellschaftlichen Ordnungen in Form der Französischen Revolution hervor.

Außerdem handelt „Erdbeben in Chili“ bekanntermaßen von dem Glück und Unglück zweier Liebenden. Das Erdbeben fungiert hier paradoxer Weise als Retter der beiden.[43] Man kann das Erdbeben aber auch metaphysisch im Hinblick auf die Debatte der Theodizee deuten oder als Beben des Bewusstseins. Das Erdbeben erfüllt in der Erzählung Kleists verschiedene Funktionen. Der physikalische Aspekt spielt im Vergleich zu den anderen Punkten eine verschwindend geringe Rolle.[44] Dieser Aspekt fällt einem zuerst ins Auge und ist dennoch weniger von Bedeutung. Vielmehr muss Kleists in rezeptionsgeschichtlichem Kontext betrachtet werden. Zeitgeschichtliches Wissen ermöglicht dem Leser hier hinter das Offensichtliche zu blicken und das Erdbeben verschieden zu deuten.

2.3 Unstimmigkeiten – Sprache, Erzähler, Religion, Ende

Dieses Kapitel soll sich mit weiteren Widersprüchen und Unstimmigkeiten beschäftigen. Zunächst soll die Sprache im Hinblick auf ihre Unvollkommenheit interpretiert werden. Hieran schließt sich die Analyse des Erzählers an. Anschließend werden religiöse Widersprüche und Motive vorgestellt und ihre Funktion gedeutet. Zuletzt soll das Ende der Erzählung näher betrachtet und aufgeschlüsselt werden.

[...]


[1] Kittler, Friedrich A.: Diskursanalyse. Ein Erdbeben in Chili und Preußen. In: Positionen der Literaturwissenschaft, hg. von David E. Wellbery. 3. Auflage. München: C. H. Beck 1993, S. 26.

[2] Vgl. Oellers, Norbert: Das Erdbeben in Chili. In: Interpretationen. Kleists Erzählungen, hg. von Walter Hinderer. Stuttgart: Reclam 1998 (= RUB 17505), S.87. Im Folgenden zitiert als: ‚Oellers: Das Erdbeben in Chili‘.

[3] Vgl. Ohne Verfasser: Liste von Erdbeben in Chile. Internet-Publikation: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Erdbeben_in_Chile. Eingesehen: 25.01.2015.

[4] Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleist. Sämtliche Erzählungen und Anekdoten. 19. Auflage. München: dtv 2011, S. 144. Im Folgenden zitiert als: ‚Sembdner: Heinrich von Kleist‘.

[5] Vgl. Ohne Verfasser: 1647. Internet-Publikation: http://www.gema-neuss.de/Kalender.php?Jahr=1647. Eingesehen: 25.01.2015.

[6] Sembdner: Heinrich von Kleist, S.144.

[7] Vgl. Reuß, Roland: „Die Verlobung in St. Domingo“ – eine Einführung in Kleists Erzählen. In: Neue Wege der Forschung, hg. von Anton Philipp Knittel und Inka Kording. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 84.

[8] Sembdner: Heinrich von Kleist, S.150.

[9] Sembdner: Heinrich von Kleist, S.145.

[10] Sembdner: Heinrich von Kleist, S.149.

[11] Vgl. Altenhofer, Norbert: Hermeneutik. Der erschütterte Sinn. Hermeneutische Überlegungen zu Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘. In: Positionen der Literaturwissenschaft, hg. von David E. Wellbery. 3. Auflage. München: C. H. Beck 1993, S. 50. Im Folgenden zitiert als: ‚Altenhofer: Hermeneutik‘.

[12] Vgl. Oellers: Das Erdbeben in Chili, S. 94.

[13] Ebd.

[14] Vgl. Hamacher, Werner: Das Beben der Darstellung. In: Positionen der Literaturwissenschaft, hg. von David E. Wellbery. 3. Auflage. München: C. H. Beck 1993, S. 152. Im Folgenden zitiert als: ‚Hamacher: Das Beben der Darstellung‘.

[15] Ebd.

[16] Vgl. Oellers: Das Erdbeben in Chili, S. 94.

[17] Sembdner: Heinrich von Kleist, S. 152.

[18] Ebd.

[19] Sembdner: Heinrich von Kleist, S.153.

[20] Ebd.

[21] Sembdner: Heinrich von Kleist, S.152.

[22] Vgl. Ohne Verfasser: Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili/Die Verlobung in St. Domingo. Internet-Publikation: http://www2.klett.de/sixcms/media.php/10/tb_lk_262660.pdf. Eingesehen: 28.01.2015.

[23] Hamacher, Werner: Das Beben der Darstellung. In: Positionen der Literaturwissenschaft, hg. von David E. Wellbery. 3. Auflage. München: C. H. Beck 1993, S. 150.

[24] Sembdner: Heinrich von Kleist, S.151.

[25] Vgl. Sembdner: Heinrich von Kleist, S. 149.

[26] Vgl. Ohne Verfasser: Interpretation: Das Erdbeben in Chili. Internet-Publikation: http://www.xlibris.de/Autoren/Kleist/Werke/Das+Erdbeben+in+Chili?page=0%2C2. Eingesehen: 28.01.2015.

[27] Vgl. Ohne Verfasser: Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili/Die Verlobung in St. Domingo. Internet-Publikation: http://www2.klett.de/sixcms/media.php/10/tb_lk_262660.pdf. Eingesehen: 29.01.2015.

[28] Müller-Salget, Klaus; Ormanns, Stefan (Hg.): Briefe von und an Heinrich Kleist 1793-1811. 4. Bd. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1997, S. 240.241.

[29] Schuhmacher, Thomas: »Das Erdbeben in Chili« von Kleist unter dem Aspekt der Französischen Revolution. Internet-Publikation: http://www.grin.com/de/e-book/84722/das-erdbeben-in-chili-von-kleist-unter-dem-aspekt-der-franzoesischen. Eingesehen: 02.02.2015.

[30] Schuhmacher, Thomas: »Das Erdbeben in Chili« von Kleist unter dem Aspekt der Französischen Revolution. Internet-Publikation: http://www.grin.com/de/e-book/84722/das-erdbeben-in-chili-von-kleist-unter-dem-aspekt-der-franzoesischen. Eingesehen: 02.02.2015.

[31] Sembdner: Heinrich von Kleist, S. 144.

[32] Sembdner: Heinrich von Kleist, S. 145.

[33] Vgl. Altenhofer: Hermeneutik, S. 47.

[34] Vgl. ebd.

[35] Vgl. ebd., S. 49.

[36] Sembdner: Heinrich von Kleist, S. 145.

[37] Ebd.

[38] Sembdner: Heinrich von Kleist, S. 155.

[39] Vgl. Bogdal, Klaus-Michael; Kammler, Clemens (Hg.): Heinrich von Kleist. Das Erdbeben in Chili/ Die Marquise von O….Interpretation von Hartmut Kircher. 50. Bd., 2. Überarbeitete Auflage. München: Oldenbourg 1999, S. 59.

[40] Sembdner: Heinrich von Kleist, S. 158.

[41] Vgl. Oellers: Das Erdbeben in Chili, S. 89.

[42] Ebd.

[43] Vgl. Altenhofer: Hermeneutik. S. 50.

[44] Vgl. ebd.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Paradoxa und Widersprüche in Kleists „Erdbeben in Chili“
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Note
2,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
21
Katalognummer
V299387
ISBN (eBook)
9783656958666
ISBN (Buch)
9783656958673
Dateigröße
473 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heinrich, von, Kleist, Erdbeben, in, Chili, Paradoxa, Widerspruch, Widersprüche, NDL;, Neue, Deutsche, Literatur, Deutsch, Lektüre, Lehrer, Paradoxon, Chile, Deutungen, Gymnasium, Schule, Schüler, Abitur
Arbeit zitieren
Taylor Bruhn (Autor:in), 2015, Paradoxa und Widersprüche in Kleists „Erdbeben in Chili“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299387

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