Das ungarische Parteiensystem. Herausforderungen des postkommunistischen Regierens in und mit Parteien


Seminararbeit, 2015

32 Seiten


Leseprobe


Inhaltsangabe

1 Allgemeine Einführung
1.1 Hinführung und Problemidentifikation
1.2 Wissenschaftliche Herangehensweise

2 Voraussetzungen des postdemokratischen demokratischen Parteienwettbewerbs
2.1 Institutionelles Erbe
2.1.1 Regierungssystem
2.1.2 Wahlsystem
2.2 Politisches Erbe
2.2.1 Rekrutierung der politischen Elite
2.2.2 Politische Kultur
2.2.3 Spezifische Themenfelder des politischen Übergangs

3 Der Wandel des ungarischen Parteiensystems zwischen 1990 und 2014
3.1 Cleavages und gesellschaftliche Konfliktlinien
3.2 Innerparteiliche Strukturen am Beispiel von Fidesz und MSZP

4 Abschließende Gedanken
4.1 Eine Tendenz zur Konsolidierung?
4.2 Jüngste Entwicklungen und mögliche Zukunftsperspektiven

5 Anhang
5.1 Literaturverzeichnis
5.2 Abkürzungsverzeichnis

1 Allgemeine Einführung

1.1 Hinführung und Problemidentifikation

Das internationale Stimmungsbild über Ungarn ist in den letzten Monaten negativ geprägt. Von vielen Stellen wird der Rechtsruck im Land kritisch beäugt und die Kritik ist oft sehr energisch. Dabei zählte Ungarn noch vor 15 Jahren zu den Musterschülern unter den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion. Das Land wies eine zwar junge, aber stabile Demokratie auf, was sich auch positiv auf die Wirtschaft und das Selbstbewusstsein in der Außenpolitik auswirkte.1 Nach anderthalb Jahrzehnten hat sich die Euphorie über die politische Lage in Ungarn sehr eingetrübt. Dabei wird insbesondere die dominante Stellung der FIDESZ-Partei des Ministerpräsidenten Viktor Orbán gerügt, dem sogar diktatorische Tendenzen nachgesagt werden. Zweifelhafter Berühmtheit in Europa erfreut sich einer Medienpolitik, welche er aus einer Position der Stärke durchbringen konnte. Viktor Orbán selbst bezeichnet seine Politik als „unorthodox“, insbesondere seine Wirtschaftspolitik weicht von europäischen Mustern ab und ist am ehesten noch mit der Tradition des Gaullismus in Frankreich zu vergleichen.2

Ausgehend von diesem Imagewandel des Ungarns kann man grundlegende Verschiebungen in der politischen Landschaft vermuten. Woraus resultiert z. B. die aktuelle Vormachtstellung der bürgerlichen Mitte, die seit 2010 die absolute Mehrheit stellt? Inwiefern unterscheidet sich die jetzige Lage von der Situation in den vergangenen Jahrzehnten? Welche fundamentalen Charakteristika weist die ungarische Parteipolitik auf, die dem westlichen Betrachter fremd sind? Insbesondere bei der Beantwortung dieser Frage tut sich ein wesentliches Themenfeld auf, nämlich die Besonderheiten des postkommunistischen Regierens, vor allem dessen Auswirkungen auf die Parteipolitik. Schon bei oberflächlicher Betrachtung ist es einleuchtend, dass über 40 Jahre Diktatur die Politik eines Landes tiefgreifend prägen und ein schwieriges Erbe hinterlassen. In einem komplexen System wie dem Politischen entstehen dabei ganz eigene Muster. Erst wenn man diese Charakteristika kennt, versteht man die Evolution des ungarischen Parteiensystems und kann die aktuelle Lage in einen größeren Kontext setzen. Somit kann man die Hauptfrage dieser Arbeit wie folgt präzisieren: Was sind in Ungarn die Charakteristika des postkommunistischen Regierens in und mit Parteien?

1.2 Wissenschaftliche Herangehensweise

Bei einem derart von Emotionen und Partikularinteressen dominierten Diskurs, wie bei dem, der über das ungarische Parteiensystem geführt wird, ist eine präzise und analytische wissenschaftliche Vorgehensweise unerlässlich.

Kapitel 2 bildet den ersten Teil der Analyse. In diesem Kapitel ist es das Ziel, den historischen Kontext, indem das ungarische Parteiensystem agiert, herauszuarbeiten und bezüglich dessen postkommunistischer Natur zu spezifizieren. Absicht dieser Vorgehensweise ist, die durch die Herausarbeitung des historischen Kontextes das Verständnis für das vorrangige Forschungsziel zu vertiefen, nicht jedoch dieses selbst ausführlich zu beschreiben.3 Bei der Betrachtung des ungarischen Parteiensystems ist es logisch, diesen Kontext als das Erbe des kommunistischen Regimes zu definieren. Von diesem Erbe sind zwei wesentliche Punkte maßgeblich für die Parteien: Erstens das rechtlich-institutionelle Erbe (polity-Dimension), welches man in das Regierungs- und das Wahlsystem weiter unterteilen kann. Zweitens das politische Erbe, das man in die Rekrutierung der politischen Elite und der politischen Kultur (politics-Dimension) sowie spezifisch-postkommunistischen Politikfeldern (policy-Dimension) aufgliedern kann. Dadurch wird das postkommunistische Umfeld der ungarischen Parteien dreidimensional herausgearbeitet. Auch die Handlungsspielräume der gestaltenden politischen Persönlichkeiten werden dadurch konkreter.

Der zweite Teil der Untersuchung, Kapitel 3, widmet sich der Frage nach den konkreten Herausforderungen die sich dadurch für bestimmte Parteien in der Politik ergeben haben. Dafür eignen sich am besten die beiden bestimmenden Parteien Fidesz und MSZP. Diese beiden Parteien sind seit 1990 durchgehend relevant gewesen für die Regierungsbildung und haben die ungarische Politik geprägt. In der Politikwissenschaft wurden beide Parteien z. T. als Volksparteien charakterisiert. Kapitel 3 soll also eine „case study“ darstellen, welche nach dem Prinzip „most similar“ durch das Auswählen von zwei möglichst ähnlichen Beispielen die Entwicklung des Parteiensystems versucht qualitativ zu beleuchten. Zwar gibt es zwischen MSZP und Fidesz auch signifikante Unterschiede; jedoch wäre jede andere mögliche Auswahl von anderen Paarkombinationen aus dem ungarischen Parteienspektrum noch ungleicher. Bei der Analyse sollten zunächst die cleavages und die gesellschaftlichen Konfliktlinien4 im ungarischen Parteiensystem zwischen 1990 und 2014 untersucht werden. Danach folgt ein Einblick in die Auswirkungen der Wandel des Parteisystems auf die innerparteilichen Strukturen, natürlich mit besonderem Blick auf die beiden Volksparteien. Ausgehend von diesem Fallbeispiel können mit Hilfe der Induktion Hypothesen hergeleitet werden.5 Der Zeitrahmen des Fallbeispiels sind die Jahre 1989 bis 1990, denn zuvor befand sich Ungarn unter sowjetischer Besetzung, welche eine sozialistische Diktatur sowjetischer Prägung installierte. Erst nach der friedlichen Wende in den Jahren zwischen 1987 und 1990 konnte sich eine pluralistische Parteienlandschaft etablieren, auf die die üblichen Analysemethoden anwendbar sind.

Teil drei (Kapitel 4) widmet sich dieser Hypothesenbildung. Zunächst soll die These beleuchtet werden, ob im konstanten Wandel der ungarischen Parteien eine Tendenz zur Konsolidierung, ja gar hin zum westeuropäischen Modell erkennbar ist. Zum Schluss sollte noch im Lichte der jüngsten Ereignisse bis März 2015 eine mögliche Zukunftsperspektive für Ungarn entwickelt werden, ausgehend von den bis dahin in der Arbeit aufgezeigten Mustern des postkommunistischen Regierens. Sind Tendenzen in eine bestimmte Richtung erkennbar, die z. B. Fidesz die Mehrheit kosten könnten? Ist Raum für neue Parteien in der politischen Landschaft? Auf diese Fragen kann selbstverständlich nur eine spekulative, aber durch die Vorarbeit analytisch untermauerte, Antwort gegeben werden. Wie es nämlich später erkennbar wird, hat sich die ungarische Parteienlandschaft des Öfteren innerhalb von wenigen Jahren fundamental geändert, oft in einer Geschwindigkeit, welche in Deutschland in der Politik unbekannt ist.

2 Voraussetzungen des postdemokratischen demokratischen Parteienwettbewerbs

2.1 Institutionelles Erbe

Nach über 40 Jahren totalitärer und autoritärer sozialistischer Diktatur vollzog Ungarn in den Jahren 1989/90 die Wende hin zur repräsentativen Demokratie westeuropäischer Prägung. Dieser Wende waren einige Jahre der Reform und des Übergangs vorausgegangen. Wie alle Regime des Ostblocks geriet auch die Volksrepublik Ungarn in den Achtzigern in zunehmende wirtschaftliche Schwierigkeiten, der Rückstand gegenüber dem Westen wurde mit dem Tag größer. Nach dem ersten sichtbaren Aufbrechen des „Gulaschkommunismus“ ab 1985, die noch von Emigranten und Intellektuellen vorangetrieben wurde, erreichte die Wende ab 1987 breitere Teile der Bevölkerung, die mit der Bildung von oppositionellen Gruppen begann. Alle wesentlichen politischen Traditionen erhielten so eine politische Stimme. Jedoch konnte sich noch zunächst die Staatspartei MSZMP behaupten. Dies sollte sich erst mit dem Höhepunkt der gesamten Übergangszeit im Sommer 1989 ändern. Die Neuinterpretation des Volksaufstandes von 1956 und die erneute Beisetzung des exekutierten Ministerpräsidenten Imre Nagy bildeten einen Wendepunkt in der ungarischen Geschichte, der Machtanspruch der MSZMP wurde offen in Frage gestellt. Schließlich schlossen MSZMP und die Opposition am 18. September 1989 die Vereinbarung über die Demokratisierung des Landes ab. Im Herbst 1989 wurde daraufhin die kommunistische Verfassung von 1949 grundlegend vom Parlament geändert, welches noch von der MSZMP kontrolliert war. Ebenfalls wurde der rechtliche Rahmen geschaffen, so z. B. das Parteiengesetz. Ab diesem Zeitpunkt bestimmte eher die genaue Verteilung der Macht das politische Geschehen, so z. B. die Diskussion über die Volkswahl des Präsidenten oder die Debatte über die Verfassungsgerichtsbarkeit. Letztlich endete die Geschlossenheit der Opposition mit den ersten Parlamentswahlen 1990. Zu diesen Wahlen traten bereits die Nachfolgeparteien der MSZMP, die sozialistisch-demokratische MSZP und die orthodox-kommunistische Arbeiterpartei an.6

Die Ablösung der Verfassung von 1949 wurde erst 2012 mit dem Grundgesetz von Ungarn vollzogen, welches jedoch das politische System nicht grundsätzlich änderte und trotz internationaler Kritik den Grundsätzen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung genügt.7 8 Grund für die Notwendigkeit dieser Ablösung war der Übergangscharakter der Verfassung seit 1990, was sich in dessen Kompromisscharakter und fehlender funktionaler Kohärenz wiederspiegelte.

2.1.1 Regierungssystem

Das seit 1990 geltende Regierungssystem lässt schnell als ein parlamentarisches Regierungssystem charakterisieren. Aus der unikameralen Legislative, der ungarischen Nationalversammlung9, gehen alle anderen Verfassungsorgane hervor. Das Parlament ist auch das einzige unmittelbar vom Volk legitimierte Organ. Dabei weist das ungarische Parlament einige Besonderheiten auf, die sich aus der postkommunistischen Situation ergeben. So besteht nicht so deutlich das für gewachsene westeuropäische Demokratien typische Machgefälle vom Regierung hin zum Parlament, das sich aus dessen fehlender institutioneller Dichte, dessen Schwerfälligkeit und dessen fehlender Fachexpertise ergibt. Schließlich war das Jahr 1990 nicht nur für das Parlament „Stunde null“, sondern auch für die Exekutive, das sich grundlegend neu positionieren musste und daher nicht immer als agenda setter zur Verfügung stand. So wurde die Ministerialbürokratie regelmäßig auf die Ebene der Hauptabteilungsleiter hinunter komplett ausgetauscht. 10 Gerade in der Anfang der Konsolidierung war die Arbeitsbelastung des Parlaments enorm und die politische Gestaltungsmacht entsprechend hoch. Die Parlamente waren die policy maker. Jüngeres Beispiel ist sind die wichtigen Gesetzesinitiativen, die in der Periode 2010-14 von Abgeordneten des Fidesz ausgearbeitet wurden und als Parlamentsinitiative eingebracht wurden. Parteipolitisch bildeten die Fraktionen im Parlament oft die Keimzelle der neuen Parteien. Neue Parteienstrukturen entstanden aus dem Zusammenschluss von Fraktionen oder aus Abspaltungen von Abgeordneten. Diese starke Position konnte aber langfristig nicht aufrechterhalten werden, als die Regierung an Macht gewann und die korporatistischen Strukturen sich verfestigten.

Der Rolle des Staatspräsidenten ist zwar dem genauen Wortlaut der Verfassung hin unklar, was den Kompromisscharakter der Institution wiederspiegelt. Insbesondere die Sozialisten wollten nämlich am Runden Tisch ein starkes Staatoberhaupt durchsetzen. Zwar wurde dieses zwar letztlich wie von der Opposition gewünscht nicht vom Volk gewählt, aber ist dennoch mit nicht unerheblichen Kompetenzen ausgestattet, so z. B. einem suspensiven Veto (Art. 6 Abs. 5 Ungarisches Grundgesetz) Somit entwickelte sich Ungarn nicht hin zu einem semipräsidentiellen System. Jedoch spielten Staatspräsidenten in der ungarischen Verfassungswirklichkeit oft eine wichtige Rolle, gerade in der Frühphase der Konsolidierung der Demokratie oder durch ihr moralisches Gewicht.

Der Ministerpräsident ist der zentrale Akteur der ungarischen politischen Bühne. Er wird durch absolute Mehrheit des Parlaments gewählt und kann nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum (Art. 21 Abs. 1 Ungarisches Grundgesetz) seines Amtes enthoben werden. Zwar verfügte der Ministerpräsident bis 2012 nicht über eine Richtlinienkompetenz, jedoch stärke ihn in der Regel die politische Konstellation derart, dass der politische Prozess auf ihn zugeschnitten war. Seit 2012 ist die Richtlinienkompetenz auch in Art. 18 Abs. 1. Ungarisches Grundgesetz explizit festgeschrieben. Somit wird Ungarn auch eine „Kanzlerdemokratie“ genannt. Die Auswahl der Minister stärkt den Ministerpräsidenten in seiner politischen Rolle. Letztlich entscheidend für dessen politischen Einfluss ist aber seine Stellung in seiner eigenen Regierungspartei. Das Beispiel des Ministerpräsidenten Medgyessy, der einzige nicht-interims Regierungschef, der nicht auch (zumindest de facto) Parteivorsitzender war, zeigt, dass Parteigranden die Macht des Regierungschefs wirksam untergraben und die Regierung spalten können.11 12

Zusammenfassend können folgende maßgebliche Parameter auf das Parteiensystem, die aus dem Regierungssystem resultieren und spezifisch postkommunistisch sind, herausgearbeitet werden:

1. Die ungewöhnlich starke Stellung des Parlaments als Ort der politischen Diskussion, das sich genauso auf die Entwicklung der Parteienlandschaft auswirkt als umgekehrt. Dabei hervorzuheben ist die starke Stellung der Fraktionen, die gerade in kleinen Parteien den Parteistrukturen überlegen sind. Die Vermittlung von Interessen durch das intermediäre System ist somit weniger das Privileg der Parteien als in Westeuropa.
2. Die Exekutive tritt weniger deutlich als agenda setter in Erscheinung als in Westeuropa. Ursache ist die erwähnte Schwäche einer Exekutive in der Transformation. In die so entstandene Lücke können Parlamentsfraktionen (s. Nr. 1) oder Parteistrukturen drängen, wie im Fall von Ministerpräsident Medgyessy, sofern sie über den notwendigen Rückhalt in der Bevölkerung und einen ausreichenden Organisationsgrad verfügen.

2.1.2 Wahlsystem

Das ungarische Wahlsystem zählt zu den wohl kompliziertesten der Welt. Dennoch ist aufgrund der Rückkopplung, die zwischen Parteien- und Wahlsystem besteht, die Herausarbeitung der Charakteristika essentiell.

Allgemein formuliert kann man Ungarns Wahlrecht als ein kompensatorisches Wahlsystem beschreiben. Kennzeichnend für dieses ist der Versuch, die Effekte eines Mehrheitswahlrechts oder von kleinen (Verhältnis-)Wahlkreisen durch Verhältniswahlelemente auszugleichen. Bei der Kompensation werden Stimmen, die bereits erfolgreich waren, nicht berücksichtigt. Der genaue Effekt eines solchen Wahlsystems ist von den soziopolitischen Bedingungen abhängig, insbesondere von der Struktur des Parteienwettbewerbs. Das ungarische Wahlrecht weist eine Genese auf, die von den Kompromissen der Wendezeit geprägt war. Im Sommer 1989, bei den Gesprächen am Runden Tisch, bevorzugte die MSZMP die relative Mehrheitswahl. Damit wollten die Sozialisten ihre Stärke ausspielen, dass alleine sie über landesweite Organisationsfähigkeit verfügten sowie dass die Opposition gespalten war. Die großen Oppositionsparteien MDF und SZDSZ plädierten für ein absolutes Mehrheitswahlrecht, die kleinen Oppositionsparten Fidesz, FKgP und KDNP argumentierten für die Verhältniswahl. Die Positionen aller Parteien fanden sich schließlich in einem Kompromiss wieder, das von den Gesichtspunkten der politischen Opportunität geprägt war. Das führte nicht nur zu Widersprüchen im Wahlsystem, sondern auch zu einer international beispiellosen Komplexität.

Nach dem Wahlgesetz von 1989 verfügte schließlich jeder Wähler über zwei Stimmen, anhand derer 386 Mandate vergeben wurden. Die erste Stimme konnte für einen der 176 Wahlkreiskandidaten vergeben werden, die anhand des absoluten Mehrheitswahlrechts in das Parlament einzogen. Die zweite Stimme konnte auf eines der 20 Regionallisten, in den 152 Mandate vergeben wurden (Durchschnitt: 7,2 Mandate), abgegeben werden. Hierbei galt eine (landesweite) Fünfprozenthürde. Restlichen 58 Mandaten wurden von landesweiten Listen vergeben, auf die Reststimmen von unterlegenen Wahlkreiskandidaten sowie Rundungsfehler-Reste von den Regionallisten übertragen wurden. An dieser Kompensation nahmen nur Parteien teil, die die Hürde bei den Regionallisten überwunden haben.

Ab den Parlamentswahlen 2014 werden nur noch 199 Mandate vergeben, davon 106 nach dem relativen Mehrheitswahlrecht und 93 nach dem Verhältniswahlrecht auf einer Landesliste. Die Reststimmen der Mehrheitswahl werden auf die Landeslisten angerechnet. Faktisch wurden also die oft kleinen Regionalwahlkreise abgeschafft, dafür der Anteil der Wahlkreismandate leicht erhöht. Der Effekt dieser Reform hält sich folglich eigentlich in Grenzen. Kritisch ist lediglich der Punkt, dass auch diejenigen Stimmen von siegreichen Wahlkreiskandidaten, die diese von den Zweitplatzierten trennen, auf die nationale Liste angerechnet werden, was der Logik der Kompensation widerspricht.

Welche Auswirkung hat nun so ein kompliziertes Wahlsystem auf das Parteiensystem?

Bei der Beantwortung ist am ehesten Sartoris Neuformulierung der Duvergerschen Gesetze geeignet, da er sowohl die Aspekt der Mehrheitswahl als auch der Verhältniswahl anspricht und das im Kontextes des Organisationsgrades der Parteien und der nationalen Verteilung der Wählerschaft. Wir haben in Ungarn zum einen den Aspekt der Mehrheitswahl zeitgleich mit dem Auftreten von Parteihochburgen (z. B. Budapest bei den Liberalen, Nordungarn bei der Jobbik13 ), womit Sartoris 2. Gesetz greift und es ein Abschmelzen von unterlegenen Parteien geben dürfte, nicht jedoch deren Verschwinden. Zweitens trifft für den Verhältniswahlaspekt auch Sartoris 3. Gesetz zu: Je höher die Disproportionalität der Verhältniswahl, desto höher ist der Konzentrationseffekt auf das Parteiensystem. Dabei denkt man sofort an die Regionalwahlkreise mit durchschnittlich 7,2 Mandaten, welche Verzerrungseffekte fördern.14

Leider macht das ungarische kompensatorische Wahlsystem die Vorhersage der Auswirkungen ungleich komplizierter. Zum einen greift Duvergers Gesetz nicht: Die psychologische Hürde der Mehrheitswahl, dass Kleinparteien in den Wahlkreisen keine aussichtslosen Bewerber aufstellen, wird dadurch konterkariert, dass die Stimmen für unterlegene Wahlkreiskandidaten dennoch einen Effekt aufweisen, und zwar über die Reststimmenverteilung über die Landesliste. Dort benötigt man zwar mehr Stimmen und ein Mandat zu erringen, aber dennoch bietet diese Reststimmenverteilung Anreiz genug für die alle Parteien, möglichst in jedem Wahlkreis anzutreten. Dennoch scheint Sartoris 2. Gesetz, welches ja eine Weiterentwicklung von Duvergers´ ist, doch zuzutreffen, jedoch mit einiger Verzögerung. Die effektive Parteienzahl scheint konsequent mit jeder Wahl zu sinken, jedoch können die Kleinparteien als politische Faktoren nicht völlig ausgeschaltet werden. Ebenfalls muss man erwähnen, dass das System zu einer Vielzahl von Möglichkeiten an strategischen Wahlverhalten einlädt; dazu zählten insbesondere Absprachen beim zweiten Wahlgang bis 2010.15

2.2 Politisches Erbe

2.2.1 Rekrutierung der politischen Elite

Ein Parteisystem wird wesentlich von der Rekrutierung der politischen Elite mitbestimmt. Die Beantwortung dieser Frage ist umso spannender, als in Zeiten des Übergangs besonders spannende Aspekte, z. B. inwiefern sind alte kommunistische Eliten halten konnten und woher sich Neue demokratische rekrutieren, aufkommen.

Die größte Zäsur hinsichtlich der politischen Elite ist mit Sicherheit die Wende 1989/90. Trotz der intuitiven Vermutung, dass sich die alte Elite aufgrund ihrer günstigen Ausgangsposition in das demokratische Regime retten konnte, ist eine signifikante Abwärtsbewegung in der Situation der politischen Elite zwischen 1988 und 1993 festzustellen, 78% der alten Nomenklatur machten einen Abstieg in ihrer politischen Karriere durch. Dabei stellen sich mehrere Fragen. Erstens: Welcher Faktor bestimmte über die Fortsetzung der politischen Karrieren der alten Kader? Dazu muss man die ökonomische und kulturelle Stellung der alten Eliten heranziehen. Im sozialistischen System waren politische, wirtschaftliche und kulturelle Elite eng miteinander verbunden aufgrund der staatlich gelenkten Planwirtschaft einerseits und dem Meinungsmonopol der Staatspartei andererseits. Gerade diejenigen politischen Akteure, die auch wirtschaftlich oder kulturell führend tätig waren, „überlebten“ den Systemwechsel in großer Zahl. Ebenfalls wichtig ist die Feststellung, dass die meisten dieser Akteure „Goldene Sechziger“ sind, die aus der zweiten Reihe der MSZMP hinaus aktiv wurden (z. B. Ferenc Gyurcsány: geboren 1961, 1983-88 KISZ-Sekretär, 2004-09 MSZP-Ministerpräsident). Zweitens: Was passierte mit den gescheiterten Parteikarrieren? Da lässt sich feststellen, dass die meisten Mitglieder alten Nomenklatur in die politische Inaktivität bzw. in den Ruhestand gedrängt wurden. Jedoch lässt sich bis in die Gegenwart eine eindeutig unterschiedliche Parteipräferenz der ehemaligen MSZMP-Mitglieder feststellen, welche, wenig überraschend, sehr stark in Richtung der Nachfolgepartei MSZP geht. Insbesondere die MSZMP-Mitglieder, die Teil der wirtschaftlichen und der kulturellen Elite waren, lehnen die rechte Fidesz entschieden ab und zählen zu den loyalsten Unterstützern der Sozialisten. Damit tut sich schon die dritte Frage auf: Woher rekrutierte sich die Mehrheit der aktuellen politischen Elite, welche ja größtenteils die alten Kader ablösen konnte? Dabei ist festzustellen, dass die soziale Herkunft der politischen Elite zwischen 1988 und 1990 beinahe unverändert blieb: Männer mit Universitätsabschluss prägen das Bild des ungarischen Politik. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sich die Elite größtenteils aus Bürgern zusammensetzt, die sich zwar im Sozialismus aufgewachsen sind und dort ausgebildet wurden, aber aufgrund mangelnder politischer Affinität zum System bis zur Wende nicht aktiv wurden.16 17 Zwei idealtypische Vertreter dieser Akteure sind der liberale Staatspräsident Árpád Göncz (*1922) und der konservative Ministerpräsident Viktor Orbán (*1963). Göncz war vor dem Kommunismus Mitglied der FKgP und geriet später in Konflikt mit dem Regime aufgrund seiner politischen Positionen. Seine Generation, die ideologisch in den Strukturen der vorkommunistischen Zeit verwurzelt war, war die treibende Kraft des Umsturzes, organisiert vor allem in den Parteien MDF, KDNP, FKgP und z. T. SZDSZ. Viktor Orbán gehörte ebenfalls den „Goldenen Sechzigern“ an, seine Generation entschied sich jedoch gegen ein Aufstieg im System aufgrund fundamental anderer Wertvorstellungen und stellte spätestens ab 2002 die Mehrheit des ungarischen politischen Personals, vor allem in der Fidesz und der SZDSZ. Eine neue Generation von Politikern, die von der Zeit nach 1990 geprägt sind, kommt aber auch allmählich in Führungspositionen, z. B. Gábor Vona, Jahrgang 1978 und Vorsitzender von Jobbik.

Doch welche Bedeutung haben diese Aussagen für das Parteiensystem?

1. Die Existenz eines „persönlichen“ Grabens in der politischen Elite, welcher auch auf inhaltliche Positionierung der Parteien ausstrahlt. Dieser Graben tut sich hinsichtlich der Beurteilung des kommunistischen Systems auf. Auf der einen Seite stehen die vom Sozialismus geprägte Eliten, vor allem in der MSZP, welche wohlwollend auf die alte Zeit zurückblicken und in ihrer politischen Kultur, insbesondere in ihrer Rhetorik, in dieser verwurzelt sind. Auf der anderen Seite stehen die, die während der Diktatur politisch heimatlos waren und an der Wende mitgewirkt haben. Diese Gruppen sind vor allem Konservative und Liberale, welche sich nochmals anhand der Intensität ihrer Gegnerschaft zum Kommunismus auffächern.

[...]


1 Franzen/Haarland/Niessen, 2002. S. 117f.

2 Anrowitzer/Gelegs, 2013. S. 6f.

3 Mahoney/Schensul, 2006.

4 Jun, 2009. S. 15-27.

5 Garring, 2008.

6 Körösényi/Fodor, 2004. S. 323-325.

7 Scholz, 2012.

8 Jakab/Sonnevend, 2012.

9 Wörtlich ung. „országgyülés“, dt. „Landesversammlung“. Im Folgenden angelehnt an das Standardwerk von Ismayr „Nationalversammlung“ genannt.

10 Dieringer, 2009. S. 316.

11 Dieringer, 2009. S. 157-253.

12 Szikinger, 2001.

13 Vgl. 3.1.

14 Nohlen, 2014. S. 429-438, 495-500.

15 Benoit, 2001. S. 479-493.

16 Luca, 2012.

17 Szabó, 2010.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Das ungarische Parteiensystem. Herausforderungen des postkommunistischen Regierens in und mit Parteien
Hochschule
Hochschule für Politik München  (Lehrbereich Recht und Staat)
Veranstaltung
Hauptseminar "Parteien im Umbruch?"
Autor
Jahr
2015
Seiten
32
Katalognummer
V298857
ISBN (eBook)
9783656955405
ISBN (Buch)
9783656955412
Dateigröße
1112 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
parteiensystem, herausforderungen, regierens, parteien
Arbeit zitieren
Richard Schenk (Autor:in), 2015, Das ungarische Parteiensystem. Herausforderungen des postkommunistischen Regierens in und mit Parteien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/298857

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