Stigmata in der Gesellschaft


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

22 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


INHALTSÜBERSICHT

I. EINLEITUNG
A. Stigmata in der Gesellschaft
B. Methodischer Ansatz zur vorliegenden Arbeit

II. Carl Zuckmayer, Der Hauptmann von Köpenik (1931)
A. Inhaltliche Kriterien des Dramas
B. Gesellschaft und Individuum
1. Identitätsproblematik Wilhelm Voigts
2. Soziale Krise des Protagonisten

III. Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz (1929)
A. Thematische Aspekte des Großstadtromans
B. Kriminalität und Gewalt
1. Gewalt als Leitmotiv und Stigmata des Protagonisten
2. Das Leiden Biberkopfs und seine Erlösung

IV. Vergleichende Darstellung der beiden Werke

V. Fazit
A. Thematische Zusammenfassung
B. Persönliches Resumé

VI. Literaturverzeichnis

I. EINLEITUNG

A. Stigmata in der Gesellschaft

Die Menschen kennen einander nicht leicht,

selbst mit dem besten Willen und Vorsatz;

nun tritt noch der böse Wille hinzu,

der alles entstellt.[1]

Johann Wolfgang von Goethe

Es ist schon lange kein Phänomen mehr, dass die Gesellschaft das Individuum aufgrund von seinen Merkmalen und Eigenschaften charakterisiert und einstuft. Die Sozialpsychologie unterscheidet zwischen körperlichen, psychischen, charakterlichen und sozialen Merkmalen einer Person, die in der Fachsprache als 'Stigmata' bekannt sind. Negative Stigmata rufen Ablehnung, Beklemmung oder Unbehagen bei Dritten hervor und entwerten das Gesellschaftsbild eines Stigmaträgers. Der Sozialwissenschaftler, Ervin Goffmann, unterscheidet zwischen sichtbaren und unsichtbaren Stigmata eines Individuums, von denen letztere für die nachfolgende Arbeit von Bedeutung sein werden. Träger von unsichtbaren Stigmata, wie beispielsweise Psychiatriepatienten, ehemalige Gefängnisinsassen oder Arbeitslose haben es schwer sich in die Gesellschaft zu integrieren. Der Versuch, in der Gesellschaft nicht als Stigmaträger erkannt zu werden, ist oft vergeblich.[2]

Sobald an einem Individuum ein entsprechend negativ definiertes Merkmal wahrgenommen wird, wird von diesem Merkmal auf weitere unvorteilhafte Eigenschaften des Individuums geschlossen, so dass sich daraus eine Art von Teufelskreis ergibt.

Für Stigmata ist nun charakteristisch, daß einmal das vorhandene Merkmal in bestimmter negativer Weise definiert wird, und daß zum anderen über das Merkmal hinaus dem Merkmalsträger weitere ebenfalls negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die mit dem tatsächlich gegebenen Merkmal objektiv nichts zu tun haben.[3]

Negative Stigmata sind immer verbunden mit einer gesellschaftlichen Norm, von der das Individuum abweicht. Als 'Normen' bezeichnet man Richtlinien und Regeln, die jedes Individuum in der Gesellschaft einhalten muss, wenn es diesen entsprechen will.

In der folgenden Arbeit wird eine Gesellschaftsordnung aufgezeigt, die Arbeitslose und ehemalige Gefängnisinsassen als Träger negativer Stigmata definiert und ihnen ein normwidriges Verhalten unterstellt. Der Kampf des Individuums gegen diese gesellschaftlichen Vorurteile wird dabei genauso Gegenstand der Arbeit sein, wie die daraus resultierenden Krisen des Individuums.

B. Methodischer Ansatz zur vorliegenden Arbeit

Als Primärtexte werden für die Erläuterung des im Kapitel A angesprochenen gesellschaftlichen Konflikts das Drama von Carl Zuckmayer, Der Hauptmann von Köpenik, mit dem Untertitel „Ein deutsches Märchen in drei Akten“ (1931) und der Großstadtroman von Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, mit dem Untertitel „Die Geschichte vom Franz Biberkopf“ (1929) herangezogen.

Durch eine vergleichende Darstellung beider Werke soll folgende These belegt werden: Verschiedene sozialpsychologische Untersuchungen zeigen, dass Stigma-träger dazu tendieren, ihr Stigma anzunehmen und ein ihren Eigenschaften zugeschriebenes Selbstbild zu entwickeln.[4] Aufgrund des „Konformitätsdrucks“[5]

neigen Stigmatisierte auch häufig dazu, diejenigen Verhaltensweisen zu übernehmen, die bei ihnen vermutet werden.

Entsprechend paßt sich ihr Selbstbild mit der Zeit den Zuschreibungen sowie den Bedingungen ihrer sozialen Situation an.[6]

In dem Werk von Carl Zuckmayer kristallisiert sich der Konflikt des stigmatisierten Individuums vor allem mit der Gesellschaft heraus, das beim Versuch sich in diese einzugliedern, auf unüberwindbare gesellschaftliche Normen stößt. Aufgrund seines Stigmas „ehemaliger Gefängnisinsasse“ muss sich der Protagonist, Wilhelm Voigt, mit den Vorurteilen, die die Gesellschaft mit diesem Stigma verbindet, auseinandersetzen.

Alfred Döblin schildert im Gegensatz zu Zuckmayer den in der These angesprochenen Konformitätsdruck des Individuums. Der Protagonist nimmt die Eigenschaften seines Stigmas an und lebt die Verhaltensweisen, die man mit diesem verbindet (Gewalt und Kriminalität) aus.

Schwerpunktmäßig bezieht sich die folgende Arbeit auf drei wesentliche Kapitel. Im zweiten Kapitel wird das Drama Zuckmayers von seiner formalen Seite bis hin zu den Motiven und Hintergründen, die den Protagonisten zu einem Stigmaträger machen, textimmanent untersucht. Die formale Untersuchung wird die sozialen Folgen und Problemfelder des Individuums demonstrieren.

Das dritte Kapitel widmet sich dem Großstadtroman Döblins, mit dem analog wie bei Zuckmayer verfahren wird.

Im vierten Kapitel werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Stigmaträger aufgeführt und in eine Verbindung miteinander gebracht.

Die Arbeit endet im fünften Kapitel mit einer thematischen Zusammenfassung und einer persönlichen Stellungnahme.

II. Carl Zuckmayer, Der Hauptmann von Köpenik (1931)

A. Inhaltliche Kriterien des Dramas

Das Drama, Der Hauptmann von Köpenik mit dem Untertitel „Ein deutsches Märchen in drei Akten“, erscheint zum ersten Mal 1931. Hintergrund des Stückes ist eine Berliner Zeitungsmeldung vom 17.10.1906:

Ein als Hauptmann verkleideter Mensch führte gestern eine von Tegel kommende Abteilung Soldaten nach dem Köpeniker Rathaus, ließ den Bürgermeister verhaften, beraubte die Gemeindekasse und fuhr in einer Droschke davon.[7]

Carl Zuckmayer lässt die Ereignisse von 1906 in Berlin in Form einer szenischen Reportage ablaufen. Dabei konzentriert er sich allerdings weniger auf die genaue zeitliche Wiedergabe der historischen Ereignisse, als auf die Deutung der Umstände und Motive, die den Schuster Wilhelm Voigt zu seiner Tat getrieben haben.

Der sechsundvierzigjährige Haftentlassene möchte ein neues Leben beginnen, fernab von kriminellen Machenschaften. Auf der Suche nach einer Arbeit gerät er in erste bürokratische Konflikte. Ohne Aufenthaltsgenehmigung, bekommt er keine Arbeit und ohne Arbeitsnachweis keine Aufenthaltsgenehmigung; einen Pass verweigert ihm der Beamte wegen „Nichtzuständigkeit“.[8]

Voigt: Wenn ick nich jemeldet bin, krieg ich keene Arbeet, und wenn ick keene Arbeet habe, da darf ick mir nich melden. Denn will ick wieder raus.[9]

Carl Zuckmayer verdeutlicht in seinem Drama die Konfliktgesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts. Er beschreibt den Menschen Wilhelm Voigt als stigmatisierten Außenseiter der Gesellschaft, dessen Resozialisierungsversuche an der normierten Gesellschaftsordnung und der strikten Bürokratie der damaligen Zeit scheitern.

Im folgenden werden die gesellschaftlichen Konflikte von Wilhelm Voigt anhand einer textimmanenten Analyse des Dramas erläutert. Dabei gilt es zu beweisen, dass der Protagonist aufgrund seines Stigmas auf unüberwindbare Differenzen mit der herrschenden Gesellschaftsordnung, dem preußischen Militarismus stößt.

B. Gesellschaft und Individuum

Um das Beziehungsverhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft bei Zuckmayer darzustellen und zu begreifen, muss der Begriff 'Gesellschaft' definiert werden. Es handelt sich hierbei zwar durchaus um einen allgemein bekannten, aber dennoch vieldeutigen Begriff. Spricht man von gesellschaftlichen Konflikten oder Divergenzen des Individuums ist dabei oftmals unklar, welche Bedeutung dem Begriff 'Gesellschaft' dabei zukommt. Für die Erläuterung der Problematik des Protagonisten Wilhelm Voigt wird die Definition der Sozialpsychologie herangezogen:

[...] wird unter 'Gesellschaft' allgemein ein Gefüge von Individuen, von menschlichen Handlungen bzw. sozialen Beziehungen zur Befriedigung individueller und gemeinschaftlicher Bedürfnisse verstanden [...].[10]

Die Gesellschaft umfasst demnach das soziale Organ, das dem Individuum eine lebensnotwendige Struktur, Ordnung und Rahmen bietet. Ohne diese Orientierungen und Richtlinien kann das Individuum nicht existieren. Das Individuum muss sich insofern in die Gesellschaft eingliedern, um seine eigene Identität innerhalb dieses sozialen Organs zu entwickeln. Um sich erfolgreich zu integrieren, besteht für das Individuum die Notwendigkeit, sich an die 'Normen' der Gesellschaft zu halten. Widerspricht es diesen, so kann dies bis zur sozialen Isolation des Individuums führen.[11]

Dieses Beziehungsverhältnis von Gesellschaft und Individuum dient im folgenden zur Verdeutlichung der sozialen Devianz- und Konfliktproblematik des Protagonisten Wilhelm Voigt. Dabei wird die Stigmaproblematik des Individuums genauso im Vordergrund der Arbeit stehen, wie dessen Versuch sich eine „normale“ Identität aufzubauen.

[...]


[1] Artemis/Winkler, Mit Goethe durch das Jahr 1993 (München 1992),S.133

[2] Bökenkrüger, W./Stempell, H., Wörterbuch der Sozialpolitikzur Erläuterung sozial-rechtlicher Begriffe (Köln 1961), Band II

[3] Hohmeier, J., „Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß“, In: Brusten, M., Hohmeier, J. Stigmatisierung1- Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen (Darmstadt 1975), S. 7

[4] Höhmann, P, Zur Integration marginaler Gruppen. Eine Studie im Vorfeld abweichenden Verhaltens (Regensburg 1972), Band 1, S.143ff

[5] Hohmeier, J., „Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß“, In: Brusten, M., Hohmeier, J. Stigmatisierung1- Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen (Darmstadt 1975), S. 15

[6] ebenda

[7] Dr. Nölle, Eckehart, „Carl Zuckmayer Der Hauptmann von Köpenik“, In: Walter Jens (ed.), Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 17 (München 1998), S. 1106

[8] ebenda, S.1107

[9] Zuckmayer, Carl, Der Hauptmann von Köpenik (Frankfurt 2002), I. Akt, S.17

[10] Thomas, A., Grundriß der Sozialpsychologie ( Göttingen 1992), Band 2, S. 297

[11] ebenda, S. 298ff

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Stigmata in der Gesellschaft
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Deutsche Philologie)
Note
2,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
22
Katalognummer
V29844
ISBN (eBook)
9783638312646
ISBN (Buch)
9783656519409
Dateigröße
573 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Arbeit beschäftigt sich mit Menschen, die aufgrund ihrer Stigmata von der Gesellschaft diskriminiert werden.
Schlagworte
Stigmata, Gesellschaft
Arbeit zitieren
M.A. Claudia Haslauer (Autor:in), 2004, Stigmata in der Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29844

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