Kommunikation des persönlichen Raums


Bachelorarbeit, 2004

58 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Raum, Raumbedürfnis und Personal Space
2.1 Raum
2.1.1 Der orientierte Raum
2.1.2 Der gestimmte Raum
2.2 Raumbedürfnis
2.3 Personal Space
2.3.1 Funktionen des Personal Space
2.3.2 Theoretische Konzepte
a) Gleichgewichtstheorie (Equilibrium Theory)
b) Attributionstheorie (Attribution Theory)
c) Erwartungstheorie
2.4 Personal Space nach HALL
2.4.1 Intime Distanz
2.4.2 Persönliche Distanz
2.4.3 Soziale Distanz
2.4.4 Öffentliche Distanz

3. Kommunikation des persönlichen Raums
3.1 Kommunikation, Verhalten und Interaktion
3.1.1 Kommunikation
3.1.2 Verhalten
3.1.3 Interaktion
3.2 Kommunikation der Grenzen des persönlichen Raums
3.2.1 Auditive Kommunikation
a) Sprache
b) Nonverbale Vokalisierungen
3.2.2 Visuelle Kommunikation
a) Blick
b) Mimik
c) Gestik / Körperbewegungen
d) Körperhaltung
e) Kleidung und andere Aspekte der äußeren Erscheinung
f) Proxemik (Räumliches Verhalten)
3.2.3 Taktile Kommunikation
3.2.4 Olfaktorische Kommunikation
3.2.5 Gustatorische Kommunikation
3.3 Beeinflussende Parameter
3.3.1 Personenbezogene Unterschiede
3.3.2 Situative Unterschiede
3.3.3 Prothesen und Verlängerungen

4. Resümee
4.1 Intime Distanz
4.2 Persönliche Distanz
4.3 Soziale Distanz
4.4 Öffentliche Distanz

5. Das andere archimedische Prinzip – ein Beispiel
5.1. Hintergrund
5.2 Die gestörten Kreise
5.2.1 Archimedes
5.2.2 Der römische Legionär
5.2.3 Das Zusammentreffen

6. Schlusswort

7. Verzeichnisse
7.1 Literaturverzeichnis
7.1.1 Wissenschaftliche Literatur
7.1.2 Beispielliteratur und Unseriöses
7.1.3 Historische Quellen
7.2 Internetquellen
7.3 Abbildungsverzeichnis

8. Anhang: Curriculum Vitae

1. Einführung

Die Menschheit agiert im Raum. Das Individuum füllt mit seinem Körper einen gewissen Raum in unserer Welt aus und beansprucht diesen. Um jedoch handlungsfähig und sicher zu bleiben, hört dieser beanspruchte Raum nicht mit der Körpergrenze, also der Haut, auf, sondern das Individuum benötigt mehr Platz - um agieren zu können und um sich mögliche Feinde vom Leib zu halten. Dieser Raum, der persönliche Raum oder Personal Space[1], endet erst mit dem Erreichen der sensomotorischen Grenzen. Wer wie weit in dieses kleine Stück Privatsphäre eindringen darf, entscheidet das Individuum von Situation zu Situation aufs Neue und kommuniziert dieses.

Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt bei der Art und Weise, wie Raum, im Speziellen der persönliche Raum, kommuniziert wird. Wobei nach Maletzke Kommunikation im engen Sinne zu verstehen ist, also als ein „Vorgang der Verständigung und der Bedeutungsvermittlung zwischen Lebewesen“ (MALETZKE 1963: 18).

Um die kommunikativen Verhaltensweisen in Bezug auf den Personal Space untersuchen zu können, werde ich zuerst versuchen, die Bedeutung des Raums für das Individuum (Kapitel 2.1) näher zu erläutern und das Bedürfnis nach einem eigenen, einem persönlichen Raum zu erörtern (Kapitel 2.2). Kapitel 2.3 ist den Funktionen des persönlichen Raums und den theoretischen Konzepten zum räumlichen Verhalten gewidmet. In Kapitel 2.4 werde ich die Differenzierung des Personal Space in eine Intime, eine Persönliche, eine Soziale und eine Öffentliche Zone erläutern, die von dem Anthropologen Edward T. Hall in seinem Werk „The Hidden Dimension“ (1966) vorgenommen wurde, und versuchen, den einzelnen Distanzzonen sensomotorische und somit kommunikative Möglichkeiten zuzuschreiben. Das Forschungsinteresse dieser Bakkalaureatsarbeit besteht darin zu untersuchen, wie diese unterschiedlichen Distanzzonen und deren Grenzen kommuniziert werden. Der Hauptaspekt liegt also bei der Kommunikation von Raum, im Speziellen der Kommunikation des persönlichen Raums (Kapitel 3). Hierbei werde ich, nach der sensorischen Erfassung gegliedert, erörtern, welche Möglichkeiten der Kommunikation von Distanzverhältnissen bestehen. Die unterschiedlichen Distanzzonen werden auch bei Hall durch kommunikative Aktionen definiert, allerdings, und das ist auch der wichtigste Ansatzpunkt dieser Arbeit, bleibt Hall eine genauere Exemplifizierung und Systematisierung schuldig. Diese Bakkalaureatsarbeit soll dazu dienen, die Distanzzonen genauer zu definieren und sie durch Zuschreibung kommunikativer Aktionen enger einzugrenzen bzw. klarer erkennbar zu machen. Im Resümee (Kapitel 4) soll daher in einer Tabelle versucht werden, die herausgefundenen Ergebnisse zusammenfassend darzustellen.

„Und was hat Archimedes mit dem Ganzen zu tun?“, höre ich sie fragen? In dem kurzen Exkurs (Kapitel 5) werde ich versuchen, das zuvor theoretisch erörterte Distanzverhalten zu veranschaulichen. Alle Leserinnen und Leser mögen mir meine vielen Beispiele verzeihen, die ich oft dem Widerkauen der grauen Theorie vorgezogen habe, welche Andere schon besser zusammengefasst haben (z.B.: SCHULTZ-GAMBARD (1990), KRUSE (1980), ARGYLE (2002)).

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit verzichte ich außerdem auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung der Sprache. Alle Leserinnen mögen entschuldigen, dass dabei der männlichen Form der Vorzug gegeben wurde, welche ich schon fast zwei Jahrzehnte verwende und die mir daher leichter von der Hand geht.

2. Raum, Raumbedürfnis und Personal Space

2.1 Raum

Der euklidische Raum, der homogen, kontinuierlich und isotrop (sich in alle Richtungen gleichmäßig erstreckend) ist, kann nicht mit dem gelebten Raum gleichgesetzt werden, der inhomogen, diskontinuierlich und anisotrop ist (vgl. KRUSE 1990: 314). Das zentrale Charakteristikum des gelebten Raums besteht darin, „dass der Handelnde über seinen Körper im physisch-weltlichen Kontext immer einen konkreten Standort einnimmt, der für ihn immer zum Ausgangspunkt seiner Orientierungen und Handlungen im Erdraum wird.“ (WERLEN 1988: 179) Der gelebte Raum ist somit leibzentriert, das Individuum der Koordinatennullpunkt seines Raums. Das leibzentrierte Koordinatensystem ist „auf das jeweilige Subjekt bezogen und durch den dem Stand- und Blickpunkt des Subjekts entsprechenden Horizont begrenzt“ (KRUSE 1990: 314).

Das Koordinatensystem umfasst also die Dimensionen „links“, „rechts“, „vorne“, „hinten“, „oben“ und „unten“ von der Blickrichtung des Handelnden aus, sowie einen Koordinatennullpunkt, in dem sich die eben genannten Dimensionen schneiden und der vom Körperstandort des Handelnden gebildet wird. Der gelebte Raum ist durch seine qualitativ unterschiedlichen Stellen oder Punkte („Ich-hier“ gegenüber „dem-da“) und Richtungen („hin“ gegenüber „her“) charakterisiert: die Pole oben, vorne und rechts sind gegenüber unten, hinten und links bevorzugt. (Vgl. KRUSE 1990: 314).

„Demzufolge bildet das aktuelle „Hier“ zum Zeitpunkt des Handelns nicht einen absoluten Fixpunkt, sondern den variablen Bezugspunkt der Orientierung im physisch-weltlichen Kontext.“ (WERLEN 1988: 179) Der gelebte Raum kann also auch als „orientierter Raum“ interpretiert werden. Die Orientierung erfolgt nach dem Bezugspunkt, dem Individuum, wobei hier zwischen einem „Wahrnehmungsraum“ und einem „Handlungsraum“ unterschieden werden kann. Demgegenüber kann man Raum aber auch als einen „gestimmten Raum“ sehen, der durch seine atmosphärischen Ausprägungen definiert ist. Widmen wir uns kurz diesen Konzepten:

2.1.1 Der orientierte Raum

Raum wird im Alltag erschlossen und benutzt, Bewegungen finden mit dahinter stehenden Intentionen, also zielgerichtet statt, sie beginnen „hier“ und enden „dort“. „Hier“ ist, wo sich das Subjekt als wahrnehmendes und handelndes Individuum befindet, „hier“ ist der Körper, das Zentrum, der Koordinatennullpunkt. „Dort“ ist das Ziel der Wahrnehmung oder Handlung. Der sensorische Horizont beendet den Wahrnehmungsraum, alles innerhalb dieser Grenzen muss mit mindestens einem Exterorezeptor erkannt werden. „Von Handlungsraum wird gesprochen, wenn das Subjekt Ausgangspunkt zielgerichteten Handelns und Bewegens ist, vom Wahrnehmungsraum, wenn das Subjekt lediglich als sinnlich wahrnehmendes figuriert“ (KRUSE 1990: 315). Wenn auch Handeln und Wahrnehmung sehr stark aneinander gekoppelt sind, so kann das Individuum je nach Bedarf die eine oder die andere Fähigkeit in den Vordergrund treten lassen. In wahrnehmenden Momenten studieren wir den Fahrplan oder schwelgen im Überangebot in der Geschäftsauslage, während in handelnden Situationen der voll gepackte Einkaufswagen durch den Kassabereich manövriert werden muss. Die Wahrnehmung ordnet sich hier dem Handlungsziel unter und gewährleistet das Funktionieren der Handlung. „Entsprechend der funktionalen Einheit von Wahrnehmen und Handeln kann diese Differenzierung allerdings nur als analytische verstanden werden.“ (KRUSE 1990: 315)

a) Der Wahrnehmungsraum

umfasst, ungeachtet der Sonderstellung der visuellen Wahrnehmung, auch den auditiven, haptischen, gustatorischen und olfaktorischen Raum. Auch das Jodeln aus dem Nebental erschließt den Raum, Ottakringer-Bier riecht man selbst dann gegen den Wind, wenn die Fabrik noch weit entfernt ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Der Wahrnehmungsraum

Darstellung: DI Norbert Haiden (nach: Gold 1980: 51)

b) Der Handlungsraum

Das Subjekt ist Ausgangspunkt zielgerichteten Handelns und Bewegens, „Räumlich-Dingliches ist Ausgang, Mittel wie auch Ziel von Handlungen. Was rein wahrnehmungsmäßig als nah und fern erscheint, ist aus der Sicht des Handelnden unmittelbar greifbar, potentiell erreichbar oder unerreichbar.“ (KRUSE, 1990: 316). In einer Restaurantküche liegen die ständig notwendigen Utensilien unmittelbar greifbar („Mise en Place“). Das Kühllager muss potentiell erreichbar sein, denn wehe wenn die Pommes ausgehen, dann muss die potentielle Erreichbarkeit aufs Hurtigste in Greifbarkeit umgesetzt werden. Der Gemüsemarkt ist während der Stoßzeiten leider unerreichbar, der Spargel sollte also nicht ausgehen. Der Handlungsraum, um frischen zu besorgen, ist dafür zu beschränkt.

2.1.2 Der gestimmte Raum

„Als gestimmten Raum erleben wir den Raum nicht in einzelnen, spezifizierbaren Eigenschaften (von Formen, Farben, Größenverhältnissen etc.), sondern in seinem Ausdrucksgehalt, seinen Anmutungsqualitäten, seiner Atmosphäre (als feierlicher Kirchenraum, belebte Straße, heitere Landschaft, gemütliches Zimmer oder ‚kalte Pracht’).“ (KRUSE, 1990: 318) Der gestimmte Raum ist unzentriert und atrop, das Subjekt nimmt - im Gegensatz zum orientierten Raum - nicht automatisch das Zentrum des Raumes ein. Die Gestimmtheit des Raumes muss sich nicht verändern, nur weil sich das Subjekt im Raum bewegt. Die Stimmung des dunklen Kellerlokals kann die gleiche bleiben, egal ob man am Tisch sitzt oder an der Bar lehnt.

Der persönliche Raum tritt natürlich auch im gestimmten Raum auf und verändert sich aufgrund der Atmosphäre und der geltenden Regeln und Tabus, jedoch handelt es sich beim gestimmten Raum hauptsächlich um ein beeinflussendes Parameter, um den Kontext unserer Handlungen und Wahrnehmungen. (Vgl. Kapitel 2.2.f und 3.3) Im orientierten Raum mit seinen sensorischen und motorischen Möglichkeiten bzw. Begrenzungen hingegen manifestiert sich der Personal Space in seinen unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Handlungsdimensionen. Die unterschiedlichen Dimensionen oder Möglichkeitsräume der sensomotorischen Fähigkeiten sind der Personal Space, der persönliche Raum.

Der persönliche Raum ist aufgrund der sensomotorischen Unterschiede nicht in sich homogen, hier gibt es gravierende Unterschiede in der Sensibilität und den Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten. Der persönliche Raum ist als eine Ganzheit konzipiert, allerdings auch klar strukturiert und begrenzt.

„Innerhalb des Gesamtbereichs lassen sich Teilbereiche abgrenzen: die 'inner-personalen' Bereiche sind von einem 'sensomotorischen' Bereich umgeben, der als 'Grenzzone' oder vermittelnder Bereich zwischen dem innerpersonalen Bereich und der Umwelt fungiert. Beim innerpersonalen Bereich wird zwischen mehr zentralen und mehr peripheren Bereichen oder Schichten unterschieden. Die zentralen werden als die mehr intimen oder persönlichen Regionen definiert, in denen das Individuum gewöhnlich 'empfindlicher' ist als in den peripheren. Die peripheren Schichten sind, da sie enger mit dem motorischen Grenzbereich in Verbindung stehen, eher äußerungsfähig. […] zentrale Bereiche [haben] im allgemeinen weniger Zugang zum Motorium.“ (KRUSE 1980: 86)

Der persönliche Raum dient der Vermittlung und Erschließung der Umwelt und ist daher ein wichtiger Verbündeter im Überlebenskampf. Wir beschützen daher uns, indem wir unseren persönlichen Raum sichern. Diesem Bedürfnis nach einem sicheren persönlichen Raum soll im nächsten Kapitel auf die Schliche gekommen werden.

2.2 Raumbedürfnis

Raum ist ständig um uns herum. Immer und überall. Wir gestalten und kontrollieren Raum und sind ihm doch stark unterworfen, wir benutzen und verändern ihn, wir sind also in sehr intensivem Kontakt mit dem Phänomen Raum. Er ist ein Kontext, in dem wir unser Leben gestalten. Vor allem unser persönlicher Raum. Hier können wir Handlungen setzten und Informationen sammeln. Je mehr wir wissen und je besser wir agieren, desto angenehmer und zufriedener verläuft unser Leben. Wenn ich agiere oder wahrnehme, um mein Leben zu gestalten oder mein Überleben zu gewährleisten, lasse ich mir nicht gerne von anderen in die Quere kommen. Also muss ich, um meine Handlungsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten, den Raum, den diese Handlungen benötigen, erobern, halten und verteidigen. Und wenn sie nicht aus dem Weg fahren, hupe ich ganz laut. Ein weiterer wichtiger Verteidigungsaspekt ist es, mich vor zu hohen sensorischen Inputs (wie einem Messer im Körper) zu schützen. Es reicht aber auch schon, wenn sich immer irgendeine kunstinteressierte und detailverliebte Person dicht vor das Gemälde im Museum stellt, und zwar genau in meiner Wahrnehmungsachse. Ein schöner Rücken kann zwar entzücken, aber hier stört er meine Kreise. Ich muss auf jeden Fall darauf reagieren, da mein Handlungs- bzw. Wahrnehmungsziel so nicht erreicht werden kann und in meinen sensomotorischen Raum auf unerlaubte bzw. sehr unhöfliche Weise eingedrungen wurde. Das war mein Raum!

Informationen müssen ausgesandt und vor allem auch empfangen werden, um zu Kommunikation zu werden und damit soziale Interaktion zu gewährleisten. Um in soziale Kontakte zu treten, müssen Verletzungen dieses persönlichen Raums also in Kauf genommen werden. Manchmal ist dies gar nicht so schlimm, wie der Kuss der Tante, der mit einem kleinen Schokolade-Trostpflaster abgegolten wird. Manchmal ist die Intimität sogar sehr angenehm, wenn man gemeinsam unter einer Decke steckt. Ab und zu aber ist es ein schwerer Fehler, dass man jemanden soweit in den persönlichen Raum eindringen hat lassen. Jedes Individuum tritt als Ansprucherhebender auf, der seinen eigenen Raum, seinen persönlichen Raum, kontrollieren und gebrauchen will.

Tritt ein Individuum in sozialen Kontakt und hält gleichzeitig den Anspruch auf den persönlichen Raum aufrecht, so muss es Kompromisse eingehen – bis hierher, aber nicht weiter. Na gut, du schon. Jede soziale Situation ist daher ein ständiges Grenzen abbauen, öffnen, befestigen, verteidigen, Zollbeschränkungen einführen (ohne Schokolade kein Kuss) und natürlich überwachen. Soziale Beziehungen können nur eingegangen werden und bestehen, indem die Grenzen definiert werden und entsprechende Handlungen zur Umsetzung dieser Definitionen gesetzt werden. Dabei wird immer versucht, den größtmöglichen Nutzen aus der eingegangenen Intimität zu ziehen. Suche ich Kontakt oder gibt es gute Gründe, die für mehr Distanz sprechen? Prinzipiell gibt es jedem gegenüber, den ich nicht kenne, ein Kontaktverbot. Erst nach gegenseitigem „Abtasten“ und durch genügend Vertrauen abgesichert lasse ich wen an mich heran.

„Der Einzelne kann belästigt, physisch bedroht, sozial und materiell ausgebeutet werden, es kann ihm der grundsätzlich einer jeden Person gebührende Respekt bzw. die Achtung verweigert werden. Um diese prinzipiell möglichen ‚Inkorrektheiten’ bzw. ‚Risiken’ auszuschalten, ist die Außerkraftsetzung des Kontaktverbotes gesellschaftlich reglementiert und nur unter bestimmten Bedingungen bzw. Umständen erlaubt. Personen müssen einen offiziell anerkannten Grund haben, um mit einer anderen in Blickkontakt zu treten. Die Reglements für Zugänglichkeit bzw. Initiierung von zentrierten Begegnungen stellen daher ein Mittel der sozialen Kontrolle dar, da durch sie gewährleistet werden soll, dass sich Personen nicht in unzulänglicher Weise anderen nähern.“ (REIGER 1997: 93)

Welche Zugangsbeschränkungen gibt es, wie sehen nun diese Grenzen der Distanzzonen im Detail aus und wo sind sie? Das ist die Frage, der ich mich im nächsten Kapitel zuwenden möchte.

Die Möglichkeiten, diese Grenzen zu sichern oder auf Eindringen zu reagieren, liegen in Verhalten jeglicher Art, dem immer kommunikativer Gehalt anhaftet. (Vgl. Kapitel 3.1)

2.3 Personal Space

Begründet wurde die Forschung zum persönlichen Raum durch die Arbeiten des Anthropologen Edward T. HALL (1966) und des Psychologen Robert SOMMER (1969). Hall fasste unter dem Begriff „Proxemics“ die untereinander zusammenhängenden Beobachtungen und Theorien bezüglich des räumlichen Verhaltens des Menschen zusammen und entwickelte ein Klassifikationssystem für dieses räumliche Verhalten, angespornt durch H.E. HOWARD, einen englischen Ornithologen, Verfasser von „Territory in Bird Life“ aus dem Jahre 1920 (Vgl. HALL 1966: 7). Erstmals definiert wurde der Personal Space von SOMMER (1969: 26):

"Personal Space refers to an area with invisible boundaries surrounding a person's body into which intruders may not come."

„Wiewohl man den Persönlichen Raum am einfachsten als eine den Körper umgebende Zone oder Blase veranschaulichen kann, handelt es sich bei ihm nicht um eine feste Zone, sondern um bestimmte personen- und situationsabhängige Regelmäßigkeiten in der Einhaltung räumlicher Interaktionsbedingungen.“ (SCHULTZ-GAMBARD 1990: 325)

Um sich aber ein Bild zu machen, eignet sich das Beispiel der Blasen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.2: Der persönliche Raum 1 Abb.3: Der persönliche Raum 2

Darstellung: DI Norbert Haiden Darstellung: DI Norbert Haiden

Das Konzept des Personal Space führte zu unzähligen Studien über „Struktur und Dynamik interpersonaler Distanzen und ihrer Variabilität in Abhängigkeit von differentiellen und Persönlichkeitsvariablen (Alter, Geschlecht, Rassen-, Kultur- und Schichtenzugehörigkeit, Intelligenz und Fähigkeiten, Motivationsstrukturen, physischen und psychischen Stigmata), von interpersonalen Faktoren (wie Sympathie, Attraktivität, Macht- und Statusbeziehungen, Gruppengröße und –kohäsion, Kooperation vs. Wettbewerb) und situativen Faktoren (räumlich-materielle Rahmenbedingungen, Möbel- und Sitzanordnung, formelle vs. informelle, öffentliche vs. private settings)“ (KRUSE 1980: 147). In dieser Arbeit sollen nun die Distanzzonen durch Zuordnung bestimmten sensomotorischen Kommunikationsverhaltens präziser definiert werden.

2.3.1 Funktionen des Personal Space

Nach Schultz-Gambard können dem persönlichen Raum zwei grundlegende Funktionen zugeordnet werden: Kontrolle und Kommunikation

a) Kontrolle:

Die Einhaltung gewisser Distanzen hilft bei der Kontrolle von unerwünschter Intimität, potentiellen und akuten Bedrohungen der psychischen und physischen Unversehrtheit und übermäßiger sensorischer Stimulation durch sensorische Reize und dadurch hervorgerufener dysfunktional starker Erregung. Das Individuum regelt in seinem persönlichen Raum das Ausmaß der sensorischen Stimulation, bewahrt sich Verhaltensspielraum und Handlungsfreiheit. Der persönliche Raum dient der Wahrung des Sicherheitsabstandes (Schutz vor physischer Bedrohung), regelt das Ausmaß der Intimität und das der sensorischen Stimulation. „Er dient damit der Bewahrung von Handlungsfreiheit, kognitiver Leistungsfähigkeit und persönlicher Sicherheit.“ (SCHULTZ-GAMBARD 1990: 326)

b) Kommunikation

„Durch die Wahl der Distanz bei einer sozialen Interaktion wird die erwartete Beziehungsqualität signalisiert, z.B. welches Ausmaß an Intimität gesucht oder ob der Interaktionspartner als eine potentielle Gefährdung der eigenen Sicherheit betrachtet wird“ (SCHULTZ-GAMBARD 1990: 326). Die Einnahme einer bestimmten (räumlichen) Distanz ist ein kommunikativer Akt und schafft die Grundlage für unterschiedliche Formen der Kommunikation (vgl. Kapitel 3.2.2.f).

2.3.2 Theoretische Konzepte

a) Gleichgewichtstheorie (Equilibrium Theory)

Argyle und Dean (1965) gehen von einem Gleichgewicht zwischen den vier Dimensionen Abstand, Intimität des diskutierten Themas, Häufigkeit und Intensität des Blickkontakts und des Lächelns aus, welches durch Anziehungs- und Vermeidungskräfte bestimmt wird, die die Vertrautheit zwischen Interaktionspartnern anzeigen. Wenn dieses Gleichgewicht gestört wird (durch z.B. einen zu geringen Abstand), kommt es laut der Gleichgewichtstheorie zu einem Ausgleichverhalten durch einen der anderen Faktoren (z.B. Verringerung oder Abbruch des Blickkontakts), um das Gleichgewicht zu halten und das Wohlbefinden zu garantieren. Modifizierte Versionen der Theorie besagen, dass kleine Abweichungen durchaus hingenommen werden, ohne sofortige kompensatorische Reaktionen. Ebenso keine Reaktionen folgen auf extremen Intimitätsschwankungen von hoher Intensität, da die Handlungsmöglichkeiten als nicht ausreichend empfunden werden, um die Situation zu verändern. Kompensatorisches Verhalten ist also nur bei relativ gesicherten und starken Beziehungen charakteristisch. Meist folgt nur auf plötzliche Abweichungen vom Gleichgewicht kompensatorisches Verhalten, auf graduelle Änderungen folgen reziproke Verhaltensweisen. (Vgl. SAUSENG 1996: 11f)

b) Attributionstheorie (Attribution Theory)

Sie stellt eine Weiterentwicklung der Gleichgewichtstheorie dar. „Die dieser Theorie zugrunde liegende zentrale Aussage ist, daß Veränderungen des interpersonellen Raumes unspezifische Erregung verursacht, welche – wenn sie stark genug ist – kognitiv bewertet wird, um spezifische Verhaltensreaktionen zu setzten.“ (SAUSENG 1996: 12) Fällt diese Bewertung positiv aus, kommt es zu reziproken Reaktionen (also wenn mir jemand sympathisch ist, darf er näher heran). Fällt die Bewertung negativ aus, kommt es zu kompensatorischem Verhalten. Kritik an der Theorie ist unter anderem, dass sie dazu neigt, in einem positiven Feedback-Loop stecken zu bleiben und nicht spezifiziert, was zu einer positiven oder negativen Beurteilung führt.

c) Erwartungstheorie

Burgoon und Jones (1976) entwickelten eine „Erwartungsverletzungsansicht“. Sie schlugen vor, dass „situationsbezogene Normen und Merkmale der sich nähernden Person einen bestimmten Abstand erwarten lassen. Erregung und Unbehagen resultieren aus einer Verletzung der erwarteten oder gewünschten Distanz.“ (SAUSENG 1996: 11) Ich erwarte von einem Arzt, dass er in Körperkontakt tritt. Von einem Wildfremden in einer dunklen Gasse erwarte ich es mir nicht. Da halte ich mehr Distanz. Dringt er trotzdem in eine zu nahe Distanzzone ein, bin ich alarmiert bzw. hoffentlich schon weit weg.

2.4 Personal Space nach HALL

Aufgrund der Beobachtung kultureller Unterschiede im interpersonalen Distanzverhalten entwickelte der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall 1966 in „The Hidden Dimension“ ein Modell des persönlichen Raums, unterteilt in vier Distanzzonen. Die unterschiedlichen Distanzzonen werden auch bei Hall durch kommunikative Aktionen und sensorische Erfassung dieser Kommunikationen definiert. Allerdings bleibt Hall eine genauere Exemplifizierung und Systematisierung, wie der Personal Space kommuniziert wird, schuldig. Sie soll in Kapitel 4 vorgenommen werden.

Hall legt dar, dass die menschliche Wahrnehmung von Raum und Distanz nicht statisch, sondern handlungsbezogen ist. In diesem Zusammenhang sollen auch die von Hall angegebenen Maßzahlen verstanden werden, die ich zur Veranschaulichung anführen werde. Die Distanzzonen verändern sich mit jeder Interaktion, passen sich den Umständen und Emotionen an. Wir setzten ständig die richtigen Maßnahmen, um Nähe oder Distanz einzuhalten. Distanzen können nur unter Anderem in Maßzahlen definiert werden, sie sind ein Aspekt, einer der sich aber ständig verändert und daher nicht besonders trennscharf ist. Es kann leicht aus einer sozialen Distanz eine öffentliche Distanz werden, in dem sich bei einer Gruppenzusammenarbeit ein Mitglied der Gruppe erhebt und einen Vortrag hält. Die räumliche Distanz in Zentimetern gemessen ist nicht wesentlich größer geworden, durch die unterschiedlichen Positionierungen (Stehen oder Sitzen) ist aber ein erheblicher Unterschied eingetreten, der die interpersonale Distanz vergrößert. Niemand wird dem Vortragenden nun ins Wort fallen, wie das zuvor bei der Gruppendiskussion möglich war. Die Aufmerksamkeit wird nur dem Sprecher entgegengebracht. Der Wechsel der Fernbedienung vom Sohn zum Vater beim allabendlichen in die Glotze-Starren verschiebt das Machtverhältnis und damit auch die Distanz zwischen den beiden. Eine räumliche Bewegung der Personen hat aber gar nicht stattgefunden. Nur die Macht ist gewandert. Die Veränderung, die Grenzüberschreitung in die andere Distanzzone, ist ein kommunikativer Akt und muss als solcher erkennbar sein. Und mit ihm die Grenze selbst. Diesem kommunikativen Akt ist diese Arbeit gewidmet.

Ich werde nun Halls (1966: 113-129) Unterteilung erläutern und versuchen die sensomotorischen Grenzen auszuloten. Hall unterteilt den persönlichen Raum in vier Distanzbereiche: Intime, Persönliche, Soziale und Öffentliche Distanz. Jede dieser Distanzen ist in eine entfernte und eine enge Zone unterteilt, wir haben also acht Kategorien in diesem Schema.

2.4.1 Intime Distanz

Die intime Distanz ist die sensibelste Distanzzone, da hier sowohl das Ausmaß der Bedrohungen als auch das der sensorischen Inputs am höchsten ist. Hier wird über alle Kommunikationskanäle, also durch taktile, visuelle, olfaktorische, auditive und auch gustatorische Reize kommuniziert. Reize werden in der intimen Zone aufgrund der Nähe zu den Sinnesorganen am intensivsten wahrgenommen, wodurch es auch zu Verzerrungen oder Überempfindlichkeiten kommen kann (so sieht zum Beispiel das Baby an der Brust der Mutter deren Nase als einen riesigen Erker mit zwei dunklen Löchern, das Parfüm des Sitznachbarn kann zu Übelkeit führen etc.).

a) Intime Distanz - Enge Zone

0 - 15 cm

Die enge Zone der intimen Distanz ist den zwei konträren Emotionen Liebe/Zuneigung und Aggression vorbehalten. Hier eindringen darf nur, wer entweder vorhat, mich zu kosen oder mich zu verletzen. Intimste Interaktionen wie zwischen Mutter und Kind oder einem Liebespaar finden hier statt. Taktile Kommunikation, also Körperkontakt, ist erlaubt und erwünscht. Auch bei einem Kampf, zum Beispiel einem Ringkampf, kommt man dem Anderen sehr nahe. Zu einem anderen Zweck zwar, aber auch hier werden Informationen übertragen. Der Geruchssinn kann Feinheiten des anderen Individuums empfangen, Schweiß- und Körpergeruch sprechen eine klare Sprache. Bei einem Kuss oder beim Gestillt-Werden kommen die Geschmacksnerven zum Einsatz und auch Mike Tyson weiß, wie das Ohr des Gegners schmeckt. Der visuelle Sinn ist nur sehr eingeschränkt einsetzbar und durch Sehwinkel und Nahpunkt begrenzt. Er wird aufgrund des Trommelfeuers an anderen sensorischen Inputs und der Eingeschränktheit durch die Leistungsfähigkeit der Augen fast nicht eingesetzt. Mimik, Gestik und Körpersprache können viel besser mit taktilen Reizen vermittelt und empfangen werden, anstatt – wie in den anderen Distanzzonen – visuell, denn auch thermale Reize werden erkannt, die Hautspannung kann gefühlt, der Druck angepasst werden. Das auditive System ist voll empfangsfähig, allerdings höchst sensibel. Sprachliche Kommunikation hat hier trotzdem nicht den Vorrang.

[...]


[1] Im deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs wird sowohl der englische als auch der deutsche Terminus verwendet. Aus Gründen der sprachlichen Abwechslung verwende ich in dieser Arbeit ebenso beide Ausdrücke.

Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Kommunikation des persönlichen Raums
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaften)
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
58
Katalognummer
V29839
ISBN (eBook)
9783638312615
Dateigröße
781 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Wir umgeben uns mit einem persönlichen Raum, den wir durch kommunikatives Verhalten definieren, erobern und verteidigen. Diesem uns umgebenden persönlichen Raum ist diese Bakk-Arbeit gewidmet.
Schlagworte
Kommunikation, Raums
Arbeit zitieren
Martin Haiden (Autor:in), 2004, Kommunikation des persönlichen Raums, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29839

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