Glück, Kunst und Lebensführung und der Sinn des Lebens als Themen in Tolstois Erzählung 'Luzern'

Philosophisch erläutert und orientiert an Moritz Schlicks Aufsatz 'Vom Sinn des Lebens'


Seminararbeit, 2002

18 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Inhaltsangabe der Erzählung „Luzern“

2. Der philosophische Dreh

3. Nach dem Sinn des Lebens fragen
3.1 Schopenhauer und der Sinn des Lebens
3.2 Jenseits der Zwecke - Nietzsche
3.3 Auf dem Wege zu Schiller
Schiller und das Spiel
Lebensführung im schillerschen Sinne?
Die Jugend

4. Schlusswort

Endnote

Literatur

1. Inhaltsangabe der Erzählung „Luzern“

Der Ich-Erzähler, erst seit knapp zwei Tagen in der altertümlichen Hauptstadt eines Schweizer Kantons namens Luzern, ist diesen Ortes schon fast überdrüssig. Die Ursache dessen ist vielschichtig, zum einen liegt sie in dem für die englischen Touristen und nach deren Geschmack neugebauten, steinernen, schnurgeraden Kai samt „prächtigen fünfstöckigen Häusern“ (Tolstoi: 5), der zusammen mit neugepflanzten Linden die Uferpromenade bildet und so gar nicht in die „eigenartig majestätische und zugleich unsagbar harmonisch und sanft wirkende Natur“ (Tolstoi: 6) hineinpasst, so dass der Protagonist sich erst mühe geben muss, sich so zu setzen, dass sein Blick nicht gestört wird. Zum anderen liegt es wohl an der feinen Gesellschaft bei Tische, die – es sind ja auch Engländer – nicht das Bedürfnis nach Annäherung empfindet, sich selbst genügt und „durch eine strenge, von den Anstandsregeln vorgeschriebenen Zurückhaltung“ (Tolstoi: 7) auszeichnet und somit in vollstem Kontrast zu der ihm so sympathischen Pariser Gesellschaft steht, die vor Heiterkeit, Geselligkeit und Zwischenmenschlichkeit fast aus den Nähten platzt.

Der Ich-Erzähler preist den sozialen Umgang von Mensch zu Mensch als „einen der höchsten Genüsse des Lebens“ (Tolstoi: 9), um diesen bringt ihn die feine Gesellschaft in Luzern und so verlässt er schweren Herzens „in denkbar schlechter Stimmung“ noch vor Beendigung des Desserts den Speisesaal und schlendert in der Hoffnung auf Zerstreuung durch die Stadt. (Tolstoi: 10) Er läuft durch die engen, schmutzigen Straßen, bemerkt die Läden, die gerade schließen, begegnet betrunkenen Arbeitern, beobachtet Frauen, die gerade Wasser holen und andere Frauen, die, „sich dauernd umblickend, in koketten Hütchen“, an den Mauern entlang durch die Stadt huschen; all dies verstärkt seinen Missmut nur noch, er fühlt sich „vereinsamt und bedrückt, wie es mitunter ohne jeden ersichtlichen Grund geschieht, wenn man an einem neuen Ort angekommen ist“. (Tolstoi: 10)

In dieser Stimmung vernimmt er unerwartet und plötzlich die Klänge einer wunderbaren Musik, sie ist Balsam für seine geschundene Seele, zieht ihn magisch an und stimmt ihn froh. Sofort wendet er seine Aufmerksamkeit erneut der Umgebung zu und findet „wie eine neue, beglückende Offenbarung“ die Schönheit in der Natur wieder, erst jetzt bemerkt er den malerischen Himmel, das „herübertönende Quaken der Frösche und das taufrische Schlagen von Wachteln am jenseitigen Ufer“, ja sogar die im Garten stehenden Pappeln erscheinen ihm in einem Anflug von Verklärung, als wollten sie sich mit ihren schlanken schwarzen Silhouetten vor dem in graue und blaue Farbstreifen zerrissenen Himmel mit den beiden spitzen Türmen der Kirche messen. (Tolstoi: 11) Derart sinnbeseelt nähert er sich der Quelle der Musik, es ist ein kleiner Mann, ein wandernder Tiroler, der von Zuhörern im Halbkreis umringt ist und sich singend und auf der Gitarre klimpernd seinen Lebensunterhalt verdient. An diesem Abend jedoch ist nicht einer der zahlreichen Gäste – unter ihnen Damen in großer

Toilette und Herren in makellos weißen Kragen – abgesehen vom Protagonisten selbst dazu bereit, auch nur eine Münze in die hingehaltene Mütze des Musikers zu werfen, obwohl er ihnen unzweifelhaft eine große Vorstellung gab und, wie er selbst sagt, weiter kein Einkommen hat und gerne Wein trinkt. (Tolstoi: 12) Statt dessen lachen sie ihn aus. Enttäuscht und scheinbar noch kleiner geworden, als er ohnehin schon ist, zieht der Musiker von dannen, wird aber von dem Ich-Erzähler, der völlig fassungslos ob der geringen Wertschätzung seitens des Publikums und allgemein über deren Snobismus ist, eingeholt und zum Weintrinken eingeladen, und zwar just in den Schweizerhof, also in das Etablissement, vor dessen Balkonen der eine gesungen hatte und in dem der andere seine Unterkunft hat. Dort werden sie widerwillig in den linken Saal, der für das einfache Volk bestimmt ist, eingelassen und respektlos bedient, denn der Sänger entspricht mit seinem äußeren nicht dem Standart. Ihm ist auch das Ganze etwas peinlich, und nach der Unart befragt, die es sei, ihm so gar nichts für seine Musik zu geben, gibt er an, das dies nicht die Hauptsache ist, er sei schon froh, wenn man ihn nicht einsperrt, was nach den republikanischen Gesetzen möglich wäre und ihm auch schon passiert ist. Obwohl sich ein reges Gespräch entwickelt, kann der Ich-Erzähler dennoch nicht anders, als die kleinen Provokationen der Bediensteten zu bemerken, die darin gipfeln, dass sich der Portier, ohne den Hut abzunehmen, zur allgemeinen Belustigung der Kellner neben ihn setzt und die Ellbogen auflehnt. Dieses respektlose Verhalten bringt ihn vollends in Rage, nacheinander serviert er den Kellner und den Portier ab, hält ihnen vor, den Sänger nur auf Grund seiner niedrigeren sozialen Stellung ungleich zu behandeln und erwirkt beim Oberkellner eine Umsetzung in den Saal der Aristokraten. Er hofft auf die Intervention eines englischen Paares, auf Grund derer sie des Saales verwiesen werden würden, um ihnen bei dieser Gelegenheit alle ihre Schlechtigkeiten vorzuwerfen, darunter auch, dass der Sänger um das Geld geprellt worden ist, das ihm eigentlich von jedem Zuhörer zugestanden hätte. Doch dazu kommt es nicht, der Sänger verabschiedet sich hastig unter dem triumphierenden Grinsen der Kellner, der Protagonist bleibt allein zurück.

Trost findet er erst nach einer langen Tirade der Selbstzweifel, der Fragen und Antworten nach dem Warum hinter dem Wie des ausklingenden Abends, als er erneut, diesmal aus der Ferne, die Musik hört und erkennt, das er kein Recht hat, den Sänger zu bedauern und sich über die feine Gesellschaft zu entrüsten, denn wer kann schon das Glück abwägen zwischen den Beiden außer derjenige, der alle diese Gegensätze duldet und auf dessen Gebot sie entstanden sind? Nur dem zweifelnden „der sich vermessen anheischig macht, seine Gesetze und Absichten zu durchdringen“ erscheinen diese Gegensätze widerspruchsvoll. (Tolstoi: 34)

So erkennt er, dass auch er sich den allgültigen Gesetzen nicht entziehen kann, sondern mit seinem Ärger selbst „dem harmonischen Gefüge des Ewigen und Unendlichen entsprochen hat“. (Tolstoi: 34) So findet er seine eigene Harmonie, sein eigenes Glück.

2. Der philosophische Dreh

Inwiefern sind Glück, Kunst und Lebensführung in „Luzern“ philosophisch zu betrachten?

Der Leser der Geschichte ist geneigt, die reichen Aristokraten für blind, in einer kuriosen Weise als zu dumm zum wahrhaft glücklich sein zu halten, wie er auf der anderen Seite dem Sänger aber ebenfalls nur ein bescheidenes Quantum an Glück beizumessen bereit ist.

Die hohe Gesellschaft, gefangen in der Welt ihres sozialen Status und seinen Schranken, Normen und Regeln, hängt am Geld als wäre es das höchste Gut, sie werden sagen: „Doch was lässt sich tun, wenn das menschliche Leben nun einmal so eingerichtet ist, daß Geld allein das Glück des Lebens ausmacht?“ und sind nicht bereit, einzusehen, was sie brauchen. (Tolstoi: 28) Wie kläglich ihr Verstand, wie kläglich auch ihr Glück, ja was für unglückliche Geschöpfe, so stöhnt das Lyrische Ich, die nicht wissen, warum sie am Abend andächtig an den Balkonen lauschten, was sie ja beileibe nicht wegen des Geldes taten, sondern aus Verzückung über die unerhörte Kunst, die sich ihnen darbot. Diese dann aber nicht zu bezahlen, heißt sie mit Füßen treten und nicht achten, ja in ganzer Radikalität gedacht entziehen sie ihm seine Lebensgrundlage und sich den Genuss seiner Lieder, der Kunst.

Im Kontrast dazu stellt man sich die Person des Sängers anfangs als einen mittellosen, bettelnden, herumziehenden, kurzum bedauernswerten, wenn auch im höchsten Grade begnadeten, im ganzen aber bedauernswerten brotlosen Künstler vor. Wenn er, falls überhaupt in seiner misslichen Lage ohne Dach über dem Kopf und geregeltes Einkommen, Glück empfindet, dann nur im Augenblick des Singens, im Rauschzustande der Kunst, wenn er in seinen Improvisationen zu vergessen scheint, warum er eigentlich singt. Ihn als so richtig glücklich zu bezeichnen, fällt zumindest bis zu einer näheren Bekanntschaft mit ihm im Verlaufe der Geschichte einigermaßen schwer.

Beiden Parteien scheint etwas zu fehlen, was durch den Ich-Erzähler als Bindeglied an den Leser herangetragen wird. Er steht vor der Suche nach dem Glück und weiß nicht, wem es zuzuschlagen sei: dem armen, bedürftigen Künstler oder den reichen, verblendeten Aristokraten. Aus dieser Pattsituation ergibt sich unmittelbar die Frage, wie denn ein Leben nun recht zu führen sei, an welchen Prinzipien man sich den Baum des Lebens entlang hangeln kann, um einmal in dessen Krone sitzend den weiten Blick eines weisen, glücklichen Menschen schweifen lassen zu können, ohne im niedrigen Geäst hängen zu bleiben und abzustürzen, mithin also auch die Frage nach dem Sinn des Lebens, einem Ziel, einem Zweck.

Erst mit der Katharsis des Protagonisten am Ende erkennt auch der Leser, in welchem vermeintlichen Sturm auch er nur eine Böe war und versöhnt sich mit den Ungerechtigkeiten beider Welten, indem er sich philosophisch den Themen Glück, Kunst und Lebensführung, mithin also der Frage nach dem Sinn des Lebens, widmet.

3. Nach dem Sinn des Lebens fragen

Wer fragt eigentlich nach dem Sinn des Lebens? Weder der Sänger, noch die Aristokraten scheinen danach zu fragen, der eine fragt noch nicht, er hat die Seele eines Kindes, die anderen fragen vielleicht schon nicht mehr, sie haben es im Wohlstand verlernt. Allein das Lyrische Ich als der Beobachter und Vermittler beider Welten berührt diese Frage aus seiner Sinnkrise heraus, er kann nicht ohne weiteres zurück in den Zustand des Kindes, will nicht hin zum Nicht-Mehr-Fragen. Doch was heißt es, den Sinn zu suchen?

Nun kann man argumentieren, er liege in der Erreichung eines Zieles. Für den Fall, das man es nicht erreicht, scheint die Sinnlosigkeit auf der Hand zu liegen, erreicht man doch nicht den Wunschzustand, unter dessen Prämisse das Leben einen Sinn hätte. Erreicht man jedoch ein Ziel, so ist man geneigt, das Erreichte für nicht so wertvoll zu halten, wie es schien, man meint „irgendwie einer Täuschung zum Opfer“ gefallen zu sein und es bemächtigt sich des zweifelnden Subjektes „der Gedanke, dass alles nicht nur vergeht, sondern auch im Grunde alles vergeblich ist“. (Schlick: 309)

Aus diesem philosophischen Dilemma herauszukommen ist nicht einfach, scheint doch das Leben nunmehr aus einer Abfolge von Zielen zu bestehen, die zwar im Prozess der Erreichung ihrer selbst den Menschen mit Hoffnung beflügeln, jedoch schon im Keim die böse Anlage der Unlust an dem später befriedigten Verlangen in sich tragen. Daraus erwächst folgende Schopenhauersche Erkenntnis: „Das Dasein scheint ein rastloses Hin- und Herpendeln zwischen Schmerz und Langeweile sein zu müssen, das schließlich im Nichts des Todes endet“. (Schlick: 309/310) Diese Philosophie scheint näherer Betrachtung würdig.

[...]

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Glück, Kunst und Lebensführung und der Sinn des Lebens als Themen in Tolstois Erzählung 'Luzern'
Untertitel
Philosophisch erläutert und orientiert an Moritz Schlicks Aufsatz 'Vom Sinn des Lebens'
Hochschule
Universität Leipzig
Veranstaltung
Proseminar „Philosophische Geschichten“
Note
gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
18
Katalognummer
V29772
ISBN (eBook)
9783638312080
ISBN (Buch)
9783638748513
Dateigröße
512 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Glück, Kunst, Lebensführung, Sinn, Lebens, Themen, Tolstois, Erzählung, Luzern, Proseminar, Geschichten“
Arbeit zitieren
Martin Arndt (Autor:in), 2002, Glück, Kunst und Lebensführung und der Sinn des Lebens als Themen in Tolstois Erzählung 'Luzern' , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29772

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