Paarbeziehungen im intergenerationellen Vergleich - Verhandeln als Folge der Individualisierung


Diplomarbeit, 2004

113 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

Forschungsfrage und Gliederung

1 Theoretische Grundlagen
1.1 Skizzierung des BECK’schen Individualisierungstheorems
1.1.1 Die vorindustrielle eheliche Gemeinschaft
1.1.2 Die erste Hälfte der Ersten Moderne
1.1.3 Die Anfänge des Systems sozialer Sicherung
1.1.4 Die Anfänge der Freisetzung der Frau
1.1.5 Individualisierungserscheinungen in der Postmoderne
1.2 Sozialisation & Gesellschaft
1.2.1 sozialisationstheoretischer Ansatz von HURRELMAN
1.2.2 geschichtlicher Exkurs
1.2.2.1 Weimarer Republik und Herrschaft der Nationalsozialisten
1.2.2.2 Kriegs- und Nachkriegszeit
1.2.2.3 DDR
1.3 Begriffsklärung
1.3.1 Generation
1.3.2 Verhandeln
1.3.3 Zweierbeziehung

2 Ansätze der Forschung
2.1 ULRICH BECK und ELISABETH BECK-GERNSHEIM
2.2 GUNTER SCHMIDT
2.3 KARL LENZ
2.4 YVES COCARD
2.5 ROGER FISHER und WILLIAM URY
2.6 MATTHIAS SCHRANNER

3 Formulierung der Annahmen
3.1 Annahme 1
3.2 Annahme 2
3.3 Annahme 3

4 Empirische Grundlagen und Auswertung
4.1 Methodik
4.1.1 Merkmale Qualitativer Sozialforschung
4.1.1.1 Offenheit und Exploration
4.1.1.2 Kommunikation und Naturalistizität
4.1.1.3 Prozesshaftigkeit
4.1.1.4 Reflexivität
4.1.1.5 Explikation
4.1.1.6 Flexibilität
4.1.2 Das Qualitative Interview
4.1.2.1 Das Problemzentrierte Interview
4.1.2.1.1 Merkmale des Problemzentrierten Interviews
4.1.2.1.2 Die Fünf Phasen des Problemzentrierten Interviews
4.1.2.1.3 Der Leitfaden
4.1.3 Durchführung und Beschreibung der Interviews
4.1.4 Die Befragten: Auswahl und Charakteristika
4.1.5 Methodische Vorgehensweise der Auswertung
4.2 Auswertung
4.2.1 Die Interviews im allgemeinen Vergleich der Generationen
4.2.1.1 Die Großelterngeneration
4.2.1.2 Die Elterngeneration
4.2.1.3 Die Kindergeneration
4.2.1.4 Zusammenführung der Generationen
4.2.2 Datenauswertung mit speziellem Bezug auf die Annahmen
4.2.2.1 Vorbemerkung
4.2.2.2 Bedeutung der Kompetenz Verhandeln
4.2.2.3 Produktion von Gemeinsamkeiten
4.2.2.4 Abänderung der traditionellen Arbeitsteilung
4.2.3 Zusammenfassung der Ergebnisse

5 Ansätze zur weiteren Bearbeitung

Literaturverzeichnis

Selbständigkeitserklärung

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Pluralisierung der Lebensformen

Abbildung 2: Strukturmodell familialer Sozialisations- bedingungen

Abbildung 3: Frauenanteil in Bildung, Beruf, Politik

Abbildung 4: Formen des Qualitativen Interviews

Abbildung 5: Leitfaden

Abbildung 6: Generation – Großeltern

Abbildung 7: Generation – Eltern

Abbildung 8: Generation – Kinder

Einleitung

Die vorliegende Arbeit gewährt einen Einblick in Paarbeziehungen dreier verschiedener Generationen. Sie untersucht den Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer Generation und dem Verhalten des Individuums innerhalb der eigenen Paarbeziehung. Besonderes Augenmerk richtet sich diesbezüglich auf die Kompetenz Verhandeln.

Kommunikation, in deren Rahmen sich Verhandeln vollzieht, ist ein zentrales Element jeder zwischenmenschlichen Beziehung.

In der Literatur gibt es eine beträchtliche Anzahl von Ratgebern die Paarbeziehung betreffend. Kommunikation und im Speziellen die Kompetenz Verhandeln wird im Zusammenhang mit der Paarbeziehung weniger beleuchtet. Verhandeln ist ein Begriff, der meist dem politischen Geschehen zugeordnet wird. Verhandeln und Verhandlungen werden oft in einem Atemzug mit Beendigung eines Streiks, Streit um mehr Lohn oder einer Heraufsetzung der Arbeitsstunden pro Woche benannt.

Bei SCHMIDT und BECK lassen sich jedoch Ansätze der Zusammenführung beider Begrifflichkeiten entdecken. Folgt man den Ausführungen der Autoren, kann man daraus schließen, dass Verhandeln infolge des Prozesses der Individualisierung eine immer größere Bedeutung innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen erlangt.

Aus den hier aufgeführten Voraussetzungen lässt sich die Notwendigkeit der Bearbeitung dieser Thematik ableiten. Dementsprechend bezieht sich die folgende Arbeit auf die nähere Untersuchung der Bedeutung der Kompetenz Verhandeln innerhalb von heterosexuellen Paarbeziehungen. Um die Veränderung des Verhaltens bezüglich der Partnerschaften deutlich hervortreten zu lassen, basiert die vorliegende Kleinstudie auf einem Vergleich der Generationen.

Forschungsfrage und Gliederung

Die dieser Arbeit zugrunde liegende Forschungsfrage lautet:

Gibt es generationenbedingte Unterschiede innerhalb der Paarbeziehungen Bezug nehmend auf die Kompetenz Verhandeln infolge des Prozesses der Individualisierung?

Um dieser Frage nachzugehen, ist es unumgänglich, einen Überblick über die theoretischen Grundlagen, auf die sich die Forschungsfrage stützt, zu schaffen. Diese Forderung wird im gleichnamigen ersten Teil der Arbeit erfüllt. Neben der Herleitung des Theorems der Individualisierung im ersten Kapitel dieses Teils erfolgt im zweiten Kapitel ein geschichtlicher Exkurs zum besseren Verständnis des sozialen Rahmengefüges, in dem die einzelnen Generationen aufwuchsen. Das dritte Kapitel umfasst eine Erläuterung des HURRELMANN’schen Sozialisationsansatzes. Beschlossen wird dieser Teil durch die Definition einiger wichtiger, dieser Arbeit zugrunde liegender, Begriffe.

Der zweite Teil gibt einen Überblick über den aktuellen, in der Literatur vorgefundenen, Forschungsstand die Thematik dieser Untersuchung betreffend.

Teil drei besteht aus der Postulierung der Annahmen, welche sich aus den theoretischen Grundlagen ableiten.

Der vierte Teil umfasst die Empirie, auf der diese Arbeit basiert. Das erste Kapitel dieses Teils gibt Aufschluss über die gewählte Methodik, schildert die Vorgehensweise der Erhebung und charakterisiert die Befragten. Präsentation und Interpretation der Untersuchungsergebnisse erfolgen im zweiten Kapitel, welches sich in eine allgemeine und eine spezielle Auswertung unterteilt. Die im dritten Teil vorgestellten Annahmen finden Eingang in die Auswertung mit speziellem Bezug.

Mit Hinweisen zur weiteren Bearbeitung schließt die vorliegende Arbeit.

1 Theoretische Grundlagen

1.1 Skizzierung des
BECK’schen Individualisierungstheorems

BECKs Theorem der Individualisierung bezieht sich auf die Entwicklungen der Gesellschaft der ehemaligen BRD. Das theoretische Konzept beinhaltet sowohl makrosoziologische, wie auch mikrosoziologische Ansätze. Die folgende Abhandlung und die darauf aufbauende Arbeit beziehen sich vorrangig auf die mikrosoziologische Ebene, die sich auf die Betrachtung der einzelnen Akteure beschränkt.

Als eine in die Thematik einführende Definition kann man Individualisierung als den Zusammenhang von drei Prozessen charakterisieren, welche in postmodernen Gesellschaften stattfinden. Zum einen ist es die Auflösung traditioneller Lebensformen. Zum Zweiten sind es die neu entstehenden Biografien, die daraus resultieren. Und als dritten Prozess kann man die gesellschaftlichen und individuellen Bedeutungen benennen, die aus den ersten beiden Prozessen hervorgehen. (BECK & BECK-GERNSHEIM 1994: Einband)

BECK bezieht sich in seiner theoretischen Konzeption auf die Unterscheidung von Erster und Zweiter Moderne. Die Erste umfasst den Zeitraum vom Beginn der industriellen Revolution bis in die Fünfziger, Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Zweite Moderne, auch Postmoderne genannt, schließt sich an die Erste an und ist noch nicht abgeschlossen. Mit Beginn der Postmoderne setzte der noch nicht beendete Prozess der Individualisierung ein. Von diesem Prozess sind mehr und mehr Subjekte der Postmoderne betroffen. Individualisierung findet nahezu in allen Sphären der Gesellschaft statt. Egal ob Kind, Erwachsener oder Greis, jeder kann und muss sich in immer mehr Angelegenheiten seines Lebens selbst einbringen und selbst entscheiden. Sicherheiten und altgediente Traditionen verlieren zunehmend ihre Gültigkeit und bieten somit immer weniger Orientierung. Welchen Job möchte ich ergreifen, welchen Bildungsweg durchlaufen, wie viele Kinder will ich haben, wann und mit wem?

Exemplarisch hierfür ist die Frage eines kleinen Jungen: „„Vati, muss ich schon wieder spielen, was ich will?“. (All dies) kennzeichnet (…) das unausweichliche Dilemma und die ambivalente Zumutung potentieller Selbstentscheidung.“(RAUSCHENBACH in ebenda: S.102)

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine zeitlich chronologische Darstellung wichtiger Ereignisse der Ersten Moderne aufzuzeigen, um die Vorbedingungen der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse einhergehend mit dem Prozess der zu beleuchtenden Individualisierung darzustellen. Anschließend folgt, zur Veranschaulichung des Begriffes der Individualisierung, eine Skizzierung sozialer Phänomene der Postmoderne.

1.1.1 Die vorindustrielle eheliche Gemeinschaft

Die vormoderne Gesellschaft setzte sich überwiegend aus Bauern und Handwerkern zusammen. Frau und Mann gingen keine Ehe im heutigen Sinne einer Liebesheirat ein, vielmehr bildeten sie eine Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft, die so genannte Produktionsfamilie. Die Familie produzierte die Güter, welche sie zum Leben benötigte, vorwiegend selbst. Allein war es schwer für einen Mann oder eine Frau abseits einer Ehe zu existieren, denn es gab neben der „familialen Gesamtarbeit keine Nahrungs- und Erwerbsmöglichkeiten“[1]. (ebenda: S.23) Gründe für die Heirat waren existentieller Natur. Für den Familienbetrieb wurden neue Arbeitskräfte benötigt. Dies spiegelt die Funktion der Familie als Reproduktionsstätte wider. Aus ökonomischen Gründen wurden viele Kinder geboren, die als Erben, Arbeitskräfte und zur Alterssicherung dienten. Kinder hatten keine Sonderstellung im System vorindustrieller Produktionsfamilien. Sie wurden behandelt wie kleine Erwachsene und waren ebenso an der alltäglichen Arbeit beteiligt wie alle anderen. Das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern war weniger von Gefühlen geleitet. Es wurde von den Anforderungen der Familienwirtschaft bestimmt. (BECK-GERNSHEIM 1989: S.16 ff) Kindererziehung im heutigen Sinn gab es nicht.

Die Betreuung wurde von den jeweils zur Verfügung stehenden Familienmitgliedern übernommen: Geschwister, Großeltern oder andere Verwandte.

Das oberste Ziel vorindustrieller Eheschließungen war somit, wie auch BECK-GERNSHEIM es beschreibt: „die tägliche Existenzsicherung und der Erhalt der Generationenabfolge.“ (ebenda: S.15) Für Gefühle oder Neigungen blieb bei der Wahl der Ehefrau oder des Ehemannes kaum Platz. Auch war die Partnerwahl keine Entscheidung, die der oder die Betroffene hätte allein fällen können. Es war die Entscheidung des Familienclans, der gesamten Verwandtschaft. Schließlich war die Ehe ein ökonomisches Unterfangen, von deren Gelingen oder Misslingen mehr Menschen als nur die Ehepartner selbst betroffen waren. Hierbei waren die existentiellen Zwänge bedeutsamer, als die emotionalen Befindlichkeiten des Paares. Die frisch Vermählten mussten im familiären Wirtschaftssystem funktionieren. Dies wurde vor der Hochzeit zwischen beiden Familien sichergestellt.

Die ganze Familie, sie vereinte oft mehrere Generationen, lebte unter einem Dach und bewirtschaftete den gemeinsamen Hof. Arbeit und Familie gehörten untrennbar zusammen. Jedes Mitglied der Familie hatte seinen Platz und seine Aufgaben, die zu erfüllen waren. Alle Mitglieder der Familie arbeiteten nicht für sich selbst, sondern ihr Tun war dem großen Ziel ihrer Existenzsicherung unterstellt. Es war eine eng verbundene Gemeinschaft, die wenig Raum für Privates bot. Die vorindustrielle Familie entsprach eher einer Notgemeinschaft, zusammengehalten durch zwanghafte Solidarität. Jedoch gaben die Gemeinschaft des Dorfes und der Familie, der fest vorgeschriebene Alltag und die somit vorgegebene Biografie, dem Einzelnen in der Gemeinschaft Sicherheit und Geborgenheit. Die Werte und Normen der Dorfgemeinschaft konnten übernommen werden und boten Orientierung in Sachen des Alltäglichen, in Interaktion mit anderen und allen weiteren wichtigen Dingen. (STIEHL 2001: S.38 ff)

1.1.2 Die erste Hälfte der Ersten Moderne

Mit dem Beginn der industriellen Revolution[2] setzte eine Landflucht ein, im Zuge derer die Familie ihre Produktionsaufgabe verlor, d.h. die Familie wurde von ihrer Aufgabe als Wirtschafts- und Arbeitsgemeinschaft entbunden. Die Bauern wurden von ihrem Land, welches sie ernährte, freigesetzt und mussten sich nach Arbeit in Fabriken umsehen. Arbeits- und Wohnstätte wurden erstmals getrennt. Es entstand die bürgerliche Familie und somit auch die traditionelle Ehe. Alte Beschränkungen wurden abgebaut, neue Freiräume und Handlungschancen entstanden.

Dies galt vorrangig für Männer, die nun zum Ernährer der Familie wurden. Der Mann konnte und musste sich einen Beruf wählen. Die Frau blieb zu Hause. Sie wurde auf ein „Dasein für andere“ verwiesen. (BECK-GERNSHEIM 1989: S.19 ff) Die Frau war zuständig für Haushalt und Kinder, während er einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachging. Folglich kam eine neue Art der Abhängigkeiten der Ehepartner zustande. Die Frau wurde abhängig vom Geld ihres Mannes, dieser wiederum brauchte sie zur Haushaltsführung, Kinderaufzucht und Versorgung, um funktionsfähig und leistungsbereit zu sein.

Der Familienzusammenhalt blieb durch die permanente Unterdrückung der Rechte der Frau gewahrt, während sich der Mann individuell beruflich entfalten konnte. Bildungschancen und alle staatlichen Regelungen waren auf den Mann zugeschnitten. Die Frau wurde seiner “eheherrliche(n) Vormundschaft“[3] (ebenda: S.25) unterstellt. Sie hatte kein Wahlrecht, kein Anrecht auf Bildung, war da, um dem Mann zu gefallen und ihm zu gehorchen. Betrachtet wurde sie nicht als eigenständiges Individuum, sondern als Teil der Familie, vorzugsweise eingebunden in eine Ehe. In der Literatur wird dies häufig als „halbierte Moderne“ (BECK & BECK-GERNSHEIM 1994: S.121; BECK 1986: S.179) bezeichnet.

Trotz der gesellschaftlichen Veränderungen blieb der Zwang zur Gemeinschaft bestehen. (BECK & BECK-GERNSHEIM 1994: S.120 ff) Die traditionelle Ehe, auch Hausfrauenehe genannt, war Teil und Basis der neuen Industriegesellschaft. Der Mann stellte sich dem Konkurrenzkampf des Arbeitsmarktes und die Frau bescherte ihm zu Hause einen Hort der Geborgenheit. Sie sorgt sich um die physischen und psychischen Grundbedürfnisse aller Familienmitglieder. Das ist die Normalbiografie der Frau, der traditionelle Aufgabenbereich der Hausfrau und Mutter. (BECK-GERNSHEIM 1987: S.48 ff) Sie scheint wie ein traditionelles Relikt vergangener Zeiten. Bei genauerer Betrachtung wird erkennbar, dass diese Aufgaben samt Verteilung erst im Zuge der Industrialisierung entstanden sind. (BECK-GERNSHEIM 1989: S.26) In der vorindustriellen Familie gab es keine festen Zuständigkeiten. Mann und Frau verrichteten gleichermaßen alle Arbeiten, die das Überleben sicherten.[4] Die heute als traditionell bezeichneten Geschlechterrollen samt ihren Zuweisungen, haben somit ihren Ursprung im Zeitalter der industriellen Revolution.

1.1.3 Die Anfänge des Systems sozialer Sicherung

Als eine weitere Bedingung der Entwicklung hin zur Postmoderne, kann man den Aufbau des Netzes sozialstaatlicher Sicherung bezeichnen.

In den Achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwarf Bismarck das Sozialversicherungsprogramm. Es diente der Absicherung des Einzelnen gegen die neu entstandenen Risiken. Das Programm enthielt u.a. Renten-, Kranken- und Unfallversicherung. Ziel war eine Grundsicherung der Industriearbeiter abseits des Arbeitsmarktes, u.a. bei vorzeitigem Verlust ihrer Arbeitskraft oder im Ruhestand. Dies ermöglichte dem einzelnen Versicherten mehr Unabhängigkeit von der Familie. Im Falle eines Ausfalls vom Arbeitsmarkt war er auf diese nicht mehr angewiesen. Er erhielt, wenn auch anfangs nur in geringem Maße, Geld von der Versicherung, welches sein Überleben sicherstellte. Es folgte ein schrittweiser Ausbau sozialpolitischer Maßnahmen in den kommenden Jahrzehnten mit dem Ziel, die aufkommende soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen.

In Summe förderten diese sozialstaatlichen Regelungen die Eigenständigkeit des Einzelnen und ermöglichten ihm eine Loslösung von den familiären Bindungen, die bis heute anhält. Besonders anschaulich wird dieser Zusammenhang im folgenden Zitat von K.U. MAYER und W. MÜLLER, welches die Auswirkungen in der Postmoderne thematisiert, dargestellt. „Insoweit der Staat Individuen zu Empfängern seiner Gaben macht und nicht die Familien, zu denen sie gehören, wird es wahrscheinlicher, dass Jugendliche mit Ausbildungsbeihilfen ihre Familien verlassen, dass größere Haushalte mehrerer Generationen sich aufspalten, dass erwerbstätige Verheiratete sich scheiden lassen. Indem der Staat ökonomische Restriktionen mindert, erhöht er individuelle Handlungschancen und individuelle Mobilität.“ (BECK & BECK-GERNSHEIM 1994: S.122)

1.1.4 Die Anfänge der Freisetzung der Frau

Wie im Kapitel 1.1.2 beschrieben, waren Frauen im ausgehenden Neunzehnten und beginnenden Zwanzigsten Jahrhundert überwiegend auf den Haushalt, ihre Kinder und den Mann beschränkt. Natürlich gab es auch hier Ausnahmen. Haushalte, in denen beispielsweise der Verdienst des Mannes das Überleben der Familie nicht sichern konnte. Diese Familien waren meist den mittleren und unteren Schichten der Gesellschaft zugehörig. Dort ging auch die Frau einer Erwerbstätigkeit nach, die meist gering entlohnt wurde und keiner besonderen Qualifikation bedurfte. Charakteristisch für diese Zeit ist die Tatsache, dass Bildung für Frauen nur in einem geringen Umfang und schichtbezogen erfolgte. Für besser situierte Familien gehörte es zum guten Ton, ihre Töchter in eine gehobene Schule für Mädchen zu schicken. Dabei lag der Bildungsschwerpunkt auf schöngeistigen Inhalten. Ziel war die Vorbereitung auf ihre Rolle als Ehefrau. Einen Beruf durfte eine Frau nur mit Zustimmung ihres Mannes ergreifen.

1917 wurde erstmals das aktive Frauenwahlrecht in Deutschland erlassen. Frauen waren bis dato von Politik und Bildung ausgeschlossen. Erst 1920 wurde die allgemeine Schulpflicht von vier Jahren für alle Kinder, Jungen wie Mädchen, eingeführt. (vgl. Internet Nr.16) Von diesem Zeitpunkt an war es auch den Mädchen erlaubt Jungenschulen zu besuchen.

Bis in die Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts schritt der Prozess der weiblichen (Bildungs-)Emanzipation nur langsam voran und war von Rückschlägen gekennzeichnet. Fortschritte waren z. B. das neue Frauenbild der Weimarer Republik[5]. Als Rückschlag ist aus heutiger Sicht die nationalsozialistische Familienpolitik zu nennen, deren erklärtes Ziel es war, die Frau wieder zurück zu Heim und Herd zu bringen, zur Reproduktion der arischen Rasse. Es wurden Anreize, wie z. B. das Mutterverdienstkreuz, für Frauen geschaffen zu Hause zu bleiben und möglichst viele Kinder zu gebären.

Erst mit dem Einsetzen der Bildungsexpansion in den Sechziger Jahren fand ein neuerlicher Schub der Gleichstellung der Geschlechter statt. Zugangschancen zu Bildung waren nicht mehr geschlechtsspezifisch. Für Frauen eröffneten sich damit völlig neue Möglichkeiten der Gestaltung der eigenen Biografie. Die Hausfrauenehe war nun nicht mehr Endziel eines jeden Mädchens, die Ergreifung und erfolgreiche Ausübung eines Berufes keine Illusion mehr. Die bis dato augenscheinliche Abhängigkeit einer Hausfrau von ihrem Ehemann konnte von der aufstrebenden Generation durch eine fundierte Ausbildung und anschließende Ausübung eines Berufes umgangen werden. (MALKE 2003: S.24 ff)

Ein weiterer Fakt, der die Loslösung der Frau von Heim und Herd vorantrieb, war die unkompliziert und möglich gewordene Geburtenkontrolle durch die Einführung der Pille in den Siebzigern. Kinder waren planbar. So erhielt die Frau mehr Entscheidungsspielräume für die Gestaltung ihres Lebens.

1.1.5 Individualisierungserscheinungen in der Postmoderne

In der heutigen Postmoderne findet man viele Beispiele für die Folgen der oben skizzierten gesellschaftlichen Veränderungen.

Zum einen kann man die Freisetzung der Individuen aus ihren anerzogenen und verinnerlichten Geschlechtsrollen erkennen. Eine Frau ist heutzutage aufgrund ihrer biologischen Identität nicht mehr nur auf ein Hausfrauen- und Mutterdasein beschränkt. Sie kann und muss ihre Rolle selbst erfinden, definieren.

Oftmals befindet sie sich in dem u.a. von MALKE dargelegten Widerspruch von “Kochtopf & Karriere“. Sie muss ihren Weg zwischen Familie und beruflicher Verwirklichung suchend finden.

Jedoch werden ihrer “Kreativität“ Grenzen durch einen gesellschaftlich-institutionellen Rahmen gesetzt.[6] Sie ist nicht mehr abhängig von einem Mann oder ihrer Herkunftsfamilie. Sie ist, um ihre neu erworbene Selbständigkeit zu erhalten, im Zuge der Individualisierung abhängig vom Arbeitsmarkt geworden. Jedoch besteht nicht nur eine Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt. Der oben beschriebene Rahmen stellt Grenze und Abhängigkeit in einem dar.[7]

Ähnliche Folgen sind für die Biografie des Mannes erkennbar. Die männliche Ernährer- und Beschützerrolle verliert mehr und mehr an Bedeutung und findet sich immer weniger in der Realität wieder. Abbildung 1 (S.18) zeigt die Vielfältigkeit der Alternativen zur traditionellen Versorgerehe, welche in modernen Gesellschaften vermehrt aufzufinden sind. Mit steigendem Zuspruch an die alternativen Lebensformen, kann man bei den traditionellen Gestaltungsformen einen Rückgang verzeichnen. (vgl. PEUCKERT 1999; WERNER 2003)

Individualisierung bedeutet für den Einzelnen, egal ob Mann oder Frau, ob Kind oder Greis, die tagtägliche Freiheit entscheiden zu können, jedoch auch den tagtäglichen Zwang sich entscheiden zu müssen. In allen Bezugspunkten sind Wahlmöglichkeiten, mehr noch: Wahlzwänge aufgebrochen. Sicherheit und Ordnung im System des eigens erstellten Lebensplans müssen individuell kreiert, komponiert und immer wieder neu abgestimmt werden.

Ein weiteres Problem, dass mit der Enttraditionalisierung und fortschreitenden Individualisierung der Gesellschaft einhergeht, ist die Vereinbarkeit zweier selbstkreierter “Bastelbiografien“ im Kontext einer gemeinsamen Beziehung.

„(Z)wei Arbeitsmarktbiographien, die ihrer eingebauten Verhaltenslogik nach um sich selbst kreisen (..), (z)wei derart zentrifugale Biographien zusammenzubinden zusammenzuhalten, ist (..) ein Dauerkunststück, ein Drahtseildoppelakt (…)“. (BECK & BECK-GERNSHEIM 1990: S.14)

Ein Widerspruch zwischen Partnerschaft und Anrecht auf Verwirklichung der eigenen, selbstentworfenen Biografie, deren Mittelpunkt das Individuum ist, tritt auf. Da Vorgaben von Verhaltensmustern infolge der Enttraditionalisierung fehlen, müssen eigene Lösungsmuster konzipiert werden. Die Partner sind gezwungen zu kommunizieren, neue Wege für eine gemeinsame Zukunft zu finden. Feste Regeln, Normen und Zuständigkeiten fehlen. Alles muss beredet, ausgehandelt, diskutiert und abgesprochen werden und kann genauso schnell wieder aufgekündigt werden. Die Normalbiographie wandelt sich zur Wahlbiographie. Alles ist möglich, nichts muss. Hier liegt das Problem. Was Beziehung, Liebe, Ehe ist, muss jeder für sich und im Diskurs mit dem Partner herausfinden. Es muss definiert, ausgehandelt, begründet werden. „Die Individuen selbst, die zusammenleben wollen, sind oder, genauer: werden mehr und mehr die Gesetzgeber ihrer eigenen Lebensform (...) Liebe wird eine Leerformel, die die Liebenden selbst zu füllen haben“. (ebenda: S.13)

Eine weitere Erscheinung in der postmodernen Gesellschaft ist die Auflösung der traditionellen Kernfamilie. Das „Leitbild der bürgerlichen modernen Familie, welches die legale, lebenslange, monogame Ehe zwischen einem Mann und einer Frau fordert, die mit ihren gemeinsamen Kindern in einem Haushalt leben und in der der Mann Haupternährer und Autoritätsperson und die Frau primär für den Haushalt und die Erziehung der Kinder zuständig ist“ (MACKLIN in: PEUCKERT 1999: S.29), ist längst nicht mehr die einzige Form des Zusammenlebens in der postmodernen Gesellschaft. Die folgende Tabelle soll einen schematischen Überblick über die möglichen Lebens- und Familienformen und deren Abweichungen von der “Normalfamilie“ in der heutigen Gesellschaft geben.

Abbildung 1: Pluralisierung der Lebensformen (in Anlehnung an PEUCKERT 1999: S.30)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Alle in diesem Abschnitt dargestellten sozialen Phänomene kann man als Manifestierung der Individualisierung der Postmoderne begreifen. Sie sind das Ergebnis eines langfristigen Prozesses gesellschaftlichen Wandels.

Abschließend folgen einige Definitionsversuche des Begriffs der Individualisierung aus der vorgefundenen Literatur, um die Komplexität des gesamten Prozesses noch einmal zu verdeutlichen.

„Individualisierung wird (…) als „universalistisch ausgerichteter Prozess verstanden, nämlich als Herausbildung von Fähigkeit, Freiheit und Notwendigkeit zur eigenen Entscheidung für alle Individuen.““ (BURKART, KOHLI in: ebenda: S.40)

„Ein individualisiertes Leben ist ein “zur Freiheit verurteiltes“ Leben (…).“ (HITZLER, HONER in: BECK & BECK-GERNSHEIM 1994: S.307)

„Die Menschen werden freigesetzt aus den verinnerlichten Geschlechtsrollen, wie sie im Bauplan der Industriegesellschaft für die Lebensführung nach dem Modell der Kleinfamilie vorgesehen sind, und sie sehen sich (…) zugleich gezwungen, bei Strafe materieller Benachteiligung eine eigene Existenz über Arbeitsmarkt, Ausbildung, Mobilität auszubauen und diese notfalls gegen Familien-, Partnerschafts- und Nachbarschaftsbindungen durchzusetzen und durchzuhalten.“ (BECK & BECK-GERNSHEIM 1990: S.15 ff)

„Individualisierung meint (…) „in kultureller Hinsicht eine zunehmende Verselbständigung des einzelnen gegenüber übergeordneten Sinn- und Geltungszusammenhängen, die in traditionellen Gesellschaften den Erfahrungshorizont des einzelnen begrenzen und ihn in ein festes Gefüge der Wirklichkeitssicht und Lebensinterpretation einbinden; in sozialer Hinsicht einen Trend zur Verselbständigung des einzelnen gegenüber den sozialen Gemeinschaften, die ihm früher traditionale Verhaltenserwartungen und Wirklichkeitsdeutungen in aller Verbindlichkeit vermittelten; in wirtschaftlicher Hinsicht die Herausbildung einer Gesellschaft von Handelnden, die eigenständig ihren Lebensunterhalt erzielen (…).““ (HRADIL in: PEUCKERT 1999: S.268)

1.2 Sozialisation & Gesellschaft

Sozialisation bezeichnet die Gesamtheit aller Vorgänge, die den Einzelnen zu einem aktiven Mitglied einer Gesellschaft und Kultur werden lässt. (HILLMANN 1994: S.805 ff) Für das Anliegen dieser Arbeit erscheint die Zusammenfassung von HURRELMANN am geeignetsten. Dementsprechend folgt eine Darstellung der wesentlichen Inhalte seiner Überlegungen zum Thema.

Im Anschluss daran folgt ein kurzer Überblick über die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die interviewten Personen aufwuchsen und lebten. Dies erfolgt aufgrund der Annahme, dass der Prozess der Sozialisation nicht abgetrennt von den sie umgebenden gesellschaftlichen und sozialen Umweltbedingungen betrachtet werden kann.

1.2.1 sozialisationstheoretischer Ansatz von HURRELMAN

Sozialisation ist ein Prozess, der das ganze Leben andauert. Im Jugendalter erfährt er jedoch seine größte Entfaltung. Deshalb beschränken sich die folgenden Aussagen vorrangig auf die “Lebensphase Jugend“[8].

Der integrierende Ansatz der Sozialisationsforschung beschreibt Sozialisation als einen Prozess der produktiven Auseinandersetzung des Individuums mit seiner inneren und äußeren Realität und deren Verarbeitung. Ziel dieses andauernden Prozesses ist die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen, d.h. „die individuelle, in Interaktion und Kommunikation mit Dingen wie mit Menschen erworbene Organisation von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen, Handlungskompetenzen und Selbstwahrnehmungen (…) auf der Basis der natürlichen Anlagen und als Ergebnis der Bewältigung von Entwicklungs- und Lebensaufgaben (…).“ (HURRELMANN 1995: S.71)

Als innere Realität kann man die eigene Psyche und den eigenen Körper verstehen. Die physischen und sozialen Umweltbedingungen des Individuums werden als äußere Realität deklariert.

Sozialisation wird hierbei als ein Wechselspiel von persönlichen Anlagen und der sozialen und physischen Umwelt verstanden, infolge derer die Entwicklung der Persönlichkeit stattfindet.

Es folgen einige grundlegende, für diese Arbeit relevante, Maximen des sozialisationstheoretischen integrativen Ansatzes gemäß HURRELMANN.

Jugendliche haben und nutzen demnach die Möglichkeit der selbst gesteuerten Lebensführung. Ihre Verhaltensabläufe sind noch nicht verfestigt. Sie befinden sich in einem ständigen Prozess des Suchens, Tastens und Ausprobierens. Des Weiteren haben Angehörige der Lebensphase Jugend erstmals die Möglichkeit eine eigene Ich-Identität aufzubauen. Diese ist die „Voraussetzung für die Fähigkeit flexiblen und situationsangemessenen sozialen Handelns“ (ebenda: S.79). Die Identität des Individuums entsteht aus einem Zusammenspiel von Individuation und Integration, d.h. einerseits Aufbau der eigenen Persönlichkeitsmerkmale und andererseits Anpassung an die Gesellschaft durch Verinnerlichung und Einhaltung der geltenden Normen und Werte. Beide befinden sich oft in einem spannungsgeladenen Widerspruch, welcher von den Individuen ausgehalten und verarbeitet werden muss. Zur Bewältigung des permanenten Spannungszustandes, wie auch der unten aufgeführten Entwicklungsaufgaben, sind personale und soziale Ressourcen von enormer Bedeutung. Individuelle Bewältigungsstrategien und Bezugsgruppen wie Peers, Eltern, Schule, sprich Sozialisationsinstanzen, sind von entscheidender Bedeutung für eine gelungene Sozialisation. Im besten Fall geben sich diese Instanzen ergänzende, sich gegenseitig anregende Impulse. Eine Mischung, die Grenzen vorgibt und Handlungsspielräume ermöglicht, ist für eine erfolgreiche Sozialisation ideal. In dem folgenden Modell sind neben den oben genannten Sozialisationsinstanzen alle weiteren Rahmenbedingungen aufgezeigt, die den Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit prägen.

Abbildung 2: Strukturmodell familialer Sozialisationsbedingungen. Die sechs äußeren Kästen symbolisieren die Familienumwelt: oben die (lebenslagenspezifisch unterschiedlich ausgeprägten) sozialstrukturellen Rahmenbedingungen, unten die sozialisationsrelevanten Umweltbereiche als „Miterzieher“ und „Mitsozialisatoren“. (in Anlehnung an HURRELMANN 1995: S.137)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abschließend folgen die vier zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters, die man im Zusammenhang mit dem Prozess der Sozialisation laut HURRELMANN benennen kann:

- Entwicklung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz
- Entwicklung des inneren Bildes von der Geschlechtszugehörigkeit
- Entwicklung selbständiger Handlungsmuster für die Nutzung des Konsumwarenmarktes
- Entwicklung eines Normen- und Wertesystems und eines ethischen und politischen Bewusstseins

Erst wenn diese Aufgaben gelöst wurden, und die dazugehörigen Rollen ausgebildet sind (selbständige Erwerbstätigkeit, Übernahme einer Partnerschafts- und Familienrolle, Konsumenten und Bürgerrolle), kann man von einem vorläufigen Abschluss der Persönlichkeitsentwicklung sprechen.[9]

1.2.2 geschichtlicher Exkurs

Der Prozess der Sozialisation ist auch immer durch die Gesellschaft gekennzeichnet, in der er sich vollzieht. Sei es durch politische Maßnahmen, wirtschaftliche Verhältnisse oder vorherrschende Werte, Normen und gesellschaftliche Ideale. Sozialisation muss im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet werden.

Es folgt ein Abriss der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von der Weimarer Republik bis in die Neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Betrachtung ab 1949 beschränkt sich auf die DDR, da alle Interviewpartner Bürger derselben waren. Ziel ist es einen Überblick über die Bedingungen zu geben unter denen die interviewten Personen aufwuchsen.

1.2.2.1 Weimarer Republik und Herrschaft der Nationalsozialisten

Dieser Zeitraum und der nachfolgende Abschnitt entsprechen in etwa der Geburt und/oder der Jugendzeit der zu betrachtenden Großelterngeneration.

Der erste Weltkrieg war vorbei. Deutschland erlebte einerseits einen kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung, welcher als Begriff der „Goldenen Zwanziger“[10] in die Geschichte einging. Eine freizeit- und konsumorientierte Bevölkerung gaben Kinos, Theater, Tanzlokalen, Rundfunk und Zeitungen großen Zuspruch. Auf der anderen Seite waren weniger wohlhabende Teile der Bevölkerung noch stark vom Krieg gezeichnet. Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend ließen die Kriminalität ansteigen. Die Weimarer Republik war eine von Klassengegensätzen gezeichnete Republik: alter Adel vs. bürgerlicher Mittelstand vs. Arbeitertum. Der technische Fortschritt, der in Deutschland in Form von Telefon, Strom, technischen Haushaltsgeräten etc. Einzug hielt, kam nur den Wohlhabenderen zu Gute.

Trotz des neuen propagierten Frauenbildes, einer modisch gekleideten, relativ unabhängigen, rauchenden Frau mit Kurzhaarschnitt, beschränkte sich der Lebensmittelpunkt der meisten auf den heimischen Herd und die Familie. Übten sie doch eine Tätigkeit außer Haus aus, waren dies oft typisch “weibliche“ Berufe, wie Hausangestellte oder Sekretärin. Frauen in akademischen Berufen waren trotz des neuen Verständnisses selten. Die meisten Tätigkeiten für Frauen wurden nicht einmal existenzsichernd entlohnt, sodass die Mehrzahl der jungen Frauen zu Hause lebte. Mit der Eheschließung endete oft das Arbeitsverhältnis der Frau. Der Mann konnte mit der Begründung der Vernachlässigung der ehelichen Pflichten das Beschäftigungsverhältnis aufkündigen.

Geburtenkontrolle war nach wie vor schwierig. Abtreibung war strafbar und trotzdem wurde die Zahl der durchgeführten illegalen Schwangerschaftsabbrüche auf eine Million pro Jahr geschätzt. Der häufigste Grund für eine Eheschließung war die Abwendung eines nichtehelichen Kindes.

Der Erziehungsstil dieser Zeit beruhte vorrangig auf der Autorität der Eltern, im speziellen der des Vaters. Kinder wurden nicht zur Selbständigkeit, sondern zu Gehorsam erzogen.

Die Jugend der Weimarer Republik organisierte sich erstmals unabhängig von Erwachsenen. Es gab Jugendbewegungen wie die “Wandervögel“ oder die “wilden Cliquen“. Sie alle versuchten ihre Unsicherheit und Unzufriedenheit in diesen Gruppierungen auszuleben. Zum einen aufgrund des vorangegangenen Krieges, zum anderen wegen der extremen Arbeitsmarktsituation. Rationalisierung und Abbaumaßnahmen waren die Ursache für einen noch nie zuvor gekannten Lehrstellen- und Arbeitsplatzmangel, der in der Weltwirtschaftskrise 1929/30 gipfelte.

Die Inflation, die Weltwirtschaftskrise und die daraus resultierende allgemeine Unzufriedenheit des deutschen Volkes waren ein guter Nährboden für den 30. Januar 1933, dem Tag der Machtübernahme durch die NSDAP. Die Ziele der Politik Hitlers waren die Vernichtung nichtarischen Lebens und die Erlangung der Weltherrschaft durch Krieg. Die Folgen für Deutschland waren auf der einen Seite Aufrüstung, Gleichschaltung, Uniformierung, Propaganda. Mittel und Methoden um auch den letzten privaten Winkel mit der NS-Ideologie zu durchdringen und Widerstand im Keim zu ersticken. Auf der anderen Seite erfuhr das deutsche Volk infolge von Rüstungsprogrammen einen wirtschaftlichen Aufschwung. Arbeitslosigkeit wurde mit Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung bekämpft. Die Mehrheit der Bevölkerung war positiv gestimmt, und die, die es nicht waren, konnten ihrem Ärger keine Luft machen, da jegliche Opposition unter Strafe gestellt war. Auch die Zwangsvergemeinschaftung ganzer Bevölkerungsgruppen (Frauen, Kinder, Jugendliche) in Organisationen rief nicht nur Unwillen hervor. Diese hatte durchaus positive Momente. Die Hitlerjugend, ein wichtiges Sozialisationsmoment der NS-Politik, mit dem Kinder und Jugendliche spielerisch zu “guten Deutschen“ erzogen werden sollten, beinhaltete u.a. attraktive Freizeitangebote. 1935 wurde der Reichsarbeitsdienst eingeführt. Er diente der Erziehung und körperlichen Ertüchtigung.

Die Freizeitorganisation KdF (Kraft durch Freude) besänftigte vor allem die schlechter verdienenden Bevölkerungsschichten. Diesen Bevölkerungsgruppen wurde u.a. Urlaub ermöglicht, welcher früher nicht erschwinglich war.

Einrichtungen der Sozialfürsorge[11] steigerten die Sympathien des Volkes für das Regime. Der allgemeine Wohlstand und die Zufriedenheit stiegen.

Die anfängliche Freisetzung der Frau aus traditionellen Beschränkungen durch ein Umdenken in der Weimarer Republik, wurde durch die praktizierte NS-Frauenpolitik aufgehoben. Berufstätige Frauen wurden im Rahmen dieser durch den Erhalt eines Ehekredits, an den der Verzicht auf eine weitere Berufstätigkeit gekoppelt war, wieder zurück zu Heim und Herd gebracht. Eheschließungen wurden somit gefördert und die Frau in ihre angestammte „Rolle als Mutter und Erhalterin des Volkes“ (Internet Nr.14b) zurückgedrängt. Für die Öffentlichkeit stellte sich das Regime als eine ausschließlich am Wohlergehen der Bürger interessierte Führung dar. Nur wenige erkannten das eigentliche Ziel, die Gleichschaltung und ideologische Durchdringung aller.

1.2.2.2 Kriegs- und Nachkriegszeit

Aus Sorge vor dem Verlust der Kriegsmoral der Bevölkerung wurden den Menschen, im Vergleich zu den “Reichsfeinden“[12] nur mäßige Opfer abverlangt. Es wurde versucht eine weitgehende Normalität aufrechtzuerhalten. Trotz des Krieges an den Fronten gab es zu Hause Fußballspiele, Kinoabende und Theateraufführungen, die Ablenkung boten. Um Mangelzustände während der Kriegszeit zu umgehen, wurden zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Lebensmittel und Kleidung zwangsrationiert. Durch den entstandenen Arbeitskräftemangel wurden nun auch Frauen in den Reichsarbeitsdienst einbezogen. „Auf allen Lebensgebieten, wo es an Männern fehlt, hat die Frau den Mann zu vertreten.“ (Internet Nr.14a) Auch Jugendliche wurden nun vermehrt an der Heimatfront zu unentgeltlichen Diensten herangezogen, z.B. bei Ernteeinsätzen und der Sammlung von Kleidung für die Frontsoldaten sowie von Metall für die Rüstungsindustrie.

Ab 1942 fielen immer häufiger Bomben auf deutsche Städte. Kinderlandverschickung und Evakuierung ganzer Familien waren die Folge. Zweifel am Endsieg machten sich breit.

Mit der Ausrufung des totalen Krieges wurden auch Kinder im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren im so genannten Volkssturm eingezogen. Am achten Mai 1945 kapitulierte Deutschland und wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Die deutsche Bevölkerung litt unter den Nachwirkungen des Krieges. Vieles war Mangelware, Wohnungen und die zugeteilten Lebensmittelrationen waren geringer als zu Kriegszeiten.

Die Spaltung Deutschlands kristallisierte sich im Zuge des Kalten Krieges schnell heraus. Die UDSSR lehnte für sich und das von ihnen besetzte Gebiet die Unterstützung durch den Marshallplan[13] ab. Als 1948 in den westlichen Besatzungszonen eine neue Währung eingeführt wurde, reagierte die UDSSR prompt und führte eine eigene Währung in ihrer Zone ein. Die Teilung Deutschlands schritt voran und gipfelte 1949 in der Gründung der beiden deutschen Staaten.

1.2.2.3 DDR

Die Deutsche Demokratische Republik empfand sich nach sowjetischem Vorbild als „Diktatur des Proletariats“[14]. Die sozialistische Gesellschaftsordnung kontrollierte und politisierte nahezu jeden Lebensbereich und ließ dadurch wenig Platz für Individualität. Autoritäre Maßnahmen und politische Kontrolle gegenüber der Bevölkerung dienten der Machtsicherung. Wirtschaftlich wurde das Modell der Planwirtschaft eingeführt. Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und Vergesellschaftung desselben sowie der dieser Ordnung immanente Mangel an Konsumgütern waren nur einige Folgen. Unzufriedenheit und Abwanderung war die Reaktion vieler DDR-Bürger. Um den Verlust der DDR-Bevölkerung zu beenden, wurde 1961 die Berliner Mauer gebaut. Damit war die Isolation gen Westen besiegelt.

[...]


[1] vgl. dazu: das Beispiel einer erkämpften Scheidung von BOCK/DUDEN in: BECK & BECK-GERNSHEIM 1994, S.23

[2] bezeichnet die Veränderungen in Europa um 1750-1850, die zur Ablösung der feudalagrarischen Wirtschafts- und Sozialordnung hin zu einer Industriegesellschaft geführt haben, vgl. dazu: HILLMANN 1994: S.360 ff

[3] Auszug aus dem Besonderen Teil des BGB von 1900, obwohl es im Allgemeinen Teil allen Menschen die allgemeine Rechtsfähigkeit gewährt (vgl. BECK & BECK-GERNSHEIM 1989: S.25)

[4] vgl. dazu Abschnitt 1.1.1

[5] nähere Ausführungen dazu in Abschnitt 1.2.2.1, dem geschichtlichen Exkurs in die Weimarer Republik

[6] rechtliche, soziale, normative, finanzielle usw. Rahmenbedingungen, die dem Tun des Einzelnen Grenzen setzen, z.B. die Begrenzungen der Möglichkeiten der persönlichen Aus- und Weiterbildung aufgrund finanzieller, sozialer und rechtlicher Faktoren, oder die Erschwernisse eines beruflichen Wiedereinstiegs aufgrund der Absicherung der Betreuung vorhandener Kinder (staatl. oder private Kinderbetreuungseinrichtungen). Die Beispiele für institutionelle Rahmenbedingungen, die die Handlungskompetenzen der Individuen beschränken sind unerschöpflich, aber im Rahmen derer sind die Möglichkeiten des Individuums “unbegrenzt“.

[7] vgl.: BECK & BECK-GERNSHEIM 1990: S.15: die von der Familie und Ehe losgelösten Individuen werden abhängig von z.B. sozialstaatlichen Leistungen, Einrichtungen, Regelungen

[8] vgl. dazu: HURRELMANN 1995, 2004, alle folgenden Informationen dieses Abschnitts, wenn nicht anders gekennzeichnet, lehnen sich an die Bücher an

[9] Angesichts der Retardation und Akzeleration der Lebensphase Jugend, der immer unschärfer werdenden Übergänge vom Jugend- zum Erwachsenenalter, kann man den Zustand des Erwachsenseins nicht immer mit der Übernahme der vier Rollen erklären. Auch aufgrund des oben beschriebenen Prozesses der Individualisierung bricht die Normalbiografie auf. Der Begriff der Normalbiografie schloss auch den erfolgreichen Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen inkl. der Übernahme der Rollen ein. Alternativen der Lebensführung erhalten mehr Bedeutung und somit wird auch der Übergang Jugend – Erwachsensein offener.

[10] vgl. dazu: Internet Nr.16, 14, 14a, 14b; alle folgenden Informationen dieses Abschnitts, wenn nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich auf diese Seiten

[11] Winterhilfswerk, NS-Volkswohlfahrt

[12] gemeint sind Juden, Sinti & Roma, Behinderte und Homosexuelle

[13] Hilfsprogramm zum Wiederaufbau, offeriert durch den Außenminister der USA George C. Marshall

[14] vgl. dazu: Internet Nr.13, 13a, 13b, 15; alle folgenden Informationen dieses Abschnitts, wenn nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich auf diese Seiten

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Paarbeziehungen im intergenerationellen Vergleich - Verhandeln als Folge der Individualisierung
Hochschule
Universität Leipzig
Note
1,7
Autor
Jahr
2004
Seiten
113
Katalognummer
V29705
ISBN (eBook)
9783638311557
Dateigröße
858 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Paarbeziehungen, Vergleich, Verhandeln, Folge, Individualisierung
Arbeit zitieren
Julia Knauer (Autor:in), 2004, Paarbeziehungen im intergenerationellen Vergleich - Verhandeln als Folge der Individualisierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29705

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