Ethnische Minderheiten als soziales Problem im Sinne kollektiver Definition und als soziales Problem im Sinne der Verfehlung sozialer Standards


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung: Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

2. Soziale Probleme als soziologischer Forschungsgegenstand

3. Ethnische Minderheiten
3.1. Entwicklung und Probleme ethnischer Minderheiten in Deutschland

4. Ethnische Minderheiten als soziales Problem
4.1. Problem des rechtlich-politischen Status
4.2. Problem der sozialen Lage der Einwanderer
4.3. Probleme unter kulturellen Gesichtspunkten
4.4. Problem der Fremdenfeindlichkeit

5. Schlußbemerkungen

1. Einleitung: Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

Zum Ende des letzen Jahrhunderts nahm die globale Migration im Zusammenhang mit der Globalisierung und vor dem Hintergrund größer werdender sozioökonomischer Ungleichheiten und des Bevölkerungswachstums ein immer größeres Ausmaß an, so dass regelgerecht von neuen Völkerwanderungen gesprochen werden kann. Insbesondere die entwickelten Industriestaaten bilden das Ziel der Migrationsbewegungen. Angesichts dieser weltweit zunehmenden transnationalen Wanderungsströme sieht sich auch Deutschland als moderner Wohlfahrtsstaat großen Herausforderungen im Hinblick auf die Integration der Zuwanderer und der Steuerung der Zuwanderung ausgesetzt. Mittlerweile scheint es unbestritten, dass die Bundesrepublik de facto ein Einwanderungsland geworden ist und aus demographischen Gründen auch auf die Einwanderung von Ausländern angewiesen ist. Vor diesem Hintergrund muß hinsichtlich der ethnischen Vielfalt zukünftig von einer noch heterogeneren Bevölkerungsstruktur ausgegangen werden (vgl. Hoffmann-Nowotny S.27).

Die Darstellung der sozialen Problemlagen ethnischer Minderheiten sowie die gesellschaftspolitische Diskussion um die Zuwanderung und Integration sollen die zentralen Bestandteile der folgenden Arbeit sein.

Zunächst erscheint es zum besseren Verständnis des Forschungsgegenstandes und zur theoretischen Grundlegung jedoch notwendig in die soziologischen Theorien sozialer Probleme einzuführen. Es soll verdeutlicht werden, wie sich die verschiedene soziologische Herangehensweise an soziale Probleme gestaltet und was überhaupt in der Soziologie unter einem sozialen Problem verstanden wird.

Im folgenden Teil soll dann konkret auf ethnische Minderheiten als soziales Problem eingegangen werden. Dabei ist es zunächst notwendig, den Begriff ethnische Minderheiten zu definieren. Danach folgt eine Betrachtung der ethnischen Minderheiten in Deutschland unter Berücksichtigung ihrer sozialen Probleme. Im Anschluß daran werden verschiedene soziale Problemfelder ethnischer Minderheiten möglichst mit Bezug auf die soziologischen Theorien sozialer Probleme dargestellt. An dieser Stelle wird auch auf die aktuelle Debatte in der Gesellschaft und Politik um die Regelung der Zuwanderung und der Integration von Ausländern eingegangen.

2. Soziale Probleme als soziologischer Forschungsgegenstand

Sicherlich kann an dieser Stelle kein umfassender Überblick der umfangreichen soziologischen Theorien sozialer Probleme erfolgen. Allerdings sollte dennoch ein Einblick in die zentralen Überlegungen in Bezug auf soziale Probleme erreicht werden.

Soziale Probleme lassen sich etwas vereinfachend grundsätzlich in der soziologischen Theorie in zwei verschiedene Hauptrichtungen aufteilen: Zum einen in den objektivistischen Ansatz des Funktionalismus und zum anderen in den subjektivistischen Ansatz des Konstruktivismus bzw. Interakionismus.[1]

Ein vielbeachteter Vertreter der funktionalistischen Theorie R.K.Merton definiert ein soziales Problem als „(...) Diskrepanz zwischen sozial akzeptierten Standards und tatsächlich vorherrschenden Bedingungen.“ (Merton 1971, S.799).

In diesem Sinne wird von kollektiv geteilten Wertvorstellungen ausgegangen. Durch einen Vergleich zwischen den Wertvorstellungen und der tatsächlich vorherrschenden Realität könnten soziale Probleme objektiv wissenschaftlich feststellbar sein. Ein Auseinanderfallen von gesellschaftlichen Zielen und den institutionalisierten Mitteln zur Zielerreichung würde nach Mertons Theorie ein soziales Problem konstituieren. Es entsteht eine soziale Desorganisation, die aus der unzureichenden Abstimmung von Teilsystemen und/oder aus der mangelnden Einbindung der (Teil-)Einheiten resultiert. Insbesondere im Zuge der Entwicklung zu einer modernen, arbeitsteiligen, säkualisierten und in Teilsystemen ausdifferenzierten Gesellschaft kam es nach diesen Überlegungen zu sozialen Problemen als Struktur- und Funktionsproblem sozialer Systeme.[2]

Insofern könnte mit Hilfe einer sozialtechnologischen Analyse einerseits, bei Bestehen einer Diskrepanz, latente soziale Probleme aufgedeckt werden, die (noch) nicht gesellschaftlich diskutiert werden, und andererseits sogenannte Scheinprobleme entlarvt werden, die zwar innerhalb der Gesellschaft als soziales Problem angesehen werden, aber deren objektive Grundlage fehlt, da genügend Mittel zur Erreichung von bestimmten Werten vorhanden sind (vgl. Groenemeyer S.40).

Die Kritik einer derartigen Herangehensweise entfacht sich insbesondere an dem Umstand, dass es zumindest fragwürdig erscheint, ob von gesamtgesellschaftlich akzeptierten Standards ausgegangen werden kann. So besitzen verschiedene Milieus und/oder Bevölkerungsgruppen oft unterschiedliche Wertvorstellungen. Insofern sind zumindest einige Normen und Werte von der jeweiligen Perspektive abhängig. Hierbei ist es dann eine Frage der gesellschaftlichen Macht und Durchsetzungsfähigkeit, ob und welche Verfehlungen sozialer Standards als ein soziales Problem öffentlich diskutiert werden oder eben nicht. Eine Feststellung objektiv geteilter Wertestandards kann in diesem Sinne also nicht erfolgen, da sich einzelne Bevölkerungsgruppen nach ihren spezifischen Wertmaßstäben innerhalb ihrer Milieus durchaus konform verhalten können (vgl. Groenemeyer S.40/41).

Die Entscheidung des forschenden Soziologen für die vorherrschenden Werte in der Gesellschaft kann überdies fatale Auswirkungen gerade in bezug auf ethnische Minderheiten zur Folge haben. So könnte beispielsweise festgestellt werden, dass ethnische Vorurteile und Rassismus in einer Gesellschaft gemeinhin akzeptiert werden und eine solche Diskriminierung auch tatsächlich stattfindet. Es würde hier also gemäß einer soziologischen Analyse kein soziales Problem vorliegen. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte sollte ein solcher Umstand äußerst problematisch erscheinen. Vertreter des Funktionalismus entgegnen der Kritik, indem sie die universalistischen Normen der Wissenschaft wie humanistische und rationalistische Wertorientierungen anführen, an denen sich die Wissenschaft zu halten hat.

Ein weiteres Problem resultiert aus der funktionalistischen Grundannahme, dass die Gesellschaft aus miteinander agierenden Teilsystemen besteht, welche funktional mit dem gemeinsamen Ziel des Erhalts des Gesamtsystems der Gesellschaft aufeinander bezogen sind, da in der Realität die verschiedenen Teilsysteme vielmehr auch von Konflikten und Aushandlungen untereinander geprägt sind, anstatt eine funktionale Einheit zu bilden, die zur Herstellung eines Systemgleichgewichts beiträgt (vgl. Groenemeyer S.42).[3]

Im Gegensatz zu funktionalistischen Ansätzen Merton`scher Prägung gehen konstruktivistische und akteursbezogene Ansätze[4] davon aus, „daß sich soziale Probleme auf aktives, sinnhaftes Handeln von Akteuren zurückführen lassen.“ (Groenemeyer S.45).

Nach Blumer sind sie Produkte eines interaktionistischen Prozesses kollektiver Definition, die nicht unabhängig davon objektiv existieren, aber erst (inter-)subjektiv als soziales Problem deklariert werden. Sie sind insofern das Resultat von gesellschaftlichen Definitionsprozessen (vgl. Blumer 1971, S.298).

In diesem Prozeß kommen Werte, Ziele, Forderungen und Interessen zum Ausdruck, welche kollektiv artikuliert werden und unter Umständen gegen andere Werte und Definitionen innerhalb der Gesellschaft durchgesetzt werden müssen. Die Teilnehmer an den Definitionsaktivitäten und sozialen Bewegungen suchen immer Unterstützung für ihrer spezifische Position und versuchen um breite Akzeptanz zu werben. Diese Prozesse sollten durch die Untersuchung von Strategien des Diskurses, der Rhetorik und symbolischer Politik in der soziologischen Analyse nachgezeichnet bzw. untersucht werden (vgl. Groenemeyer S.47 u. 54).

Berger und Luckmann betonen in ihren ethnomethodologischen Arbeiten, dass die soziale Rekonstruktion der Wirklichkeit in der Interaktion zwischen gesellschaftlichen Akteuren erfolgt und sich in aufgestellten Regeln und Normen manifestiert, die den Akteuren dann wieder als Realität mit objektivem Charakter gegenübertritt, welche wiederum der subjektiven Deutung unterliegen. Das intersubjektive Wissen über die soziale Konstruktion der Wirklichkeit ist Bestandteil in einem stetigen Aushandlungsprozeß und muß immer wieder neu erschaffen werden (vgl. Groenemeyer S.48).

In der Durchsetzbarkeit von kollektiven Werten und Normen zeigt sich dann, ob ein bestimmter sozialer Sachverhalt in der Öffentlichkeit als soziales Problem diskutiert wird oder nicht. Der Soziologe ist hierbei, anders als in den funktionalistischen Ansätzen, selbst ein an der Definition beteiligter Akteur. Die Soziologie nimmt in diesem Sinne also keine herausragende Stellung in der Identifizierung sozialer Probleme ein. Vielmehr kommt es auf die Rekonstruktion des Definitionsprozesses sozialer Probleme an, welche immer in einem bestimmten geselllschaftlichen Kontext stattfinden. An dieser Stelle wird den konstruktivistischen Ansätzen oft die unzureichende Beachtung des historischen und strukturellen gesellschaftlichen Umfeldes in dem die Definitionsprozesse stattfinden und die den Akteuren mit Macht gegenübertritt angelastet. Dieser Ausschluß vom Einfluß sozialer Bedingungen und Strukturen läßt im Lichte der konstruktivistischen Perspektive auf eine nicht nachvollziehbare „Selbsterzeugung von kollektiven Definitionsaktivitäten“ im luftleerem geschichtslosen Raum schließen. Dabei sollte die Ergründung der Ursachen für kollektives Handeln von großem Interesse sein. Eine Unabhängigkeit von sozialen Bedingungen und Strukturen sollte insofern nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Eine solche These sollte jeweils in der Forschung empirisch untersucht werden (vgl. Groenemeyer S. 54/55).[5]

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft den Umstand, dass in mikrosoziologischen Ansätzen keine sogenannten latenten soziale Probleme entdeckt werden können, da sich diese Ansätze auf soziale Probleme beschränken, die sich im Definitionsprozeß durchgesetzt haben. Mangelt es einer Gruppe, die unzufrieden mit bestimmten sozialen Bedingungen ist, an Ressourcen und an „Thematisierungsmacht“, so wird dieser Umstand von mikrosoziologischen Perspektiven ausgeblendet und nicht thematisiert (vgl. Groenemeyer S.55).[6]

Auch fehlt ein Maßstab für die Schwere und Bedeutung sozialer Probleme. Im Prinzip stehen sämtliche Definitionsaktivitäten aus der konstruktivistischen Perspektive gleich berechtigt nebeneinander (vgl. Groenemeyer S.55).

Abschließend läßt sich sagen, dass die Grundlage für die Konstitution sozialer Probleme weithin in modernen Gesellschaften liegt, in denen eine Vorstellung von der Veränderbarkeit und eine Idee der Gestaltbarkeit von sozialen Bedingungen und Strukturen vorherrschen.

Die unterschiedlichen kognitiven und moralischen Wertvorstellungen, Bedürfnisse und Interessen von Gruppen, spannen mit Normen und Gesetzen den kollektiven Handlungsrahmen auf innerhalb dessen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Wertmaßstäbe stattfinden können. Soziale Probleme können somit als Bindeglied zwischen sozialen Lebenslagen, dem gesellschaftspolitischen Diskurs und dem politischen System verstanden werden. Eine Durchsetzung zur öffentliche Thematisierung und Problematisierung kann nur über den Rückgriff auf geteilte Weltbilder bzw. einen gemeinsamen Handlungsrahmens erfolgen.

[...]


[1] Es können an dieser Stelle nicht alle Theorierichtungen näher behandelt werden. Weiterhin wird auch die veraltete Theorie der sozialen Pathologie als Vorläufer der funktionalistischen Theorien, die normativ die Ideale der konservativen Mittelschicht in den Vereinigten Staaten absolut setzt, nicht berücksichtigt (dazu genauer Groenemeyer S. 16-71).

[2] In Mertons an Durkheim angelehnten Anomietheorie Theorie abweichenden Verhaltens wird die Ursache von abweichenden Verhalten nach dem gleichen Prinzip erklärt (genauer Groenemeyer S.39).

[3] Vergleiche hierzu kritische konflikttheoretische Ansätze, in denen sich soziale Probleme immer im Zusammenhang mit der ungleichen Verteilung von Macht und Herrschaft in konflikthaften Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen konstituieren, wie insbesondere in marxistischen Orientierungen (vgl. Groenemeyer S.57ff) und in den Wert- und Kulturkonfliktbezogenen Ansätzen (ebenda S.42 ff)

[4] Auch hier können nicht alle Strömungen berücksichtigt werden. Ich werde mich im folgenden weitgehend auf die einflußreichen Vertreter Blumer (Symbolischer Interaktionismus) und Berger/Luckmann (Sozialkonstruktivismus) beziehen (genauer Groenemeyer S.16-72)

[5] Die von Best (1995) eingeführte Theorierichtung des „kontextuellen Konstruktivismus“ nimmt diese Kritik auf. Er versucht zu verdeutlichen, dass Definitionsaktivitäten immer von bestimmten Personen oder Gruppen in einem spezifischen historischen Kontext stattfinden (genauer Groenemeyer S.51ff).

[6] In Bourdieus Studie „Das Elend der Welt“ können gute Einsichten über die öffentliche Thematisierung und den tatsächlichen Problemen der Menschen im Alltag gewonnen werden. Es könnten bei bestehenden Diskrepanzen latente Probleme oder auch Scheinprobleme identifiziert werden (vgl. Groenemeyer S.51).

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Ethnische Minderheiten als soziales Problem im Sinne kollektiver Definition und als soziales Problem im Sinne der Verfehlung sozialer Standards
Hochschule
Universität Hamburg  (Soziologie)
Veranstaltung
Oberseminar: Soziologie sozialer Probleme
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
24
Katalognummer
V29666
ISBN (eBook)
9783638311274
ISBN (Buch)
9783638842679
Dateigröße
546 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
enthält sämtliche Literaturangaben
Schlagworte
Ethnische, Minderheiten, Problem, Sinne, Definition, Problem, Sinne, Verfehlung, Standards, Oberseminar, Soziologie, Probleme
Arbeit zitieren
Holger Klahn (Autor:in), 2004, Ethnische Minderheiten als soziales Problem im Sinne kollektiver Definition und als soziales Problem im Sinne der Verfehlung sozialer Standards, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29666

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