Propaganda der Krise: Goebbels Reden 1943


Seminararbeit, 2004

37 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt:

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Propaganda der Defensive: Kampf um die Moral im Herbst 1943
2.1 Die historische Ausgangslage
2.2 Der strategische Bombenkrieg der Alliierten
2.3 Die Bombardierungen von Hannover und Kassel im Herbst 1943
2.4 Der Luftkrieg als Herausforderung der Propaganda
2.4.1 Goebbels Strategie der „neuen Realistik“
2.4.2 Taktische Unklarheiten: Aufhetzen oder beruhigen?

3. Goebbels Reden in Kassel und Hannover
3.1 Indoktrination der Partei - Der Appell der Kasseler Amtswalter
3.1.1 Kraft durch Furcht
3.1.2 Das „Wunder der Vergeltung“
3.2 Großkundgebung vor der Bevölkerung in Hannover
3.2.1 Der 9. November 1918 als „positive Erfahrung“
3.2.2 Italien als abschreckendes Beispiel
3.3 Zusammenfassung: Parallelen und Unterschiede beider Reden

4. Rezeption und Verbreitung der Reden in den Medien
4.1 Berichterstattung vor Ort: Die Tageszeitungen in Hannover
4.2 Berichterstattung in den Regionen und im gesamten Reich

5. Fazit: Die Reden des Propagandaministers als lokales Großereignis

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der nationalsozialistischen Propaganda in der von deutschen Rückschlagen und Niederlagen gekennzeichneten Kriegssituation des Herbstes 1943. Die Analyse bezieht sich in erster Linie auf zwei Reden, die Propagandaminister Goebbels im November 1943 in Kassel und Hannover gehalten hat. Dabei stehen die allgemeinen[1] und besonderen Darstellungen, Argumenten und Implikationen im Vordergrund, die Goebbels an einen Teil der Bevölkerung richtet, der durch vorausgegangene schwere Luftangriffe unmittelbar die zerstörerischen Konsequenzen des von Goebbels propagierten totalen Kriegs erfahren hatte. Die Leitfrage lautet also: Wie reagiert die Propaganda angesichts der zunehmenden Bombenangriffe auf deutsche Städte?, oder weniger allgemein: In welcher Weise bedient sich Goebbels des Mediums der öffentlichen Rede, um auf die Menschen an der „Heimatfront“ einzuwirken?

In (kommunikations-) historischen Untersuchungen zu Goebbels und der nationalsozialistischen Propaganda haben die öffentlichen Reden bislang selten das Hauptaugenmerk auf sich gezogen. Zwar liegt seit 1972 eine umfassende (wenn auch nicht vollständige) kritische Edition von Helmut Heiber vor; Arbeiten wie die von Iring Fetscher[2], die sich zentral mit den Reden befassen, bilden jedoch nach wie vor die Ausnahme.

Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass trotz der geschickten Nutzung medial vermittelter Kommunikation (v.a. Radio, Wochenschauen) durch die NS-Propaganda die öffentliche Rede auf Massenveranstaltungen ein wesentliches Element der Beeinflussung der Bevölkerung blieb. Dies gilt umso mehr für die Zeit nach er Winterkrise 1941/42, als die Glaubwürdigkeit und damit die Wirksamkeit der Medien aufgrund der offensichtlich gelenkten Vorspiegelung falscher Tatsachen abnahm (vgl. Bohse 1988, 50).

Zwar lässt sich hieraus nicht ableiten, dass die Wichtigkeit und Wirksamkeit

der Reden in gleichem Maße zunahm[3]. Für einen geschickten Redner wie Goebbels bestand jedoch im öffentlichen Auftritt die Möglichkeit, die Argumentation intensiver und suggestiver auf das Publikum wirken zu lassen, als dies etwa in gedruckten Texten möglich war.[4]

In der Untersuchung sollen die spezifischen Merkmale der Kommunikationssituation beider Reden dargestellt und vergleichend analysiert werden. Dazu wird zunächst auf die allgemeine Kriegslage im November 1943 und auf die jeweiligen Zustände in Kassel und Hannover eingegangen. Dann werden die Reden selbst hinsichtlich ihrer Argumentation und der Kommunikationsabsichten Goebbels vergleichend untersucht. Dabei wird angenommen, dass ein grundsätzlicher Unterschied der Kommunikationssituation beider Reden besteht: In Kassel spricht Goebbels in erster Linie vor Parteifunktionären, in Hannover handelte es sich dagegen um eine Massenkundgebung vor einem breitgefächerten zivilen Publikum. Gerade weil Ausgangslage und Zeitpunkt beider Reden nahezu deckungsgleich sind kann im Vergleich herausgearbeitet werden, auf welche spezifische Weise Goebbels auf seine unterschiedlichen Publika eingeht, wo die Parallelen und Unterschiede seiner Argumentation liegen.

In einem weiteren Schritt wird die Darstellung der Reden im Medienverbund der lokalen und überregionalen Medien rekonstruiert. Dabei ist zu fragen, welche Bilder der Reden und ihrer für das Regime schwierigen Thematik in einer breiteren Öffentlichkeit durch den Filter der Meinungslenkung erzeugt werden sollen, welche Bewertung sie hinsichtlich ihrer Bedeutung erfahren und wie die Streuung der Mediendarstellung in den verschiedenen Verbreitungsgebieten variiert (dazu s. Anhang 1).

2. Propaganda der Defensive: Kampf um die Moral im Herbst 1943

2.1 Die historische Ausgangslage

Das Jahr 1943 markierte nicht nur zeitlich den ungefähren Mittelpunkt des Zweiten Weltkriegs. An seinem Anfang stand als Wendepunkt die Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad am 31. Januar, die aus der Rückschau den Anfang vom Ende des NS-Staates markiert. Die militärischen Misserfolge der Achsenmächte setzten sich insbesondere mit der Kapitulation der „Heeresgruppe Afrika“ am 13. Mai fort. Im Juli 1943 brach die Achse Deutschland-Italien mit dem Sturz Mussolinis. Dieser bedeutete für Deutschland nicht nur den Verlust eines Verbündeten, sondern auch die Eröffnung einer weiteren Front durch die Landung der Alliierten in Süditalien und die Kriegserklärung Italiens an Deutschland am 13. Oktober 1943. Mussolini konnte zwar am 12. September von deutschen Truppen befreit und als Führer einer formalen Gegenregierung eingesetzt werden – politisch, militärisch und auch propagandistisch war der Sturz Mussolinis ein Schock. Er bedeutete ein Menetekel für die nationalsozialistische Führung, zeigte sich doch, dass in einem kriegsmüden Land die Führungspositionen unsicher und gefährdet waren. Nicht zuletzt weckte der Staatsstreich Befürchtungen hinsichtlich des nationalsozialistischen Traumas des 9. November 1918, obwohl und gerade weil die Politiker um Hitler immer wieder betonten, dass ich sich ein solcher Umsturz im NS-Staat nicht wiederholen könne.

2.2 Der strategische Bombenkrieg der Alliierten

Mit dem Sommer 1943 bekam die deutschen Führung, vor allem aber die Zivilbevölkerung den Beginn eines neuen Abschnittes alliierter Kriegsführung heftig zu spüren: die systematische Bombardierung deutscher Städte. Diese vergleichsweise neue militärische Kampfweise wirkte sich auf das Leben von Millionen von Zivilisten aus. „Die Forderung der Verfechter des totalen Krieges, auch die ‚Heimatfront’ in den Krieg uneingeschränkt mit einzubeziehen, wurde erst jetzt auf ungeahnte Weise verwirklicht.“ (Wehler 2003, 931)

Bereits 1942 hatte es massive Bombenangriffe gegeben, etwa gegen Rostock, Lübeck und Köln. Die Flächenbombardementstrategie des Bomber Commands seit dem Februar 1942 sah den verstärkten Einsatz von Brandbomben vor, was zu schweren Zerstörungen der militärisch-industriellen und zivilen Zielorte führte. Mit der „Casablanca-Direktive“ vom 21. Januar 1943 einigten sich Briten und Amerikaner auf ein gemeinsames Konzept für den strategischen Bombenkrieg. Das Ziel, so wurde formuliert, sei „die fortschreitende Zerstörung und Paralysierung des deutschen militärischen, industriellen und wirtschaftlichen Systems und die Demoralisierung des deutschen Volkes bis zu Unfähigkeit zu bewaffnetem Widerstand“ (zitiert nach Boog et. al. 2001, 4).

Im Juni 1943 näherte sich die Zahl der Luftkriegstoten erstmals den 10.000 - diese Zahl entspricht etwa der Gesamtzahl der Opfer der Jahre 1941 und 1942.[5]

Im Sommer 1943 erfolgten konzentrierte Angriffe auf Städte des Ruhrgebietes und des Rheinlands, vor allem auf Essen als Hauptsitz der Krupp-Werke („Battle of the Ruhr“, 5. März bis 14. Juli 1943).

Einen noch zerstörerischer waren die Bombardierungen von Hamburg vom 25. Juli bis 3. August 1943. Die Operation „Gomorrha“ forderte zwischen 35.000 und 40.000 Menschenleben.

2.3 Die Bombardierungen von Hannover und Kassel im Herbst 1943

Auch Kassel und Hannover standen von Anfang an auf der Liste der zu bombardierenden Städte. Beide Städte waren schon in der „Blitzweek“ der US-Air Force vom 25. bis 30. Juli 1943[6] z.T. wiederholt angegriffen worden.

Hannover wurde darüber hinaus durch mehrere Nachtangriffe im September und Oktober 1943[7] stark zerstört. Am 8./9. Oktober 1943 verwüstete ein Bombenangriff das Zentrum von Hannover, wobei auch die Continental-Gummiwerke und das Hanomag-Werk beschädigt wurden. Bei dem Angriff wurden etwa 1.200 Menschen getötet und über 3.000 verletzt (Boog et. al. 2001, 42).

Nach Hamburg wurde Kassel am 22./23. Oktober 1943 von dem schwersten Angriff in der Serie der „Battle of Hamburg“ getroffen. Die Stadt war ein Zentrum der Rüstungsindustrie und deshalb vom Bomber Command schon seit 1940 als eines der fünf wichtigsten Ziele der deutschen Flugzeug-industrie ausgemacht worden. In den Fieseler-Werken wurden verschiedene Flugzeugtypen und die als Wunderwaffe geplante Flugbombe V 1 produziert. Zudem waren die Henschel-Werke einer der wichtigsten Geschütz- und Panzerhersteller der Wehrmacht, sie betrieben in Kassel drei Fertigungsstätten. „In den Augen des Bomber Commands war Kassel damit sowohl eine zentrale Rüstungsstätte als auch aufgrund seiner Bebauung ein hervorragend geeignetes Ziel des auf die Innenstadt zu konzentrierenden Flächenbombardements“ (Groehler 1990, 140) Bereits am 6. Oktober flog die Royal Air Force einen Großangriff mit 540 Bombern, der 115 Tote und fast 4.000 zerstörte und beschädigte Gebäude hinterließ, obwohl der Hauptschlag nur die Vororte getroffen hatte. Am 22./23. Oktober erfolgte der schwerste Schlag durch einen Flächenangriff auf die Stadtmitte. Die Bombenlast von 385 Flugzeugen entfachte einen Feuersturm, der mindestens 6.000 Menschen das Leben kostete. Das waren 2,65 Prozent von 226.000 Einwohnern, im Verhältnis 0,2 Prozent mehr als in Hamburg. Etwa 59 Prozent der bebauten Fläche wurden vernichtet, 75 Prozent der Einwohner wurden infolge des Bombardements obdachlos.[8]

2.4 Der Luftkrieg als Herausforderung der Propaganda

Die immer schwereren Bombenschäden an deutschen Städten und Rüstungsproduktionsstätten, die hohen zivilen Verluste des Bombenkriegs und das offensichtliche Versagen der deutschen Luftwaffe und Luftabwehr bedeuteten für die NS-Führung nicht nur ein wachsendes militärisches Problem.

Nach den Angriffen auf Hamburg hatte Goebbels noch in seinen Tagesaufzeichnungen geschrieben: „Die Haltung der Hamburger Bevölkerung wird von der ganzen neutralen Presse nur bewundert. In der Tat scheinen die Hamburger hier eine Musterleistung an innerer Festigkeit fertiggebracht zu haben.“ (Goebbels Tagesaufzeichnungen vom 3.08.1943, in: Fröhlich (Hg.) 1993, Teil II, Bd. 9, S. 208)

Doch zwei Monate später muss selbst Goebbels anerkennen, dass die Zermürbungsstrategie der Alliierten Erfolge zeigt. In seinen Notaten heißt es am 14. Oktober 1943:

Mir wird ein neuer SD-Bericht über die innere Stimmung vorgelegt. Das deutsche Volk ist danach von einem gewissen fatalistischen Gefühl erfüllt. Die Sorgen über Sorgen, die über die Nation hereinbrechen, haben das Empfinden dafür etwas abgestumpft. Es herrscht dem Krieg gegenüber eine allgemeine Müdigkeit [...] Nur der Luftkrieg wird im Augenblick als außerordentlich schwer empfunden, weil die Bevölkerung unmittelbar damit in Berührung kommt und in Mitleidenschaft gezogen wird.

(Goebbels Tagesaufzeichnungen vom 14.10.1943, in: Fröhlich (Hg.) 1993, Teil II, Bd. 10, S. 105)

Für die Propaganda bedeutete diese Entwicklung eine außerordentliche Herausforderung. Die Kapitulation am Ende des Ersten Weltkriegs, nach nationalsozialistischer Lesart das Resultat einer schwachen Führung und dem Komplott der „Novemberverräter“, sowie der zeitnahe Sturz des faschistischen Regimes in Italien, wirkten in dieser Situation als Drohung und Warnung. Zugleich waren die Möglichkeiten der Reichsführung, den Misserfolgen propagandistisch entgegenzutreten, einigermaßen eingeschränkt.

Trotz der immer wieder triumphierend dargestellten Abschusszahlen feindlicher Flugzeuge hatte Hermann Görings Luftwaffe den alliierten Bomberströmen offensichtlich wenig entgegenzusetzen. Der Reichsmarschall geriet in der nationalsozialistischen Führung zunehmend unter Kritik, wie Goebbels im Herbst 1943 in seinen Tagesaufzeichnungen immer wieder notiert hat. Hitler selbst trat nur noch selten in der Öffentlichkeit auf. „[...] Angesichts der Niederlagen und der sich häufenden Hiobs-Botschaften war Hitler kaum mehr bereit, vor sein Volk zu treten; ihm fehlte inzwischen jene unbedingte Selbstgewissheit und Siegeszuversicht, aus der er seine Überzeugungskraft zu schöpfen pflegte.“ (Wende 1994, 958-959)

Goebbels hatte Hitler drängen müssen, am 9. September nach einer halbjährigen Unterbrechung wieder im Rundfunk zu sprechen und zum Umsturz in Italien Stellung zu nehmen. Der nächste öffentliche Redeauftritt Hitlers erfolgte erst wieder am 9. November 1943, dem Jahrestag von 1918 und 1923. Hierzu notierte Goebbels: „

Ich bin sehr froh, dass der Führer nach so langer Zeit wieder einmal vor der Öffentlichkeit das Wort ergriffen hat. Es war auch die höchste Zeit. Bei dieser Rede handelte es sich sozusagen um das erlösende Wort.“ Goebbels Tagesaufzeichnungen vom 14.10.1943, in: Fröhlich (Hg.) 1993, Teil II, Bd. 10, S. 262)

Bis dahin lag es an Goebbels und dem von ihm geleiteten Propaganda- apparat, die Stimmung in der Bevölkerung angesichts der alliierten Erfolge aufrecht zu erhalten. Dabei geriet die gelenkte Nachrichtengebung seit der Winterkrise 1942/43 zunehmend selbst in Misskredit. Durch die Schürung falscher Erwartungen, die sich bald als falsch herausstellten, verlor die nationalsozialistische Nachrichtengebung sukzessive an Glaubwürdigkeit, die „Taktik der bewussten Fälschung, der Verzerrung objektiver Daten und des Verschweigens und Zurückhaltens von Nachrichten“ (Bohse 1988, 48) wurde dem Publikum immer stärker offenbar.

2.4.1 Goebbels Strategie der „neuen Realistik“

Seit Beginn des Jahres 1943 wird die „neue Realistik“ zum Leitbegriff der Propaganda. Goebbels arbeitet daran, vermehrt auf die Schwere des Kriegs hinzuweisen. Die Gegner sollen nicht mehr verächtlich gemacht und klein geredet werden und die Darstellung des „zähen Ringens“ als großem Weltkrieg bis in mythische Dimensionen betont werden.

Dahinter steht nicht nur der Versuch, eine erhöhte Medienglaubwürdigkeit zu erreichen. „Lassen sich [...] zusätzliche Kraftanstrengungen und Kriegsleistungen nicht mehr aus ideologisch verpackten Beuteerwartungen motivieren, so muss – dem realen Umschlagen des Eroberungskrieges in einen „Verteidigungskrieg“ entsprechend – versucht werden, diese Motivation aus der Beschwörung realer Bedrohung zu gewinnen.“ (Bohse 1988, 83)

Die „neue Realistik“ sollte die Bevölkerung auf die von Goebbels vertretene Linie der „Totalisierung“ der Kriegsführung einzuschwören, deren Grundsätze „in das Gewissen des Volkes einzuhämmern [seien]:

1. Der Krieg ist dem deutschen Volke aufgezwungen worden;
2. Es gehe in diesem Kriege um Leben oder Sterben;
3. Es gehe um die totale Kriegführung.“ (Boelcke 1967, 317)

Goebbels gab sich in der Defensive als Mann der Stunde. „Er spielte den Klugen und Besonnenen und zog das Volk ins Vertrauen, um seinen Glauben an die Führerschaft wiederherzustellen oder zu stärken.“ (Bramstedt 1972, 373). Um in der „publizistischen Vertrauenskrise“ (Bohse 1988, 48) der deutschen Medien seit dem Winter 1941/ 42 wenigstens seine persönliche Glaubwürdigkeit zu erhalten, äußerte er auch in seiner Kasseler Rede explizit: „Ich betreibe eine Nachrichtenpolitik, die sich nicht mit den Tatsachen stößt, sondern die Tatsachen bestätigt.“ (Heiber 1972, 277) Dazu gehörten auch Informationen zu den verheerenden Luftangriffen, die von der Presse, vor allem in den nicht betroffenen Landesteilen, nicht in ihrem vollen Umfang dargestellt oder gänzlich verschwiegen wurden.

2.4.2 Taktische Unklarheiten: Aufhetzen oder beruhigen?

Die publizistische Linie der nationalsozialistischen Propagandaleitung war jedoch keineswegs konsequent und strategisch geplant, sondern vielmehr einem Wechselspiel unterschiedlicher Tageserfordernisse unterworfen.

So erging am 15. September 1941 ein Erlass an Walter Thießler, den Leiter des Reichsrings für nationalsozialistische Propaganda und Volksaufklärung[9], in dem es heißt:

Es ist grundsätzlich angeordnet worden, dass ab sofort nach jedem Bombenangriff in einer Stadt eine entsprechende Pressemeldung, die auch auf die Schäden eingeht, soweit sie nicht militärischer Natur seien, gebracht werden kann. [...] Auch gegen eine Bildberichtserstattung bestehen nach Vorlage bei der örtlichen Zensur keinerlei Bedenken.

BArch, NS 18/ 680, Bl. 1

Es gab jedoch keine einheitlich Linie in der Frage, wie realistische die Bombenschäden tatsächlich dargestellt werden sollten. Die uneinheitlichen Kompetenzen hinsichtlich der Berichterstattung und Zensur sorgten zusätzlich für Chaos. Wie aus den Akten der RPL hervorgeht, neigten die Zensoren des OKW offenbar dazu, die Verluste und Zerstörungen zu beschönigen oder zu verschweigen. Die gewählte Darstellung hatte nach offizieller Darstellung vor allem die militärische Funktion, den Gegner über die tatsächlichen Erfolge seiner Luftangriffe im unklaren zulassen.

Protest regte sich jedoch in der Bevölkerung und bei Funktionären der NSDAP, als der Verdacht aufkam, dass auf beschönigte Meldungen von „geringen Schäden“ offenbar nur weitere, heftigere Bombardements der Alliierten folgten.

Goebbels selbst taktierte hin und her. Am 5. März 1943 war eine Mitteilung an Thießler ergangen, die sich mit dem Fortlassen der Totenzahlen bei Berichten über Fliegerangriffe befasst.

Dr. Goebbels äußerte heute Bedenken, dass bei jedem Bericht über die Bombenschäden bei Fliegerangriffen auch die Totenzahlen mit angegeben werden. Er hat Anordnung gegeben, jetzt ab und zu diese Mitteilung in leichteren Fällen nicht zu machen, damit, wenn wir einmal aus irgendwelchen Gründen, militärischer oder außenpolitischer Art, über einen schweren Fall nicht berichten wollen, uns hierfür die Möglichkeit besteht bleibt, ohne dass sie besonders auffällt.

BArch NS 18/ 1063

Grundsätzlich hatte der oberste Propagandist des NS-Staates jedoch offensichtlich keine Bedenken, dass sich die Veröffentlichung der alliierten Bombenangriffe negativ auf die „Haltung“ der Bevölkerung auswirken könnte. Im Gegenteil, er betrachtete die Berichterstattung als produktiv für seine Propagandastrategie der „neuen Realistik“. So heißt es in einer Mitteilung in den Akten der RPL vom 25. März 1943 bezüglich der propagandistischen Behandlung des Luftkrieges:

Dr. Goebbels ging heute wieder darauf ein, dass im Mittelpunkt der Luftkrieg stände. Wir hätten heute im Westen größere Verluste als im Osten.

Ganz besonders müsse sich die Propaganda zur Aufgabe machen, in den übrigen Teilen des Reiches jede unnötigen Illusionen zu zerstören, um die Härte der Lage aufzuzeigen.“

BArch, NS 18/ 772, Bl. 5

Zudem führte Weglassen der Opferzahlen offenbar zu einer Zunahme der „Gerüchte-Kommunikation“ in der Bevölkerung, die sich der Kontrolle der Administration entzog, wie ein in den Akten der RPL am 17.03.1942

paraphrasierter Bericht der Gauleitung Pommern zeigt:

„Das Verschweigen der Verlustzahlen bei Terrorangriffen der feindlichen Luftwaffe zeigte bisher stets als übelstes Ergebnis eine Flut von Gerüchten.

Mit Genugtuung kann diesmal festgestellt werden, dass die Bevölkerung nach Bekanntgabe der Verlustzahlen bei den letzten Terrorangriffen auf Berlin prompt und positiv reagierte.[...]“

BArch NS 18/ 1063

[...]


[1] Allgemein im Sinne der längerfristigen Propagandastrategie und hinsichtlich anderer Äußerungen und Publikationen Goebbels.

[2] Iring Fetscher: Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast 1943. 'Wollt Ihr den totalen Krieg?', Hamburg 1998.

[3] Allgemein hatten Vorträge des Volksbildungswerks eine bessere Resonanz als sonstige Propagandaveranstaltungen. Im SD-Bericht zu Inlandsfragen vom 8. November 1943 heißt es: „Es wird [aber] übereinstimmend festgestellt, dass die Bedeutung solcher Vorträge, wenn sie nach Thema und Redner geschickt ausgewählt und durchgeführt würden, nicht unterschätzt werden dürfen. Nach zahlreichen Beobachtungen würde gerade von Vorträgen Volksgenossen aller Schichten erfasst und angesprochen, die heute nur noch mit gewissen inneren Widerständen in politische Propagandaveranstaltungen zu bringen seien.“ (Boberach 1984, 5965-5966)

[4] „Im Gegensatz zu Hitlers Reden lassen sich die seines Propagandaministers als formal durchaus ansprechende Texte lesen – klar aufgebaut, von logischer Stringenz der Gedankenführung, raffiniert komponiert und stilistisch ausgefeilt. Diese Texte verstand er alsdann aufs wirkungsvollste umzusetzen, wobei er bis zuletzt als nüchtern kalkulierender und glänzend agierender Regisseur und Schauspieler in einer Person arbeitete.“ (Wende 1994, 960)

[5] Nach Angaben des Allgemeinen Wehrmachtsamtes für 1941 3.253 Tote, 1942 6.825 Tote. Im Juni 1943 nach Angaben des Statistischen Reichsamtes 9.004 Tote (Groehler 1990, 317)

[6] Angriff auf Hannover am 26.07.1943 mit 121 Flugzeugen und 133,8 Tonnen Bombenlast, Angriffe auf Kassel am 28. und 30.07.1943 mit insgesamt 368 Flugzeugen und 416,4 Tonnen Bombenlast (Groehler 1990, 128)

[7] Die Angriffe erfolgten am 22./23.09., 27./28.09., 8./9.10. und 18./19.10

[8] Alle Zahlenangaben aus Groehler 1990, 140 - 147

[9] Organisation der Reichspropagandaleitung der NSDAP (RPL), zuständig für die einheitlichen Führung der Propaganda aller Gliederungen und angeschlossenen Verbände sowie u.a. „Mund-Propagandaaktionen“ (vgl. BArch Findbuch NS 18, S. 3-4)

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Propaganda der Krise: Goebbels Reden 1943
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft)
Veranstaltung
Öffentliche Kommunikation in der Neuesten Zeit
Note
2,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
37
Katalognummer
V29624
ISBN (eBook)
9783638310925
Dateigröße
1125 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Analyse zweier Reden von Goebbels in Hannover und Kassel im Herbst 1943. Die Arbeit untersucht die Reaktion der nationalsozialistischen Propaganda auf allierte Bombardements und die Verbreitung der Reden des Propagandaministers im Medienverbund.
Schlagworte
Propaganda, Krise, Goebbels, Reden, Kommunikation, Neuesten, Zeit
Arbeit zitieren
Jan Tilman Günther (Autor:in), 2004, Propaganda der Krise: Goebbels Reden 1943, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29624

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