Daoistische Elemente im Roman "Die Reisen des Lao Can" von Liu E. Versuch einer Textanalyse im Kontext der Taigu-Schule


Seminararbeit, 2013

11 Seiten, Note: 5 (Schweizer Notenskala)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Der Begründer der Taigu Schule Zhou Gu

2. Liu E

3. Textanalyse

4. Fazit

Literaturverzeichnis

Einführung

Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, den spät-qingzeitlichen Roman „Die Reisen des Lao Can“ (老残游记 lǎo cán yóujì) im Kontext der synkretistischen Philosophenschule mit dem Namen Taigu (太谷 tji gǔ) zu analysieren. Ich werde mich in meiner Analyse ausschliesslich auf die daoistischen Elemente des Werkes beschränken.

Aufgrund der sehr spärlichen Forschungssituation um die Taigu Schule erscheint es mir sinnvoll, an dieser Stelle einige Anmerkungen zur aktuellen Forschungssituation und der Quellenlage zu machen. Um vorweg Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, muss erwähnt werden, dass die Taigu Schule eine philosophische Strömung war, die Ende des 18. Jh. von einem Herrn namens Zhou Gu (周毂 Zhōu Gǔ) aus der Provinz Anhui (安徽 ānhuī) gegründet wurde (Kühner 1996: 25). Auf den Begründer dieser Schule werde ich in einem gesonderten Teil näher eingehen. Ziel dieser Schule war es, die Drei Lehren Chinas (中国三 教 zhōngguó sān jijo) zu synkretisieren und ihre Gemeinsamkeiten zu unterrichten (Kühner 1996: 29).

Obwohl die Taigu Schule bereits Ende des 18. Jh. gegründet wurde, fand sie erst 1905 in einer Publikation von Liu Shipei (劉蕙孫 Liú Shìpèi), in welcher er eine Kurzbiographie über Wang Gen (王艮 Wáng Gèn) verfasste, erstmals öffentliche Beachtung (Kühner 1996: 15). Aufgrund der geringen Anzahl seriöser Veröffentlichungen zu dieser Schule von Aussenstehenden, entstand evidenterweise ein verfälschtes Bild dieser Schule und wurde daher oftmals als Sekte oder Religion bezeichnet (Kühner 1996: 15). Der Philologe Lu Jiye (陸冀野 L Jìyě) war der erste, der in einem 1927 veröffentlichten Aufsatz den Begriff Taigu Schule (太谷学派 tàigǔ xuěpji) benutzte und sehr darauf bedacht war, die Schule wieder in ein richtiges Licht zu rücken. Er konnte zeigen, dass die Schule keinesfalls eine Sekte war.

In den nächsten paar Jahrzehnten geschah dann nichts Bedeutendes mehr in der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Themas. In den fünfziger Jahren des 20. Jh. versuchte dann Liu Huisun (劉厚滋 Liú Huìsún), ein Nachkomme Liu Es (劉鶚 Liú È), dem Autor des hier behandelten Buches, erneut, die Forschung aufzunehmen. Er musste sich aber gezwungenermassen wieder von der Arbeit abwenden, da die Behörden zu dieser Zeit die Taigu Schule unglücklicherweise als Geheimsekte (会道门 huìdàomén) eingestuft hatten und er daher sich selbst in Gefahr gebracht hätte, wenn er seine Forschungen nicht unterlassen hätte (Kühner 1996: 16). Auch in Taiwan war die Forschung zu diesem Thema nicht möglich, da schlicht und einfach die nötigen Quellentexte nicht vorlagen (Kühner 1996: 16).

Glücklicherweise wurde Ende der achtziger, Anfang neunziger Jahre einigen ausgewählten Wissenschaftlern der Zugang zu diversen Quellentexten aus der Bibliothek in Taizhou (泰州 tàizhōu) gewährt, was die Forschung deutlich ansteigen liess (Kühner 1996: 16). Problematisch bleibt aber weiterhin der Umstand, dass bis dato noch keine dieser neuen Publikationen in westliche Sprachen übersetzt wurden und somit nicht ohne entsprechenden Aufwand nachvollzogen werden kann, wie der heutige Forschungsstand ist. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich chinesische Publikationen meist an anderen wissenschaftlichen Standards orientieren als jene, welche in Europa als akzeptiert gelten.

Die Konsequenz dieser doch etwas schwierigen Forschungssituation ist die Tatsache, dass, wie meine Recherche ergeben hat, das einzige deutschsprachige Werk zur Taigu Schule von Hans Kühner stammt, auf welches ich meine Arbeit stützen werde. Diese Arbeit ist so aufgebaut, dass im Folgenden eine nähere Betrachtung des Schulbegründers Zhou Gu und der Philosophie seiner Schule durchgeführt wird, um einen geeigneten Einstieg in die Thematik zu vollziehen. Danach werde ich das Leben des Autors Liu E beleuchten, das unerlässlich für das Verständnis des Buches ist, welches ich in einem dritten Teil auf die daoistischen Elemente analysieren werde. Der Grund für die Wahl der daoistischen Facetten des Buches liegt darin, dass Kühner in seinem Werk fast ausschliesslich die konfuzianischen Aspekte analysierte. Bezöge ich die buddhistischen Elemente ebenfalls mit ein, würde dies den Rahmen dieser Arbeit mit Sicherheit sprengen. Die Fragestellung, welche ich bei meiner Textanalyse zu verfolgen versuchen werde, ist die, ob der Autor Liu E tatsächlich die Philosophie der Taigu Schule in seinen Roman einfliessen liess. Und da dies auch den Daoismus beinhaltet, stellt dies ein geeignetes Ziel dar. Im Fazit werde ich dann resümierend die gewonnenen Erkenntnisse zusammenfassen.

1. Der Begründer der Taigu Schule Zhou Gu

Aufgrund der Tatsache, dass bis heute keine zeitgenössischen Quellen vorliegen, welche ein restlos gesichertes Bild von Zhou Gu geben könnten, muss sich auch die moderne Forschung auf spärliche Informationen aus den Texten von Zhou selbst oder seinen Schülern stützen. Erschwerend hinzu kommt der Umstand, dass viele biografische Schriften erst rund 50 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurden (Kühner 1996: 25). Als relativ gesichert gilt seine Abstammung. So geht man davon aus, dass Zhou Gu aus der Kreisstadt Shili (石隸 shílì) stammt. Diese liegt in der Präfektur Huizhou (徽州 huīzhōu) in der Provinz Anhui. Seine Lebensdaten sind mit grosser Wahrscheinlichkeit die Jahre 1775-1832 (Kühner 1996: 25). Über seine berufliche Laufbahn sind keine gesicherten Daten vorhanden. Da Zhou Gu schon sehr früh seinen Vater verlor, wurde ihm von seiner Mutter der gesamte Familienbesitz übertragen, sodass er aus dieser Situation heraus auf ausgedehnte Studienreisen gehen konnte. Das Ziel seiner Reisen war es, sich nach dem WEG zu erkundigen (Kühner 1996: 26f.). Es heisst weiter, dass er so weit reiste, dass er nur zum Neujahrsfest nach Hause kam, und ihm seine Mutter dann jeweils Kleider nähen musste. Diese Reisen, so muss angemerkt werden, waren nur möglich, da die Familie Zhou offenbar sehr vermögend war und Zhou Gu daher über die nötigen Ressourcen verfügte, sich solch ausgedehnte Reisen durch das gesamte Reich leisten zu können (Kühner 1996: 27). Auf seinen Reisen begegnete er schliesslich den beiden Eremiten Han Ziyu (韓子愈 Hán Zǐy ), einem Daoisten und einem Buddhisten namens Chen Shaohua (陳少華 Chén Shǎohuá). Diesen beiden Meistern wurden magische Fähigkeiten zugesprochen, wie auch Zhou Gu später selbst. Auf einer zweijährigen Reise mit den beiden Meistern erlangte Zhou Gu dann schliesslich, während er in tiefe Meditation versunken war, die Erleuchtung. Dies geschah im Jahre 1798, im letzten Jahr dieser Reise. Die beiden Meister, welche vorher Zhous Lehrer waren, erkannten seine Erkenntnis und wurden sogleich seine Schüler.

Nach dieser tiefsten aller spirituellen Erfahrungen begann Zhou Gu Schüler um sich zu scharen und seine Lehre zu verbreiten. Da einer seiner Beinamen Taigu war, wurde seine Lehre ebenso bezeichnet. Da er immer noch sehr viel unterwegs war, hielt er normalerweise seine Lehrreden in Teehäusern ab und diskutierte dort lebhaft mit seinen Schülern. Er zeichnete sich durch grosse Güte und viel Humor aus. So war er sich auch nicht zu schade, regelmässig mit Kindern Fussball zu spielen. Und doch wurde von ihm behauptet, dass er bloss mit einem dünnen Schilfrohr eine Tür mühelos spalten könne (Kühner 1996: 30f.).

Aus bis dato ungeklärten Gründen wurde Zhou Gu im Jahr seines Todes von der Regierung verhaftet. Es ist ziemlich sicher, dass er gegen kein geltendes Gesetz verstossen hat. Es lag wohl mehr daran, dass die Behörden den rasanten Anstieg seiner Anhängerschaft mit Argwohn beobachteten und ihm schliesslich Häresie und Ketzerei vorwarfen (Kühner 1996: 34). Kurz nachdem er wieder auf freiem Fuss war, erkrankte er schwer und sah sein Ende nahen. Er rief daher seine beiden engsten Schüler und Nachfolger Zhang Jizhong (張積中 Zhāng Jīzhōng) und Li Guangxin (李光忻 Lǐ Guāngxīn) zu sich und übergab ihnen die Herzlehre (心法 xīnfǎ).

2. Liu E

Liu E wurde am 29. September 1857 in der Stadt Dantu (丹徒 dāntú) geboren. Diese liegt im Landkreis Zhenjiang (镇江 zhqnjiāng) in der Provinz Jiangsu (江苏 jiāngsū). Da Liu E aus einer Beamtenfamilie stammte, war es somit naheliegend, dass auch er sich an den Staatsexamen versuchen würde. Es war ihm aber auch nach mehrmaligen Versuchen nicht gelungen, eine erfolgreiche Prüfung abzulegen. Nach diesen deutlichen Misserfolgen wandte er sich den Dingen zu, die ihn interessierten. Dies waren unter anderem Mathematik, Wasserbau, Tabakhandel und Medizin (Kühner 1996: 103).

Das erst Mal kam Liu 1876 mit der Taigu-Schule in Kontakt. Dies geschah mit einem der damaligen Patriarchen der Schule, Li Guangxin. Liu E befand sich damals auf seiner ersten Reise nach Yangzhou, wo er als Arzt praktizierte. Diese Begegnung schien einen so starken Einfluss auf Liu gehabt zu haben, dass er sich fortan mit dieser Schule auseinandersetzte und schliesslich auf seiner dritten Reise nach Yangzhou als Schüler aufgenommen wurde.

Mit seiner Karriere lief es zumindest in den folgenden Jahren sehr gut. Er erhielt die Gelegenheit, in den Jahren 1888-1894 in der Provinz Shandong ( 山 东 shāndōng) als Wasserbauer zu arbeiten. Obwohl vermutet werden kann, dass er mit einem gekauften Beamtentitel diesen Posten antrat, erwarb er sich dennoch grosse Verdienste, da er in technischen und mathematischen Belangen äusserst versiert war (Kühner 1996: 103). Seine Verdienste waren so gross, dass er sogar an den Zongli Yamen (總理衙門 zǒnglǐ yámén) in Beijing (北京 běijīng) berufen wurde. In der Hauptstadt wird ihm dann die Aufgabe zuteil, eine Eisenbahnlinie von Beijing nach Hankou (漢口 hjnkǒu) zu bauen. Da dieser Plan jedoch einigen Beamten Kopfzerbrechen bereitet, da sie Liu E als undurchsichtigen Emporkömmling sehen, scheitert dieses Projekt (Kühner 1996: 103f.). Auch als er sich anderen Projekten zum Bau von Eisenbahnlinien oder Rohstofferschliessung zuwendet, scheitern diese aus denselben oder ähnlichen Gründen (Kühner 1996:104).

Im Jahre 1900 verhalf er etlichen hauptstädtischen Beamten zur Flucht, nachdem der Boxeraufstand so vernichtend niedergeschlagen worden war. Er nutzte ausserdem die Gunst der Stunde und kaufte sämtliche kaiserlichen Getreidevorräte auf und verkaufte sie danach an die hungernde Bevölkerung. Aus welchen tieferen Motiven er dies tat, lässt sich heute nicht mehr sicher nachvollziehen (Kühner 1996:104).

Zwei Jahre später nahm er an einem überaus wichtigen Treffen der damaligen Patriarchen der Taigu-Schule und ihren Schülern teil. Die Tagesordnung dieser Versammlung war die Intention, den nördlichen und den südlichen Zweig der Schule wieder zu vereinen und eine permanente Niederlassung in Form einer Akademie in Suzhou (蘇州 sūzhōu). Liu E konnte sich dabei eine Position als wichtiger Mäzene erarbeiten (Kühner 1996: 105).

Liu merkte bald, dass er sich keine Stellung am Hof zusichern konnte, daher konzentrierte er sich darauf, für diverse ausländische Firmen zu arbeiten. Dies erregte die zeitgenössischen patriotischen Kreise in seinem Umfeld derart, dass er sich im Jahre 1903 genötigt sah, sich öffentlich zu verteidigen und seine Position zu legitimieren. Erstaunlich dabei ist die Tatsache, dass Liu E trotz vieler Misserfolge ein beachtliches Vermögen anhäufen konnte. Da damals wie heute die exakte Herkunft dieser Gelder unbekannt war, hatte man auch innerhalb der Taigu-Schule Vorbehalte gegen Liu (Kühner 1996: 105).

Ab diesem Zeitpunkt ging es stetig bergabwärts für Liu E. Da er sich seiner Position zu sicher war, fing er an, innerhalb der Taigu-Schule eine Führungsposition zu beanspruchen. Er wandte sich daher in einem Brief direkt an einen der beiden Patriarchen namens Huang Baonian (黃葆年 Huáng Bǎonián) “[…] Ihre Aufgabe ist die Lehre, meine ist die Sorge um die Wohlfahrt des Reichs.“ Mit dieser Aussage erhob er klar Anspruch auf eine gleichgestellte Position innerhalb der Schule, wie der Patriarch selbst. Dies wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt geduldet. Liu E befand sich zusehends in einer ernsten Lebenskrise, da er auch noch zusätzlich von den Behörden kritisiert wurde. Diese Situation war schlussendlich der Anlass, den Roman „Die Reisen des Lao Can“ zu schreiben. Dies gab ihm eine optimale Gelegenheit, mit all den ungeklärten Fragen aufzuräumen, die ihn schon lange beschäftigten. Damit er unerkannt blieb, veröffentlichte er seinen Roman unter dem Pseudonym Hongdu Bailiansheng (鴻都百煉生 Hóngdū bǎilijnshēng).

Der letzte Abschnitt Liu Es Leben ist wohl der tragischste. Liu E wird am 20. Juni 1908 verhaftet, ohne dass gegen ihn haltbare Anschuldigungen vorgelegen hätten. Um die Verhaftung zu legitimieren, wurden ihm Dinge vorgeworfen wie der illegitime Kontakt zu ausländischen Firmen in Jahre 1898, bei welchen er persönlichen Nutzen daraus gezogen hätte. Der wahre Grund wird jedoch in der Tatsache vermutet, dass Liu bei einem Eisenbahnprojekt Grundstücke in Pukou (浦口 pǔkǒu) in der Provinz Jiangsu gekauft hatte, welche nach der Bekanntgabe des Projekts erheblich an Wert gewannen. Einige Bauern beschuldigten ihn dann, ihnen sei dieses Land unrechtmässig weggenommen worden. Ausschlaggebend für seine Verhaftung könnte auch der Umstand sein, dass er sich für eine Modernisierung und gegen die Beamtenhierarchie geäussert hatte. Sein Kontakt zu Ausländern war den Behörden auch stets ein Dorn im Auge gewesen. Liu E wird daraufhin verbannt und stirbt am 23.8.1909. Die Todesursache ist bis heute nicht geklärt (Kühner 1996: 106f).

3. Textanalyse

In diesem Teil wird nun eine umfassende Textanalyse des Werkes „Die Reisen des Lao Can“ durchgeführt werden, wobei sich diese Analyse rein auf die daoistischen Elemente des Textes beschränken wird. Um einen geeigneteren Eingang in die Analyse zu finden, erscheint es mir sinnvoll, ein kurzes Resümee der Geschichte zu geben. Da sich meine Analyse auf die deutsche Übersetzung stützt, werden bei entsprechenden Fremdwörtern keine chinesischen Zeichen angegeben. In der Geschichte um den Protagonisten Lao Can befindet man sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh., in der späten Qing-Dynastie in China. Lao Can ist ein Herr höheren Alters, der im Verlauf des Plots in zwei Situationen kommt, in welchen er, durch seine Weisheit und seinen Verstand, zwei Kriminalfälle aufdeckt und zum Schluss des Buches Unsterblichkeit, resp. Buddhaschaft, erlangt. Dies ist die Rahmenerzählung. Hinzu kommen noch diverse Binnenerzählungen, welche den Leser durch das Buch führen. Diese sind aber nicht Gegenstand dieser Arbeit.

Gleich zu Beginn des Buches erfährt man über den Protagonisten Lao Can, der eigentlich den Namen Tie Ying trägt, dass dieser offenbar aus sehr armen Familienverhältnissen stammt und durch eine schicksalshafte Fügung einen daoistischen Weisen trifft, der ihn als Schüler aufnimmt und ihn zum Arzt ausbildet : […] Sein [Lao Cans]

Vater hatte es als Beamter bis zur dritten oder vierten Dienststufe gebracht, jedoch erwies er sich als unbegabt für praktische Dinge und verstand es nicht, zu Geld zu kommen.[…] Da nun Lao Can weder ein Familienerbe zu erwarten noch einen Beruf gelernt hatte, bekam er bald die Qualen der Kälte und des Hungers zu spüren. In dieser ausweglosen Situation ließ ihn der Himmel nicht im Stich und sandte ihm einen daoistischen Weisen, der mit seinem Klingelstock unterwegs war. Dieser rühmte sich, von den Unsterblichen in der Kunst der Krankenheilung unterwiesen worden zu sein, so daß es kein Leiden gäbe, das er nicht auf der Stelle kurieren könne. Da bat Lao Can den Weisen inständig, ihn zum Schüler zu nehmen. Nachdem ihm sein Lehrer alle geheimen Merkverse der Heilkunst beigebracht hatte, begab sich nun auch Lao Can mit einem Klingelstock, der von seinen Fähigkeiten als Arzt kündete, auf die Wanderschaft. […] (Liu E 1989: 16)

Als daoistischer Arzt ist Lao Can schon fast evidenterweise nicht nur in medizinischen Fragen sehr bewandert, sondern kennt auch die grossen daoistischen Klassiker. So erfährt man, als Lao Can sich eines Nachmittags mit seinem Freund Gao Shaoyin unterhält, dass er eine sehr seltene Ausgabe des Zhuangzi (Das 庄子 zhuāngzǐ, gehört mit dem 道德经 djodé jīng zu den beiden frühesten und wichtigsten Schriften der daoistischen Tradition, Anm. Au.) besitzt. So sagt Shaoyin erstaunt: […] Das ist ja das Buch Zhuangzi in der Holzblockausgabe von Zhang Junfang aus der Song-Zeit. Wo haben sie denn das her? Es gilt doch schon lange als verschwunden […]. Das ist eine echte Rarität. […] (Liu E 1989: 46).

Lao Can ist nicht nur sehr gebildet, er ist zudem noch äusserst bescheiden, da er kein Interesse an Reichtum hat (Liu E 1998; 86). Ein weiteres Merkmal eines daoistischen Weisen ist die Tatsache, dass er offenbar die dünnen Kleider eines Unsterblichen zu tragen scheint (Liu E 1989: 86) und sehr gerne Gedichte verfasst (Liu E 1989: 87). Auch sein hohes Mitgefühl deutet auf seine fortgeschrittene Spiritualität hin (Liu E 1989: 87).

In der Episode, in welcher Shen Ziping, ein jüngerer Vetter des Landrats Shen Dongzao, von Lao Can ausgeschickt wird, um für ihn eine Aufgabe zu erledigen, trifft dieser während eines Unwetters in einem Dorf in den Bergen auf einen Unsterblichen, der sich Gelber Drache nennt. Dieser dichtet sehr gerne (Liu E 1989: 125) und wird schliesslich von Ziping als Unsterblicher erkannt (Liu E 1989: 128, 137).

An einer dieser Szene folgenden Stelle kann gezeigt werde, dass Liu E die Taigu- Philosophie deutlich in seinen Roman einfliessen liess. Shen Ziping spricht mit einem sehr gebildeten Mädchen namens Yugu über den Gelben Drachen. Über ihn sagt Yugu folgendes:

[…] »Er [der Gelbe Drache] ist weder Buddhist noch Daoist, sondern trägt ganz normale Kleider«, war die Antwort. ÄEinmal sagte er zu mir: ›Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus, das sind nur die Ladenschilder. Die drei Geschäfte hinter den Schildern stellen Gemischtwarenhandlungen dar, wo jeder Brennholz, Reis, Öl oder Salz kaufen kann. Der konfuzianische Laden ist ein wenig grösser, in den beiden anderen geht es enger zu, doch die Waren, die sie anbieten, sind dieselben.‹ […] (Liu E 1989: 128). An dieser durchaus pragmatischen Metapher, so wie sie auch im Daode Jing vorkommt, lässt sich die synkretistische Lehre der Taigu-Schule nur zu deutlich erkennen. Als Shen den Gelben Drachen persönlich nach seinem richtigen Namen fragt, erwidert dieser, dass er ihn gerne für sich behalten würde (Liu E 1989: 136). Auch dies ist ein eher typisches Merkmal eines daoistischen Unsterblichen. Des Weiteren erfährt man über den Gelben Drachen, dass dieser scheinbar die Zukunft voraussagen kann. Eine Fähigkeit, die nur Buddhas oder Unsterbliche besitzen (Liu E 1989: 153). Die daoistischen Elemente verdichten sich dann, als der Gelbe Drache über die Yin-Yang Theorie und die daoistische Kosmologie spricht: […] Die Daoisten sagen: ›Himmel und Erde kennen kein Mitgefühl, für sie ist alles Lebende nur ein Strohhund. Der Weise kennt kein Mitgefühl, für ihn sind die Menschen nichts als Strohhunde.‹ Und weiter heißt es […] Alles was im Frühling und Sommer gedeiht, ist im Winter nicht mehr wert als gebrauchte Strohhunde - man kann sie nur noch wegwerfen. […] (Liu E 1989: 167). Im weiteren Verlauf der Geschichte erfährt man, dass es noch einen daoistischen Einsiedler nebst dem Gelben Drachen gibt. Dieser nennt sich Grüner Drache und hat grosses Wissen über Medizin und Kräuter: […] Hier im Gebirge wohnt nämlich in einer Höhle ein Einsiedler, ein Daoist, der sich ‚Grüner Drachen‘ nennt. Zufällig ist er an dem Tag hier vorbeigekommen, und als er mich weinen hörte, ist er eingetreten und hat gefragt: ‚Woran ist denn dein Alter gestorben?‘ Ich habe ihm das Kraut gezeigt. Er hat es in die Hand genommen und nur gelacht. Schließlich hat er gesagt: ‚Das ist kein Gift, das ist nur das Kraut Rausch der tausend Tage. Den kann man noch retten; ich kann euch das Gegenmittel besorgen. […] (Liu E 1989: 304). Der Grüne, sowie auch der Gelbe Drachen sind beides Schüler eines Meisters namens Zhou Er, welcher auf dem Huashan lebt: »Er [der

Grüne Drachen] soll ein Schüler des Meisters Zhou Er sein. […] Zhou Er lebte als Einsiedler in der Einsamkeit des westlichen Heiligen Berges Huashan. […] (Liu E 1989: 319). Später wird erläutert, dass es fünf Heilige Berge des Daoismus gibt, ein weiterer dieser Berge ist der Taishan (Liu E 1989: 323).

Im dritten Buch über die Nonne dieses Romans trifft Lao Can mit ein paar Freunden die buddhistische Nonne Yiyun. Es wird über ein Gespräch mit dem Grünen Drachen diskutiert, in welchem ebendieser Laozi zitiert: Laotse sagt in seinem Dao De Jing: ‚Alle einfachen Leute halten sich für etwas Besonderes. Nur ich bin einfältig und gemein. […] (Liu E 1989: 320). An einer späteren Stelle wird Laozi erneut zitiert, als Lao Can und seine Freunde mit Yiyun über die eher etwas zweifelhaften Sitten in ihrem Kloster sprechen: […] Laotse hat das gut ausgedrückt, als er sagte: ›Wer das Begehrenswerte nicht sieht, dessen Sinn bleibt ruhig.‹ […] (Liu E 1989: 335). Auch hier wird wieder die Taigu-Lehre deutlich, da eine buddhistische Nonne einen daoistischen Unsterblichen zitiert. In einer äusserst prägnanten Aussage werden von Yiyun die essenziell gleichwertigen Lehren Konfuzius‘, Buddhas und Laozis genannt. Dies ist ein weiteres Indiz für eine konsequente Einflechtung der Taigu-Lehre durch Liu E. Dort ist zu lesen: […]

Schließlich konnten nur noch Konfuzius, Laotse und Buddha selbst vor meinem Auge Gnade finden, unter den Lebenden gab es niemanden mehr, der nach meinem Sinn war. […] (Liu E 1989. 372).

4. Fazit

Die Textanalyse hinsichtlich der daoistischen Elemente hat gezeigt, dass sich in dem Roman rund zwei Dutzend Textstellen finden liessen, an welchen deutlich gezeigt werden konnte, dass die daoistische Komponente in dem Werk eine ebenso wichtige Rolle spielt, wie die konfuzianische und die buddhistische. Eine etwas gewagte Aussage kann sogar sein, dass der Daoismus als philosophische Strömung die Hauptposition einnimmt, da der Protagonist selbst ein Daoist ist. Rückblickend auf die Argumentation des Gelben Drachen wird diese Aussage jedoch sogleich völlig obsolet, da dieser ja erkannt hatte, dass die drei grossen Lehren Chinas in ihrer Essenz genau gleich sind. Deshalb legte er sich zu keinem Zeitpunkt auf eine fest. Dies tat auch Liu E erstaunlich konsequent und vorbildlich. Er schrieb mit dem überaus chinesischen Gedankengut von 儒释道 rúshìdào, einer weit verbreiteten Einstellung in China, die versucht, alle drei Lehren im Alltag zu vereinen.

Dies kommt in Liu Es Werk in jedem der drei Bücher zum Ausdruck. Demnach habe ich in dieser Arbeit die eingangs formulierte Fragestellung bearbeiten können. Eine mögliche weitere Analyse des Werkes auf die buddhistischen Elemente könnte sicherlich unter Berücksichtigung des bereits vorhandenen Kontextes einen abschliessenden Eindruck über die philosophischen Inhalte des Werkes geben.

Literaturverzeichnis

KÜHNER 1996: Kühner, Hans. Die Lehren und die Entwicklung der ÄTaigu-Schule“: Eine dissidente Strömung in einer Epoche des Niedergangs der konfuzianischen Orthodoxie. Otto, Harrassowitz Verlagseigentümer. 1. Auflage. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 1996.

LIU 1989: Liu, E (Autor). 老残游记 Die Reisen des Lao Can. Übersetzt von Hans Kühner. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1989.

Ende der Leseprobe aus 11 Seiten

Details

Titel
Daoistische Elemente im Roman "Die Reisen des Lao Can" von Liu E. Versuch einer Textanalyse im Kontext der Taigu-Schule
Hochschule
Universität Zürich  (Asien Orient Institut)
Note
5 (Schweizer Notenskala)
Autor
Jahr
2013
Seiten
11
Katalognummer
V295893
ISBN (eBook)
9783656938699
ISBN (Buch)
9783656938705
Dateigröße
638 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
daoistische, elemente, roman, reisen, versuch, textanalyse, kontext, taigu-schule
Arbeit zitieren
Bachelor Student Samuel Burkhard (Autor:in), 2013, Daoistische Elemente im Roman "Die Reisen des Lao Can" von Liu E. Versuch einer Textanalyse im Kontext der Taigu-Schule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/295893

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