Eine Untersuchung des schulischen Selbstkonzeptes von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Sprache


Examensarbeit, 2015

71 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Teil
2.1 Begriff: Selbstkonzept
2.1.1 Entwicklungen des Selbstkonzeptes
2.1.2 Einflussfaktoren
2.1.3 Zusammenhang zwischen Selbstkonzept und Leistungen
2.1.4 Wie entsteht ein günstiges oder ungünstiges Selbstkonzept?
2.2 Begriff: sonderpädagogischer Förderbedarf Sprache
2.3 Zusammenhänge zwischen Selbstkonzept und Sprachbeeinträchtigung
2.4 aktuelle Forschungen
2.5 Forschungsanliegen

3. Empirischer Teil
3.1 Beschreibungen des Forschungsinstrumentes
3.1 Gütekriterien
3.2 Stichprobe
3.3 Durchführung der Erhebung
3.4 Methoden der Datenauswertung

4. Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
4.1 Abkürzungen und Symbole
4.2 Ergebnisse
4.2.1 Mittelwerte
4.2.2 Werte nach Klassenzuordnung
4.2.2.1 Kreuztabellen

5. Diskussion der Ergebnisse
5.1 Hypothesenprüfung
5.2 Durchführung

6. Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

Jeder Mensch konstruiert sich ein individuelles und vielfältiges Bild von seinen eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dieses Bild seiner „selbst“ wird im Allgemeinen auch als Selbstkonzept bezeichnet und beeinflusst das Handeln einer Person in verschiedenen Situationen. Lernverhalten, Lernerfolg und Leistung von Schülern[1] stehen nicht nur unter dem Einfluss tatsächlicher Fähigkeiten, sondern werden auch von subjektiven Vorstellungen bedingt (vgl. Stiensmeier-Pelster & Schöne, 2008, S. 62). Wie ein Schüler sich selbst wahrnimmt, seine eigenen Fähigkeiten erlebt und bewertet, besitzt demnach eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Schulleistung. Schüler, die ihre eigenen Fähigkeiten hoch einzuschätzen lernen, im Vergleich zu Schülern, die ihre Fähigkeiten als gering taxieren, trotz gleicher Begabung schneller und effektiver. Somit besteht ein Zusammenhang zwischen den schulischen Leistungen und dem Selbstkonzept. Diese Korrelationen konnten in zahlreichen Studien bestätigt werden (vgl. Schöne et. al., 2012, S. 12). Die Vorstellung eigener Fähigkeiten und Kompetenzen wird auch als schulisches Selbstkonzept[2] bezeichnet. Dieses schulische Selbstkonzept verändert sich im Verlauf der Grundschulzeit. Besitzen Kinder zu Beginn der Schuleingangsphase noch eine sehr hohe Selbsteinschätzung hinsichtlich ihrer eigenen Begabung, sinkt diese mit zunehmendem Alter ab. Dennoch verbleibt das schulische Selbstkonzept in der gesamten Grundschulzeit in der Regel im positiven Bereich (vgl. Hellmich & Günther, 2011, S. 27). Die Art der Selbstzuschreibungen kann durch verschiedene Einflussfaktoren bedingt sein. So werden gegenwärtig als Einflussfaktoren unter anderem der soziale Vergleich, Erziehung und Leistungsbewertung diskutiert. Die Ausbildung eines stabilen Selbstkonzeptes gilt im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung als „Hauptsäule grundlegender Bildung“ und ist daher ein zentrales Bildungsziel in der Grundschule (vgl. Martschinke, 2014, S. 274). Ein günstiges Selbstkonzept ist bedeutsam für prekäre Übergänge wie der Schulstart, Wechsel aus der Grundschule in weiterführende Schulen oder die Rückbeschulung von Schülern aus Förderschulen in Regelschulen. Daher gilt die Förderung des Selbstkonzeptes als „pädagogisches Desiderat1 (vgl. Hellmich & Günther, 2011, S. 11).

Vor dem Hintergrund der Entwicklungsverläufe des Selbstkonzeptes bei Kindern im Grundschulalter und unter Berücksichtigung verschiedener Einflussfaktoren stellt sich im Rahmen dieser Arbeit die Frage, welche Selbstkonzepte bei Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Sprache angenommen werden können und ob der sonderpädagogische Förderbedarf im Bereich Sprache mit einem niedrigen schulischen Selbstkonzept einhergeht.

Der Sprache wird in Lehr- und Lernprozessen eine zentrale Rolle zugeschrieben. Sie ist „[...] Gegenstand, Medium und Steuerungsinstrument des Unterrichts“ (Dannenbauer, 2009, S. 108). Sprachliche Schwierigkeiten können schulisches Lernen und somit auch kognitive Prozesse negativ beeinträchtigen. Wenn sprachliche Beeinträchtigungen die schulischen Leistungen beeinflussen können und Schulleistungen im Zusammenhang mit dem Selbstkonzept stehen, stellt sich die Frage, ob diese Wirkungsweise auch eine Determinante des schulischen Selbst­konzeptes darstellt? Dies soll im Verlauf der Arbeit näher betrachtet werden.

Die Schwerpunkte dieser Arbeit sind einerseits, einen Einblick in die Bedeutung des Selbstkonzeptes für das pädagogische Handeln zu gewähren, und andererseits, das Wissen über das Konstrukt auf Kinder mit Förderbedarf Sprache zu transferieren. Dafür werden hierbei beide Konstrukte näher beleuchtet und in Zusammenhang gebracht. Neben der theoretischen Auseinandersetzung wird eine Erhebung an Schülern einer Sprachheilschule dargestellt. Ausgehend von der Hypothese, dass der sonderpädagogische Förderbedarf im Bereich Sprache mit einem niedrigen schulischen Selbstkonzept einhergeht, wird das schulische Selbstkonzept der Schüler mittels eines standardisierten Testverfahrens erhoben. Dies erfolgt durch die „Skalen zur Erfassung des schulischen Selbstkonzeptes“ (SESSKO) von Schöne et. al. (2012). Zur Untersuchung dieser These werden in dieser Arbeit die beiden theoretischen Konstrukte Selbstkonzept und Förderschwerpunkt Sprache näher erläutert. Dem schließt sich die Darstellung und Auswertung der eigens durchgeführten Erhebung an.

2. Theoretischer Teil

Das folgende Kapitel befasst sich zunächst mit dem Konstrukt Selbstkonzept. Nach einer Begriffsklärung wird anhand des Modells von Shaverlson et. al. (1976) die Strukturierung des Selbstkonzeptes erläutert. Weiter findet ein theoretischer Exkurs in die Selbstkonzeptforschung statt. Ziel dieser Arbeit ist es, das Selbstkonzept in seiner Komplexität darzustellen, gängige Modelle zu erläutern, um auf Basis dessen die Bedeutung für das pädagogische Handeln herauszuarbeiten und eine theoretische Grundlage für das untersuchte Konstrukt zu sichern. Dabei wird erst auf das globale und später auf das schulische Selbstkonzept eingegangen. Die Untersuchung befasst sich mit dem schulischen Selbstkonzept, weswegen eine Aufführung der verschiedenen Ebenen stattfindet. Im Anschluss folgt ein Blick in die Selbstkonzeptgenese. Da Kinder der Klassenstufe 4 die Zielgruppe der vorliegenden Untersuchung bilden, werden nur die entwicklungspsychologischen Aspekte des Selbstkonzeptes im Vor- und Grundschulalter reflektiert. Der Darstellung der Selbstkonzeptgenese folgt eine Betrachtung verschiedener Einflussfaktoren. Gerade für die Pädagogik ergeben sich die folgenden Fragen: In welchem Zusammenhang steht das Selbstkonzept mit der Schulleistung einzelner Kinder? Determiniert das Selbstkonzept die Schulleistung oder tut es dies nicht? und Wie wirkt sich ein negatives schulisches Selbstkonzept auf die Schulleistung aus? Diesen Fragen widme ich mich in einem weiteren Abschnitt und versuche anhand kleiner Beispiele, mögliche Zusammenhänge aufzuzeigen.

Im Weiteren befasst sich das Kapitel mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Sprache; hier wird versucht, das Konstrukt des Selbstkonzeptes mit der Personengruppe in Verbindung zu bringen. Anschließend folgt ein Blick auf die gegenwärtige Forschungslandschaft, indem das Forschungsanliegen näher erläutert wird.

2.1 Begriff: Selbstkonzept

Befasst man sich mit dem Konstrukt Selbstkonzept, setzt man sich zugleich mit einer großen Bandbreite von Begrifflichkeiten und Definitionen auseinander. So stößt man in der zeitgenössischen Literatur auf Begriffe wie Selbstbild, Selbstschema, Selbstmodell, Selbsttheorie oder Selbstwertgefühl, die als synonym für das Selbstkonzept bei Autoren Verwendung finden. Dabei variiert jedoch die inhaltliche Bedeutung der einzelnen Begrifflichkeiten. Festzuhalten ist, dass aktuell keine einheitliche Definition dieses Konstrukts vorherrscht (vgl. Eggert et al., 2003, S. 14). Im folgenden Abschnitt wird versucht, das Konstrukt Selbstkonzept zu definieren und Kausalitäten im pädagogischen Kontext zu betrachten.

Aus pädagogisch-psychologischem Blickwinkel wird das Selbstkonzept als „[...] die Gesamtheit der Einstellung zur eigenen Person“ gesehen (Mummendey, 2006, S. 38). Krapp beschreibt es als eine „[...] geordnete Menge aller im Gedächtnis gespeicherten selbstbezogenen Informationen“, welches er auch als „[...] organisatorisches Wissen über die eigene Person“ bezeichnet (Krapp in Hellmich & Günther, 2011, S. 20). Dieses Wissen über die eigene Person konstruiert sich das Individuum aus der Interaktion mit seiner unmittelbaren Umwelt. Jeder Mensch sammelt im Laufe seines Lebens eine Reihe von Erfahrungen über die eigene Person. Aus diesem Erfahrungsrepertoire entwirft sich der Mensch sein Selbstkonzept. Jedoch werden nicht alle Erfahrungen in das Selbstkonzept übernommen. Erfahrungen und Informationen mit persönlicher und emotionaler Bedeutung spielen bei der Selbstkonzeptgenese eine größere Rolle. Das Selbstkonzept stellt dabei ein multidimensionales System mit einem Netzwerk verschiedener Facetten dar (vgl. Eggert et al., 2003, S. 15).

Shaverlson, Hubert und Stanton (1976) generierten ein hierarchisch gegliedertes Modell (siehe Abbildung 1), welches diese Multidimensionalität impliziert (vgl. Beutel & Hinz, 2008, S. 37). In der pädagogisch-psychologischen Forschung findet dieses Modell aufgrund der „inhaltlich transparenten Form“ und der guten Überprüfbarkeit, häufig Verwendung (vgl. Marsh in Hellmich & Günther, 2011, S. 23).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 Das Modell von SHAVELSON et al. (1976), entnommen aus: PIOR (1998, S. 18)

Eine zentrale Rolle nimmt das allgemeine (generelle) Selbstkonzept in dem Selbstkonzeptmodell von Shavelson et al. (1976) ein. Dieses setzt sich aus dem schulischen und dem nicht-schulischen Selbstkonzept zusammen. Das schulische Selbstkonzept wird als „[...] das Konzept der eigenen Begabungen und den eigenen Fähigkeiten eines Individuums verstanden“ (Hellmich & Günther, 2011, S. 24) und segmentiert sich weiter in die Teilbereiche: Deutsch, Geschichte, Mathematik, Naturwissenschaften. Das nicht-schulische Selbstkonzept setzt sich aus dem sozialen (Freunde und Bezugspersonen), dem emotionalen (Gefühle) und dem physischen Selbstkonzept (physische Fähigkeiten und Aussehen) zusammen. Der Wirkungsweiser verläuft ausgehend von der Bewertung eigenen Verhaltens in spezifischen Situationen über die Teilbereiche, dem schulisch und nicht-schulischen Selbstkonzept und generiert sich in das allgemeine Selbstkonzept. Dieses gilt als relativ stabil, da Schwankungen auf geringeren Hierarchieebenen durch die einzelnen Ebenen gemildert werden. Die unteren Ebenen gelten aufgrund ihrer situativen Abhängigkeiten als deutlich instabiler. Nur große Veränderungen der unteren Ebenen wirken sich auf das allgemeine Selbstkonzept aus (vgl. Brüll, 2010, S. 30).

Mithilfe dieses Modells ist eine Ausdifferenzierung verschiedener Facetten des Selbstkonzeptes möglich, um „[...] schließlich von spezifischen Verhaltensweisen aus Rückschlüsse auf hierarchisch höher angeordnete Selbstkonzeptfacetten ziehen zu können“ (Moschner in Beutel & Hinz, 2008, S. 37).

Mit zunehmender Forschung kam es zu Einwänden am Modell von Shavelson et. al. (1976). Kritisiert wurde die Vorstellung eines übergeordneten Faktors der Selbstkonzepte im Bereich Mathematik und Deutsch. Shavelson et al. (1976) gingen davon aus, dass diese miteinander korrelieren. Forschungen zu dieser Thematik widerlegten diesen Gedanken (vgl. Brüll, 2010, 34). Daraufhin fand eine Weiterentwicklung des Modells durch Marsh und Shavelson (1985) statt, die durch eine Aufspaltung des schulischen Selbstkonzeptes in ein mathematisches und verbales Selbstkonzept geprägt ist (vgl. Abb. 2).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2 Hierarchische Struktur des schulischen Selbstkonzepts von Marsh & Shavelson (1985); entnommen aus: Hellmich (2011, S. 50)

Das Modell von Marsh & Shavelson (1985) beschreibt die Struktur des schulischen Selbstkonzeptes und geht davon aus, dass eine Summierung spezifischer Vorstellungen vorgenommen wird, die sich in globalen Vorstellungen aggregieren. Somit würde beispielsweise das sprachliche Selbstkonzept durch das Summieren der fachspezifischen Selbstkonzepte für Deutsch, Englisch, Französisch etc. gebildet. Diese generieren sich wiederum aus den aufgabenspezifischen Selbstkonzepten wie Grammatik, Literatur, Wortschatz etc.

Die klar gegliederte Struktur und die Differenziertheit dieses Modells ermöglichen die Ableitung von Interventions- und Fördermaßnahmen zur Stärkung des Fähigkeitsselbstkonzeptes (vgl. Schöne & Stiensmeier-Pelster, 2011, S. 49f). Das schulische Selbstkonzept gilt dabei als das „Selbstbild eigener Kompetenzen“ (Pohlmann in Shajek, 2006, S. 127), also als die Selbsteinschätzungen eigener Fähigkeiten und Leistungen einer Person. Diese selbstbezogenen Fähigkeitseinschätzungen sind für die Pädagogik von großem Interesse, da sie über motivatonale Aspekte Lern- und Leistungsprozesse beeinflussen. Neben dem Leistungsgedanken ist die Ausbildung positiver Selbstkonzepte für die schulische Sozialisation sowie psychische Gesundheit einer Person sehr bedeutungstragend (vgl. ebd., S. 127).

2.1.1 Entwicklungen des Selbstkonzeptes

Wie bereits am Modell von Shavelson erläutert stellt das Selbstkonzept die „[...] Akkumulation des Wissens über die eigenen Stärken und Schwächen in verschiedenen Teilbereichen“dar (Hellmich & Günther, 2011, S. 26). Die Generierung dieses Wissens ist ein komplexer Prozess. Im Säuglings- und Kleinkinderalter findet eine Abgrenzung der eigenen Person von der unmittelbaren Umwelt statt (vgl. Beutel & Hinz, 2008, S. 39). Der Säugling trifft zunehmend eine Unterscheidung zwischen dem „Ich“ und dem „Nicht-Ich“, und es entsteht eine erste allgemeine Differenzierung zwischen dem „selbstbezogenen“ und „außenbezogenen“ Wissen. Diese Differenzierung ist durch Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse von Reizen möglich und findet durch Interaktionen mit Bezugspersonen (zum Beispiel Mutter oder Vater) und Rückmeldungen mit der unbelebten Umwelt statt (vgl. Pior, 1998, S. 21). Durch die Verarbeitung sensorischer Informationen entwickelt der Säugling ein „Köper­Selbst“. Im Alter von acht Monaten erfährt das Baby zudem, dass sein Handeln Reaktionen in der Umwelt hervorruft, und es etabliert sich bei dem Kind eine „Ich- Andere-Perspektive“. Das bedeutet, dass das Baby nun in der Lage ist, neben sich als Subjekt auch zum Beispiel seine Mutter von anderen Menschen unterscheiden zu können. Diese Erkenntnisse bilden einen wichtigen Kompetenzzuwachs hinsichtlich der Selbstkonzeptgenese. In diesem Alter wird von der Entwicklung des globalen Selbstkonzeptes ausgegangen. Mit zunehmendem Alter differenziert sich die Selbstbeschreibung kontinuierlich weiter aus (vgl. Schuppener, 2005, S. 70).

Die Erweiterung der sprachlichen Kompetenzen im Alter von etwa zwei Jahren führt zu ersten Selbstbeschreibungen hinsichtlich des Geschlechts und Alters. Zudem verwenden jetzt die Kleinkinder das Wort „ich“ als sprachlichen Repräsentanten der eigenen Person (vgl. ebd., S. 71). Im Kindergartenalter macht sich das Kind selbst zum Gegenstand des Denkens. Allerdings ist nicht klar, wie das Kind über sich selbst denkt (vgl. Pior, 1998, S. 26). Mit steigenden kognitiven Fähigkeiten sind die Kinder in der Lage „[...] Repräsentationen abstrahierend verarbeiten zu können bzw. das Realbild (,so bin ich) von einem Idealbild (,so möchte ich sein) und einem geforderten Selbst (,so soll ich sein) zu unterscheiden“ (Damon & Hart in Beutel & Hinz 2008, S. 40). Ausdifferenziertere Formen der Selbstbeschreibung lassen sich bei Kindern im Vorschulalter beobachten. Kinder nennen nun vermehrt Merkmale, Attribute und Eigenschaften, um sich selbst zu beschreiben (vgl. Hellmich & Günther, 2011, S. 26).

Ein Kind im Alter von vier bis sieben Jahren beschreibt sich selbst anhand von Merkmalen wie Alter, Haarfarbe, Vorlieben etc. (Ich bin blond, ich mag Pferde, ich bin fünf.). Im Alter von acht bis elf Jahren findet zunehmend bei der Selbstbeschreibung ein Vergleich mit der Peergroup statt (Ich bin schneller, größer, besser als ...). Die Selbsteinschätzung wird mit wachsendem Alter ausdifferenzierter, realistischer und zunehmend stabil (vgl. Beutel & Hinz, 2008, S. 40).

Harter (1983) befasste sich intensiv mit der Selbstkonzeptgenese und konzipierte diesbezüglich ein Modell, welches auf Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung basiert. In ihrem Modell zur Entwicklung von Selbstkonzepten unterscheidet Harter vier Stadien:

1. Das präoperationale Denken
2. Das konkret operationale Denken
3. Das frühe formal-operationale Denken
4. Das späte formal-operationale Denken

Jedes dieser Stadien segmentiert sich in zwei Stufen (vgl. Abbildung 3). Auf der ersten Stufe herrscht eine noch globale Selbstbeschreibung, die sich im Übergang zur zweiten Stufe ausdifferenziert (vgl. Pior, 1998, S. 29). Zudem beschreibt Harter (1983) fünf Inhaltsbereiche: körperliche Merkmale (zum Beispiel Größe und Geschlecht), Verhalten (zum Beispiel Handlungen Vorlieben), Emotionen, Motive und Kognitionen. Diese fünf Inhaltsbereiche lassen sich hinsichtlich ihrer Dimension unterscheiden. Die körperlichen Merkmale und das Verhalten zählen zu der beobachtbaren Dimension, die Emotionen, Motive und Kognitionen hingegen zu den psychologischen Dimensionen (vgl. ebd., S. 29).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3 Hypothetische Dimensionen der ontogenetischen Selbstkonzeptentwicklung (entnommen aus: Pior, 1998, S. 30)

Mit Schuleintritt befinden sich die Kinder in der Regel im Alter von sechs bis sieben Jahren und verlassen die Grundschule mit ungefähr zehn bis zwölf Jahren. Diese Altersspanne kann nach Harter (1983) in das erste und zweite Stadium eingeordnet werden (vgl. Seyda, 2001, S. 95). Da sich jedoch diese Arbeit mit dem (schulischen) Selbstkonzept von Kindern der Klassenstufe 4 befasst, werden in diesem Abschnitt ausschließlich die Stufen 1 und 2 näher betrachtet.

Das Stadium 1 (präoperationales Denken) ist geprägt durch eine „ [...] voreilige Generalisierung von Konzepten“ (Pior, 1998, S. 29). Ist ein Kind in diesem Stadium davon überzeugt, dass es schnell rennen kann, so glaubt es, dass es auch gut im Singen, Malen und Tanzen wäre. Die Kinder nehmen eine globale Einschätzung vor, die sie auf alle Fähigkeiten übertragen. Dabei werden alle Fähigkeiten als entweder gut oder schlecht angenommen (Alles-oder-nichts-Denken). Im Übergang zur zweiten Stufe beginnt das Kind, zu differenzieren. Dabei realisiert das Kind, dass es in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Fähigkeiten haben kann. Diese bereichsspezifischen Fähigkeitsbeschreibungen sind jedoch noch nicht zeitlich und situationsübergreifend beständig (vgl. ebd., S. 29).

Im Stadium 2 (konkret operationales Denken) setzt sich das „Alles-oder-nichts- Denken“ weiter fort. Jedoch differenziert es sich auf übergeordnete Bereiche aus. So denkt ein Kind zum Beispiel, es wäre ein guter Schüler, weil es gut in Deutsch und Mathe ist. Dies führt zur Übergeneralisierung. Erst in der zweiten Stufe sind die Kinder in der Lage, eine situationsspezifische Differenzierung vorzunehmen, zum Beispiel: Ich bin gut im Lesen, aber schlecht in Mathematik (vgl. ebd., S. 30). Die Ausdifferenzierung eigener Fähigkeiten nimmt mit wachsendem Alter weiter zu.

Nach der Darstellung der aufgezeigten Entwicklung des Selbstkonzeptes bei Kindern im Vor- und Grundschulalter stellt sich die Frage, welche Einflussfaktoren auf die Selbstkonzeptentwicklung wirken.

2.1.2 Einflussfaktoren

Durch die Vorstellung, Bewertung und Einschätzung der eigenen Person konstruiert jeder Mensch ein individuelles Bild seiner „selbst“, welches durch Eigenent­scheidungen, aber auch durch gesellschaftliche Fremdbestimmung geformt wird (vgl. Beutel & Hinz, 2008, S. 35). Demzufolge können Einflussfaktoren des Selbstkonzeptes angenommen werden. In der aktuellen Literatur werden diverse Faktoren, unter anderem der soziale Vergleich, Erziehung und Leistungsbewertung, diskutiert, welche einen Einfluss auf die Selbstkonzeptgenese von Kindern einnehmen.

Um zu einem Urteil über die Höhe eigener Fähigkeiten zu gelangen, werden verschiedene Bezugsnormen[3] genutzt (individuell-temporale, soziale und kriteriale Vergleiche). Unter einer Bezugsnorm wird ein Referenzrahmen verstanden, mithilfe dessen eine Leistung beurteilt und verglichen werden kann (vgl. Stiensmeier-Pelster & Schöne, 2008, S. 64). Bei den individuell-temporalen Vergleichen werden die eigenen Leistungen mit den Vorleistungen aus früherer Zeit verglichen („Ich kann in der Schule weniger als früher.“). Nehmen Kinder einen Vergleich zu ihren Mitschülern vor, bedienen sie sich der sozialen Bezugsnorm („Ich bin weniger intelligent als meine Mitschüler.“). Sind die Vorstellungen über die eigenen Fähigkeiten kriterial verankert, vergleichen Kinder eigene Fähigkeiten mit gesetzten Maßstäben („Bezogen auf das, was wir in der Schule können müssen, finde ich, dass ich viel kann.“). Neben diesen drei Bezugsnomen können auch absolute Aussagen getroffen werden, die sich nicht explizit in einem Bezugsrahmen verorten lassen („Ich bin intelligent.“) (vgl. Schöne et. al., 2012, S. 11). Welcher Bezugsnorm sich eine Person bedient, hängt von persönlichen Faktoren ab. Eine Person, die nach Kompetenzerweiterung strebt, wird sich vermutlich an den individuell-temporalen Bezugsnormen orientieren und somit ihre Wahrnehmung eher auf Leistungs-veränderungen richten. Ist eine Person eher leistungszielorientiert, wird sie ihre Wahrnehmung wahrscheinlich auf die soziale Bezugsnorm richten (vgl. Stiensmeier-Pelster & Schöne, 2008, S. 67).

Das Bedürfnis nach Selbsteinschätzung und Steigerung der eigenen Fähigkeiten wird als Motiv für Vergleichsprozesse angenommen. Soziale Vergleiche gelten als wesentlich in der Einflussnahme des Selbstkonzeptes. „Soziale Vergleichsprozesse stellen in der Schule dabei die zentralen psychologischen Prozesse zur Determination der Genese akademischer Selbstkonzepte dar“ (Hellmich & Günther, 2011, S. 30). Wood (1996) definiert soziale Vergleiche als Denkprozesse, „[...] in denen es um Informationen über eine oder mehrere Personen geht, die in Relation zum Selbst gesetzt werden“ (Wood in Brüll, 2010, S. 42). Dabei finden vorwiegend „Aufwärts- und Abwärtsvergleiche“ mit einer nur geringeren Vergleichsdimension statt. Das bedeutet, dass soziale Vergleiche mit Personen vorgenommen werden, welche sich in ihrer Ausprägung zur eigenen Person nur geringfügig unterscheiden (vgl. Brüll, 2010, S. 31). Soziale Aufwärtsvergleiche, also Vergleiche mit besseren Klassenkameraden, haben negative Auswirkungen auf das Selbstkonzept. Soziale Abwärtsvergleiche wirken sich dagegen positiv auf das Selbstkonzept aus (vgl. Hellmich & Günther, 2011, S. 31). Dickhäuser & Galfe (2004) führen auf: „Trotz der negativen Konsequenzen sozialer Aufwärtsvergleiche werden diese gegenüber Abwärtsvergleichen bevorzugt, insbesondere, wenn die Leistung schlechter als erwartet ausfiel“ (Dickhäuser & Galfe in Brüll, 2010, S. 31). Zudem erwähnt Hellmich (2011, S. 32) in diesem Kontext den „big-fish-little-pond effect“ (BFLPE). In Abbildung 4 wird der BFLPE grafisch dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4 Grafische Veranschaulichung des BFLPE (entnommen aus: Köller 2004, S.2)

Der BFLPE beschreibt, dass zwei leistungsfähig identische Personen ausgehend von ihrem Umfeld ein unterschiedliches Selbstkonzept entwickeln können. Die wahrgenommene eigene Leistungsfähigkeit wird somit von sozialen Vergleichs­prozessen beeinflusst. Folglich ist das Selbstkonzept vom „gewählten Vergleichsstandard“ abhängig (vgl. Brüll, 2010, S. 67). Demzufolge wird man trotz gleicher Leistungsfähigkeit in einem leistungsstarken Umfeld ein schwächeres und in einem leistungsschwächeren Umfeld ein stärkeres (schulisches) Selbstkonzept ausbilden (vgl. ebd., S. 67). In der Studie zur „Persönlichkeits- und Lernentwicklung von Grundschulkindern“ (PERLE) von Gabriel et. al. (2009) wurde unter anderem untersucht, inwieweit der BFLPE auch im ersten Schuljahr beobachtbar ist. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass sich bereits Schulkinder der ersten Klasse bei der Einschätzung ihrer eigenen Schwächen und Stärken sozialer Vergleichs­informationen bedienen. Durch Rückmeldungen in Form von Leistungsbeurteilung und -bewertung erhalten die Kinder schon in der Eingangsphase die Möglichkeit, ihre eigene Leistung einzuschätzen und sich im Klassenverband leistungsmäßig zu positionieren (vgl. Hellmich & Günther, 2011, S. 32). Im Laufe der Grundschulzeit verändert sich die Bedeutung der Leistungseinschätzung. In der Schuleingangs-phase besitzt die Leistungseinschätzung der Eltern ein starkes Gewicht für das Selbstkonzept der Kinder. Ab Klassenstufe 3 nehmen mehr und mehr die Einschätzungen der Lehrer in ihrer Bedeutung für das Selbstkonzept zu (vgl. ebd., S. 34). Besonders die Notengebung hat einen hohen Einfluss auf die Selbstkonzeptgenese von Kindern. Sie wird als Mittel für soziale Vergleichsprozesse unter anderem. von Kindern, Lehrpersonen und Eltern genutzt. Die Studie Novara[4] untersuchte 2002 die Auswirkungen von Notengebung und Worturteil auf die Persönlichkeitsentwicklung von Grundschulkindern. Die Befunde der Studie zeigen, dass sich Kinder mithilfe der Notengebung ihre Fähigkeiten höher einschätzten als mit dem Worturteil. Diese Ergebnisse wurden damit begründet, dass durch die Noten soziale Vergleichsinformationen leichter genutzt werden können (vgl. ebd., S. 34).

Neben den oben genannten Einflussfaktoren gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede im Selbstkonzept, die bereits im Vor- und Grundschulalter beobachtbar sind. So schätzen Mädchen in diesem Alter ihre sprachlichen Fähigkeiten höher ein als die Jungen. Jungen hingegen fühlen sich kompetenter im mathematischen Bereich (vgl. Wolter et al., 2011, S. 120). Zu betonen ist, dass Mädchen und Frauen in den sogenannten MINT-Fächern[5] unterpräsent sind (vgl. Fritzlar & Grassmann, 2013, S. 7). Gründe dafür werden aktuell diskutiert. Die Studie „Trends in Mathematics and Science Study“ (TIMSS) untersuchte 2007 und 2011 Viertklässler und wies im Bereich Mathematik signifikante Leistungsdifferenzen zwischen Mädchen und Jungen auf. Weitere Untersuchungen zeigten, dass diese Differenzen schon in der Eingangsphase bestehen (vgl. ebd., S. 7). Mithilfe einer sogenannten Regressionsanalye wurden statistische Zusammenhänge zwischen diversen Variablen geprüft, und es wurde aufgezeigt, dass eher die Einstellung zur Mathematik und das mathematische Selbstkonzept Gründe für die geschlechtsspezifischen Leistungsunterschiede darstellen. So wird angenommen, dass das mathematische Selbstkonzept einen entscheidenden Anteil an der Leistungsdifferenz einnimmt (vgl. Brehl in Fritzlar & Grassmann, 2013, S. 7). TIMSS bestätigte diese Annahme und konnte aufweisen, dass Jungen ein höheres mathematisches Selbstkonzept als Mädchen besitzen (vgl. ebd., S. 8). Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede wurden von den Autoren Fritzlar & Grassmann (2013) auf Umwelteinflüsse zurückgeführt, und sie zählen diese zu den wesentlichen Einflussgrößen bei der Selbstkonzeptdifferenz der Geschlechter. Dabei gehen sie davon aus, dass durch einen geschlechtsspezifischen Erziehungsstil und durch gesellschaftliche Rollenbilder das Selbstkonzept von Jungen und Mädchen unterschiedlich beeinflusst wird. Schon im Säuglings- und Kleinkindalter werden zum Beispiel in der Spielzeugauswahl oder Spielanregung Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gemacht. Zudem wird in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens (zum Beispiel Elternhaus, Kindergarten, Schule, Medien) von den Kindern in Abhängigkeit ihres Geschlechts unterschiedliches Verhalten erwartet. Diese Erwartungen versuchen Kinder zu erfüllen, indem sie das gesellschaftliche Rollenbild übernehmen (vgl. ebd., S. 8), was die Selbstkonzeptgenese beeinflusst und wiederum Auswirkungen auf die Schulleistungen haben kann, denn: „Das Selbstkonzept wirkt sich auf nachfolgende Leistung aus und resultiert seinerseits aus den erbrachten Leistungen“(Wolter et al., 2011, S. 120).

[...]


[1] Im Folgendem wird zur Vereinfachung jeweils die männliche Form gewählt. Sofern Schülerinnen und Schüler nicht explizit benannt werden, sind mit dem Begriff Schüler sowohl Jungen also auch Mädchen gemeint.

[2] Als Synonym für schulisches Selbstkonzept finden in der aktuellen Literatur auch die Begriffe akademisches Selbstkonzept und Fähigkeitsselbstkonzept Verwendung.

[3] Die Bezugsnormen stellen das Grundgerüst des in dieser Arbeit verwendeten Testverfahrens (SESSKO) dar und werden daher an dieser Stelle aufgegriffen sowie kurz erläutert.

[4] NOVARA (Noten- oder Verbalbeurteilung - Akzeptanz, Realisierung und Auswirkungen) ist eine Längsschnittstudie zur Leistungsbeurteilung in der Grundschule.

[5] MINT - Fächer ist die zusammenfassende Bezeichnung für Berufe aus den Bereich: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik

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Details

Titel
Eine Untersuchung des schulischen Selbstkonzeptes von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Sprache
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Veranstaltung
Lehramt Förderschulen
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
71
Katalognummer
V295521
ISBN (eBook)
9783656944935
ISBN (Buch)
9783656944942
Dateigröße
3421 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Wissenschaftliche Hausarbeit für das erste Staatsexamen
Schlagworte
Selbstkonzept, Förderschwerpunkt, Staatsexamen, Hausarbeit
Arbeit zitieren
Gesine Eckert (Autor:in), 2015, Eine Untersuchung des schulischen Selbstkonzeptes von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Sprache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/295521

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