Carl Schmitt, die Wahrheit und das Politische

Zu den erkenntnistheoretischen Vorannahmen in Carl Schmitts ›Der Begriff des Politischen‹ (1932)


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2015

17 Seiten


Leseprobe


Einleitung

›Der Begriff des Politischen‹ (im Folgenden mit ›BP‹ abgekürzt) ist das Schlüsselwerk Carl Schmitts, und der vorliegende Text soll helfen, einen klaren Blick auf dieses Buch zu erlangen. BP polarisiert wie nur wenige andere Bücher der modernen politischen Theorie und erntet bis heute Reaktionen von vorbehaltloser Zustimmung bis zu völliger Ablehnung. In der Diskussion bleibt jedoch oftmals zu wenig beachtet, unter welchen Bedingungen Schmitt die Aussagen, die er trifft, sinnvollerweise treffen kann. Auf grundlegendster Ebene sind diese Bedingungen Schmitts Vorstellungen von Erkenntnis und Wahrheit. Zuvörderst sind deshalb seine erkenntnistheoretischen Grundlagen zu diskutieren und auf zentrale Punkte in BP zu beziehen.

Meine These lautet, dass Schmitt relativistisch denkt. Die Zusammenhänge dieses Relativismus mit seinem Modell des Politischen werden an mehreren Beispielen erklärt.Im Zuge dessen wird u.a. ein Deutungsangebot für Schmitts Begriff der seinsmäßigen oder existentiellen Negierung unterbreitet, mit der er den Begriff der Feindschaft näher bestimmt, und Leo Strauss’ Rezeption von BP thematisiert.

Der methodische Ausgangpunkt des vorliegenden Textes ist der hermeneutische Grundsatz, Texte als möglichst kohärent verstehen zu wollen, das heißt bspw.: Wenn in einem Text scheinbar offenkundige Einwände übergangen werden, dann sollte die Position des Autors so verstanden werden, dass diese Einwände für ihn keine Einwände sind; oder wenn ein Zusammenhang zwischen zwei Punkten nicht einleuchtet, dann sollte man sich das Denken des Autors vergegenwärtigen und einen übergeordneten Rahmen suchen, in dem sich der gesuchte Zusammenhang herstellen lässt. Das macht es mitunter erforderlich, implizite Voraussetzungen zu suchen, unter denen Aussagen eines Textes erst sinnvoll zu vertreten sind. Im Falle von BP sind solche Voraussetzungen Schmitts Ideen von Erkenntnis und Wahrheit.

Natürlich kann es passieren, dass ein Text einfach schlecht durchdacht ist und sich beim besten Willen kein Rahmen und keine Voraussetzungen finden lassen, um ihn als kohärent zu verstehen. BP scheint mir jedoch ein in sich stimmiger Text zu sein. Einige naheliegende Einwände lassen sich ausräumen und einige Zusammenhänge erhellen,wenn maneine erkenntnistheoretisch relativistische Position voraussetzt – dass also die begründete Entscheidung über Wahr und Falsch nur in eng umgrenzten Kontexten möglich ist, die auf unvereinbaren Grundlagen beruhen. Damit wird mit diesem Essay BP weder verteidigt noch abgelehnt. Wohl aber wird darauf hingewiesen, worauf man sich einlassen muss, wenn man BP verteidigen möchte, und was man angreifen muss, wenn man ihn ablehnt.

Nachfolgend wird zu einigen Thesen und Methoden in BP, die in einer engen Beziehung zu einem Erkenntnisbegriff stehen, nach naheliegenden Alternativen gesucht. Dabei wird angenommen, dass Schmitt diese Alternativen entweder kannte und wegen seines Erkenntnisbegriffs bewusst ausschloss oder dass BP relativistisch verstanden ein kohärentes Modell bildet, das den Verzicht auf solche Alternativen rechtfertigt.

Beispiel 1 – Der Ausgangspunkt des Politischen

Schmitt fragt, wodurch sich das Politische auszeichnet, wie sich ein Begriff des Politischen bestimmen lässt. Er parallelisiert dazu das Politische mit mehreren »relativ selbständigen Sachgebieten menschlichen Denkens und Handelns«(mit Praxisformen also) und gibt jeweils eine Grundunterscheidung an, die ein jeweiliges Sachgebiet bestimme.In der Wirtschaft sei diese Grundunterscheidung diejenige zwischen »Nützlich und Schädlich« bzw. »Rentabel und Nicht-Rentabel«, in der Moral »Gut und Böse«, in der Ästhetik»Schön und Häßlich«. Die Grundunterscheidungfür das Politische findet Schmitt in der Unterscheidung von » Freund und Feind «.[1] Er bestimmt also seinen Begriff des Politischen so, dass diejenigen Entscheidungen, Institutionen, Akteure usw. ›politisch‹genannt werden sollen, die in einer engen Beziehung zur Bestimmung von Freunden und Feinden stehen(wobei mit Feindschaft nicht der persönliche Nachbarschaftsstreit, sondern der potentiell gewaltsame Konflikt zwischen Kollektiven – prototypischerweise Staaten – gemeint ist.)

Bleiben wir um des besseren Verständnisses willen noch einen Moment bei dieser Begriffsbestimmung. Schmitts Vorentscheidung, nach einem einzelnen Spezifikum des Politischen zu fragen, lässt es bereits wahrscheinlich werden, dass er einen sehr schmalen Begriff des Politischen erhält. Nach diesem ist etwa eine Regierung politisch, wenn sie in der Lage ist, einem anderen Land den Krieg zu erklären und den Krieg zu führen. Eine Armee ist schon nicht mehr politisch, jedenfalls sofern sie nicht selbst über Krieg und Frieden entscheidet. Daneben lässt Schmitt noch die Rede vom Politischen in einem »sekundäre[n]«Sinne gelten, z.B. im Begriff »parteipolitisch« (30). Dabei muss es nicht um gewaltsame Auseinandersetzungen gehen, aber um Konflikte, zu deren Akteuren eine Partei gehört. Primär politisch bleiben für ihn aber gewaltsame Konflikte, in denen sich Kollektive von anderen Kollektiven abgrenzen. Wenn also z.B. eine Menschengruppe, die ein Territorium beansprucht und dafür kämpft (und sich damit vielleicht erst als Volk konstituiert, das nach erfolgreichem Aufbau staatlicher Strukturen ein Staatsvolk ist), so ist diese Menschengruppe eine politische Einheit. Politisch sind also nicht nur Staaten, sondern alle Kollektive, die potentiell bereit sind, gegen einen kollektiven Feind zu kämpfen. Ob sich die kämpfende Gruppe ethnisch, religiös, sprachlich, ökonomisch oder anders definiert, ist für Schmitts Modell gleichgültig.

Werfen wir nun einen Blick auf den eben beschriebenen begrifflichen und methodischenAusgangspunkt von BP. Dass Schmittbei Praxisformen und ihren Grundunterscheidungen ansetzt, begründet er nicht, sondern diese sollen eine »ohneweiteres einleuchtende Unterscheidung«bilden (26).Es fehlt also ein argumentativer Schritt zwischen der Fragestellung (Was ist politisch?) und der gewählten Methode ihrer Beantwortung (Suche nach Spezifika von Praxisformen). Denn weder muss das Politische mit solchen Sachgebieten parallelisiert werden, noch muss es in einer solchen Grundunterscheidung aufgehen, selbst wenn sie sich als spezifisch politisch erweisen ließe.

Gegen diese Vorgehensweise lässt sich deshalb einwenden, dass sie intuitionistisch ist. Das heißt, Schmitt setzt auf eine Intuition und darauf, dass seine Leserschaft diese Intuition ebenfalls plausibel findet. Teilt man Schmitts Intuition nicht, bietet er kein Argument für die Ausgangspunkte seiner Theorie an.Die Alternative bestünde darin, seine Ausgangspunkte als logisch notwendig auszuweisen. Schmitt hätte also versuchen können, zu zeigen, dass man mit seiner Fragestellung gar nicht anders kann, als bei Praxisformen und ihren Spezifika anzusetzen. In einer etwas schwächeren Version eines solchen Begründungsprogramms ließen sich historisch vorliegende Definitionen des Politischen (oder der Politik) diskutieren, und wenn diese als zu wenig tragfähig erscheinen, ließe sich ein neuer, stärkerer Ansatz suchen.

Warum unterlässt Schmitt eine solche Begründung?Sie setzt einen starken Vernunftbegriff voraus: Man muss annehmen, dass sich Theoriefundamente mit eindeutigen Aussagen als allgemein einsichtig ausweisen lassen. Nimmt man hingegen an, dass die Ausgangspunkte von BP auf einer Komplexitätsstufe stehen,auf der Aussagen auf selbst nicht mehr argumentativ einholbaren Annahmen beruhen, bietet sich Schmitts intuitionistisches Vorgehen an. Hat man solche Ausgangspunkte bestimmt, lässt sich eine Theorie auf ihnen aufbauen, und innerhalb dieser Theorie lässt sich argumentieren. Die Ausgangspunkte schaffen somit einen Kontext, in dem Aussagen gelten oder nicht gelten können. Aussagen sind dann relativ zu diesem Kontext. Sicherlich ist zwar die Aussagengeltung immer kontextabhängig; relativistisch ist es aber, wenn man wie Schmitt bereits eine einzelne Begriffsbestimmung (›Politisches‹) vom bloßen Einleuchten abhängig macht. Die Argumente, die Schmitt in BP vorträgt, sind dann nur für solche Leser brauchbar, die seinen Ausgangspunkten zugestimmt haben. Stimmt man diesen nicht zu, hat Schmitt nichts mehr anzubieten, weiljede gemeinsame Diskussionsgrundlage fehlt. Sein Relativismus zeigt sich aber auch in der Ausführung seiner Theorie, wie nachfolgend gezeigt werden soll.

Beispiel 2

Schmitt behauptet, im extremen Konfliktfall der Feindschaft seien nur die jeweiligen Konfliktparteien mitspracheberechtigt, weil die »Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens« an das »existentielle Teilhaben und Teilnehmen« gebunden sei (27). Neutrale, vielleicht vermittelnde Dritte könne es also nicht geben, weil sie die Feindschaft eines bestimmten Kollektivs schlichtweg nicht verstünden.

[...]


[1] Schmitt 2002, S. 26. Im Folgenden wird dieses Buch im Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert. Diese Ausgabe von BP ist identisch mit der Neuauflage von 1963, die den um ein Vorwort erweiterten Text von 1932 enthält. Weitere wesentliche Fassungen von BP sind die Erstfassung von 1927 und die Fassung von 1933, deren für die hiesige Fragestellung relevante Argumentation sich jedoch nicht von derjenigen der 1932er-Fassung unterscheidet.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Carl Schmitt, die Wahrheit und das Politische
Untertitel
Zu den erkenntnistheoretischen Vorannahmen in Carl Schmitts ›Der Begriff des Politischen‹ (1932)
Autor
Jahr
2015
Seiten
17
Katalognummer
V295472
ISBN (eBook)
9783656934196
ISBN (Buch)
9783656934202
Dateigröße
533 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
wahrheit, vorannahmen, carl schmitt, der begriff des politischen, lektürehilfe, einführung, zusammenfassung, Politik, politische Philosophie, Konservatismus, Relativismus, Klassiker, Erkenntnistheorie
Arbeit zitieren
Dr. Jan Leichsenring (Autor:in), 2015, Carl Schmitt, die Wahrheit und das Politische, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/295472

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