Das Menschenbild in Karl Philipp Moritz' psychologischem Roman "Anton Reiser"


Examensarbeit, 2003

74 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes

2 Anthropologie und Literatur
2.1 Die Lehre vom Menschen im 18. Jahrhundert – Anthropologie als Erfahrungswissenschaft
2.2 Das Menschenbild der Erfahrungsseelenkunde
2.2.1 Konzeption und Zielsetzung des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde
2.2.2 Bestimmung des Krankheitsbegriffs
2.3 Die literarische Darstellung der individuellen Lebensgeschichte als Medium zur Erforschung des Menschen
2.3.1 Literarische Anthropologie
2.3.2 Strukturelle und inhaltliche Aspekte des psychologischen Entwicklungsromans
2.3.3 Erzählerische Vorgehensweise im Anton Reiser
2.3.4 Selbstbeobachtung als Quelle der Menschenkunde in Erfahrungsseelen-kunde und ‚psychologischem Roman’

3 Rekonstruktion der Entstehung des Charakters Anton Reisers
3.1 Zum Verhältnis von Veranlagung und Umwelteinfluss
3.2 Die Bedeutung der Erfahrungen Anton Reisers für die Konstitution seines Charakters
3.2.1 Frühkindliche Erfahrungen: Elternhaus und Lehrzeit
3.2.2 Schule
3.2.3 Pädagogisch-didaktische Intention

4 Schlussbetrachtung: Das Menschenbild im Anton Reiser

5 Literaturverzeichnis

1 Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes

Dem Leitsatz folgend, „die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften“ [1] , rekonstruiert Karl Philipp Moritz in seinem ‚psychologischen Roman’ Anton Reiser die Entwicklung des Charakters der gleichnamigen Hauptfigur in der wechselseitigen Beeinflussung von persönlichen Anlagen und äußeren Lebensumständen.

Nachdem Fragmente der Lebensgeschichte Anton Reisers bereits 1784 im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde [2] , der von Moritz herausgegebenen ersten deutschen Zeitschrift für empirisch-analytische Psychologie, veröffentlicht wurden, erschien der ‚psychologische Roman’ von 1785 bis 1790 in vier Teilen. Der erste Teil erschien 1785, die Teile 2 und 3 im Jahr 1786, der vierte und letzte Teil 1790.

Dass der hier geschilderte Lebensgang Antons in außergewöhnlich hohem Maße auf der persönlichen Geschichte des Verfassers beruht, dass die auftretenden Personen, die Verhältnisse und Örtlichkeiten zutreffend benannt und beschrieben sind, ist von der Forschung nachgewiesen worden.[3] Der Untertitel Ein psychologischer Roman weist jedoch darauf hin, dass der Text nicht allein als autobiographisches Dokument gelesen werden will.[4] Die Zuordnung des Textes zur epischen Gattung des Romans, die im späten 18. Jahrhundert eine Aufwertung erfährt, macht zum einen deutlich, dass die Berücksichtigung der Erzählstrukturen für das Verständnis des Textes notwendig ist. Zum anderen rückt der Zusatz ‚psychologisch’ die Lebensgeschichte Antons in die Nähe jener ‚Fallgeschichten‘ wie sie im Magazin veröffentlicht wurden und betont den erfahrungsseelenkundlichen Anspruch des Verfassers.[5] Schon im Untertitel deutet sich also an, dass der Text ohne Rückgriff auf zeitgenössische psychologisch-anthropologische und poetologische Konzeptionen nicht hinreichend erfasst werden kann. Bevor sich die vorliegende Arbeit der eigentlichen Textanalyse zuwenden kann, ist daher eine Einordnung in den psychologisch-anthropologischen und literartheoretischen Diskurs der Zeit notwendig.

Sowohl im Anton Reiser als auch in der psychologischen Zeitschrift steht der Mensch in seiner individuellen, psychischen Beschaffenheit und in seinen konkreten Lebensverhältnissen im Mittelpunkt des Interesses. Diese neue Aufmerksamkeit auf den Menschen am Ende der Aufklärung steht im Zusammenhang mit der sich in dieser Zeit neu konstituierenden Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen. Es sollen daher die Entstehung und die Gegenstände der Anthropologie im deutschen 18. Jahrhundert skizziert werden und der Frage nachgegangen werden, welche Mittel zur Beförderung der Menschenkenntnis[6], in deren Dienst ‚psychologischer Roman’ und Magazin gleichermaßen stehen, als geeignet angesehen wurden.

Der enge Zusammenhang zwischen Anton Reiser und dem psychologischen Programm der Erfahrungsseelenkunde ist in der Forschung vielfach belegt:[7] Moritz‘ ‚psychologischer Roman’ stellt die literarische Umsetzung erfahrungsseelenkundlicher Grundsätze dar. Übereinstimmungen finden sich jedoch nicht allein auf der inhaltlichen Ebene, sondern betreffen auch die formale, erzählerische Vorgehensweise bei der Vermittlung der Psyche Antons. So kann die Programmschrift des Magazins, die Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre[8], als theoretische Begründung der Erzählstrukturen im Anton Reiser angesehen werden.[9] Die Frage nach dem Menschenbild im Anton Reiser kann aufgrund dieses konstitutiven Zusammenhangs nicht ohne Berücksichtigung des der Erfahrungsseelenkunde zugrunde liegenden anthropologischen Konzeptes beantwortet werden. Das Menschenbild der Erfahrungsseelenkunde offenbart sich insbesondere in der Konzeption und der Zielsetzung des Magazins sowie in der Bestimmung des Krankheitsbegriffs.

Dass Moritz zur Schilderung der Lebensgeschichte Antons die Erzählform des Romans gewählt hat, ist im Kontext der Aufwertung des Romans als literarische Gattung am Ende des 18. Jahrhunderts zu sehen. Diese Aufwertung wiederum liegt in einer neuen Sichtweise auf den Menschen, einem Wandel im Menschenbild begründet: Das moralische Interesse am Menschen wird durch ein psychologisches abgelöst, da weniger nach dem Wert und der normativen Geltung als nach der empirischen Entstehung und Entwicklung der Meinungen, Taten und Leiden des einzelnen Menschen gefragt wird.[10] Einen wichtigen Beitrag zur Etablierung des Romans als psychologisch-anthropologische Gattung leistet der 1774 erschienene Versuch über den Roman von Friedrich von Blanckenburg. Diese erste selbständige Romantheorie, die wir in Deutschland besitzen, betrachtet den modernen Roman – Vorbild ist hier Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon (1766/ 67) - als das „geeignetste Instrument, das Innere des Menschen in einer lückenlosen Kette von Kausalbegründungen nicht nur darzustellen, sondern diese Motivierungen durch Anschauung und Reflexion in ihrem ganzen Umfange selbst sichtbar zu machen.“[11] Die Tatsache, dass Moritz’ ‚psychologischer Roman’ Formulierungen enthält, die sich im Versuch Blanckenburgs wörtlich wieder finden,[12] bestätigt die Einbettung des Textes in den romanpoetologischen Diskurs der Zeit. Gleich in der Vorrede zum ersten Teil des Anton Reiser greift der Erzähler mit der angekündigten Schilderung der „ innere (n) Geschichte des Menschen“ (AR 6) einen zentralen Begriff der Romantheorie Blanckenburgs auf. Die wichtigsten strukturellen und inhaltlichen Merkmale, die der Roman als anthropologisch-psychologische Gattung herausbildet, sollen in der vorliegenden Arbeit - insoweit sie für die erzählerische Vorgehensweise und die Darstellungsabsicht des Anton Reiser bedeutsam sind – anhand der Praxis Wielands und der Theorie Blanckenburgs aufgezeigt werden.

Im Zentrum des ‚psychologischen Romans’ steht die innere Biographie des Protagonisten Anton Reiser, bei deren Darstellung es dem Erzähler besonders auf das „anfänglich klein und unbedeutend“ Scheinende ankommt, das oft im „Fortgang des Lebens sehr wichtig werden kann“ (AR 6).

Vermittels einer Analyse des Romans wird aufgezeigt, welche gesellschaftlich-sozialen, ideologisch-religiösen und individualpsychologischen Faktoren der Erzähler für die Entstehung der psychischen Konstitution Antons verantwortlich sieht. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Kindheitsphase und die frühe Jugend Antons, da hier der Darstellung des Anton Reiser zufolge die entscheidenden Prägungen stattfinden, die den späteren Lebensweg des Protagonisten bestimmen.

Indem in der Textanalyse die Faktoren, denen maßgeblicher Einfluss auf die charakterliche Entwicklung des Protagonisten zugeschrieben wird, herausgestellt werden, wird zugleich das im Roman vertretene Menschenbild sichtbar.

2 Anthropologie und Literatur

2.1 Die Lehre vom Menschen im 18. Jahrhundert – Anthropologie als Erfahrungswissenschaft

Der Begriff Anthropologie ist eine neuzeitliche Schöpfung. Er stellt eine Zusammensetzung der griechischen Worte ánthropos ‚Mensch‘ und lógos ‚Rede‘, bzw. ‚Wort‘ dar. Im klassischen Griechisch belegt ist nur anthropológos, was soviel wie ‚über andere Menschen reden‘ bedeutet. Das Wort anthropologia existiert überhaupt erst seit dem 16. Jahrhundert und bekommt hier seinen modernen Sinn als ‚doctrina humanae naturae‘, als Lehre vom (Wesen des) Menschen.[13] Über den Menschen, über sein Wesen und seine Natur hatte man schon in verschiedenen Zusammenhängen nachgedacht, aber als eine eigene wissenschaftliche Disziplin, die den Namen Anthropologie trägt, entsteht sie erst im 18. Jahrhundert.[14]

Auf welchem Weg erfolgt die Herausbildung der Wissenschaft vom Menschen, in welcher Tradition steht sie und welcher Methoden bedient sie sich? Die Entstehung der philosophischen Anthropologie lässt sich im Wesentlich auf eine Wende zur Lebenswelt und Natur und damit auf eine Distanzierung von Metaphysik, Naturwissenschaft und Geschichtsphilosophie, d. h. auf ein Misstrauen gegenüber den drei repräsentativsten Organen der Vernunft, zurückführen.[15] Im 18. Jahrhundert wird Anthropologie vor allem innerhalb der deutschen Schulphilosophie Titel einer philosophischen Disziplin, die sich der Erforschung der Natur des Menschen unter verschiedenstem Aspekt widmete. Im Zuge der Herausbildung der Anthropologie als philosophische Wissenschaft „emanzipiert sich die Schulphilosophie aus der theologisch orientierten metaphysischen Tradition und stellt sich der Frage: wie ist der Mensch zu bestimmen, wenn nicht (mehr) durch Metaphysik und (noch) nicht durch mathematisch-experimentelle Naturwissenschaft?“[16] Der Aufstieg der Anthropologie bedeutet damit zugleich den Fall der Metaphysik;[17] die Bestimmung des Menschen findet nicht mehr im metaphysisch-theologischen Diskurs statt, denn die philosophische Anthropologie entwickelt sich zu jener Philosophie des Menschen, die nicht (metaphysisch) auf Spekulation und nicht (physikalistisch) auf Mathematik und Experiment setzen will, sondern auf Naturbeschreibung und Lebenserfahrung ihre Menschenkenntnis stützt.[18]

‚Naturbeschreibungen’ und ‚Lebenserfahrungen’ treten an die Stelle von Metaphysik und Naturwissenschaft. Diese Veränderung des philosophischen Interesses, die Marquard als „Wende zur Lebenswelt“[19] beschreibt, ist eine erste Bedingung dafür, dass die philosophische Anthropologie entsteht und an Bedeutung gewinnt.[20] Zweite Bedingung für die Entstehung dieser Disziplin ist die „Wende zur Natur durch Abkehr von der Geschichtsphilosophie“[21].

Welches sind nun die Themenfelder und Gegenstände der sich neu konstituierenden Disziplin, die sich dem Menschen auf dem Weg der Erfahrung und Beobachtung zu nähern sucht? Welche Aspekte des Menschen sind vor allem am Ende der Aufklärung Gegenstand des Interesses? Das Themenfeld der Wissenschaft vom Menschen ist breit gefächert: Die „neue Philosophie der menschlichen Erfahrung“ befasst sich mit der „Untersuchung psychischer Wahrnehmungsvermögen, der individuellen Empfindungen und des Verhältnisses von Leib und Seele“[22]. Auch diejenigen Bereiche der Erfahrung sollen erfasst werden, die als nicht verstandesgestützt gelten. Hierzu gehören u. a. Akte der Sinneswahrnehmung, physiologische Prozesse, Empfindungen und Nervenreize.[23] Insbesondere die Untersuchung pathologischer Zustände wird als viel versprechender Weg zur Menschenerforschung angesehen.[24]

Zum Hauptthema der Anthropologie wird die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Zusammenhang von Leib und Seele:

Anthropologie ist die neue populäre Wissenschaft des 18. Jh.; sie befaßt sich mit dem ‚ganzen Menschen‘ als einem leib-seelischen Ensemble; sie will im Gegensatz zu den herrschenden Denktraditionen die alte Aufspaltung von Sinnlichem und Vernunft in ein ‚commercium mentis et corporis‘, eine Verbindung von Leib und Seele, umdeuten.[25]

Die Besonderheit der anthropologischen Rede vom Menschen im 18. Jahrhundert besteht darin, dass „sie von seiner Vernunft und vom ‚Anderen‘ dieser Vernunft, von Leib und Trieb [...] zugleich spricht, und vor allem, daß sie beides, Geist und Körper gleich ernst nimmt.“[26]

Ernst Platner sorgt mit seiner Anthropologie für Ärzte und Weltweise von 1772 für terminologische Verbindlichkeit, indem er eine Anthropologie als Einheit von Physiologie und Psychologie fordert.[27] Seine Wissenschaft vom Menschen will „Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen“ thematisieren; sie will wissen, „was die Natur aus dem Menschen macht.“[28] Dieser Begriff von Anthropologie war der die deutsche Spätaufklärung bestimmende.[29]

Karl Philipp Moritz nimmt in seinem Beitrag zur Erforschung des Menschen die Leitprinzipien der Anthropologie des späten 18. Jahrhundert auf.[30] Schon der Titel der psychologischen Zeitschrift, Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, macht den zentralen Stellenwert der Erfahrungen für diese Wissenschaft vom Menschen deutlich. Unter vorläufiger Aussparung von Urteil und Theorie geht es um die Beobachtung und Beschreibung des individuellen Falls. Dabei wird die Beobachtung des eigenen Ich zum bevorzugten, weil authentischsten Gegenstand der Beobachtung.[31] Neben dem Interesse für den konkreten Fall und der Orientierung an Erfahrung und Beobachtung findet sich der dezidiert aufklärerische Anspruch, öffentlichen Nutzen zu erzielen. Auch die deutliche Tendenz, bevorzugt die pathologischen Seiten der Natur des Menschen zu beobachten und zu beschreiben – im Magazin finden sich in den ersten fünf Jahrgängen beinahe ausschließlich Beiträge zur Rubrik der „Seelenkrankheitskunde“[32] – stimmt mit der gängigen anthropologischen Praxis der Spätaufklärung überein. Im Magazin und im ‚psychologischen Roman’ wird der Einfluss des Körpers auf die Seele zwar nicht völlig ignoriert, aber in erster Linie wird „nach einer rein psychologischen Erklärung der Seelenkrankheiten“[33] gesucht. Angestrebt wird eine genetische Herleitung der Krankheitssymptome zum Zwecke der Heilung. Umgesetzt findet sich diese Forderung im Anton Reiser, wo die Seelenkrankheit auf ihre erste Ursache, die Kindheitserfahrungen des Protagonisten, zurückgeführt wird.

2.2 Das Menschenbild der Erfahrungsseelenkunde

„Man sollte auch den geringsten Individuis nur ihre Wichtigkeit erst begreiflich machen, so würde ein ganz andrer Geist unter das Volk kommen.“ (A 96)

2.2.1 Konzeption und Zielsetzung des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde

Karl Philipp Moritz betritt mit der Herausgabe des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde das Problemfeld der menschlichen Seele und ihrer wissenschaftlichen Erforschung.[34] Unter späterer Mitarbeit von Carl Friedrich Pockels und Salomon Maimon wird das Magazin von 1783 bis 1793 in zehn Bänden zu je drei Stücken herausgegebenen. Zwischen dem ‚psychologischen Roman’ Anton Reiser und dem Magazin besteht ein konstitutiver Zusammenhang: Die Herausgabe der Zeitschrift umschließt die Entstehung des literarischen Textes zeitlich; Moritz hat im Jahre 1784, also noch vor Erscheinen des Romans, Fragmente aus Anton Reisers Lebensgeschichte[35], darunter den Aufsatz Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit (MzE I, 1, 50-54) im Magazin abgedruckt.[36]

Inhaltlich wie formal stellt der Anton Reiser die literarische Umsetzung erfahrungsseelenkundlicher Grundsätze dar.[37] Die Frage nach dem Menschenbild im Roman kann aufgrund dieses sowohl engen inhaltlichen als auch entstehungsgeschichtlichen Zusammenhangs nicht ohne Berücksichtigung des anthropologischen Konzeptes, das der von Moritz im Magazin betriebenen Erfahrungsseelenkunde zugrunde liegt, beantwortet werden. Im vorliegenden Kapitel soll daher das Menschenbild der Erfahrungsseelenkunde in seinen Grundzügen herausgearbeitet werden. Ausgegangen wird hierbei im Wesentlichen von der Ankündigungsschrift, Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre [38] , in der die wissenschaftliche Konzeption und die Zielsetzungen des Magazins vorgestellt werden, sowie von den im ersten Band des Magazins abgedruckten Grundlinien zu einem ohngefähren Entwurf in Rücksicht auf die Seelenkrankheitskunde. Der hier vertretene Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriff liegt dem im Roman entwickelten Krankheitsbild der Figur des Anton Reiser zugrunde.

Der „Erforschung und Betrachtung“ des Menschen selbst ist Moritz‘ Projekt gewidmet; denn, so fragt er als typischer Vertreter seiner Zeit[39] in der Vorrede zum ersten Band der Zeitschrift, „was ist dem Menschen wichtiger als der Mensch?“ (MzE I, 1, 7) Auch im Anton Reiser rückt der Mensch in den Mittelpunkt des Interesses, denn die Schilderung der Lebensgeschichte folgt dem Leitsatz „die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.“ (AR 6) Der Mensch in seiner individuellen Beschaffenheit, von dem Moritz „ohne jede Einschränkung oder ständische Differenzierung“[40] spricht, wird zum Maß aller Dinge. Diese neue Aufmerksamkeit aufs Individuum kann als das „Ergebnis eines Modernisierungsprozesses im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in dem sich ein allmählicher Übergang von der ständischen (stratifikatorischen) zur funktionsorientierten (‚bürgerlichen’) Gesellschaft vollzieht“[41], betrachtet werden. Die Unbestimmtheit des sich herausbildenden modernen Subjekts wird „in unterschiedlichen Varianten philosophischer, psychologischer, anthropologischer und literarischer Diskurse zu bestimmen versucht“[42].

Die detaillierte Rekonstruktion der inneren Geschichte des Helden im Verhältnis zu den äußeren Gegebenheiten im Anton Reiser stellt den Versuch Moritz’ dar, im Rückgriff auf zeitgenössische psychologische, anthropologische und literarische Diskurse zu bestimmen, wie menschliche Individualität entsteht. Damit sucht auch der Anton Reiser, den Moritz selbst als „die stärkste Sammlung von Beobachtungen der menschlichen Seele“ bezeichnet, die er „zu machen Gelegenheit gehabt habe“ (MzE IV, 3, 195), einen Beitrag zur Bestimmung des Menschen[43] zu leisten.

Schon ab 1782 wirbt Moritz mit dem programmatischen Aufsatz Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre für sein „ehrgeizig angelegtes Forschungsvorhaben, mit dem er die psychologisch Interessierten Deutschlands auf einer gemeinsamen Plattform organisieren wollte.“[44] Durch die Sammlung von psychologischen Fallgeschichten verschiedenster Ausrichtung in einer Zeitschrift sollte die breite Palette menschlichen Verhaltens zunächst einmal unter bestimmten Rubriken[45] gesammelt und nicht „eher Reflexionen angestellt [werden] bis eine hinlängliche Anzahl Fakten da sind, und dann am Ende dieses alles einmal zu einem zweckmäßigen Ganzen geordnet“ (A 90) werden. Ausgangspunkt der sich als Erfahrungswissenschaft verstehenden Seelenkunde sind Beobachtungen;[46] es sollen „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“ (MzE I, 1, 8) geliefert werden. Mit dieser Forderung richtet sich Moritz gegen eine vorschnelle, vernunftbestimmte moralische Beurteilung menschlichen Verhaltens.[47] Unter Fakten versteht er beispielsweise „eigne wahrhafte Lebensbeschreibungen, oder Beobachtungen über sich selber“, „Beßrungsgeschichten von Jünglingen, und Erwachsenen in jedem Alter“ (A 89), „Charaktere und Gesinnungen aus vorzüglich guten Romanen und dramatischen Stücken [...]. Vorzüglich aber Beobachtungen aus der wirklichen Welt“ (A 90). Auf das bloße Zusammentragen von Fakten bleibt das wissenschaftliche Programm des Magazins jedoch nicht beschränkt, denn der hier stattfindende Austausch von Erfahrungen und Beobachtungen soll zu allgemeinen Erkenntnissen führen:

Dann müßten aber schlechterdings nur wirkliche Fakta darin abgedruckt werden, und wer sie einsendete, müßte der Versuchung widerstehen, Reflexionen einzuweben, so würde es sich vielleicht von selber fügen, daß mehrere nach und nach eingesandte Fakta einen bisher zweifelhaften Satz endlich bestätigen, oder einen anderen einschränken [...] Dann ist es vollendet, wenn alle Ausnahmen bemerkt sind, wenn die Fakta sich immer so einfinden, daß sie keine Ausnahme mehr von der Regel machen. (A 90f.)

Auf diesem Weg könne „das menschliche Geschlecht durch sich selber mit sich selber bekannter werden, und sich zu einem höhern Grad der Vollkommenheit emporschwingen“ (A 90). Mehrung der Menschenkenntnis um der Vervollkommnung der Gattung Mensch willen ist das hehre Ziel, das sich Moritz mit der Inangriffnahme seines Projekts der Erfahrungsseelenkunde setzt. Der Glaube an die prinzipielle Vervollkommnungs- und Verbesserungsfähigkeit des Menschen, der hier zu Tage tritt, steht deutlich im Zeichen des aufklärerischen Fortschrittsoptimismus. Der Weg ins Innere des Menschen erfolgt zunächst über Selbstbeobachtung und Selbsterfahrung sowie „moralische Ärzte“, die nicht wie die Vernunftmoral von den „Individuis“ abstrahieren, sondern „spezielle Beobachtungen“ (A 88) anstellen.[48]

Moritz stellt einen engen Zusammenhang zwischen Beobachtung, Selbsterkenntnis und dauerhaftem Glücklichsein her. So ist für ihn die durch Selbstbeobachtung gewonnene „Erkenntnis seiner selbst“ (A 90) Bedingung dafür, dass der einzelne Mensch vollkommener und damit zugleich glücklicher und zufriedener werde. Glücklich könne der Mensch aber nur sein, wenn er geistig gesund sei. Dieser Erkenntnis verdankt sich die therapeutische Ausrichtung des Magazins, die insbesondere in den Rubriken zur „Seelendiätätik“[49] und „Seelenheilkunde“ zum Tragen kommt. Im ersten Band schreibt Moritz im Vorwort der Rubrik zur „Seelendiätätik“:

Wer also fortdauernd glücklich zu seyn wünscht, muß sich aus sorgfältigen Beobachtungen über sich selbst, nach und nach seine eigne Seelendiätätik abstrahiren, und in dieser heilsamen Wissenschaft immer vollkommener zu werden suchen. (MzE I, 1, 85)

Moritz’ Psychologie steht im Dienste der Beförderung der Menschenkenntnis. Maßstab für sein Erkenntnisinteresse an der Seele ist das individuelle Glück des Einzelnen, das wiederum die Voraussetzung für die Glückseligkeit aller Menschen darstellt.[50] Das Neue an Moritz’ Projekt liegt nicht in der methodischen Vorgehensweise und der übergeordneten Zielsetzung, sondern in der therapeutischen Ausrichtung begründet. Insbesondere die Krankheiten der Seele gelten als aufschlussreich, „weil sie ex negativo auf das, was Gesundheit, Glück, Zufriedenheit sein könnte verweisen und helfen, es zu erreichen.“[51] Das Glück des Einzelmenschen sucht Moritz im Magazin zu erreichen, indem er krankhafte Seelenzustände beschreibt, die Ursachen analysiert und therapeutische Vorschläge macht.[52]

Neben der therapeutischen verfolgt Moritz auch eine pädagogisch-didaktische Zielsetzung: Moritz spricht in den Aussichten deutlich als Pädagoge[53], denn es geht ihm – wie er einleitend bemerkt - um die „moralische Bildung des jugendlichen Herzens“ (A87):

„Was ist nötiger, in ein junges Herz einzudringen, als die Kenntnis dieses Herzens, und was ist schwerer, als eben dieses!“ (A 87)

Um auf den jugendlichen Menschen einwirken zu können, ist Moritz’ Ansicht nach die Kenntnis des Herzens notwendige Voraussetzung. Auf die Hindernisse, die sich hierbei in den Weg stellen, kommt er direkt zu sprechen: Die Gesetze der Höflichkeit sind es, die dazu führen, dass der Mensch schon von frühester Jugend an lernt, sich zu verstellen, so „daß das Gepräge der Seele von dem Angesichte des Menschen schon so früh verwischt“ (A87) wird. Dies erschwert es dem Beobachter, zum Herzen vorzudringen. Der Ton, die Mienen, die Worte sind nicht mehr „natürlicher Ausdruck der Empfindung“ (A 88), sondern vielmehr Produkt der Sozialisation des Menschen. Auf diese Weise wird mit der Zeit ein „dichter Vorhang“ (A 88) gewebt, den der Blick des Beobachters der Herzen nicht mehr so leicht zu durchdringen vermag. Gerade dem Schulmann sind laut Moritz aber viele Gelegenheiten gegeben, „Beobachtungen über den Menschen anzustellen“, da er gegenüber dem Erzieher „den Vorteil der Mannigfaltigkeit der Subjekte“ (A 97) habe und somit Vergleiche anstellen könne. Abgeleitet aus seinen eigenen Erfahrungen als Lehrer, gibt Moritz im Folgenden an Schulmänner gerichtete Anweisungen zur Schülerbeobachtung und fordert dazu auf, diese Beobachtungen „zum allgemeinen Besten bekannt“ zu machen und sie „in ein zu veranstaltendes Magazin der Experimentalseelenlehre “ mit einzurücken; denn „dadurch würde dies zugleich eines der wichtigsten Werke für die Pädagogik werden.“[54] (A 99) Im Anton Reiser manifestiert sich das pädagogische Interesse Moritz‘ vor allem in den detailreichen Schilderungen des Schulbetriebs und in den an Lehrer und Pädagogen gerichteten Appellen und Mahnungen des Erzählers. Mit den im ‚psychologischen Roman’ verfolgten pädagogisch-didaktischen Absichten, die Gegenstand der Textanalyse der vorliegenden Arbeit sind, bewegt sich Moritz „ganz im konventionellen Rahmen des aufgeklärten Literaturbegriffs“[55].

2.2.2 Bestimmung des Krankheitsbegriffs

Wie weit mannichfaltiger, verderblicher, und um sich greifender als alle körperlichen Uebel, sind die Krankheiten der Seele! Wie weit unentbehrlicher, als alle Arzneikunde für den Körper, wäre dem menschlichen Geschlechte eine Seelenkrankheitskunde, die es noch nicht hat! Vielleicht deswegen noch nicht hat, weil eine solche wohltätige Wissenschaft [...] noch tausendmal mehr Beobachtungen und Erfahrungen, als die Arzneikunde, voraussezt.[56]

Die therapeutisch-pragmatische Ausrichtung des Magazins wird mit dieser eindringlichen Forderung nach einer Seelenkrankheitskunde offenbar. Kenntnisse über die Seele und die Krankheiten derselben können Moritz zufolge nur auf der Basis von vielfältigen ‚Beobachtungen’ und ‚Erfahrungen’ erworben werden. Da alles „ängstliche Hinarbeiten auf ein festes System“ vermieden werden solle, müsse zunächst „alles nur ohngefährer Entwurf seyn“ (MzE I, 1, 28). Als einen solchen Entwurf betrachtet Moritz die Grundlinien zu einem ohngefähren Entwurf in Rücksicht auf die Seelenkrankheitskunde, die er, sobald sich „Fakta einfinden, welche dagegen streiten“ (MzE I, 1, 28), sogleich wieder korrigieren und abändern werde.

Moritz entwirft in den Grundlinien einen Krankheits-, bzw. Gesundheitsbegriff, der „theologie-, metaphysik- und moralkonventionsfrei [ist] und rein anthropologisch“[57] geprägt ist. Im Zentrum der ausdrücklich aufs Individuum ausgerichteten[58] Seelenkrankheitskunde steht die Forderung nach einem Gleichgewicht unter den ‚Seelenkräften’[59]. Moritz hält es hierbei nicht mehr für nötig, bestimmte Vermögen oder Seelenkräfte zu definieren, sondern befasst sich allein mit deren Verhältnissen zueinander:[60] Besteht „der gesunde Zustand der Seele in der verhältnißmäßigen Übereinstimmung aller Seelenfähigkeiten“ (MzE I, 1, 83), so äußert sich Seelenkrankheit folgerichtig in dem „Mangel der verhältnismäßigen Übereinstimmung aller Seelenfähigkeiten“ (MzE I, 1, 28).

Es kömmt daher nicht sowohl auf die Stärke oder Schwäche einer einzelnen Seelenfähigkeit, an und für sich betrachtet, an, als vielmehr, in wie ferne dieselbe, in Absicht aller übrigen Seelenfähigkeiten, entweder zu stark oder zu schwach ist. Eine sehr starke Einbildungskraft kann daher bei einem solchen, wo Gedächtniß, Beurtheilungskraft u.s.w. ihr die Waage halten, in einem völlig gesunden Zustand der Seele statt finden; bei einem anderen, wo dies nicht der Fall ist, kann sie Krankheit seyn. (MzE I, 1, 28)

Das Vorhandensein einer ‚normalen‘, allgemein verbindlichen Seelengesundheit wird verneint. Angenommen wird hier ein individueller Seelengesundheitszustand, der sich zudem im Laufe des Lebens ändern kann. Dementsprechend kann es für den „moralischen Arzt“ (A 88), der sich der Behandlung der Krankheiten der Seele widmet, keine allgemeine Strategie oder Universalarznei geben. Allein durch die eigne spezielle Beobachtung und Erfahrung, durch die Beschäftigung mit Individuen wird man dem Menschen gerecht; denn „ein jeder Mensch [hat] nach dem ihm eignen Maaß seiner Seelenfähigkeiten, auch seinen eignen Seelengesundheitszustand“ (MzE I, 1, 29). Moritz’ Begriff von seelischer Gesundheit bzw. Krankheit ist am je einzelnen und besonderen Menschen orientiert und kann daher als anti-normativ bezeichnet werden.[61] Da es keine Norm geben kann für das, was unter Gesundheit zu verstehen ist, kommen bei Moritz auch die „geringsten Individuis“ (A 96), die aufgrund ihres abweichenden Verhaltens von der Gesellschaft ausgegrenzt werden, in den Blick. Den von der Norm Abweichenden, den Außenseitern und seelisch Erkrankten soll geholfen werden und ihnen selbst „ihre Wichtigkeit erst begreiflich“ (A 96) gemacht werden.[62]

Für das 18. Jahrhundert war jedoch aufgrund seiner vernunftorientierten, moralischen Betrachtungsweise die Ansicht, dass psychopathologische Erscheinungen eine Krankheit im medizinisch-psychologischem Sinne darstellten, denen also therapeutisch zu begegnen sei, keineswegs Konsens.[63]

Abweichendes Verhalten wurde moralisch verurteilt, da jedem Menschen eine „uneingeschränkte Verfügbarkeit über die Vernunft und die von ihr geleitete Willensfreiheit“[64] zugesprochen wurde. Psychische Störungen erscheinen aus dieser Perspektive als „zwangsläufige Folgen der Leidenschaften […], die nicht durch die Vernunft gezügelt zu haben dem betreffenden Menschen selbst anzulasten sei.“[65] Dieser Betrachtungsweise steht Moritz’ Ansatz durch seine sozialpsychologische Ausrichtung klar entgegen: Die besonderen Umstände charakterlicher, familiärer und sozialer Art geraten in den Blick, da sie als Faktoren betrachtet werden, die die psychische Entwicklung des Einzelnen bestimmen; Abweichungen erhalten bei Moritz den Status einer psychologisch erklärbaren Krankheit, „deren Ursachen nicht ohne weiteres in der Macht des Betroffenen stehen.“[66]

Welches sind nun die Symptome der kranken Seele? Wie äußert sich Seelenkrankheit? Unter der Voraussetzung, dass „das Wesen der Seele […] in der Thätigkeit besteht“ (MzE IV, 1, 30), bedeutet Seelenkrankheit für Moritz eine Beeinträchtigung der Fähigkeit der Seele, tätig zu sein. Als Symptome der kranken Seele, der aus dem natürlichen Gleichgewicht der Kräfte geratenen Seele, nennt er daher „Mangel an Thätigkeit, überspannte Thätigkeit, zwecklose Thätigkeit, u. s. w.“ (MzE I, 1, 29) Den Extremfall des gänzlichen Fehlens der Seelentätigkeit bezeichnet Moritz als „Seelenlähmung“ (MzE I, 1, 29). Dieser Zustand rührt aus einem gestörten Verhältnis zwischen den tätigen und den vorstellenden Kräften der Seele: Sind die tätigen Kräfte gegenüber den vorstellenden zu schwach, so ist dies ebenfalls Krankheit; die herrlichsten Entschließungen, die vortreflichsten Entwürfe werden nicht ausgeführt; schwinden sie ganz oder zum Theil, so ist dies gleichsam eine Seelenlähmung, ein Zustand, worin sich so mancher Unglückliche befindet, der die ausgezeichnetsten Talente durch Überspannung unbrauchbar machte. (MzE I, 1, 29f.)

Zu diesen Unglücklichen gehört auch Anton Reiser, dessen Jugendentwicklung im ‚psychologischen Roman’ als fortlaufende Krankheitsgeschichte erzählt wird.[67] Das Symptom der „ Seelenlähmung “ (AR 213) tritt im Verlauf dieser Krankheitsgeschichte immer wieder zu Tage: „Er fühlte sich auf einige Augenblicke wie vernichtet, alle seine Seelenkräfte waren gelähmt.“[68] (AR 365) Weil „die Krankheiten der Seele aus verschiedenen Ursachen entstehen“, muss der „moralische Arzt“ diese Krankheiten nach ihren jeweiligen besonderen „Erscheinungen, nach ihren Ursachen und Folgen studieren, wenn er es unternehmen will zu heilen.“ (MzE I, 1, 31) Der Erzähler des Anton Reiser schlüpft in die Rolle des moralischen Arztes, indem er nach den ‚Ursachen und Folgen’ der psychischen Zerrüttung fragt und damit implizit der Frage nachgeht, wie die Krankheit hätte vermieden werden können.[69] Das Gleichgewichtstheorem der Grundlinien wird zur Erklärung des Seelenzustands des Protagonisten herangezogen:

Und so scheint nun einmal das Verhältnis der Geisteskräfte gegeneinander zu sein; wo eine Kraft keine entgegengesetzte Kraft vor sich findet, da reißt sie ein und zerstört, wie der Fluß, wenn der Damm vor ihm weicht. (AR 368f.)

Dieses Ungleichgewicht der Seelenkräfte und die daraus resultierenden Krankheitssymptome werden im individuellen Fall Anton Reisers auf die „ Leiden der Einbildungskraft “ (AR 89) „infolge unterdrückten Selbstgefühls, das heißt aus Mangel an konkretem individuellen Dasein“[70], zurückgeführt: Weil Anton „von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte“ (AR 413), so die Diagnose des Erzählers, war es sein Schicksal […] die Leiden der Einbildungskraft zu dulden, zwischen welcher und seinem würklichen Zustande ein immerwährender Mißlaut herrschte, und die sich für jeden schönen Traum nachher mit bittern Qualen rächte. (AR 414)

Dieser Existenzmangel, der Antons Lebensweg wesentlich bestimmt, resultiert weder aus einer unveränderlichen physiologischen Grundstruktur oder aus göttlicher Schickung, sondern hat konkrete äußere Ursachen:[71] Antons Leiden werden in erster Linie auf die gesellschaftlichen und milieubedingten Umstände, unter denen er aufwächst, zurückgeführt. Zugleich wird aber auch die Möglichkeit der Vererbung von Seelenkrankheiten „von den Eltern auf die Kinder, oder in ganzen Familien“ (MzE I, 1, 31), die im Magazin genannt wird, im Anton Reiser nicht ausgeschlossen: Antons Mutter, die „eine Art von Vergnügen“ daran findet, „ein gewisses Mitleid mit sich selber zu empfinden“, scheint „diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kämpfen hat.“ (AR 32) Aus der Tatsache, dass für Antons psychische Entwicklung sowohl äußere Umstände als auch persönliche Anlagen verantwortlich sind, ergibt sich für den ‚psychologischen Roman’ folgendes anthropologisches Konzept: Menschliche Individualität stellt sich „als klar strukturierter Gesamtzusammenhang von vorgegebenem Persönlichkeitskern und günstigen bzw. ungünstigen Umwelteinflüssen“[72] dar.

2.3 Die literarische Darstellung der individuellen Lebensgeschichte als Medium zur Erforschung des Menschen

2.3.1 Literarische Anthropologie

Im vorliegenden Kapitel soll die Rolle, die die Literatur im Kontext der Entstehung der Anthropologie als Wissenschaft spielt, näher betrachtet werden.

Hierbei erweist sich der Begriff der ‚Literarischen Anthropologie’, der aus der germanistischen Forschung zum 18. Jahrhundert stammt, als hilfreich. In diesem Begriff wird die These zum Ausdruck gebracht, dass literarische Texte einen Beitrag zur Erkenntnis des Menschen leisten können. Diesem Verständnis von Literatur liegen zwei literaturtheoretische Annahmen zugrunde: Zum einen, dass literarische Texte auf eine Sphäre außerhalb ihrer selbst verweisen und nicht rein selbstreferentiell sind. Zum anderen, dass zwischen literarischen Texten und philosophischen oder wissenschaftlichen Texten Verbindungen bestehen können.[73] Im deutschen 18. Jahrhundert manifestiert sich diese Verknüpfung von Literatur und Wissenschaft in dem Bündnis von „Roman und physiologischer Anthropologie bzw. ‚empirischer Psychologie’“.[74] Schon Zeitgenossen betrachten neben der Erfahrung und Beobachtung literarische Texte wie Schauspiele, Romane oder Biographien als mögliche Quellen der Anthropologie und somit als Mittel zur Beförderung der Menschenkenntnis:

Kant definiert die philosophische Anthropologie zentral als ‚Weltkenntnis‘, zu der man nicht durchs metaphysisch reine Denken und nicht durchs naturwissenschaftlich exakte Experiment kommt, sondern allein durch – wie Kant sagt – ‚gewöhnliche Erfahrung‘ und Auswertung gewisser Quellen und ‚Hilfsmittel der Anthropologie‘: er nennt ‚Umgang mit ... Stadt- und Landesgenossen‘, ‚das Reisen‘, ‚das Lesen der Reisebeschreibungen‘ und schließlich ‚Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane‘.[75]

Dichtung etabliert sich als Medium zur Beförderung der Menschenkenntnis. Insbesondere der zeitgenössische Roman wird hier zu einer bedeutenden Gattung, da er die Komplexität menschlicher Lebenswelt zur Anschauung bringt und Formstrukturen herausbildet, die es ermöglichen, „mit der ‚innren Geschichte’ des Helden zugleich anthropologische Fallstudien zu liefern, die die psychophysische Disposition des Menschen im Kontext seiner Erfahrungswelt an prägnanten Modellfällen“[76] vorführen können. ‚Literarische Anthropologie’ im 18. Jahrhundert meint:

die Wende des Romans und der Romantheorie zur (empirischen!) Psychologie und Anthropologie, das in diesem Zusammenhang entwickelte Konzept des ‚pragmatischen‘, sprich kausalgenetischen Erzählens, die Auffassung von der Literatur als Menschenstudium schlechthin [...] sowie, in Folge davon, die Parallelentstehung des psychologischen Entwicklungsromans (Wieland) und der psychologischen Autobiographie (Moritz).[77]

Als prominentes Beispiel für die Zusammenführung von Dichtung und Anthropologie gilt Christoph Martin Wielands psychologischer Entwicklungsroman Geschichte des Agathon, auf den Friedrich von Blanckenburg sich in seiner Romantheorie Versuch über den Roman bezieht. Wielands Roman zeichnet sich durch bestimmte Merkmale aus, die ihn als beispielhaften Repräsentanten der sich um die Jahrhundertmitte etablierenden Gattung ausweisen. Seine wichtigsten Kennzeichen werden im folgenden Kapitel dargestellt.

Dass Moritz’ Anton Reiser „wie kein zweites Werk der deutschen Spätaufklärung […] für die Konjunktur von Anthropologie und Literatur, die diese Epoche regiert“[78], steht, ist im Zusammenhang mit der gleichzeitigen wissenschaftlichen Tätigkeit des Romanautors als Herausgeber des Magazins zu Erfahrungsseelenkunde zu sehen. Moritz’ Auflistung unterschiedlichster, auch literarischer Textsorten in den Aussichten, welche die materielle Grundlage für die Erforschung des Menschen bieten sollen, macht deutlich, dass auch er Verbindungslinien zwischen Literatur und Anthropologie zieht. Literatur muss sich für Moritz jedoch am Maßstab der Erfahrungsseelenkunde messen lassen: „Kömmt eine solche Wissenschaft zustande“, so werde der Dichter und Romanschreiber „sich genötigt sehn, erst vorher Experimentalseelenlehre zu studieren, ehe er sich an eigne Ausarbeitungen wagt.“ (A 91) Diese Forderung setzt Moritz mit dem Schreiben des ‚psychologischen Romans’, in welchem Dichtung und Seelenkunde eine untrennbare Verbindung eingehen, um.

Anthropologie versteht sich im deutschen 18. Jahrhundert als Erfahrungswissenschaft: Zu den Quellen der Wissenschaft vom Menschen gehören Erfahrungen, Beobachtungen und vor allem Selbstbeobachtungen. In Analogie dazu begreift sich Literatur in dieser Zeit als Anthropologie, indem sie „einen authentischen, durch Selbsterfahrung und Selbstreflexion gewonnenen Aufschluß über die Natur des Menschen“[79] liefert. Die wichtigste und erste Quelle der auf Erfahrungen beruhenden Menschenkunde ist die Selbstbeobachtung und „die Selbstdarstellung als Autobiographie ihr angemessener Ausdruck.“[80] Dies zeigt auch Moritz’ positive Bewertung der Selbstbeobachtung in den Aussichten, die im Zusammenhang mit der Betrachtung der erzählerischen Vorgehensweise des Anton Reiser in der vorliegenden Arbeit näher in den Blick kommt. Moritz hat die eigene Lebensgeschichte jedoch nicht in Form einer Autobiographie, sondern in Form eines ‚psychologischen Romans’, der „auch allenfalls eine Biographie genannt werden“ könne, „weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind“ (AR 6), verfasst. Indem Moritz die Romanform wählt, vergrößert er einerseits seinen Handlungsspielraum, denn der fiktionale Charakter dieser literarischen Gattung ermöglicht es, „die Konsistenz eines […] Lebensganges erfindungsreich zu vergrößern.“[81] Andererseits gibt sich der Text gleich eingangs als „literarisches Parallelprojekt“[82] zum Magazin zu erkennen, indem beteuert wird, dass die zur Darstellung gebrachten Beobachtungen dem „wirklichen Leben“ (AR 6) entnommen sind. Der wissenschaftliche Anspruch, Fakten zu liefern, worunter Moritz unter anderem ja auch „wahrhafte Lebensbeschreibungen“ (A 89) versteht, gilt auch für den Anton Reiser. Die Wahrheitsbeteuerung des erzählten Inhalts durch die Berufung auf historisch-empirische Fakten liegt zudem darin begründet, dass der Roman als literarische Ausdrucksform zu dieser Zeit noch der Rechtfertigung bedurfte. Mit dem Vorwurf des fiktional-märchenhaften Charakters, der der geforderten Naturnachahmung der Literatur entgegenstand, wurde dem Roman eine Stellung im Gattungssystem abgesprochen. Um diesem Vorwurf zu entgehen, verpflichtet sich der Erzähler gleich eingangs zur authentischen, wahrheitsgetreuen Darstellung.

Moritz leistet einen Beitrag zur Menschenkunde mittels der Literatur durch die Betrachtung des einzelnen Menschen in seiner ganzen Eigenart; dies geschieht, indem die Vielfalt des Erfahrenen, die „anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände“ (AR 6), das Kleine und Unbedeutende zur „ innere (n) Geschichte“ (AR 6) geordnet wird und damit Sinnzusammenhänge erstellt werden. ‚Literarische Anthropologie’ ist somit immer auch Erfinden, Zusammenspiel von Dichtung und Wahrheit, eben psychologischer Roman.[83][84]

2.3.2 Strukturelle und inhaltliche Aspekte des psychologischen Entwicklungsromans

Die Wahrheit [...] bestehet darin, daß alles mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Charaktere nicht willkürlich, und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen; in der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit, die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenschaft, mit allen den besonderen Farben und Schattierungen, welche sie durch den Individual-Charakter und die Umstände einer jeden Person bekommen, aufs genaueste beibehalten.[85]

Dieses Zitat aus dem Vorbericht zu Wielands Geschichte des Agathon gibt Aufschluss über den Gegenstand und die vom Verfasser intendierte Darstellungsweise des Romans. Im Zentrum der Darstellung stehen Charaktere, deren Entwicklung durch Nachahmung der Natur wahrheitsgetreu wiedergegeben werden soll. Die Aufmerksamkeit ist hierbei auf den Zustand des menschlichen Herzens, die Empfindungen des Einzelnen in ihrer jeweiligen Besonderheit gerichtet. Es geht um die Schilderung der Entwicklung des Inneren des Menschen, um seine „innere Geschichte“[86], die wiederum als Resultat des je individuellen Persönlichkeitskerns und der besonderen Lebensumstände aufgefasst und zur Darstellung gebracht wird. Hauptabsicht des Herausgebers ist es, den „Charakter […] in einem manchfaltigen Licht, und von allen Seiten bekannt zu machen.“[87] Aufgabe des Romandichters sei jedoch nicht nur, dem Leser einsichtig zu machen, wie sich ein Charakter entwickelt, sondern vor allem, warum er sich unter den gegeben „Umständen und Verwicklungen“[88] so und nicht anders entwickeln musste: Den Lesern soll begreiflich gemacht werden, „wie und warum“ Agathon in der letzten Phase seines Lebens „ein eben so weiser als tugendhafter Mann sein wird“ und „warum vielleicht viele unter ihnen [den Lesern], weder dieses noch jenes sind; und wie es zugehen müßte, wenn sie es werden sollten.“[89] Die Entwicklung des Charakters der dargestellten Figur soll auf ihre jeweiligen besonderen Ursachen zurückgeführt werden, so dass das Geschilderte in einem Kausal- und Begründungszusammenhang steht. Blanckenburg, der in seiner Romantheorie Wielands Modell kanonisieren will[90], fordert dementsprechend „eine strikte Kausalität der psychologischen Entwicklung, eine lückenlose ‚Kette von Ursach und Wirkung’, die den Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsgang des Individuums und seinen sozialen Umständen verdeutlichen soll.“[91] Im Mittelpunkt dieser Romantheorie steht die Forderung nach einer Schilderung des Innenlebens der epischen Figuren, der psychischen Erfahrung eines Charakters: „Wenn der Dichter nicht das Verdienst hat, daß er das Innre des Menschen aufklärt, und ihn sich selber kennen lehret: so hat er gerade – gar keins.“[92] Neben der Darstellung der die Figur bestimmenden sozialen Wirklichkeit, sollen vor allem Einblicke in das Seelenleben der Figuren vermittelt werden, um Menschenkenntnis und Sensibilität der Leser zu fördern; daraus ergibt sich für Blanckenburg notwendig die Priorität der inneren Geschichte des Helden gegenüber seinem äußeren Lebensgang.[93]

Zu den erzähltechnischen Neuerungen Wielands im deutschsprachigen Roman gehört auch die Einführung eines Erzählers, der weder mit dem Autor noch mit einer der Figuren identisch ist, sondern der reflektierend und kommentierend das Geschehen und das Innenleben der Figuren zur Darstellung bringt.[94]

Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, dass die hier genannten strukturellen und inhaltlichen Merkmale auch für den Anton Reiser gelten. Der ‚psychologische Roman’ weist jedoch auch deutliche Unterschiede zur Praxis Wielands sowie zur Theorie Blanckenburgs auf. Sie betreffen im Wesentlichen die übergeordnete Absicht, die Verknüpfung der Episoden und die sprachliche Gestaltung.[95] Vor allem der Unterschied in Bezug auf die übergeordnete Absicht, die in der „Vervollkommnung des Menschen durch die vorbildliche Darstellung der Bildung der Hauptfigur von der Kindheit bis zu Reife“[96] besteht, ist bedeutsam: Die von Blanckenburg geforderte Darstellung des individuellen Lebensweg in der Form eines fortschreitenden Vervollkommnungsprozesses auf einen befriedigenden Zustand hin, erfüllt der ‚psychologische Roman’ nicht;[97] denn er demonstriert gerade die „Unmöglichkeit einer individuellen menschlichen Entwicklung unter der Voraussetzung ganz bestimmter geschichtlicher Gegebenheiten“[98] und wird daher auch als „Anti-Bildungsroman“[99] bezeichnet.

Trotz des Fehlens einer „aufsteigenden Linie“[100] hat der ‚psychologische Roman’ die Vervollkommnung oder zumindest Verbesserung des Menschen zum Ziel; nur sucht er sie auf einem anderen Weg zu erreichen „als durch die Nachahmung eines fiktiven Idealbildes“[101]. Worin dieser Weg besteht, wird im Zusammenhang mit der Frage nach den Darstellungsabsichten des Anton Reiser beantwortet werden.

2.3.3 Erzählerische Vorgehensweise im Anton Reiser

Der ‚psychologische Roman’ stimmt darin mit Wieland und Blanckenburg überein, dass er die „ innere Geschichte“ (AR 6) des Helden Anton Reiser im Verhältnis zu den äußeren Gegebenheiten erzählt. In dieser Rekonstruktion der Entwicklung des Charakters Reisers ist der kommentierende und reflektierende Erzähler durchgängig bemüht, Ursache und Wirkung voneinander zu trennen, die Kausalbeziehungen aufzudecken: „Allein man erwog nicht, daß eben dieses Betragen [...] selbst eine Folge von vorhergegangenen Zurücksetzungen war.“ (AR 205) Auch in dem Anspruch, die Charaktere nach dem Vorbild der Natur auszuwählen und zu gestalten, um eine authentische und wahrheitsgetreue Darstellung zu liefern, ist eine Übereinstimmung gegeben: In der Vorrede zum ersten Teil des ‚psychologischen Romans’ betont der Erzähler, dass die im Text präsentierten „Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind.“ (AR 6) An anderer Stelle bezeichnet er den Lebenslauf Antons „als eine so wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens, bis auf seine kleinsten Nuancen“ (AR 122). Die methodische Nähe zur Erfahrungsseelenkunde, in der „die Beobachtungen aus dem wirklichen Leben“ (A 94) als die wichtigsten Quellen der Menschenkenntnis aufgefasst werden, wird hier offenbar. Roman und psychologische Zeitschrift stimmen nicht nur hinsichtlich ihrer methodischen Vorgehensweise, dem Zusammentragen empirischer Beobachtungen, sondern auch in Bezug auf ihre Zielsetzung, der Beförderung der Menschenkenntnis, überein. ‚Gnothi sauton’ = Erkenne dich selbst – so lautet der dem Magazin vorangestellte Leitspruch. Diesem entspricht die Wirkungsabsicht des ‚psychologischen Romans’, der „die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen, und den Blick der Seele in sich selber schärfen“ (AR 6) soll. Der Zugewinn an Einsicht in die menschliche Seele soll im Text nicht durch die Darstellung einer „Mannigfaltigkeit der Charaktere“ (AR 6) erfolgen, sondern durch die Konzentration auf die ‚innere Geschichte’ eines einzelnen Individuums.

Ein wichtiges Erfordernis des Menschenbeobachters bei der Suche nach dem „innre(n) Triebwerk“ (A 92), das den Menschen bewegt, ist für Moritz die „ Aufmerksamkeit aufs Kleinscheinende [...] und dann die Übung in der Nebeneinanderstellung des Sukzessiven, weil der ganze Mensch bloß aus sukzessiven Äußerungen erkannt werden kann.“ (A 93) Die Zielsetzung besteht in der Erfassung des ‚ganzen Mensch’. Um dieses Ziel zu erreichen, sei es zum einen notwendig, die Aufmerksamkeit auf das Detail, auf die „klein und unbedeutend“ (AR 6) scheinenden Erfahrungen und Lebensumstände des Einzelnen zu richten; zum anderen sei der Blick auf die Geschichte des Menschen, auf das Nacheinander seiner ‚Äußerungen’ erforderlich.

Der Erzähler des Anton Reiser nimmt die Rolle des Menschenbeobachters der Erfahrungsseelenkunde ein, wenn er sein Augenmerk auf das klein, unwichtig und nebensächlich Erscheinende richtet. Seine eigene Vorgehensweise rechtfertigt er wie folgt:

Wem nun an einer solchen getreuen Darstellung etwas gelegen ist, der wird sich an das anfänglich Unbedeutende und unwichtig Scheinende nicht stoßen, sondern in Erwägung ziehen, daß dies künstlich verflochtne Gewebe eines Menschenleben aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in ihrer Verflechtung äußerst wichtig reden, so unbedeutend sie an sich scheinen. (AR 122)

In der Betrachtung des Zusammenspiels, der inneren Verflechtung der vielen kleinen, alltäglichen Begebenheiten und Umstände liegt für den Erzähler der Schlüssel zum Verständnis des Charakters des Menschen. Einsicht in die Ursachen der psychischen Entwicklung eines Menschen erhalte man nur, wenn man den Menschen in seinem Lebenszusammenhang betrachte und hierbei auch das noch so unwichtig und alltäglich Scheinende berücksichtige.

Für die in den Aussichten geforderte methodische Vorgehensweise des Menschenbeobachters eignet sich die epische Gattung als Darstellungsmedium besonders gut; denn diese Erzählform ermöglicht es, sowohl die Entwicklung eines Charakters in der zeitlichen Abfolge zu rekonstruieren als auch die vielfältigen Kleinigkeiten, aus denen sich der Alltag zusammensetzt, in erzählerischer Breite zu erfassen und in einen Bedeutungszusammenhang zu stellen.[102]

Die auf den ersten Blick widersprüchlich anmutende Forderung nach einer „ Nebeneinanderstellung des Sukzessiven “ (A 93), die Moritz zur Ergründung des ‚ganzen Menschen’ für notwendig erachtet, wird durch die Erzählstruktur des ‚psychologischen Romans’ erfüllt: Das Gerüst der Erzählung bildet zwar die chronologische Abfolge der biographischen Daten des Protagonisten, aber der Erzähler durchbricht diese zeitliche Abfolge immer wieder, indem er die biographischen Fakten im Hinblick auf ihre psychologische Bedeutsamkeit auswertet und neu anordnet. So nutzt der Erzähler die häufigen Vor- und Rückblicke dazu, inhaltlich zusammengehöriges oder ähnliches Material nebeneinander zustellen und deckt damit Zusammenhänge und Wirkungsmechanismen auf.[103] In einer direkten Ansprache an den Leser rechtfertigt der Erzähler diese seine Vorgehensweise:

Ich habe hier notwendig in Reisers Leben etwas nachholen und etwas vorgreifen müssen, wenn ich zusammenstellen wollte, was meiner Meinung nach zusammengehört. Ich werde dies noch öfter tun; und wer meine Absicht eingesehen hat, bei dem darf ich wohl nicht erst dieser anscheinenden Absprünge wegen um Entschuldigung bitten. (AR 128)

2.3.4 Selbstbeobachtung als Quelle der Menschenkunde in Erfahrungsseelenkunde und ‚psychologischem Roman’

Wer sich zum eigentlichen Beobachter des Menschen bilden wollte, der müßte von sich selber ausgehen: erstlich die Geschichte seines eignen Herzens von seiner frühesten Kindheit an sich so getreu wie möglich entwerfen; auf die Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit aufmerksam sein, und nichts für unwichtig halten, was jemals einen vorzüglich starken Eindruck auf ihn gemacht hat, so daß die Erinnerung daran sich noch immer zwischen seine übrigen Gedanken drängt. (A 92)

Die Erforschung der eigenen Person mittels Selbstbeobachtung, die vor allem in der retrospektiven Betrachtung des eigenen Lebens besteht, ist nach Moritz Ausgangspunkt des Menschenbeobachters, denn nur auf der Grundlage der Kenntnis der eigenen Seele könne er „auf die Seele andrer schließen lernen.“ (A 93) Der Rückgriff auf persönliche Ansichten und Erfahrungen wird zum einen durch die unmittelbare Einsicht in die Seele, die nur bei der Selbstbeobachtung gegeben ist, zum anderen durch die distanzierende, objektivierende Haltung des Forschers, die bis zur Selbstaufgabe, zur Selbstzergliederung geht, gerechtfertigt:[104]

Aber kann es denn ein andrer sein? Können wir in die Seele eines andern blicken, wie in die unsrige? Und opfern wir uns nicht beinahe ebenso auf, wenn wir andern zum Besten, den Zustand unsrer Seele zergliedern, wie derjenige, der nach seinem Tode andern Menschen durch die Zergliederung seines Körpers nützlich wird? (A 93)

Derjenige, der sich auf diese Art selbst zum Gegenstand seiner Beobachtungen macht, dürfe nicht „ohne alle heftige Leidenschaften“ sein, müsse aber in manchen Augenblicken die Fähigkeit besitzen, „eine Zeitlang den kalten Beobachter“ (A 92) seiner selbst zu spielen. Die hier geforderte Eigenschaft des Menschenbeobachters, dem Objekt der Beobachtung einerseits emotional und einfühlend, andererseits distanziert und empfindungslos gegenüber zu stehen, ist in der Erzählhaltung des ‚psychologischen Romans’ umgesetzt: Die literarische Rekonstruktion der Lebensgeschichte Anton Reisers von seiner frühesten Kindheit an findet aus zwei verschiedenen Erzählperspektiven statt. Der kalten Beobachtung entspricht die „theoriegeleitete Außensicht des psychologisch kommentierenden Erzählers, die auf kritische Distanz“[105] zur erzählten Figur hinausläuft. Die durchgängige Erzählweise in der 3. Person ist hierbei notwendige Voraussetzung. Der auktoriale Standpunkt wird jedoch immer wieder verlassen, indem die Geschehnisse und Eindrücke aus der Perspektive Antons wiedergegeben werden, wodurch der Leser den Eindruck hat, mit den Augen des Protagonisten zu sehen:

Alles schien ihm da so dicht, so klein ineinander zu laufen, wie der zusammengedrängte Haufen Häuser, den er noch in der Ferne sahe. – und nun dachte er sich hier auf dem freien Felde die Stille, und daß ihn niemand bemerkte, niemand ihm eine hämische Miene machte – und dort das lärmende Gewühl, das Rasseln der Wagen, denen er aus dem Wege gehn mußte, die Blicke der Menschen, die er scheute“ (AR 275).

Diese unvermittelt einsetzende „Innensicht des Helden“[106] bewirkt eine identifizierende Lektüre. Durch die Vermischung der Erzählperspektiven sind Emotionalität und Distanz somit gleichermaßen gegeben.

3 Rekonstruktion der Entstehung des Charakters Anton Reisers

3.1 Zum Verhältnis von Veranlagung und Umwelteinfluss

Der Erzähler des Anton Reiser schildert, dem poetologischen Konzept Blanckenburgs entsprechend, die in sich folgerichtige Entfaltung eines individuellen Charakters. Die psychische Entwicklung Antons ergibt sich aus dem Zusammenspiel von äußeren Umständen und persönlichen Anlagen. Welche inneren und äußeren Faktoren macht der Erzähler für die charakterliche Entwicklung Anton Reisers verantwortlich und in welchem Kräfteverhältnis stehen individueller Persönlichkeitskern und Umwelteinflüsse zueinander? Die Ursachen für das Vorhandensein der melancholischen Gemütsstimmung erforschend, stellt sich Moritz in der Revision der ersten drei Bände des Magazins die Frage, ob die häufigen unangenehmen Eindrücke in der Kindheit, jene melancholische Stimmung des Gemüths, oder ob die melancholische Stimmung des Gemüths, welche vorher schon da war, die unangenehmen Eindrücke hervorgebracht habe? (MzE IV, 3, 202f.)

Sind es die äußeren ‚Eindrücke’ oder eine schon von Geburt an vorhandene psychische Disposition, die den Menschen bestimmen und ihn in seiner individuellen Eigenart hervorbringen? Moritz gibt im Magazin weder den äußeren Einflüssen noch den angeborenen Veranlagungen des Einzelnen den Vorrang, sondern sieht die Lösung im Zusammenspiel beider Faktoren. Er verneint die Möglichkeit, Genies allein durch pädagogische Maßnahmen, durch Erziehung produzieren zu können:

Nach dieser Voraussetzung wäre es denn freilich möglich, vermittelst der ersten Eindrücke, die man mit Fleiß zu veranstalten suchte, Künstler und Genies von jeder Art hervorzubringen. Aber so läßt der Geist des Menschen sich nicht vom Menschen schaffen […]. Die Grenzen der Pädagogik erstrecken sich wohl auf die Ausbildung, aber nicht auf die Bildung der Anlagen der Seele. (MzE IV, 3, 202)

Eine Einflussnahme auf die geistige Entwicklung des einzelnen Menschen ist Moritz’ Ansicht nach zwar möglich, sie kann sich jedoch nur im Rahmen der angeborenen persönlichen Anlagen bewegen. Jedem Menschen ist ein Spektrum an Entwicklungsmöglichkeiten, ein bestimmtes geistiges Potential gegeben; ob die vorhandenen Möglichkeiten im Laufe des Lebens ausgebildet oder in ihrer Entfaltung gehemmt werden, hängt von den auf die Seele wirkenden äußeren Eindrücken ab.

Auch im ‚psychologischen Roman’ wird die Entwicklung des Charakters der Hauptfigur auf das Zusammenwirken beider Faktoren – Anlage und Umwelt – zurückgeführt. An einer Stelle wird eindeutig von Vererbung gesprochen: Antons Mutter hat „die Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt“, „eine Art von Vergnügen“ (AR 32) am Selbstmitleid zu empfinden.[107] Schon als kleines Kind neigt Anton dazu, sich einzubilden, dass ihm Unrecht geschehen sei, „um nur die Süßigkeit des Unrechtleidens zu empfinden.“ (AR 33) Antons individuelle psychische Konstitution besteht darin, dass er besonders sensibel und empfindsam auf seine Umwelt reagiert: „Da er eingebildetes Unrecht schon so stark empfand, um so viel stärker mußte er das wirkliche empfinden.“ (AR 33) Auch vom Vater scheint Anton einen bestimmten Charakterzug geerbt zu haben. Antons Versuch, sich selbst zu bekehren, um ein frommes, gottgewolltes Leben zu führen, scheitert:

[…] und so schwankte er beständig hin und her, und fand nirgends Ruhe und Zufriedenheit, indem er sich vergeblich die unschuldigsten Freuden seiner Jugend verbitterte, und es doch in dem anderen [der Frömmigkeit] nie weit brachte. (AR 52)

In dieser inneren Unbeständigkeit und Zerissenheit deckt der Erzähler eine Parallele zum Leben des Vaters auf:

Dies beständige Hin- und Herschwanken ist zugleich ein Bild von dem ganzen Lebenslaufe seines Vaters, dem es im funfzigsten Jahre seines Lebens noch nicht besser ging, und der doch immer das Rechte zu finden hoffte, wornach er so lange vergeblich gestrebt hatte. (AR 52)

Zur psychischen Grundausstattung Reisers gehört zudem eine ihm angeborene Intellektualität, die sich gegen die Vernachlässigung seitens der Eltern und die widrigen Lebensumstände immer wieder zu behaupten sucht.[108] Sie wird vom Erzähler direkt zu Beginn seiner Schilderung aufgezeigt: Er hebt den Ehrgeiz und die besondere Begabung, die Anton beim Lesenlernen an den Tag legt, hervor:

Allein sobald er merkte, daß wirklich vernünftige Ideen durch die zusammengesetzten Buchstaben ausgedrückt waren, so wurde seine Begierde, lesen zu lernen, von Tage zu Tage stärker. Sein Vater hatte ihm kaum einige Stunden Anweisung gegeben, und er lernte es nun, zur Verwunderung aller seiner Angehörigen, in wenig Wochen von selber. (AR 15)

Antons Motivation, das Lesen zu erlernen, wird damit begründet, dass er „vernünftige Ideen“ (AR 15) aus den Worten erschließen kann. Die Wortwahl macht die hier vertretene aufklärerische Position deutlich: Antons Bereitschaft zu lernen wird letztlich auf die ihm angeborene Vernunft und nicht auf ein sinnliches Bedürfnis zurückgeführt.[109]

Moritz formuliert im Magazin die These, dass der Geist des Menschen sich selbst „durch alle Hindernisse, und auch durch die Gewalt der ersten Eindrücke mit seiner angebohren eigenthümlichen Kraft“ (MzE IV, 3, 202) hindurcharbeitet. Reisers Wissensdrang, der sich trotz der „äußern drückenden Verhältnisse“ (AR 267) durchsetzt und „die natürliche Liebe zum Leben“, die „trotz aller Schwärmereien, wovon Anton den Kopf vollgepfropft hatte, dennoch bei ihm die Oberhand behielt“ (AR 90), zeugen von der in ihm stets wirksam bleibenden inneren Kraft.

Diesem Glauben an die Durchsetzungskraft der ‚Anlagen der Seele’, an die ‚eigenthümliche Kraft’ der Seele steht im ‚psychologischen Roman’ die Betonung des Einflusses der ‚Eindrücke’ gegenüber. Die aufgezeigten inneren Anlagen Reisers spielen für seine charakterliche Entwicklung zwar eine nicht zu unterschätzende Rolle. Der Erzähler des Anton Reiser, der die Ursachen für die psychische Entwicklung Antons aufdeckt, macht aber hauptsächlich die von außen auf ihn einwirkenden ‚Eindrücke’, die Erfahrungen, die Anton in der ihn umgebenden Umwelt macht, für seine melancholische Grundstimmung, für seinen aus dem Gleichgewicht geratenen Seelenzustand verantwortlich:

Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatz schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte. (AR 13)

Die klein scheinenden Umstände sind es, „die das Leben ausmachen, und auf die Gemütsbeschaffenheit eines Menschen den stärksten Einfluß haben.“ (AR 145) Indem dem Einfluss der äußeren Lebensumstände für die charakterliche Entwicklung so großes Gewicht beigemessen wird, tendiert der ‚psychologische Roman’ zum zeitgenössischen anthropologischen Erklärungsmodell des Helvétius[110]. Helvétius entwickelt in Abgrenzung zu einem konkurrierenden anthropologischen Modell der Zeit, das auf der „Erklärungsleistung natürlicher und insonderheit physiologischer ‚Anlagen’“[111] gründet, eine rein milieutheoretische Position: Nicht die Beschaffenheit der körperlichen Organe[112] ist entscheidend für die geistige Entwicklung des Menschen, sondern allein die gesellschaftliche Umwelt, die Erziehung und die jeweilige Staatsform, in der der Mensch lebt, prägen seinen Geist.[113]

Der stärkste Beweis für die Macht der Erziehung ist der ständig zu beobachtende Zusammenhang zwischen der Verschiedenheit der Unterrichtung und ihren verschiedenen Erzeugnissen oder Ergebnissen […]. Wenn die Menschen, die unter einer freiheitlichen Regierung für gewöhnlich offen, redlich, fleißig und menschlich sind, unter der Tyrannei aber niedrig, zu Lügnern, verderbt, geistlos und mutlos werden, so ist dieser Umstand in ihrem Charakter die Folge der verschiedenen Erziehungen, die sie unter der einen oder der anderen Regierungsform erhalten haben.[114]

Reisers Leiden werden als „natürliche Folge der engsten Verhältnisse, worin er sich befand“ (AR 209) zu erklären gesucht; sein Charakter wird immer wieder als „Produkt des sozialen Umfelds“[115] ausgewiesen. Die radikale Position Helvétius’ ist im Anton Reiser jedoch nicht gestaltet, denn der Mensch erscheint hier zwar in erster Linie, aber nicht allein als Ergebnis der auf ihn wirkenden Umstände.[116] Der Schlüssel zur Erklärung der charakterlichen Entfaltung des Menschen liegt im Zusammenspiel von persönlichen Anlagen und äußeren Verhältnissen.

Darin, dass insbesondere den frühkindlichen Erfahrungen für den weiteren Lebensweg Antons entscheidende Bedeutung beigemessen wird, findet sich eine weitere Übereinstimmung mit der Position Helvétius’, wo der „Gedanke der frühkindlichen Prägung […] vollständig entwickelt“[117] ist. Im Magazin betont Moritz die Bedeutung der frühkindlichen Eindrücke:

Die allerersten Eindrücke, welche wir in unsrer frühesten Kindheit bekommen, sind gewiß nicht so unwichtig, daß sie nicht vorzüglich bemerkt zu werden verdienten. Diese Eindrücke machen doch gewissermaßen die Grundlage aller folgenden aus; sie mischen sich oft unmerklich unter unsre übrigen Ideen, und geben denselben eine Richtung, die sie sonst vielleicht nicht würden genommen haben. (MzE I, 1, 50)

Diese Position vertritt Moritz auch im ‚psychologischen Roman’, auf den er im Magazin Bezug nimmt: „die Erinnerungen aus Anton Reisers frühesten Kinderjahren waren es vorzüglich, die seinen Charakter und zum Theil auch seine nachherigen Schicksale bestimmt haben.“ (MzE IV, 3, 195)

Der Erzähler, der detailreich die Bedingungen, die für die innere Entwicklung Antons verantwortlich sind, rekonstruiert, resümiert am Ende des dritten Teils des ‚psychologischen Romans’:

Es war die unverantwortliche Seelenlähmung durch das zurücksetzende Betragen seiner eignen Eltern gegen ihn, die er von seiner Kindheit an noch nicht hatte wieder vermindern können. – Es war ihm unmöglich geworden, jemanden außer sich, wie seinesgleichen zu betrachten – jeder schien ihm auf irgendeine Art wichtiger, bedeutender in der Welt, als er, zu sein – daher deuchten ihm Freundschaftsbezeigungen von anderen gegen ihn immer eine Art von Herablassung – weil er nun glaubte verachtet werden zu können, so wurde er wirklich verachtet – und ihm schien oft das schon Verachtung, was ein anderer mit mehr Selbstgefühl, nie würde dafür genommen habe. (AR 368f.)

Reisers Hang zur Melancholie, der in der Seelenlähmung gipfelt, wird als unvermeidliche Folge seines mangelnden Selbstwertgefühls erklärt, das seine Wurzeln in frühester Kindheit hat.[118] Das „niederschlagende Gefühl der Verachtung, die er von seinen Eltern erlitten“ (AR 14), die mangelnde Aufmerksamkeit seiner Eltern ihm gegenüber ist ursächlich für sein labiles Selbstgefühl verantwortlich. Aus dieser einmal vorhandenen psychischen Konstitution resultiert im Fortgang seines Lebens die ungewöhnlich große Abhängigkeit von den äußeren Umständen. Immer wieder betont der kommentierende Erzähler die Bedeutung der zufälligen, äußeren Umstände, die Reisers Lebensweg bestimmen:

Da sich nun für Anton keine solide Aussicht zum Studieren eröffnen wollte, so würde er doch am Ende wahrscheinlich den Entschluß haben fassen müssen, irgendein Handwerk zu lernen, wenn nicht, wider Vermuten, ein sehr geringfügig scheinender Umstand seinem Schicksal in seinem ganzen künftigen Leben eine andre Wendung gegeben hätte. (AR 120)

Die äußeren Verhältnisse sind jedoch zumeist nicht so beschaffen, dass sie dazu beitragen, das durch Kindheitserlebnisse beschädigte Selbstgefühl Reisers aufzubauen:

Wären nun hiebei seine äußern Verhältnisse nur etwas günstiger und aufmunternder geworden, so hätte Reiser […] ein Muster von Tugend werden müssen. Aber dies war es, was ihn immer wieder niederschlug, die Meinung der Menschen von ihm […]. (AR 248)

Diese „Bedingtheit durch die Umstände“[119] bestimmt zugleich die Erzählweise des ‚psychologischen Romans’: Der Text setzt mit der Schilderung der Umstände ein, unter denen Anton heranwächst.[120] Erst im Anschluss an die Schilderung der Verhältnisse in Reisers Elternhaus wird der Protagonist mit dem passivisch konstruierten Satz eingeführt: „Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward.“ (AR 12) Auf diese Art „erscheint Antons Lebensgeschichte nicht als erzählerischer Ausgangspunkt, von dem aus auf eine Vorgeschichte zurückgeblickt wird, sondern als Endpunkt einer determinierenden Kausalkette.“[121] Nicht ohne Grund also ist der Anton Reiser als eine „Studie über Unterdrückung“[122] bezeichnet worden, ist das Hauptthema des Romans in der „Unterdrückung des Protagonisten durch die gesellschaftlichen Zustände“[123] gesehen worden. Sozialer und psychologischer Druck stehen in einem ursächlichen Verhältnis, welches vom Erzähler aufgedeckt wird.[124]

Aus dem hier Dargelegten wird deutlich, dass die Herausbildung des individuellen Charakters Antons in erster Linie in seinen drückenden äußeren Verhältnissen gesehen wird.[125] Der Erzähler deckt die sensible Veranlagung des Protagonisten, seine Neigung zur Schwermut auf, zeigt aber, dass diese sich erst „unter dem Zwang einer religiösen Erziehung und unter dem Druck bestimmter gesellschaftlicher Bedingungen“[126] in dieser Stärke entfalten kann.

Im folgenden Kapitel geht es darum, aufzuzeigen, wie die soziale und gesellschaftliche Umwelt Antons im Einzelnen beschaffen ist. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Reisers familiäre Situation, seine Lehrzeit und seine Erfahrungen während der Schulzeit.

3.2 Die Bedeutung der Erfahrungen Anton Reisers für die Konstitution seines Charakters

3.2.1 Frühkindliche Erfahrungen: Elternhaus und Lehrzeit

Moritz begreift – das wurde im vorhergehenden Kapitel deutlich - im Magazin wie im ‚psychologischen Roman’ Kindheit als eine prägende Phase der menschlichen Individualentwicklung.

Die familiäre Situation, in der Anton aufwächst, wird detailliert beschrieben, um die Gesamtheit der auf ihn einwirkenden Eindrücke zu erfassen. Sie zeichnet sich durch dauerhafte Streitigkeiten der Eltern aufgrund unterschiedlicher Auffassungen von der christlichen Lehre aus. Der Vater gehört der quietistischen Glaubensrichtung an, die durch „ein willen- und affektloses Sichergeben in Gottes Willen eine mystische Einigung mit Gott erstrebte.“ (AR, Anm. 7) Zugang zu den Lehren der Quietisten, die „vorzüglich in den Schriften der Mad. Guion “ (AR 7) enthalten sind, erhält der Vater über Johann Fr. v. Fleischbein, den „maßgebenden Führer und Ver-breiter des deutschen Quietismus.“[127] Die Inhalte der guyonischen Lehren bleiben im einleitenden Porträt der Sekte des Herrn v. Fleischbein auf bestimmte Schlüsselbegriffe reduziert: Um die Einigung mit Gott zu erzielen, sind die Angehörigen des Hauswesens des Herrn v. Fleischbein darauf bedacht, „alle Leidenschaften zu ertöten, und alle Eigenheiten auszurotten“. (AR 8) Es geht um die „Ertötung aller sogenannten Eigenheit und Eigenliebe “ (AR 9), um das „ Ausgehen aus sich selbst und Eingehen ins Nichts “ (AR 8), um die „Ertötung und Vernichtung aller, auch der sanften und zärtlichen Leidenschaften“ (AR 11). Aus der Zugehörigkeit des Vaters zu dieser Glaubensgemeinschaft resultiert ein Erziehungsprogramm, dessen oberstes Ziel „die Unterdrückung des natürlichen Selbstbewußtseins und der jugendlichen Lebensfreude“[128] ist.

Die Mutter kann diese Ideen, obgleich sie „mit der harten und unempfindlichen Seele ihres Mannes“ (AR 11) übereinstimmen, nicht teilen; sie hängt dem protestantischen Glauben an und liest mit „innigem Vergnügen“ (AR 11) in der Bibel. Diese unterschiedlichen religiösen Auffassungen sind der „erste Keim zu aller nachherigen ehelichen Zwietracht“ (AR 11); sie führen dazu, dass das Eheleben sich zu einer „Hölle von Elend“ (AR 11) entwickelt. Von frühester Kindheit an ist Anton der Leidtragende des gestörten Verhältnisses seiner Eltern: „Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm […] waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes.“ (AR 12) Anton kann zu keinem seiner Elternteile eine feste Bindung aufbauen, denn er weiß nicht, „an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide haßten, und ihm doch der eine so nahe wie der andre war.“ (AR 12) Er entbehrt jeglicher Zuneigung seitens der Eltern: „In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln.“ (AR 13) Die Frage „Woher mochte wohl dies sehnliche Verlangen nach einer liebreichen Behandlung bei ihm entstehen, da er doch derselben nie gewohnt gewesen war, und also kaum einige Begriffe davon haben konnte?“ (AR 14) macht deutlich, dass sich der Erzähler Antons Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung nicht unmittelbar aus seinen Lebensumständen erklären kann. Die Frage bleibt im Text unbeantwortet. Die Tatsache jedoch, dass der Erzähler sich diese Frage überhaupt stellt, weckt die Vermutung, dass er den Menschen als gesellschaftliches Wesen begreift, dem eine Neigung nach Nähe und sozialem Kontakt angeboren ist.[129] Auch die Bemerkung, dass Anton „auf das innigste das Bedürfnis der Freundschaft von seinesgleichen“ (AR 14) fühlt, steht im Zeichen dieser Auffassung vom Menschen. Der Aufbau sozialer Kontakte kommt jedoch aufgrund der fehlenden Selbstsicherheit Antons und seines ausgeprägten Schamgefühls, welches u. a. aus dem Mangel an guter Kleidung herrührt, nicht zustande; denn allein das niederschlagende Gefühl der Verachtung, die er von seinen Eltern erlitten, und die Scham, wegen seiner armseligen, schmutzigen und zerißnen Kleidung hielten ihn zurück, daß er es nicht wagte einen glücklicheren Knaben anzureden. (AR 14)

An dieser Stelle wird zum ersten Mal die Bedeutung der Kleidung für Antons Selbstwertgefühl genannt. Der Kleidermangel durchzieht als Leitmotiv den ganzen Text; anhand dieses Motivs wird der Zusammenhang zwischen äußerer materieller Not und innerem psychischen Leiden aufgedeckt. Die „ schlechte Kleidung “ (AR 303) wird im Laufe des Textes immer wieder als ein Umstand ausgewiesen, der mit dazu beiträgt, dass Anton sein in der Kindheit beschädigtes Selbstwertgefühl nicht aufbauen kann und eine soziale Integration verhindert wird.[130] Dass Anton sich für seine schlechte Kleidung schämt, hängt mit seinem Bestreben zusammen, der eigenen Herkunftswelt zu entkommen.[131] Schon früh macht er die Erfahrung des Vorhandenseins hierarchischer Sozialbeziehungen. Kleidung erscheint für ihn als „öffentliche Außenhaut“[132], die über die Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand entscheidet:

So ging er fast immer traurig und einsam umher, weil die meisten Knaben in der Nachbarschaft ordentlicher, reinlicher, und besser, wie er gekleidet waren, und nicht mit ihm umgehen wollten, und die die es nicht waren, mit denen mochte er wieder, wegen ihrer Liederlichkeit, und auch vielleicht aus einem gewissen Stolz keinen Umgang haben. (AR 14f.)

Der Erzähler, der durchgehend bemüht ist, einen Bezug zwischen den äußeren Eindrücken und Erfahrungen Reisers und seiner charakterlichen Entwicklung herzustellen, macht die immerwährende Zwietracht im Elternhaus dafür verantwortlich, dass Antons „Seele ebenfalls finster und menschenfeindlich gemacht“ (AR 32) wird. Der Mangel an Liebe und Achtung seiner eigenen Person gegenüber führt dazu, dass der Aufbau des Selbstwertgefühls scheitert. Diese in der Kindheit entstandene psychische Disposition bestimmt seinen ganzen weiteren Lebenslauf: Da Antons Selbstvertrauen so schwach entwickelt ist, braucht er umso mehr Bestätigung von außen. Wird dieses starke Geltungsbedürfnis verletzt, kann die Eitelkeit in „Verachtung seiner selbst“ (AR 50, 123) umschlagen.[133] Der fehlende soziale Kontakt und die „häusliche Zwietracht“ (AR 16) bewirken zudem eine Flucht nach innen: Anton wird „schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt verdrängt“ (AR 16f.), die ihm die soeben erst angeeignete Fähigkeit des Lesens eröffnet. Verstärkt wird der Rückzug in eine „Traum- und Phantasiewelt“, die er zunächst „mit Hilfe von religiösen Vorstellungen, dann von Vorstellungen aus der Roman- und Dramenlektüre“[134] errichtet, durch ein Geschwulst im linken Fuß, das erst nach vier Jahren geheilt werden kann. Während dieser Zeit muss Anton „unter oft unsäglichen Schmerzen alle Freuden der Kindheit entbehren“ (AR 17). Das Buch tritt an die Stelle der Freundschaftsbeziehungen, es muss ihm „Freund, und Tröster und alles sein.“ (AR 18) Zu seiner Lektüre gehört neben der Bibel „ein kleines Buch“, das „von einer frühen Gottesfurcht handelte, und Anweisungen gab, wie man schon vom sechsten bis zum vierzehnten Jahre in der Frömmigkeit wachsen könne.“ (AR 19) Das „Fortrücken in der Frömmigkeit“ wird für Anton zu „einer Sache des Ehrgeizes“ (AR 20). Im Alter von neun Jahren sucht der Protagonist gewissenhaft und eifrig die strengen Forderungen „von Gebet, Gehorsam, Geduld, Ordnung usw.“ (AR 19) zu erfüllen und fasst „einen so festen Vorsatz sich zu bekehren, wie ihn wohl selten Erwachsene fassen mögen.“ (AR 19) Antons ungewöhnlich stark ausgeprägte Hingabe an die religiösen Vorstellungen erscheint hier als Ersatz für mangelnde soziale Kontakte und fehlende Anerkennung durch seine soziale Umwelt. Dass er den Forderungen nicht immer nachkommen kann, wird vom Erzähler als ‚natürlich’ bezeichnet; Reiser hingegen quälen Gewissensbisse, wenn er die Regeln einmal vergisst und seinem Bewegungsdrang freien Lauf lässt:

Wenn er, wie natürlich, sich zuweilen vergaß, und einmal, wenn er Linderung an seinem Fuße fühlte, umhersprang- oder lief, so fühlte er darüber die heftigsten Gewissensbisse, und es war ihm immer, als sei er nun schon einige Stufen wieder zurückgekommen. (AR 20)

Von seinem Vater bekommt er nun „nebst den Guionschen Liedern“ eine „ Anweisung zum innern Gebet von ebendieser Verfasserin“ (AR 22) zu lesen. Auch die in diesen Texten gestellten Anweisungen werden von ihm „mit dem größten Eifer“ (AR 23) zu befolgen gesucht: Um „die Stimme Gottes in sich zu vernehmen“, sitzt er „halbe Stunden lang mit verschloßnen Augen, um sich von der Sinnlichkeit abzuziehen.“ (AR 23) Ziel des durch die quietistischen Lehren geprägten Erziehungsprogramms des Vaters ist die Erziehung zur Frömmigkeit über den Weg der Selbstverachtung. Aber gerade die Verachtung seiner selbst verhindert, dass Anton ein frommes, gottgewolltes Leben führt:[135]

Oft fiel es ihm ein, daß er auf einem bösen Weg begriffen sei, er erinnerte sich mit Wehmut an seine vormaligen Bestrebungen, ein frommer Mensch zu werden, allein sooft er im Begriff war, umzukehren, schlug eine gewisse Verachtung seiner selbst, und ein nagender Mißmut seine besten Vorsätze nieder, und machte, daß er sich wieder in allerlei wilden Zerstreuungen zu vergessen suchte. (AR 50)

Die Verstöße Antons gegen die rigide Selbstkontrolle müssen laut Kommentar des Erzählers „natürlicherweise“ (AR 51) erfolgen. Indem das Scheitern Antons als notwendig herausgestellt wird, ergeht zum einen der Angriff an die pietistisch-quietistische Religion, Forderungen an den Einzelnen zu stellen, die nicht zu erfüllen sind:[136]

Anton glaubte, wenn man einmal fromm und gottselig leben wolle, so müsse man es auch beständig, und in jedem Augenblicke, in allen seinen Mienen und Bewegungen, ja sogar in seinen Gedanken sein; auch müsse man keinen Augenblick vergessen, daß man fromm sein wolle. Nun vergaß er es aber natürlicherweise sehr oft: seine Miene blieb nicht ernsthaft, sein Gang nicht ehrbar, und seine Gedanken schweiften in irdischen weltlichen Dingen aus. (AR 51)

Zum anderen ist es hier Anton selbst, der sich diesen strengen Regeln unterwirft, nachdem er glaubt, dass „die angetretene Laufbahn des Ruhms auf immer verschlossen“ (AR 50) sei. Der Verlust der Perspektive, eine Schullaufbahn einzuschlagen, macht ihn zu einem „Heuchler gegen Gott, gegen andre, und gegen sich selbst.“ (AR 50) Dennoch versucht er die Heuchelei „vor sich selber als Heuchelei zu verbergen“ (AR 51). Als ihm dies nicht mehr gelingen will, beschließt er, „sich nun im Ernst von seinem bösen Leben zu bekehren“ (AR 51). Der Weg der Frömmigkeit erscheint auch hier als „Kompensation für den Verlust der sozialen Lebensperspektive“, als „Ausgleich für das soziale Scheitern“[137]. Somit kristallisiert sich als Haupt- angriffspunkt des kommentierenden Erzählers nicht die Religion selbst heraus, sondern die Funktion, die sie für Anton hat.[138]

Anton gelingt es jedoch nicht, der sich selbst auferlegten Bekehrung nachzukommen. Auf seinen Seelenzustand hat das verheerende Auswirkungen:

Er überließ sich wieder, aber beständig mit Angst und klopfendem Herzen, seinen vorigen Zerstreuungen. Dann fing er das Werk der Bekehrung einmal von vorn wieder an, und so schwankte er beständig hin und her, und fand nirgends Ruhe und Zufriedenheit, indem er sich vergeblich die unschuldigsten Freuden seiner Jugend verbitterte und es doch in dem andern nie weit brachte. (AR 52)

Derart beschaffen ist Antons Seelenzustand als seine Eltern ihn zum Handwerker bestimmen und dem Hutmacher Lobenstein in die Lehre geben. Als „eifriger Anhänger des Herrn v. F[leischbein]“ (AR 54) könne Herr Lobenstein, so die Hoffnung des Vaters, Anton „zur wahren Gottseligkeit und Frömmigkeit“ (AR 54) anhalten. Das Versprechen, der Hutmacher L[obenstein] in Braunschweig wolle sich Antons, wie ein Freund annehmen, er solle bei ihm wie ein Kind gehalten sein, und nur leichte und anständige Arbeiten, als etwa Rechnungen schreiben, Bestellungen ausrichten, u. dgl. übernehmen (AR 54), wird nicht erfüllt. Vielmehr erwartet Anton in Braunschweig eine diesen Aussichten genau entgegen gesetzte Behandlungsweise. Gleich beim Anblick seines künftigen Lehrherren erlischt „die vorgefaßte innige Liebe“ Antons gegen Lobenstein, „da ihn die kalte, trockne, gebieterische Miene seines vermeinten Wohltäters ahnden ließ, daß er nichts weiter, wie sein Lehrjunge sein werde.“ (AR 57)

In der Lobensteinepisode werden die Produktions- und Lebensbedingungen der Handwerker detailliert beschrieben. Ironisch lobt der Erzähler die geordnete und monotone Lebens- und Arbeitswelt des Handwerksmannes:

Nach einer allgütigen und weisen Einrichtung der Dinge hat auch das mühevolle, einförmige Leben des Handwerksmannes, seine Einschnitte und Perioden, wodurch ein gewisser Takt und Harmonie hereingebracht wird, welcher macht, daß es unbemerkt abläuft, ohne seinem Besitzer eben Langeweile gemacht zu haben. (AR 61)

Die „Einförmigkeit“ (AR 59) erscheint als Hauptcharakteristikum des Lebens der Lehrlinge, Gesellen und des Dienstpersonals im Hause Lobensteins. Die Unterbrechungen der „ermüdenden Einförmigkeit“ (AR 60) des Lebens stellen die Mahlzeiten, die Nachtruhe und der freie Sonntag dar. Einzig die Hoffnung auf diese Einschnitte ist es, die „über das Unangenehme und Mühsame der Arbeit“ einen „tröstlichen Schimmer“ (AR 59) verbreitet. Fragwürdig wird dem Erzähler diese „allgütige und weise Einrichtung der Dinge“ (AR 61), weil sie verhindert, dass die Arbeiter „zu einem Bewußtsein ihrer selbst und einer kritischen Reflexion der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse gelangen können.“[139]

Lobenstein tritt als erbarmungsloser Ausbeuter auf, der seine Angestellten zu reinen Arbeitsinstrumenten reduziert. Hinter den religiösen Schwärmereien des Lehrherrn werden die profanen Motive des Raffgierigen sichtbar:

Die Nutzanwendung lief dann immer, politisch genug, darauf hinaus, daß er seine Leute zum Eifer und zur Treue – in seinem Dienst ermahnte, wenn sie nicht ewig im höllischen Feuer brennen wollten. Seine Leute konnten ihm nie genug arbeiten – und er machte ein Kreuz über das Brot und die Butter, wenn er ausging. (AR 62f.)

Die religiösen Strafpredigten Lobensteins dienen nicht der Bekehrung seiner ‚Untergebenen’, sondern erfüllen vornehmlich die Funktion, dieselben einzuschüchtern und zur Arbeit anzuhalten.

In dem Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik entwirft Moritz ein Bild von der bestehenden Gesellschaftsordnung, das zum Verständnis seiner Auffassung vom Menschen beiträgt. Die nachfolgend zitierte Textstelle aus der Kinderlogik macht den Maßstab der Kritik Moritz’ an dem Verhältnis zwischen Lobenstein und seinen Angestellten deutlich:

Der listigere und verschlagenere Teil der Menschheit hat nämlich Mittel gefunden, dem ehrlichern und gutmütigern seine notwendigen Bedürfnisse auf eine gewisse Weise zu entreißen und abzuschneiden, um sie ihm nur unter der Bedingung wieder zufließen zu lassen, daß er eine Zeitlang auf die natürliche Verbindung seiner Geistes- und Körperkräfte Verzicht tut – und wie eine bloße Maschine durch die Gedanken eines andern seinen Arm ausstrecken, und seinen Fuß emporheben läßt, wie der Soldat auf das Kommandowort tun muß.[140]

Kritisiert wird, dass ein Teil der Menschheit durch die gesellschaftlichen Rangunterschiede zu einem bloßen Arbeitsinstrument reduziert wird und dass diesem Teil damit die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und öffentlicher Wirkung genommen wird. Maßstab dieser Kritik ist die natürliche Bestimmung des Menschen als Körper- und Geistwesen, die durch diese Behandlungsweise verletzt wird: Denn wenn man den Menschen „nicht mehr als ein Ganzes, sondern als einen untergeordneten Teil eines größern Ganzen betrachtet, und der einzelne Mensch zu häufig bloß Hand und Fuß sein muß, da er doch auch der Bestimmung der Natur gemäß, zugleich Kopf sein“[141] muss, wird man dem einzelnen Menschen Moritz’ Ansicht nach nicht gerecht.[142]

Nichtsdestotrotz genießt es Anton zunächst an dieser Gesellschaft teilzuhaben:

Überdem machte ihm der ordentliche Gang der Geschäfte, den er hier bemerkte, eine Art von angenehmer Empfindung, daß er gern ein Rad in dieser Maschine mit war, die sich so ordentlich bewegte: denn zu Hause hatte er nichts dergleichen gekannt. (AR 58f.)

Hier hat er das Gefühl dazuzugehören, ein Teil des Ganzen zu sein, was ihm im Elternhaus versagt geblieben ist: „Die Schürze brachte ihn gleichsam in Reih und Glied mit seinesgleichen, da er vorher einzeln und verlassen dastand.“ ( AR 66)

Durch den psychischen und physischen Druck, den Lobenstein auf Anton ausübt, verliert sich diese angenehme Empfindung jedoch sehr schnell wieder. Der „Menschenhaß“ und die „Intoleranz“ (AR 62) des Lehrherrn führen soweit, dass er „jedes Lächeln, und jeden unschuldigen Ausbruch des Vergnügens, der sich in Antons Mienen oder Bewegungen“ (AR 63) zeigt, zu unterbinden sucht; denn Anton gegenüber kann Lobenstein seine Intoleranz „einmal recht nach Gefallen auslassen, weil er wußte, daß ihm nicht widersprochen werden durfte.“ (AR 63) „Ein Zufall“ (AR 64) – so der Kommentar des Erzählers - verbessert Antons Lage etwas: In der Figur Lobensteins ist nicht nur ein gnadenloser Ausbeuter menschlicher Arbeitskraft gestaltet, sondern zugleich ein „äußerst hypochondrischer Schwärmer“ (AR 64), der seinen Ängsten heillos ausgeliefert ist. Aus Angst vor nächtlichen Visionen lässt er Anton „in einem Bette neben sich schlafen“, wodurch Anton „ihm gewissermaßen zum Bedürfnis“ (AR 64) wird und in den „Genuß der strengen und alle Freiheit vernichtenden Freundschaft L[obenstein]s“ (AR 73) gelangt. Durch diese ‚Freundschaft’ findet Anton „neue Veranlassung zur Heuchelei und Verstellung, die sonst seiner Natur ganz entgegen war.“ (AR 64) Ironisch kommentiert der Erzähler die Versuche Reisers, sich durch „irgendeinen Ausdruck der Reue, Zerknirschung, Sehnsucht nach Gott und dergleichen“ (AR 64) in die Gunst Lobensteins einzuschmeicheln: „Das war der herrliche Nutzen, den dies erzwungene Gebet auf Antons Herz und Charakter hatte.“ (AR 65) Die Erfahrung, sich allein durch vorgetäuschte Innerlichkeit in seinem Umfeld behaupten und Anerkennung gewinnen zu können, provoziert Heuchelei und Verstellung im Protagonisten. Der Neid der übrigen Hausgenossen auf Antons Bevorzugung und die argwöhnische und misstrauische Art Lobensteins führen jedoch dazu, dass er die Zuneigung seines Lehrherrn schnell wieder verliert. Da es ihm nicht gelingt, ein „niedergeschlagenes, misanthropisches Wesen“ und „Beängstigungen und Beklemmungen seiner Seele“ (AR 70) vorzutäuschen, sondern vielmehr wegen der „Zufriedenheit mit seinem Zustande“ (AR 70) immer lebhafter und heiterer wird, sinkt er immer mehr in der Gunst Lobensteins, denn diese

Lebhaftigkeit war ihm [Lobenstein] der gerade Weg zu Antons Verderben, der nach dieser Heiterkeit in seinem Gesicht notwendig ein ruchloser, weltlich gesinnter Mensch werden mußte, von dem nichts anders zu vermuten stand, als daß Gott selbst ihn in seinen Sünden dahingeben würde. (AR 70)

Heiterkeit und Lebhaftigkeit werden von Lobenstein als Verstöße gegen das quietistische Trauergebot aufgefasst. Ein Brief des Herrn v. Fleischbein, mit dem er über den Seelenzustand Antons korrespondiert, versichert ihm schließlich, dass „ der Satan seinen Tempel in Antons Herzen schon so weit aufgebauet habe, dass er schwerlich wieder zerstört werden könne. “ (AR 71) Dies begreift er als Rechtfertigung, Anton seine Freundschaft zu entziehen und seine Arbeitskraft erbarmungslos auszubeuten:

Der Winter kam heran, und jetzt fing Antons Zustand wirklich an, hart zu werden: er mußte Arbeiten verrichten, die seine Jahre und Kräfte weit überstiegen. L[obenstein] schien zu glauben, da nun mit Antons Seele doch weiter nichts anzufangen sei, so müsse man wenigstens von seinem Körper allen möglichen Gebrauch machen. Er schien ihn jetzt wie ein Werkzeug zu betrachten, das man wegwirft, wenn man es gebraucht hat. (AR 72)

Die Unterdrückung Antons durch die harte, körperliche Arbeit und die körperlichen Züchtigungen verbittert „ihm sein Leben auf die grausamste Weise“ (AR 101). Dennoch empfindet er auch unter den beschwerlichsten Arbeiten „eine Art von innerer Wertschätzung, die ihm die Anstrengung seiner Kräfte“ (AR 73) verschafft; mit Stolz betrachtet er die blutigen Merkmale an seinen Händen als „Ehrenzeichen von seiner Arbeit.“ (AR 72) Zur Erleichterung seines Zustandes trägt zudem wesentlich seine „Phantasie“ (AR 58, 73) bei, die es ihm ermöglicht, sich für eine gewisse Zeit „ganz aus seiner wirklichen Welt zu versetzen.“ (AR 195) Der Rückzug in die Innenwelt wird einerseits in seiner kompensatorischen Funktion als Ersatz für mangelnde Zuneigung und Aufmerksamkeit entlarvt, andererseits verhindert gerade die Flucht in die Phantasie, dass Anton „niederträchtig gesinnt“ (AR 195) wird; denn das war es was ihn aufrecht erhielt. – Wenn seine Seele durch tausend Demütigungen in seiner wirklichen Welt erniedrigt war, so übte er sich wieder in edlen Gesinnungen der Großmut, Entschlossenheit, Uneigennützigkeit und Standhaftigkeit, sooft er irgendeinen Roman, oder heroisches Drama durchlas oder durchdachte. (AR 195)

Nicht allein die reale Misere, sondern vor allem die „Meinung der Menschen von ihm“ (AR 248) ist es, die Anton immer wieder niederdrückt. Als „eine der grausamsten Situationen in seinem ganzen Leben“ (AR 102) empfindet er die, in der er in der Öffentlichkeit „eine Last auf dem Rücken“ (AR 101) tragen muss. Anton drückt hier weniger die Last als vielmehr das Bewusstsein, dass die „öffentliche Straße“ (AR 101) Schauplatz der Szene ist und er somit den Blicken anderer ausgesetzt ist. Er kommt sich vor wie ein „Lasttier“ (AR 101) und glaubt „vor Scham in die Erde sinken zu müssen“ (AR 101f.).

Dies Tragen auf dem Rücken schwächte seinen Mut mehr, als irgendeine Demütigung, die er noch erlitten hatte, und mehr als L[obenstein]s Scheltworte und Schläge. Es war ihm, als ob er nun nicht tiefer sinken könne; er betrachtete sich beinahe selbst, als ein verächtliches, weggeworfenes Geschöpf. (AR 102)

Erniedrigend wird die Arbeit für ihn erst, wenn er sie unter den Augen der Öffentlichkeit verrichten muss. Wie schon das Beispiel der Kleidung gezeigt hat, orientiert sich Antons Interpretation der Wirklichkeit an Wertmaßstäben repräsentativer Öffentlichkeit.[143]

Im Anschluss an die Schilderung Reisers Elternhaus und seiner Lehrzeit zieht der Erzähler hinsichtlich der inneren Entwicklung des Protagonisten folgendes Fazit:

Und so war Anton nun in seinem dreizehnten Jahre, durch die besondere Führung, die ihm die göttliche Gnade, durch ihre auserwählten Werkzeuge hatte angedeihen lassen, ein völliger Hypochondrist geworden, von dem man im eigentlichen Verstande sagen konnte, daß er in jedem Augenblicke lebend starb. – Der um den Genuß seiner Jugend schändlich betrogen wurde – dem die zuvorkommende Gnade den Kopf verrückt hatte. (AR 90)

Die religiöse Erziehung im Elternhaus und im Hause Lobensteins wird für den „Zwang zur Heuchelei und zur Selbstquälerei, Hypochondrie und die Zerstörung aller Lebensfreude“[144] verantwortlich gemacht.

3.2.2 Schule

Im vorliegenden Kapitel sollen Reisers Erfahrungen in der Schulzeit hinsichtlich ihrer Bedeutung für seine psychische Entwicklung näher betrachtet werden. Die Schilderung des Schulbetriebs gewinnt im Anton Reiser wie nirgends zuvor im deutschen Roman Kontur.[145] Der Anton Reiser ist nicht nur „sozialpsychologisch orientierte […] Pathographie“[146], sondern auch Zeitzeugnis für einen möglichen Ausbildungsweg eines Kindes aus armen Verhältnissen im späten 18. Jahrhundert. Die Geschichte Reisers ist zugleich die „Geschichte des Bruchs zwischen Herkunft und Zukunft: die Kindheitsgeschichte eines Schriftstellers im Zeitalter der Aufklärung.“[147] Der Roman zeichnet die schwierige Situation „eines potentiellen Aufsteigers an der Schwelle zum literatus. Reiser sucht eine gesellschaftliche Position, aber seine Karriere ist glücklos.“[148] Warum missglückt der gesellschaftliche Aufstieg Reisers?

Die reellen Möglichkeiten zu sozialem Aufstieg und politischer Einflussnahme, die sich den Angehörigen des deutschen Bürgertums im 18. Jahrhundert anboten, waren sehr begrenzt:

Eine öffentliche, politische Wirksamkeit und damit verantwortlich-tätige Selbstverwirklichung war dem Bürger und erst recht dem Kleinbürger im Deutschland des 18. Jh.s verschlossen. Die einzige Möglichkeit für einen Angehörigen der Unterschicht, ohnedies nur wenigen Begabten sich öffnend, war der entbehrungsreiche und bestenfalls zum Hofmeister- oder Predigeramt führende Weg gelehrter Bildung mit Hilfe demütigender Stipendien und Almosen.[149]

In der Figur Reisers ist einer dieser wenigen Begabten niederer Herkunft gestaltet, dem sich die Möglichkeit bietet, als Stipendiat und Freitischempfänger eine Schullaufbahn einzuschlagen. Wenn Schrimpf den Empfang von Stipendien als demütigend bewertet, hat er wohl den individuellen Fall Anton Reisers im Blick, den sein mangelndes Selbstbewusstsein seine Situation oftmals erst als demütigend empfinden lässt. Objektive Misslichkeiten und Widrigkeiten kennzeichnen Antons Leben in hohem Maße und tragen zum großen Teil zum Misslingen seiner Integration bei; wichtig ist es jedoch, die durch seine Kindheitserlebnisse festgeschriebene psychische Konstitution mit in die Beurteilung einzubeziehen. Reiser reagiert besonders sensibel und empfindlich auf seine Umwelt. Das fehlende Selbstzutrauen bzw. dessen Mangelhaftigkeit[150] zwingen ihn dazu, sich überall hervorzutun und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Dieses starke Geltungsbedürfnis macht ihn in einem hohen Grade abhängig von der Meinung, die seine Mitmenschen von ihm haben, was schließlich soweit führt, dass sich seine „ Selbstachtung […] nur noch auf die Achtung anderer gründen“ (AR 236) kann. Besonders problematisch ist hierbei, dass Anton auch günstige Situationen, persönliche Erfolge und Anerkennung von außen aus seiner eigenen Unsicherheit heraus negativ deutet: Um Reiser „Mut und Zutrauen einzuflößen“ (AR 189), nimmt ihn der Rektor auf eine kleine Reise zu einer benachbarten Stadt mit, an der Lehrer und Kandidaten der Theologie teilnehmen. Anstatt jedoch die Reise zu genießen und es als Anerkennung und Wertschätzung seiner Person zu begreifen, dass er als ‚einfacher’ Schüler in diese Gesellschaft Aufnahme findet, stellt sich bei ihm sogleich der Gedanke ein, „welch ein unbedeutendes Wesen er in dieser Gesellschaft“ (AR 191) sei. Aufgrund seines ausgeprägten Geltungsbedürfnisses schmerzt es ihn, „bei allem der letzte“ (AR 191) zu sein. Mit mehr Selbstvertrauen ausgestattet, würde er die Ursachen für die objektiv gegebene Hierarchie zwischen ihm und seinen Lehrern nicht in seiner eigenen Person suchen, sondern in der Sache selbst: Die Lehrer sind ihm natürlicherweise an Alter, Lebenserfahrung, Stand und Wissen überlegen, so dass es objektiv betrachtet nicht beschämend oder demütigend sein dürfte, in ihrer Gesellschaft ‚der letzte’ zu sein.

Die in der frühen Kindheit geprägte psychische Disposition ist für sein Handeln und Denken, seine Empfindungen und seine Reaktionen im Umgang mit den Mitmenschen bestimmend. Gleichwohl werden auch die äußeren Bedingungen vom Erzähler immer wieder als objektive Hindernisse ausgewiesen, die sich dem Glück Reisers in den Weg stellen. Die Erklärung für das Misslingen der sozialen Integration Antons ergibt sich somit aus der zusammenschauenden Betrachtung von äußeren Bedingungen und der in der frühen Kindheit geprägten Charakterstruktur.

Wie verläuft nun der Bildungsweg des Protagonisten, welche äußeren und inneren Hindernisse stellen sich ihm in den Weg und wie tragen die Erfahrungen seiner Schulzeit zur weiteren Prägung seines Charakters bei?

Sehr früh eignet sich Anton aufgrund seiner besonderen Begabung die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens an. In seinem zwölften Lebensjahr wird einer von seinen „eifrigsten Wünschen, einmal in eine öffentliche Stadtschule gehen zu dürfen, zum Teil erfüllt“ (AR 42), denn er darf eine dieser Schule angegliederte „lateinische Privatstunde“ (AR 42) besuchen.[151] Schnell entdeckt Anton, dass er sich durch eigene Leistung emporarbeiten kann. Schulischer Erfolg ist für ihn gleichbedeutend mit sozialem Aufstieg:

Welch eine glückliche Lage, welch eine herrliche Laufbahn für Anton, der nun zum ersten Male in seinem Leben einen Pfad des Ruhms vor sich eröffnet sahe, was er so lange vergeblich gewünscht hatte. (AR 44)

Diese Zeit, die als eine der glücklichsten in Antons Leben beschrieben wird, endet jedoch genauso plötzlich wie sie begonnen hat. Wie ein „Donnerschlag“ (AR 47) trifft es ihn, als er erfährt, dass er die lateinische Privatstunde verlassen muss. Seinen Abschied inszeniert er „als stufenweisen Abstieg innerhalb der nach Leistungen gestaffelten Sitzordnung. Ex negativo ist in dieser Karriere nach unten die Intensität seines Ehrgeizes festgehalten.“[152] Der radikale Ehrgeiz Antons, seine Eitelkeit und sein Geltungsbedürfnis werden vom Erzähler als negative Folge der Erziehung ausgewiesen, ihre Wurzeln im Mangel an Selbstsicherheit gesehen. Dieser Festlegung des Helden durch den psychologisch kommentierenden Erzähler auf ein nahezu ausschließlich fremdbestimmtes, determiniertes Wesen, steht „der Aufsteiger Anton als Figur mit eigenem Recht und eigener Logik gegenüber.“[153] In der Rolle des Aufsteigers besitzt er einen eigenen Willen und eigene Interessen. Anton begreift die Erfüllung der Anforderungen in der Schule als Möglichkeit seiner bedrückenden sozialen und familiären Lage zu entkommen.[154] Sein Ehrgeiz stellt sich hier als notwendige Voraussetzung für den sozialen Aufstieg dar. Die sich ihm eröffnende Aussicht, bei dem Hutmacher Lobenstein in Braunschweig eine Lehre zu machen, klingt in Antons Ohren insbesondere deshalb so angenehm, weil sich daran laut Aussage seiner Eltern noch zwei Jahre Schule anschließen sollen. Er glaubt fest daran, dass sich ihm bei Erfüllung der Anforderungen ein Zugang zu weiterer Bildung öffnet:

denn wenn er diesen Zweck erst erreicht hätte, glaubte er, würde es ihm nicht fehlen, sich so vorzüglich auszuzeichnen, daß sich ihm zum Studieren von selber schon Mittel und Wege eröffnen müßten. (AR 54)

Der Ehrgeiz Antons geht mit der festen Überzeugung einher, durch eigene Leistung den engen Verhältnissen entkommen und eine ruhmreiche „Laufbahn“ (AR 44) einschlagen zu können. Als er erfährt, dass ihn sein Vater aus dem Hause Lobenstein zurück nach Hannover holen wird, wiegt er sich „aufs neue in angenehmen Träumen von der Zukunft ein.“ (AR 95)

In eine Schule, schloß er, müsse er doch in H[annover] auf alle Fälle geschickt werden, ehe er zum Abendmahl zugelassen würde, und dann wollte er sich schon so auszeichnen, daß man aufmerksam auf ihn werden solle. (AR 95)

In Hannover zurück, erhält Anton, jetzt vierzehnjährig, Religionsunterricht in einer Freischule, die „den angehenden Lehrern zur Übung im Unterrichten diente.“ (AR 109) Der Erzähler weist diese Institution als „eine Zuflucht für die Armen“ (AR 109) aus, da sie einen unendgeldlichen Schulbesuch ermöglicht. Anton gelingt es hier tatsächlich „die meiste Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu sehn“ (AR 115), da er, geübt durch das Nachschreiben der Predigten, sogar weit besser als die Lehrer selbst nachschreiben kann.

In diese Zeit fällt jedoch auch ein einschneidendes, lang nachwirkendes Misserfolgserlebnis. Anton, der „sich schmeichelte, schon mit Ausdruck lesen zu können“ (AR 110), gerät ins Stocken als er an der Reihe ist zu buchstabieren. Der Inspektor sieht ihn daraufhin „mit einem Blick der äußersten Verachtung an“ und bezeichnet ihn als „‚dummer Knabe!’“ (AR 111)

Anton glaubte in diesem Augenblick vernichtet zu sein, da er plötzlich in der Meinung eines Menschen auf dessen Beifall er schon so viel gerechnet hatte, so tief herabgesunken sahe, daß er ihm nicht einmal mehr zutrauete, daß er buchstabieren könne. (AR 111)

Die heftige Reaktion Antons auf diesen Vorfall macht deutlich, wie wenig gefestigt seine Persönlichkeit ist; von anderen Menschen geachtet zu werden, ist zur Befriedigung seines starken Geltungsbedürfnisses absolut notwendig. Wird ihm die Anerkennung verweigert, glaubt er sich mangels Selbstwertgefühl sogleich ‚vernichtet’. Erschwerend kommt in diesem Fall hinzu, dass es der Inspektor ist, der ihn zurücksetzt, da er für Anton mit zu den Personen gehört, von deren Meinung seine Zukunft abhängt. Dieses Erlebnis führt noch nicht zu einer prinzipiellen Infragestellung seiner eigenen Person und seiner Fähigkeiten, denn es entfacht seinen Ehrgeiz zunächst noch mehr:

Er strengte sich seit dem Tage, an welchem er diese Demütigung erlitt, noch zehnmal mehr, als vorher, an, sich bei seinen Lehrern in Achtung zu setzen, um den Inspektor, der ihn so verkannt hatte, gleichsam einst zu beschämen, um ihm über das Unrecht, das er von ihm erlitten hatte, Reue zu erwecken. (AR 111)

Im weiteren Verlauf der Geschichte wird dem Protagonisten jedoch infolge weiterer echter oder auch nur empfundener Demütigungen und Zurücksetzungen „fast alles Zutrauen zu seinen eigenen Verstandeskräften“ genommen und er fängt oft im Ernst an, „sich selbst für einen Dummkopf zu halten, wofür er so allgemein anerkannt wurde.“ (AR 214)

Nach langem Zögern wagt es Anton schließlich, dem Inspektor der Freischule seine „Neigung zum Studieren“ (AR 118) zu entdecken. Es kommt zu einem Vorsprechen beim Konsistorialrat. Dieser verspricht, nachdem Anton unter Beweis gestellt hat, dass die Beschaffenheit seiner Aussprache und Stimme zum Predigeramt geeignet ist, ihm „freien Unterricht zu verschaffen, und ihn mit Büchern zu unterstützen.“ (AR 119) Antons Freude hierüber wird jedoch sogleich wieder zunichte gemacht, da sein Vater ihm jede Unterstützung zum Lebensunterhalt verweigert. Dass Anton schließlich doch der Besuch der weiterbildenden Schule ermöglicht wird, verdankt sich letztendlich jedoch nicht seiner eigenen Anstrengung, sondern dem Zufall, denn ein „sehr geringfügig erscheinender Umstand“ gibt „seinem Schicksal in seinem ganzen künftigen Leben eine andre Wendung“ (AR 120): Der Garnisonsprediger Marquard, bei dem Anton Konfirmationsunterricht erhält, wird durch einen zufälligen Umstand aufmerksam auf Anton und nimmt sich daraufhin vor, „sich seiner tätig anzunehmen“ (AR 124). Der Erzähler insistiert auf der Bedeutung dieses „ohngefähren Zufalls“, der „allen seinen ängstlichen Besorgnissen ein Ende machen, und die erste Grundlage seines künftigen Glücks sein würde.“ (AR 124) Antons Leistungen werden erst durch die persönliche Gnade des Prinzen, des Pastors und des Rektors, „alle die Personen von denen sein künftiges Schicksal abhing“ (AR 225), zu einer Chance. Die Möglichkeiten der Einflussnahme des Protagonisten auf sein eigenes Schicksal erscheinen hier sehr gering veranschlagt. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive betrachtet, verweisen die hier geschilderten Ausleseverfahren mit ihrem stark mäzenatischen Charakter darauf, daß die gesellschaftlichen Funktionen eben noch lange nicht als Hierarchie von Berufen organisiert sind, auf welche die gesamte Jugend durch eine alle erfassende schulische Leistungskonkurrenz verteilt wird; denn für jeden Schüler wird erwiesene Leistung erst durch die persönliche Gnade möglichst hochstehender Lehrer wirklich zur Chance, den allgemeinen Ausschluß von Bildung individuell zu überwinden und weitere Möglichkeiten des Aufstiegs in qualifizierte Tätigkeiten zu erhalten.[155]

Auf Empfehlung des Pastors unterstützt der Prinz Antons Schulbesuch nun mit einem monatlichen Betrag zu seinem Unterhalt. Das Geld aber wird nicht zu Antons Lebensunterhalt verwendet, da alle darauf aus sind, „zum Wohltäter an ihm zu werden“ (AR 134) und das Geld des Prinzen für ihn zu sparen. Reiser erhält freie Unterkunft beim Oboisten Filter und von verschiedenen Personen wöchentlich einen Freitisch. Diese Situation verringert Reisers „Freude nicht ohne Ursach“, so der Kommentar des Erzählers, denn sie setzt „ihn in der Folge oft in eine höchst peinliche und ängstliche Lage, so daß er oft im eigentlichen Verstand sein Brot mit Tränen essen“ (AR 133) muss:

Denn alles ereiferte sich zwar, auf die Weise ihm Wohltaten zu erzeigen, aber jeder glaubte auch dadurch ein Recht erworben zu haben, über seine Aufführungen zu wachen, und ihm in Ansehung seines Betragens Rat zu erteilen, der dann immer ganz blindlings sollte angenommen werden, wenn er seine Wohltäter nicht erzürnen wollte. Nun war Reiser gerade von so viel Leuten, von ganz verschiedener Denkungsart, abhängig, als ihm Freitische gaben, und ein jeder drohte, seine Hand von ihm abzuziehen, sobald er seinem Rat nicht folgte, der oft dem Rat eines anderen Wohltäters geradezu widersprach. (AR 133-134)

Durch den „Genuß der Freitische“ (AR 134), so die bitter ironische Formulierung, wird Reiser abhängig von seinen Gönnern und ist unzähligen „Demütigungen und Herabwürdigungen“ ausgesetzt, „denen gewiß ein jeder junger Mensch mehr oder weniger ausgesetzt ist, der das Unglück hat, auf Schulen durch Freitische seinen Unterhalt zu suchen, und die Woche hindurch von einem zum anderen herumessen“ (AR 134) muss. Mit der Bemerkung, dass vergleichbare Lebensumstände auf jeden jungen Menschen eine demütigende und herabwürdigende Wirkung hätten, erscheint Reisers Situation hier objektiv als demütigend und nicht, weil er sie aufgrund seiner individuellen psychischen Beschaffenheit als solche empfindet.

Zugleich aber wird Antons besondere psychische Disposition als Faktor ausgewiesen, der für seine drückende Lage mit verantwortlich ist. Der Erzähler kommentiert, dass Anton sich seinen Zustand angenehmer hätte machen können, wenn er ein einschmeichelndes Wesen gehabt hätte, aber dazu fehlte ihm ein gewisses Selbstzutrauen, das ihm von Kindheit auf war benommen worden; um sich gefällig zu machen, muß man vorher den Gedanken haben, daß man auch gefallen könne. – Reisers Selbstzutrauen musste erst durch zuvorkommende Güte geweckt werden, ehe er es wagte, sich beliebt zu machen. (AR 137)

Die Bedeutung der ökonomischen Lebensbedingungen für die psychische Entwicklung Antons ist im ‚psychologischen Roman’ allgegenwärtig. Während seiner Schulzeit werden seine Grundbedürfnisse, obgleich die Mittel zur Verfügung stehen, vernachlässigt. Das Verhalten der Wohltäter funktioniert nach folgendem Prinzip: „Man wollte für ihn sparen, und ließ ihn während der Zeit wirklich darben.“ (AR 135) Der Erzähler weist darauf hin, dass ausreichend Nahrung und anständige Kleidung notwendige Voraussetzungen dafür sind, dass „ein junger Mensch zum Fleiß im Studieren Mut behalten“ (AR 135) kann. Diese Grundvoraussetzungen aber sind bei Anton nicht gegeben. Im Fortgang der Geschichte wird der Zusammenhang zwischen Antons psychischer Verfassung und seiner schlechten ökonomischen Situation immer wieder herausgestellt. Die anfängliche Motivation und der Ehrgeiz des Protagonisten, sich „Ruhm und Beifall“ (AR 135) durch fleißiges Studieren zu erwerben, schwindet sehr schnell, denn „das Drückende und Erniedrigende seiner äußern Lage“ verbittert ihm das Vergnügen am Lernen. Der Umstand, dass „auch der allerärmste besser als er gekleidet war“, trägt dazu bei, „seinen Mut in etwas niederzuschlagen“ (AR 146); das „lächerliche Ansehn“, das ihm der zu kurz gewordene alte Rock gibt, trägt „sehr viel zu der Schüchternheit in seinem Wesen bei“ (AR 188). Im Hause der Familie Filter drückt ihn der „demütigende Gedanke des Lästigseins“ (AR 137) nieder. „Reisers Ökonomie“ ist von der Frau Filter so eingerichtet, dass sein Frühstück in ein „wenig Tee, und einem Stück Brot, und sein Abendessen in ein wenig Brot und Butter und Salz“ besteht; beim Mittagessen muss er sich zudem „ja hüten […], sich zu überessen.“ (AR 145)

Das Jahr, das Reiser in der Abhängigkeit von seinen Gönnern zubringt, die ihm ihre ohnehin kärglichen „Wohltaten auf eine herabwürdigende Art“ (AR 166) zeigen, wird als „eines der qualvollsten seines Lebens“ (A 137) bezeichnet. Die negative Wirkung dieser Lebensumstände auf seine charakterliche Entwicklung bleibt nicht aus: Reiser „wird mißmütig und menschenfeindlich gesinnet“ und fängt an, „in der Einsamkeit sein größtes Vergnügen zu finden.“ (AR 166)

Die erfahrenen Kränkungen und negativen Beurteilungen seiner Person lassen ihn in der Folge eben diese negativen Eigenschaften annehmen, welche ihm zugesprochen, erst eigentlich aber durch diese Zuschreibungen produziert werden:[156]

Durch tausend unverdiente Demütigungen kann jemand am Ende so weit gebracht werden, dass er sich selbst als einen Gegenstand der allgemeinen Verachtung ansieht, und es nicht mehr wagt, die Augen vor jemandem aufzuschlagen – er kann auf diese Weise in der größten Unschuld seines Herzens alle die Kennzeichen eines bösen Gewissens an sich blicken lassen, und wehe ihm dann, wenn er einem eingebildeten Menschenkenner, wie es so viele gibt, in die Hände fällt, der nach dem ersten Eindruck den seine Miene auf ihn macht, sogleich seinen Charakter beurteilt. (AR 168f.)

Der Darstellung der Ursache- und Wirkungsverhältnisse, die Reisers innere Entwicklung bedingen, soll dem „eingebildeten Menschenkenner“ (AR 169) zur Warnung dienen, von dem ersten, äußeren Eindruck eines Menschen sogleich auf sein inneres Wesen zu schließen. Die Einsicht in das Wie und Warum von Reisers Entwicklung soll die Menschenkenntnis und Sensibilität der Leser befördern und sie somit vor einer vorschnellen Beurteilung eines anderen Menschen bewahren.

In Moritz’ ‚psychologischem Roman’ wird anhand der individuellen Lebensgeschichte Anton Reisers, die als „sonderbare Verkettung von Umständen“ (AR 205) erscheint, die Bedingtheit menschlichen Lebens dargestellt. Diese Bedingtheit wird zum einen daran deutlich, dass die Möglichkeit, eine schulische Laufbahn einzuschlagen, nicht von Antons Leistungen abhängig ist, sondern von zufälligen, äußeren Umständen. Reisers charakterliche Entwicklung wird als „natürliche Folge der engsten Verhältnisse, worin er sich befand“ (AR 209), zu erklären gesucht. Während der Schulzeit sind diese engen Verhältnisse durch die finanzielle und soziale Abhängigkeit des Protagonisten von seinen Wohltätern gegeben. Hier ist er Willkürlichkeiten und Zufällen ausgesetzt, auf die er selbst keinen Einfluss hat. Zum anderen stellt sich die in der frühen Kindheit geprägte psychische Disposition Antons als unüberwindbares Hindernis dar, in der Gesellschaft Fuß zu fassen: Sein labiles Selbstgefühl hindert ihn daran, einen unbefangenen und natürlichen Umgang mit seinen Mitmenschen zu haben. Die psychische Beschaffenheit selbst erscheint als notwendige Folge der kindlichen Erfahrungen, als Resultat der sonderbaren „Verkettung der Dinge“ (AR 230), und liegt somit auch außerhalb des Einflussbereichs des Protagonisten.

Indem der Erzähler die Kausalzusammenhänge zwischen der psychischen Situation Antons und den äußeren Verhältnissen aufdeckt, entwirft er zugleich das Bild der vermeidbaren Krankheit; denn mit dem Wissen um die Ursachen für Antons Leiden, weiß er auch zu sagen, inwiefern die hier geschilderte Entwicklung hätte vermieden werden können.[157] Für den Protagonisten kommen diese Einsichten zwar zu spät, aber der im Konditional formulierte Gegenentwurf der Vermeidung von Krankheit ist ausdrücklich an den Leser des ‚psychologischen Romans’ gerichtet:

Hätten ihn seine Verhältnisse in der Welt glücklich und zufrieden gemacht, so würde er allenthalben Zweck und Ordnung gesehen haben, jetzt aber erschien ihm alles Widerspruch, Unordnung, und Verwirrung. (AR 366)

Indem verdeutlicht wird, dass die Verantwortung für psychische Störungen nicht allein beim Individuum selbst zu suchen ist, sondern hauptsächlich in den zufälligen Bedingungen des Daseins, appelliert der Text an die soziale Verantwortung des Lesers, von der Norm abweichendes Verhalten nicht zu verurteilen, sondern stets die besonderen Umstände, die für die Entstehung psychischer Störungen verantwortlich sind, zu berücksichtigen.[158]

Der Erzähler des Anton Reiser schlüpft nicht nur in die Rolle des ‚moralischen Arztes’, sondern – dies soll im folgenden Kapitel erwiesen werden - auch in die Rolle des Pädagogen.

3.2.3 Pädagogisch-didaktische Intention

In den Aussichten sieht Moritz die Aufgabe des Schulmannes darin, „unmittelbar auf den Verstand und das Herz“ des Zöglings einzuwirken und nicht eher zu ruhen „bis er die Frucht seiner Wirkungen siehet!“ (A 97)

Um in das „Innerste des Herzens dringen“ (A 95) zu können und Einfluss auf den Schüler ausüben zu können, müsse der Lehrende zum Menschenbeobachter werden und „durch den Vorhang der sogenannten guten Lebensart, durch den Vorhang der Lebensklugheit, und durch den Vorhang der Selbstgefälligkeit oder Gefälligmachung seiner selbst bei anderen durchblicken“. (A 95) Insbesondere „die Verstellung aus einer falschen Art von Gefälligkeit“ und die „Nachahmungssucht“ der Menschen, die dazu führe, dass der Einzelne „seinen originellen Charakter“ (A 95) ablege, betrachtet Moritz als große Hindernisse für den Beobachter des Menschen. Die Ursache für die Neigung zur Verstellung und Nachahmung liegt für Moritz darin begründet, dass „eine große Eigenschaft des Menschen, der Stolz eines jeden auf sein eignes individuelles Dasein, so sehr unter uns verloschen ist.“ (A 95) Sein Ziel ist es daher, in jedem Menschen „die Wertschätzung seiner selbst, und den Stolz auf sein eigentümliches Dasein“ (A 96) zu erwecken, um so der Verstellungskunst entgegenzuarbeiten. Obgleich diese bei Kindern „größtenteils so weit noch nicht“ fortgeschritten sei, habe sie doch „bei einigen schon tiefe Wurzeln gefaßt“ (A 96). Gerade bei Kindern aber könne man der Verstellungskunst, die den Menschen „unwahr“ mache, „noch am ersten entgegenarbeiten“, indem man „Zwang vermeidet“ (A 96).

Aus Moritz’ Sicht kann jede „Pädagogik, die sich nicht auf eigne spezielle Beobachtungen und Erfahrungen gründet“, nur „ein ohngefährer Umriß ohne innern Gehalt“ (A 88) sein. Er selbst stellt daher während seiner Lehrzeit am grauen Kloster eigene Schülerbeobachtungen an. Seine Beobachtungen finden auf der Grundlage der Anerkennung und Akzeptanz der individuellen Eigenart des Einzelnen statt. Die Erkenntnis der unabdingbaren Verschiedenartigkeit der Menschen ist Ausgangspunkt von Moritz’ Betrachtung des Menschen und bestimmt somit sein Menschenbild grundlegend:

[…] und unter dieser kleinen Anzahl von aufkeimenden werdenden Menschen, die ich vor mir sehe, welch eine Verschiedenheit! Vom Lebhaftesten unter diesen bis zum Trägsten; von der feinsten Organisation bis zur gröbsten! vom feurigsten Blick bis zum kältesten; von der aufstrebendsten Stärke bis zur hinfälligsten Schwäche – und doch dies alles nur verhältnismäßige Begriffe - jeder ist gut, und kann gut sein, in seiner Art. (A 98)

Jeder Mensch, selbst der „allerunterste auf der Staffel der Menschheit“ (A 98), besitzt für Moritz Würde und verdient daher Achtung. Erst auf Grundlage dieser Auffassung vom Menschen gelingt es Moritz, sein „Herz mit gleicher Liebe, einer so sehr untermischten Anzahl“ (A 98) von Schülern zu öffnen und Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Denn gerade wenn ein junger Mensch sich von seinem Lehrer unrecht behandelt fühle, werde der Lehrer „auf sein Herz auch nicht im mindesten wirken können.“ (A 99) Im Anton Reiser wird diese Idee unter anderem in einem Kommentar des Erzählers aufgegriffen:

Und gewiß ist wohl bei niemandem die Empfindung des Unrechts stärker, als bei Kindern, und niemandem kann auch leichter Unrecht geschehen; ein Satz den alle Pädagogen täglich und stündlich beherzigen sollten. (AR 33)

Zudem wird im Rahmen der Schilderung der Schulzeit Antons die Wirkung beschrieben, die eine ungerechte Behandlungsweise des Konrektors auf Anton hat. Der Konrektor macht bei seinen Bestrafungen keinen Unterschied, sondern straft alle ausnahmslos: Anton muss, obgleich unschuldig, das Schicksal seiner Mitschüler teilen, die Peitsche des Konrektors zu spüren. Diese ungerechten Bestrafungsmethoden zeigen bei Anton insofern Wirkung, als dass „alles Gefühl von Achtung und Liebe für den Konrektor, wie aus seinem Herzen weggeblasen“ ist und er seine Strafen ebenso wenig achtet, „als ob irgendein unvernünftiges Tier an ihn angerannt wäre.“ (AR 159) Weil Anton sich ungerecht behandelt fühlt, kann der Konrektor nicht auf sein Herz wirken, womit er aus Moritz’ Perspektive seiner Hauptaufgabe als Lehrer nicht nachkommt. Für den Kantor hingegen „hätte Reiser alles aufgeopfert, weil er nie ungerecht gegen ihn gewesen war“ (AR 161).

Neben den sorgfältigen und vorurteilsfreien Beobachtungen der Schüler nennt Moritz in den Aussichten eine weitere Vorgehensweise, durch die es ihm gelungen sei, mit jedem einzelnen seiner Schüler „näher bekannt zu werden, und auf die Individua zu wirken.“ (A 99) Er gäbe seinen Schülern die Möglichkeit, ihm „schriftlich ihre Gedanken zu eröffnen“, um ihn um Rat zu fragen, ihm „von ihren Beschäftigungen“ zu berichten und ihm mitzuteilen, wenn sie sich unrecht behandelt fühlen. Auf diese Art sei es ihm möglich geworden, „bei einigen unter denselben den Schleier der Verstellung ganz hinweg zu ziehen, bei andern, wenigstens durch diesen Schleier hindurch zu blicken.“ (A 99)

Die in den Aussichten deutlich werdenden pädagogischen Ambitionen Moritz’ und das diesen zugrunde liegende Menschenbild sind auch für seinen ‚psychologischen Roman’ bestimmend. Gleich in der Vorrede zum ersten Teil des Anton Reiser betont der Erzähler den pädagogischen Nutzen seines Vorhabens, den Menschen zum Gegenstand der Betrachtung zu machen: „aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer Rücksicht, das Bestreben nie ganz unnütz sein, die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften“ (AR 6). Die pädagogisch-didaktische Intention bleibt jedoch weitgehend auf die ersten drei Teile des Romans beschränkt. Im vierten und letzten Teil des Anton Reiser, der erst nach 1790 und damit nach Moritz’ Italienaufenthalt erschienen ist, treten die lehrhaften Bemerkungen des Erzählers zur Erziehung und Didaktik zugunsten kunstpädagogischer und -theoretischer Reflexionen in den Hintergrund.[159] Diese thematische Schwerpunktverlagerung ist auf eine Umorientierung des Verfassers „von der moralphilosophisch fundierten Psychologie zur schönen Kunst“[160] zurückzuführen: „Das Thema ‚Autonomieästhetik’ hat Moritz’ Konzentration auf Selbsterforschung verdrängt.“[161]

Der Erzähler nimmt im vierten Teil eine kritischere und distanziertere Haltung der erzählten Figur gegenüber ein. Er sucht die Schuld für Antons Leiden nicht mehr in erster Linie in dem Fehlverhalten der Mitmenschen und den widrigen Lebensumständen, sondern auch bei Anton selbst, der „mancherlei Arten von Selbsttäuschungen“ (AR 382) unterliegt, weil ihn ein „mißverstandener Trieb zur Poesie und Schauspielkunst“ (AR 382) auf einen Irrweg verleitet hat.[162] Obgleich die Kindheitserlebnisse des Protagonisten auch für die in diesem Teil dargestellte Lebensphase immer noch als prägend angesehen werden,[163] wird Anton hier erstmals als eigenverantwortlicher junger Mensch betrachtet, der nicht ernsthaft genug ist, „um sich selber zu prüfen, durch welche Merkzeichen vorzüglich der falsche Kunsttrieb von dem wahren sich unterscheidet “ (AR 382). An Anton ergeht der Vorwurf der Selbsttäuschung:

Er täuschte sich selbst, indem er das für echten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufälligen Umständen seines Lebens gegründet war. – Und diese Täuschung, wie viele Leiden hatte sie ihm verursacht, wie viele Freuden ihm geraubt! (AR 414f.)

Reiser ist nicht zu echtem künstlerischem Schaffen fähig, da er „in der Kunst wie in der Phantasie nur ein Surrogat für seine enttäuschten Ansprüche an das Leben“[164] sucht.

Moritz’ pädagogisches Engagement durchzieht den ganzen Roman und kommt vor allem in den detailreichen Schilderungen des Schulbetriebs zum Ausdruck. Hier findet sich eine Vielzahl von an Lehrer und Erzieher gerichteten Ratschlägen und Ermahnungen, die auf eine angemessene Umgangsweise mit den Heranwachsenden abzielen. Hierbei kommen die Wirkungen bestimmter Lehrereigenschaften auf das Verhalten der Schüler ebenso in den Blick wie Überlegungen zu Lernmethoden und zur Entwicklung kognitiver Fähigkeiten[165]. Zur Darstellung der pädagogischen Wirkungsabsichten des Textes sollen diese Aspekte daher exemplarisch untersucht werden.

Die Darstellungsabsicht[166] bestimmt im Anton Reiser zugleich die Art und Weise der Darstellung: Der Text nähert sich einer wissenschaftlichen Abhandlung an, indem der Erzähler „kommentierend, begründend und diagnostizierend über den Vorgängen steht“[167], in Vor- und Rückblicken Zusammenhänge aufdeckt und die Nutzanwendung seiner eigenen Darstellung herausstellt:

Vielleicht enthält auch diese Darstellung manche, nicht ganz unnütze Winke für Lehrer und Erzieher, woher sie Veranlassung nehmen könnten, in der Behandlung mancher ihrer Zöglinge behutsamer, und in ihrem Urteil über dieselben gerechter und billiger zu sein! (AR 238)

Aus der Darstellung der Lebensgeschichte Antons sollen Lehrer und Erzieher die ‚nützliche’ Erkenntnis ziehen, dass ihre Zöglinge einer behutsamen Behandlung und gerechten Beurteilung bedürfen. Dahinter steht die Forderung nach Rücksichtnahme und Aufmerksamkeit auf die individuelle Eigenart des Einzelnen und auf seine jeweils besonderen Lebensumstände. Ohne die Kenntnis der Hintergründe und Ursachen für ein bestimmtes Verhalten kann keine gerechte Beurteilung erfolgen. Indem der Erzähler Einsicht in die Ursache-Wirkungsverhältnisse gibt, die für Reisers Verhalten verantwortlich sind, deckt er zugleich das Fehlverhalten der Mitmenschen auf:

Das Betragen des Direktors gegen Reiser war eine Folge von dessen schüchternem und mißtrauischem Wesen, das eine niedrige Seele zu verraten schien; allein der Direktor erwog nicht, daß eben dies schüchterne und mißtrauische Wesen wieder eine Folge von seinem ersten Betragen gegen Reiser war. (AR 194)

Der Direktor fragt nicht nach den Ursachen und kommt daher zu einem falschen Urteil über Antons Wesen. Der Erzähler nennt den wahren Grund für Antons Trägheit und Desinteresse an allem, was außer ihm vorgeht: „Allein man erwog nicht, daß eben dies Betragen, weswegen man ihn zurücksetzte, selbst eine Folge von vorhergegangner Zurücksetzung war.“ (AR 205) Auf die gestellte Diagnose folgt die lehrhafte Mahnung:

Möchte dies alle Lehrer und Pädagogen aufmerksamer, und in ihren Urteilen behutsamer machen, daß sie die Einwirkung unzähliger zufälliger Umstände mit in Anschlag brächten, und von diesen erst die genaueste Erkundigung einzuziehen suchten, ehe sie es wagten, durch ihr Urteil über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden, bei dem es vielleicht nur eines aufmunternden Blicks bedurfte, um ihn plötzlich umzuschaffen, weil nicht die Grundlage seines Charakters, sondern eine sonderbare Verkettung von Umständen an seinem schlecht in die Augen fallenden Betragen schuld war. (AR 205)

Der Erzähler warnt davor, von dem äußeren Betragen direkt auf den Charakter eines Menschen zu schließen. Dieser eröffnet sich einem erst, wenn man die Lebensgeschichte des Einzelnen, die sich im Anton Reiser als „künstlich verflochtne(s) Gewebe“, das „aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht“ (AR 122), darstellt, in die Betrachtung mit einbezieht. Die genaue Kenntnis der ‚inneren Geschichte’ des Menschen, der Beschaffenheit seines Herzens, ist notwendige Voraussetzung für pädagogisch wirksames Handeln.

Dies ist jedoch nur demjenigen Lehrer möglich, der bestimmte Eigenschaften im Umgang mit den Schülern besitzt: „O was vermag ein Schulmann über die Herzen junger Leute, wenn er gerade so wie der Direktor B[allhorn] den rechten Ton einer durch Leutseligkeit gemilderten Würde in seinem Betragen zu treffen weiß!“ (AR 148) Als guter Lehrer kristallisiert sich im Anton Reiser ein Lehrertypus heraus, der wie der Konrektor der öffentlichen Stadtschule, wo Anton eine lateinische Privatstunde besucht, zwar streng, aber dennoch gerecht ist und mit seinen Schülern „auf einem ziemlich freundschaftlichen Fuß“ (AR 42) umgeht. Diese Vereinigung von Strenge und Freundlichkeit in einer Person ist es, die bei Anton bewirkt, dass er seinen alten Schreibmeister „so aufrichtig liebte, daß er alles für ihn aufgeopfert hätte.“ (AR 44)

Denn dieser Mann unterhielt sich mit ihm und seinen Mitschülern oft in freundschaftlichen und nützlichen Gesprächen, und weil er sonst von Natur ein ziemlich harter Mann zu sein schien, so hatte seine Freundlichkeit und Güte desto mehr Rührendes, das ihm die Herzen gewann. (AR 44)

Hingezogen fühlt sich Anton auch zu einem Lehrer der Freischule, der eine sehr ähnliche Charakterisierung erfährt:

- insbesondere äußerte sich seine Freundschaft gegen einen derselben namens R. .., der dem äußern Anschein nach, ein sehr harter und rauer Mann war, in der Tat aber das edelste Herz besaß, was nur bei einem künftigen Dorfschulmeister gefunden werden kann. (AR 114)

Gegenbild ist der Konrektor des Lyzeums, der auf eiserne Disziplin setzt, sich durch ungerechte, erbarmungslose Strafen auszeichnet und deshalb auch nicht im Mindesten auf das Herz Antons einwirken kann.[168]

Im Anton Reiser finden sich auch konkrete Ratschläge zu Lehr- und Lernmethoden; so macht der Erzähler beispielsweise eindringlich auf den didaktischen Nutzen des Wiederholens von Lernstoff aufmerksam: „Das ganz einfache Mittel hiezu war – die öftere Wiederholung des Alten mit dem Neuen, welches doch die Pädagogen der neuern Zeiten ja in Erwägung ziehen sollten!“ (AR 156) Zudem übt er Kritik am gedankenlosen Auswendiglernen unverstandener Worte und warnt die Lehrer davor, „sich mit den ersten Worten des Lehrlings“ zu begnügen, „ohne in den Begriff desselben einzudringen“ (AR 43), da dies oft Ursache für Missverständnisse sein könne. Anton fällt das Auswendiglernen sehr leicht, da er sich die Technik angeeignet hat, „nicht sowohl die Worte, als die Sachen sich einzuprägen“ (AR 154). Lernerfolg stellt sich eher ein, wenn der Stoff auch inhaltlich verstanden wird, so der zu ziehende Schluss aus dieser Bemerkung. An anderer Stelle wird die für einen Lehrer angemessene Art des mündlichen Vortrags beschrieben: „der Lehrer muß langsam, der Redner geschwind sprechen. – Der Lehrer soll allmählich den Verstand erleuchten, der Redner unwiderstehlich in das Herz eindringen […]“ (AR 105).

Anhand des individuellen Falls Anton Reiser wird exemplarisch die lebenswichtige Bedeutung von Anteilnahme und Zuwendung für den Heranwachsenden aufgezeigt und auf den Zusammenhang von menschenwürdigen Lebensbedingungen, Selbstachtung und Lernbereitschaft verwiesen:[169]

Denn die unwürdige Behandlung der er zuweilen ausgesetzt war, benahm ihm oft einen großen Teil seiner Achtung gegen sich selbst, welche schlechterdings zum Fleiß notwendig ist. (AR 164)

Die Abhängigkeit Antons von den Wohltaten anderer drückt seinen Geist und seinen Mut nieder und hemmt seinen Fleiß:

Sicher wäre Reiser glücklicher und zufriedener und gewiß auch fleißiger gewesen, als er war, hätte man ihm von dem Gelde, das der Prinz für ihn hergab, Salz und Brot für sich kaufen lassen, als daß man ihn an fremden Tischen sein Brot essen ließ. (AR 164)

Auch „die Achtung, worin ein junger Mensch bei seinen Mitschüler steht“, sei „eine äußerst wichtige Sache bei seiner Bildung und Erziehung“, worauf man jedoch bei „öffentlichen Erziehungsanstalten bisher noch zuwenig Aufmerksamkeit gewandt“ (AR 215) habe. Dem Verhältnis zu den Mitschülern wird sehr große Bedeutung für die Entwicklung Antons beigemessen; denn „eine einzige wohlangewandte Bemühung seiner Lehrer […], ihn bei seinen Mitschülern wieder in Achtung zu setzen“, hätte „Reisern damals aus seinem Zustande retten, und auf einmal zu einem fleißigen und ordentlichen jungen Menschen […] umschaffen können“ (AR 215). Und das – so die Einschätzung des Erzählers – „hätten sie [die Lehrer] durch eine etwas nähere Prüfung seiner Fähigkeiten, und ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf ihn sehr leicht bewirken können.“ (AR 216) Hier wird deutlich, dass die Möglichkeiten des Lehrers, die Entwicklung des Zöglings zu beeinflussen, im Anton Reiser sehr hoch eingeschätzt werden.

Die pädagogisch-didaktischen Überlegungen und Beobachtungen im ‚psychologischen Roman’ und in den Aussichten sind darauf ausgerichtet, dem Menschen in seiner individuellen Beschaffenheit gerecht zu werden. Dies ist wiederum nur möglich, wenn der Einzelne in seinem Lebenszusammenhang betrachtet, die Aufmerksamkeit auf die mannigfaltigen Lebensumstände gerichtet wird, die eine Charakterprägung bedingen. Moritz beharrt auf dem unverzichtbaren Recht des Individuellen in seinen wie auch immer gearteten Erscheinungen und richtet sich damit gegen eine vorschnelle, vernunftbestimmte moralische Beurteilung.[170] Die Vielfalt der individuellen Erscheinungen erlaubt keine Ausgrenzung: „Jeder ist gut, und kann gut sein in seiner Art.“ (A 98) Die vorhandenen Unterschiede betreffen nicht „gut und böse“, sondern „besser und gut“ (A 99). Erst die genaue Kenntnis des ‚Inneren’ des Menschen, das Wissen um die Ursachen für ein bestimmtes Verhalten erlaubt Moritz zufolge pädagogisch gerechtes und wirksames Handeln.

Der ‚psychologische Roman’ sucht die Vervollkommnung des Menschen nicht – wie Blanckenburgs Konzept es vorsieht - durch die Darstellung einer positiven Entwicklungslinie zu erreichen, sondern durch die „Erkenntnis eines möglichst realistischen Falles. Reiser ist das negative Beispiel aus dem Laien und Pädagogen verstehend das richtige Verhalten lernen sollen.“[171]

Die Einsicht in die Ursache-Wirkungszusammenhänge, die Antons psychische Entwicklung bestimmen, der Einblick in sein Seelenleben, soll potentielle Erzieher dazu bewegen, „in der Behandlung mancher ihrer Zöglinge behutsamer, und in ihrem Urteil über dieselben gerechter und billiger zu sein!“ (AR 238)

4 Schlussbetrachtung: Das Menschenbild im Anton Reiser

Moritz rekonstruiert im Anton Reiser im Rückgriff auf zeitgenössische psychologisch-anthropologische und poetologische Diskurse die Entstehung des individuellen Charakters der Hauptfigur und sucht damit einen Beitrag zur Bestimmung des Menschen zu leisten. Um das im Anton Reiser vertretene Bild vom Menschen zu erfassen, sind Text und Verfasser in einem ersten Schritt in eben diese Diskurse eingeordnet worden.

Moritz’ eingehende Beschäftigung mit dem Menschen selbst, die Betonung der menschlichen Individualität und sein Interesse an der psychischen Entwicklung des Einzelnen, die sowohl im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als auch im Anton Reiser zur Geltung kommen, weisen ihn als typischen Vertreter seiner Zeit aus. Der Prozess der Neukonstituierung der Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen, der sich in enger Verbindung mit der Entwicklung der Psychologie vollzieht, bringt am Ende der Aufklärung ein verstärktes Interesse am Inneren des Menschen, an der Entstehung und Entwicklung seiner Psyche hervor. Darin, dass Moritz die Frage nach der Entstehung menschlicher Individualität empirisch zu beantworten sucht, zeigt sich die veränderte methodische Ausrichtung der Wissenschaft. Die menschliche Seele ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr nur Gegenstand spekulativer Metaphysik, sondern erscheint auch auf dem Weg der Erfahrung und Beobachtung einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich.

Der von der Forschung belegte konstitutive Zusammenhang zwischen Anton Reiser und dem von Moritz herausgegebenen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde betrifft auch das diesen zugrunde liegende Menschenbild. Dem Bemühen um die Beförderung der Menschenkenntnis durch die Sammlung von Beobachtungen der menschlichen Seele in Roman und Zeitschrift liegt die Auffassung vom Menschen als individuelles und zugleich gesellschaftliches Wesen zugrunde. Die auf dem Weg der Erfahrung und Beobachtung gewonnene Selbsterkenntnis und Menschenkenntnis werden als Voraussetzung für die Vervollkommnung und damit zugleich für die Glückseligkeit der Menschheit betrachtet.

Der dezidiert aufs Individuum ausgerichtete Begriff von seelischer Gesundheit bzw. Krankheit, mit dem sich Moritz gegen eine vorschnelle, moralische Verurteilung menschlichen Verhaltens wendet, und das Gleichgewichtstheorem der Grundlinien sind für die literarische Rekonstruktion der Krankheitsgeschichte Anton Reisers bestimmend. Von der Norm abweichendes Verhalten erhält bei Moritz den Status einer psychologisch erklärbaren Krankheit, der therapeutisch begegnet werden kann und deren Ursachen nicht ohne weiteres im Einflussbereich des Betroffenen liegen. Im ‚psychologischen Roman’ ist der kommentierende Erzähler durchgängig bemüht, eben diese Ursachen, die für die Entstehung der psychischen Leiden des Protagonisten verantwortlich sind, aufzudecken und damit zugleich aufzuzeigen, wie diese Leiden hätten vermieden werden können.

Die neue Aufmerksamkeit auf den individuellen Menschen in seiner psychischen Beschaffenheit und in seinem konkreten Lebenszusammenhang geht einher mit einer Verknüpfung von Wissenschaft und Dichtung, die sich im deutschen 18. Jahrhundert insbesondere im Bündnis von Roman und Anthropologie bzw. Psychologie manifestiert. Dass insbesondere der Roman als Medium zur Erforschung des Menschen betrachtet wird, hängt mit der Herausbildung neuer Formstrukturen und thematischer Schwerpunkte zusammen, die diesem veränderten Interesse am Menschen Rechnung tragen: Der Blick auf die ‚innere Geschichte’ des Menschen, die Forderung nach einer schlüssigen psychologischen Kausalität in der Darstellung der inneren Entwicklung, die Konzentration auf die Charaktere sind anhand des Vorberichts zu Wielands Agathon und Blanckenburgs Romantheorie als zentrale Merkmale der sich um die Jahrhundertmitte etablierenden Gattung herausgearbeitet worden. Die ‚innere Geschichte’ des Menschen wird als Resultat des Zusammenwirkens von individuellem Persönlichkeitskern und besonderen Lebensumständen aufgefasst. Diesem Verständnis vom Menschen entspricht die Forderung, die kausalen Beziehungen zwischen inneren und äußeren Faktoren im Roman zur Darstellung zu bringen. Der Einblick in das Innenleben der Figuren, in das Wie und Warum der geschilderten Entwicklung, steht im Dienste der Beförderung der Sensibilität und der Menschenkenntnis des Lesers.

Auch die Schilderung der ‚inneren Geschichte’ Anton Reisers erfolgt – dies konnte im Rückgriff auf Moritz’ Überlegungen im Magazin zum Verhältnis von Umwelteinfluss und Veranlagung belegt werden - auf der Grundlage der Auffassung, dass menschliche Individualität sich aus dem Zusammenwirken von äußeren Umständen und persönlichen Anlagen ergibt. Aus diesem Verständnis von menschlichem Leben resultiert die kausalgenetische Erzählweise des Anton Reiser.

Für die literarische Darstellung der Lebensgeschichte Reisers ist zudem die in den Aussichten beschriebene methodische Vorgehensweise des Menschenbeobachters bestimmend. Die Ansicht, dass man die Ursachen der psychischen Entwicklung eines Menschen nur aufdecken kann, indem man den Menschen in seinem Lebenszusammenhang betrachtet und dabei die Aufmerksamkeit auf die kleinen, alltäglichen Umstände und Begebenheiten in ihrer inneren Verflechtung richtet, ist programmatisches Prinzip in Erfahrungsseelenkunde und Anton Reiser. Hinter dieser Vorgehensweise wird das Bestreben nach einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen sichtbar.

Im exemplarischen Fall Reisers ergibt sich die innere Entwicklung aus dem komplexen Zusammenspiel der ererbten Neigung des Protagonisten zum Selbstmitleid und zur Melancholie, seiner angeborenen Intellektualität und der besonderen Lebensumstände, in die er sich gesetzt sieht. Im ‚psychologischen Roman’ wird den konkreten äußeren Verhältnissen jedoch weitaus größere Bedeutung für die psychische Entwicklung beigemessen als der persönlichen Veranlagung. Moritz, der von der gewichtigen Bedeutung der frühkindlichen Erfahrungen für die menschliche Individualentwicklung überzeugt ist, schreibt diesen eine unauslöschliche Deformation in Reisers Charakter zu. Die Textanalyse konnte erweisen, dass im Anton Reiser die grundsätzliche Auffassung vom Menschen als gesellschaftliches Wesen, das auf die Zuneigung und Anerkennung seiner Mitmenschen angewiesen ist, vertreten wird; das familiäre und soziale Umfeld in Reisers Kindheit wird dieser Wesensart des Menschen jedoch nicht gerecht: der Mangel an Liebe und Achtung und die religiöse Erziehung werden für die Unterdrückung des Selbstwertgefühls und das daraus resultierende starke Geltungsbedürfnis Antons verantwortlich gemacht. Diese in der frühen Kindheit entstandene psychische Disposition bestimmt den Fortgang seines Lebens grundlegend. Die Vorstellung Moritz’ vom Menschen als Körper- und Geistwesen, wie sie sich in der Kinderlogik zeigt, konnte als Maßstab der Kritik an den Arbeitsverhältnissen im Hause Lobensteins herausgestellt werden.

Während der Schulzeit wird das Scheitern des vom Protagonisten angestrebten sozialen Aufstiegs und der ersehnten gesellschaftlichen Anerkennung zum einen auf die psychischen Voraussetzungen, die er aus seiner Kindheit mitbringt, zurückgeführt. Zum anderen werden die äußeren Umstände hier als objektive Hindernisse gekennzeichnet, die sich einer glücklichen Entwicklung in den Weg stellen und verhindern, dass Reiser seine in der frühen Kindheit entstandene psychische Disposition zu überwinden vermag.

Aus der zentralen Bedeutung, die den äußeren Lebensumständen und Erfahrungen für die individuelle Entwicklung Reisers beigemessen wird, ist für den ‚psychologischen Roman’ die Auffassung vom Menschen als Produkt seiner eigenen Geschichte, seiner Erfahrungen ablesbar.

Der Erzähler des Anton Reiser schlüpft nicht nur in die Rolle des moralischen Arztes, sondern zugleich auch in die Rolle des Pädagogen. Aufschluss über das hinter den konkreten pädagogischen Ermahnungen und didaktischen Ratschlägen des Erzählers stehende Menschenbild konnte durch den Einbezug der pädagogischen Reflexionen Moritz’ in den Aussichten gegeben werden. Ausgangspunkt für Moritz‘ Betrachtung des Menschen ist die unabdingbare Verschiedenheit der Menschen. Von dieser Grundannahme leitet er die Forderung nach Anerkennung und Akzeptanz der wie auch immer gearteten Eigenart des Einzelnen ab. Eine gerechte Beurteilung des einzelnen Menschen und pädagogisch wirksames Handeln ist nur auf der Grundlage der Kenntnis des Herzen, des Inneren des Menschen möglich. Das Innere erschließt sich einem wiederum nur, wenn man die besonderen Lebensumstände berücksichtigt, da der Charakter eines Menschen – hier schließt sich der Kreis - in erster Linie als Produkt der auf ihn wirkenden äußeren Eindrücke aufgefasst wird.

5 Literaturverzeichnis

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„Ich versichere, dass ich die schriftliche Hausarbeit – einschließlich beigefügter Zeichnungen, Kartenskizzen und Darstellungen – selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen der Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinne nach anderen Werken entnommen sind, habe ich in jedem Fall unter Angabe der Quelle deutlich als Entlehnung kenntlich gemacht.“

Köln, 12. Mai 2003

[...]


[1] Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Mit einem Nachwort hg. v. Wolfgang Martens. Stuttgart 1972, S. 6. Zitiert wird im Folgenden im laufenden Text nach dieser Ausgabe unter Angabe der Abkürzung AR und der entsprechenden Seitenzahl.

[2] GNOTHI SAUTON oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde hg. v. Karl Philipp Moritz I-X (1783-93). Nachdruck in 10 Bänden, hg. v. Petra und Uwe Nettelbeck. Nördlingen 1986. Zitatbelege erfolgen nach dieser Ausgabe künftig im laufenden Text unter Angabe der Abkürzung MzE, der Band- und Stückangabe sowie der Seitenzahl.

[3] Vgl.: Eybisch, Hugo: Untersuchungen zur Lebensgeschichte von Karl Philipp Moritz und zur Kritik seiner Autobiographie. Leipzig 1909. Auf alle einmal vollständig belegten Titel wird im Folgenden abgekürzt mit Nachname und Erscheinungsjahr verwiesen.

[4] Zur Schwierigkeit der eindeutigen Gattungszuweisung vergleiche die neuere Arbeit von Hans Esselborn: Der gespaltene Autor. Anton Reiser zwischen autobiographischem Roman und psychologischer Fallgeschichte. – In: Recherches Germanique 25 (1995) H. 1, S. 69-90.

[5] Vgl.: Meier, Albert: Karl Philipp Moritz. Stuttgart 2000, S. 225f.

[6] Im 18. Jahrhundert wurden Menschenkenntnis und Selbstkenntnis vielfach als Ursprung aller Erkenntnis, als Quelle für Glück und Zufriedenheit bezeichnet. Vgl.: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 1117.

[7] Vgl. beispielsweise: Bezold, Raimund: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984, S. 177: „Als erzählte Figur ist Anton Reiser Konkretion allgemein erfahrungsseelenkundlichen Wissens“; Kaiser, Marita: Zum Verhältnis von Karl Philipp Moritz‘ psychologischer Anthropologie und literarischer Selbstdarstellung. – In: Barkhoff, J./ Sagarra, E. (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, S. 128; Müller, Lothar: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Frankfurt a. M. 1987, S. 85.

[8] Moritz, Karl Philipp: Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre. – In: K. Ph. Moritz: Werke in drei Bänden, hg. v. Horst Günther. Bd. 3: Erfahrung, Sprache, Denken. Frankfurt a. M. 1981, S. 85-99. Zitatbelege nach dieser Ausgabe unter Angabe der Abkürzung A und der Seitenzahl künftig im laufenden Text.

[9] Vgl.: Simonis, Anette: Kindheit in Romanen um 1800. Bielefeld 1993, S. 26; Vgl. auch Schrimpf, H. J.: Karl Philipp Moritz. Stuttgart 1980, S. 51: „Moritz‘ analysierende und die Kausalzusammenhänge zurückverfolgende Erzählweise entspricht genau dem Verfahrensmuster und der Fragetechnik des Erfahrungsseelenkundlers.“

[10] Vgl.: Riedel, Wolfgang: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Tübingen 1994, S. 133.

[11] Schrimpf, H. J.: Moritz. Anton Reiser. – In: Wiese, Benno von (Hg.): Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1963, S. 100.

[12] Vgl.: Ebd., S. 99-102.

[13] Vgl.: Literarische Anthropologie. - In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. H. Fricke u. a. Bd. 2. Berlin/ New York 2000, S. 432-434.

[14] Vgl.: Dülmen, Richard van: Die Entdeckung des Individuums 1500-1800. Frankfurt a. M. 1997, S. 79f.

[15] Vgl.: Marquard, Odo: Zur Geschichte des Begriffs ‚Anthropologie’ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. – In: Ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1973, S. 218 (Anm.).

[16] Marquard, Odo: Artikel „Anthropologie“. – In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. K. Gründer, Bd. 1, Basel/ Darmstadt 1971, Sp. 363.

[17] Vgl.: Schings, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 25.

[18] Marquard (1971), Sp. 364.

[19] Marquard (1973), S. 125.

[20] Vgl.: Ebd., S. 124.

[21] Ebd., S. 125.

[22] Alt (1996), S. 8.

[23] Vgl.: Ebd., S. 8.

[24] Vgl.: Schings (1977), S. 17.

[25] Pfotenhauer, Helmut: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, S. 1.

[26] Riedel (1994), S. 95.

[27] Vgl.: Schings (1977), S. 24.

[28] Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Erster Theil (nicht mehr erschienen) Leipzig 1772, S. XVII, zitiert nach Riedel (1994), S. 104f.

[29] Vgl.: Riedel (1994), S. 105.

[30] Vgl.: Schings (1977), S. 30.

[31] Vgl.: Ebd., S. 28.

[32] Vgl.: Meier (2000), S. 110.

[33] Art.: Psychologie. – In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. 1989, Sp. 1604.

[34] Über Vorläufer und Einflüsse auf Moritz‘ Projekt der Erfahrungsseelenkunde informiert ausführlich: Bezold (1984), S. 116-149.

[35] Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte (MzE II, 1, 62-77); Fortsetzung aus Anton Reisers Lebensgeschichte (MzE II, 2, 119-129).

[36] Alle diese Vorabdrucke sind im Anhang der Reclam-Ausgabe des Anton Reiser abgedruckt. Der Vorabdruck von Fragmenten in der psychologischen Zeitschrift lässt darauf schließen, dass der Anton Reiser zunächst als Beispielfall aus dem Bereich „Seelenkrankheitskunde“ oder „Seelennaturkunde“ des Magazins konzipiert war. Vgl.: Schrimpf (1980a), S. 35.

[37] „Analytisch reflektierende empirische Psychologie ist das strukturierende Prinzip der autobiographischen Erzählung.“ Schrimpf (1980a), S. 35; Vgl. in der vorliegenden Arbeit die Verweise auf den Forschungsstand: Anm. 7 und 9.

[38] Der Aufsatz Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre wurde 1782 zum Anlass der „Jubelfeier des Werderschen Gymnasiums“ als eigenständiger Widmungsdruck veröffentlicht und unter dem Titel Vorschlag zu einem Magazin einer Erfarungs-Seelenkunde in die Zeitschrift Deutsches Museum aufgenommen. Eine Kurzfassung wurde unter dem Titel Ankündigung eines Magazins der Erfahrungsseelenkunde im Berlinischen Magazin der Künste und Wissenschaften und in der ‚gemeinnützigen Wochenschrift‘ Allerneueste Mannigfaltigkeiten verbreitet. Vgl.: Meier (2000), S. 104; Die Umbenennung von „Experimentalseelenkunde“, ein Begriff der auf Johann Gottlieb Krügers Experimental-Seelenlehre (1756) zurückgeht, in „Erfahrungsseelenkunde“ erfolgt auf den Rat Moses Mendelssohns hin. Sie trägt der methodischen Vorgehensweise dieser Wissenschaft Rechnung: Nicht Experimente bilden die Basis des Magazins, sondern Beobachtungen und Sammlung von Fakten, die nach Christian Wolff in den Bereich der Erfahrung und nicht in den des Versuchs fallen. Vgl.: Bezold (1984), S. 133; Vgl. auch Liliane Weissberg: Erfahrungsseelenkunde als Akkulturation: Philosophie, Wissenschaft und Lebensgeschichte bei Salomon Maimon. – In: Schings, H.-J. (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposium 1992. Stuttgart/ Weimar 1994, hier S. 299.

[39] Die eingehende Beschäftigung des Menschen mit sich selbst und die Betonung der menschlichen Individualität erreichen im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Vgl.: Grolimund, Josef: Das Menschenbild in den autobiographischen Schriften Karl Philipp Moritz’. Eine Untersuchung zum Selbstverständnis des Menschen in der Goethezeit. Zürich 1967, S. 13.

[40] Kaulen, Heinrich: Erinnertes Leid. Karl Philipp Moritz: „Anton Reiser“. – In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 15 (1982), S. 142.

[41] Voßkamp, Wilhelm: Poetik der Beobachtung. Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ zwischen Autobiographie und Bildungsroman. - In: Études Germaniques 51 (1996), S. 472.

[42] Ebd.

[43] „Das Thema der ‚Bestimmung des Menschen’ war […] eine der bedeutendsten Leitideen der gesamten aufklärerischen Bewegung in Deutschland. […] Eine Vielzahl von Motiven und Interessen lag dem Ausdruck ‚Bestimmung des Menschen’ zugrunde. Sie äußerten sich in letzter Instanz in der Frage nach dem Menschen, nach seinem Zweck in der Welt, und zwar als Mensch, als Bürger und als Mitglied der Gesellschaft, nach seinem Verhältnis zu Gott sowie nach der Totalität seiner moralischen und physischen Beschaffenheit.“ D’Alessandro, Guiseppe: Die Wiederkehr eines Leitworts. Die „Bestimmung des Menschen als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung. – In: Hinske, Norbert (Hg.): Die Bestimmung des Menschen. Hamburg 1999, S. 21f.

[44] Meier (2000), S. 105.

[45] Auf Moses Mendelssohns Anregung hin übernimmt Moritz die Einteilungen der Arzneiwissenschaften für die Erfahrungsseelenkunde, indem er die Aufsätze im Magazin unter die „Rubriken der Seelennaturkunde, Seelenkrankheitskunde, Seelenzeichenkunde, Seelendiätätik “ (MzE I, 1, 8) ordnet.

[46] Vgl.: Bezold (1984), S. 167.

[47] Vgl.: Bennholdt-Thomsen, Anke/ Guzzoni, Alfredo: Der „Asoziale“ in der Literatur um 1800. Königstein/ Ts. 1979, S. 38. (1979 b)

[48] Vgl.: Müller, Götz: Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse. Annotationen zu Adam Bernd, Karl Philipp Moritz und Jean Paul. – In: Schings, H.-J. (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart/ Weimar 1994, S. 708.

[49] „Die Seelendiätätik lehrt entweder, wie der gesunde Zustand der Seele erhalten, oder der kranke Zustand derselben zum Theil gemildert oder behoben werden kann, und in diesem letztern Falle schlägt sie in das Fach der Seelenheilkunde […].“ (MzE I, 1, 83)

[50] Vgl.: Bennholdt-Thomsen, Anke/ Guzzoni, Alfredo: Nachwort zum Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. – In: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde hg. v. Carl Philipp Moritz. 10 Bde. Berlin 1783-1793. Faksimile-Druck nach dem Original von 1783, hg. v. Anke Bennholdt-Thomsen u. Alfredo Guzzoni. Lindau 1979, Bd. 10, S. 1-65, hier S. 1. [1979 a]

[51] Bennhold-Thomsen/ Guzzoni (1979 a), S. 4.

[52] Vgl.: Ebd., S. 5.

[53] Moritz erhält im November 1778 eine Anstellung als Lehrer an der unteren Schule des Berlinischen Gymnasiums und wird dort 1779 Konrektor. Später erhält er einen Lehrauftrag am Gymnasium und wird Anfang 1784 Gymnasialprofessor. Vgl.: Schrimpf (1980 a), S. 15.

[54] Margret Kraul verweist darauf, dass der Prozess der Entstehung der Pädagogik als Wissenschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend über die Erfahrungen, die Menschen mit Erziehung machten, verlief. So galt „nichts als lehrreicher als Geschichten über Erziehung“. Kraul, Margret: Erziehungsgeschichten und Lebensgeschichten. – In: Fohrmann, Jürgen (Hg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen 1998, S. 12f.

[55] Kaulen (1982), S. 140.

[56] Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. In: Deutsches Museum. 6. Stück. Bd. 1782. Wiederabgedruckt mit einer Einleitung von Charlotte Heinritz. - In: Bios 9 (1996), S. 215f.

[57] Schrimpf (1980a), S. 42.

[58] Vgl.: Bezold (1984), S. 136.

[59] Der hier verwendete Begriff der Seelenkraft macht die Nähe der Grundlinien zur Schulphilosophie deutlich; Moritz übernimmt den schulphilosophischen Grundsatz der Seelentätigkeit. Vgl.: Bezold (1984), S. 132.

[60] Frickmann, Sybille: „Jeder Mensch nach dem ihm eigenen Maß.“ Karl Philipp Moritz‘ Konzept einer ‚Seelenkrankheitskunde‘. – In: The German Quarterly 61 (1988) H. 3, S. 391.

[61] Vgl.: Schrimpf (1980a), S. 42f.

[62] Vgl.: Schrimpf (1980a), S. 43.

[63] Bennholdt-Thomsen/ Guzzoni (1979b), S. 137.

[64] Ebd., S. 45.

[65] Ebd., S. 137.

[66] Ebd., S. 45.

[67] Vgl.: Schrimpf, H. J.: Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde und sein Herausgeber. – In: ZfdPh 99, (1980b), S. 166.

[68] Vgl. auch folgende Textstellen: AR 168, 213, 229, 422.

[69] Zur therapeutischen Absicht der Vermeidung von Krankheit im Anton Reiser vgl.: Spies, Bernhard: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. Die Entwicklung des bürgerlichen Subjekts im Roman des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 160; vgl.: Müller (1987), S. 83-86.

[70] Schrimpf (1963), S. 112.

[71] Vgl.: Bezold (1984), S. 177.

[72] Meier (2000), S. 237.

[73] Vgl.: Literarische Anthropologie. - In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Harald Fricke u. a., 3 Bde., Berlin/ New York 1997ff., Bd. 2 (2000), S. 432-434, hier S. 432.

[74] Ebd., S. 433.

[75] Marquard (1973), S. 127.

[76] Alt (1996), S. 57.

[77] Riedel, Wolfgang (1994), S. 111.

[78] Ebd., S. 138.

[79] Pfotenhauer (1987), S. 1.

[80] Pfotenhauer (1991), S. 11.

[81] Pfotenhauer (1987), S. 24.

[82] Müller (1996), S. 261.

[83] Vgl.: Pfotenhauer (1987), S. 19f.

[84] Der Terminus Entwicklungsroman fungiert üblicherweise als Oberbegriff, der den Bildungsroman und den diesem entgegen gesetzten ‚Desillusionsroman’ umfasst. Vgl.: Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. v. Walther Killy, Bd. 13: Begriffe, Realien, Methoden. München 1992, S. 118.

[85] Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. – In: Ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Klaus Manger u. a. Bd. 3, Frankfurt a. M. 1986, S. 11.

[86] Blanckenburg, Friedrich von: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort hg. von E. Lämmert, Stuttgart 1965, S. 143.

[87] Wieland (1986): Geschichte des Agathon, S. 12.

[88] Ebd., S. 16.

[89] Ebd., S. 16f.

[90] Vgl.: Brenner, Peter J.: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom „Ackermann“ zu Günter Grass. Tübingen 1996, S. 85.

[91] Kaulen (1982), S. 143.

[92] Blanckenburg (1965), S. 355.

[93] Vgl.: Alt (1996), S. 300.

[94] Vgl.: Brenner (1996), S. 84. Zu den Vorbildern dieser neuen Erzählhaltung vgl.: ebd., S. 84f.

[95] Vgl.: Esselborn (1995), S. 84.

[96] Vgl.: Ebd.

[97] Vgl.: Killy (1992), S. 118.

[98] Schrimpf (1980), S. 54.

[99] Ebd.

[100] Killy (1992), S. 119.

[101] Esselborn (1995), S. 85.

[102] Vgl.: Simonis (1993), S. 35; vgl. auch Herrmann, Ulrich: Karl Philipp Moritz – Die „innere“ Geschichte des Menschen. - In: Jüttemann, G. (Hg.): Wegbereiter der historischen Psychologie. München 1988, S. 51: „Erst eine Erzählung, die Form sprachlicher Strukturierung, konstituiert den Zusammenhang, und erst sie erlaubt – im autobiographischen Blick zurück und nach vorwärts – die Rekonstruktion von Wirkungsmechanismen.“

[103] Vgl.: Esselborn (1995), S. 85.

[104] Vgl.: Pfotenhauer (1987), S. 19.

[105] Meier (2000), S. 227.

[106] Ebd.

[107] Vgl. in der vorliegenden Arbeit S. 20.

[108] Vgl.: Meier (2000), S. 238.

[109] Vgl.: Simonis (1993), S. 54.

[110] Helvétius, Claude Adrien: Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung (1773). Übers. und hg. v. Günther Mensching. Frankfurt a. M. 1972.

[111] Bezold (1984), S. 149.

[112] Bezold zufolge werden weder im Magazin noch im Anton Reiser psychische Reaktionen oder Konflikte auf physiologische Sachverhalte zurückgeführt: „Im Anton Reiser sind es nicht Gehirn, Fibern, Säfte und Nerven des Helden, die Moritz interessieren, sondern ‚sittliche Ursachen’: Milieu, Erziehung, soziale Beschädigungen.“ Bezold (1984), S. 150. Tatsächlich wird die psychische Entwicklung Antons in erster Linie auf soziale Ursachen zurückgeführt. Bezold übersieht jedoch, dass im Anton Reiser immer wieder auf die Wechselwirkung zwischen psychischer Konstitution und körperlichem Befinden angespielt wird: „Allein, sei es nun, daß diese unnatürliche Überspannung seiner Seelenkräfte, oder die für seine Jahre zu große Anstrengung seines Körpers zur Arbeit, ihn zuletzt niederwerfen mußte – er ward gefährlich krank.“ (AR 86); „So wie sein Körper immer weniger Nahrung erhielt, verlosch allmählich seine ihn sonst noch belebende Phantasie […].“ (AR 228); „Aber mit dem bald wieder fühlbaren Mangel an Nahrung erlosch auch dieser aufglimmende Mut wieder, und dann war die Tätigkeit seiner Seele wie gelähmt.“ (AR 229) „Der Sommer ging zuende – und ein anhaltender körperlicher Schmerz fing nun öfter wieder an, seinen Geist niederzudrücken.“ (AR 258)

[113] Vgl.: Schings (1977), S. 19f.

[114] Helvétius (1972), S. 446.

[115] Bezold (1984), S. 151.

[116] Vgl.: Ebd., S. 151.

[117] Riedel, Wolfgang: Influxus physicus und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel. – In: Barkhoff, J./ Sagarra, E. (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, S. 30. Darin, dass Moritz die „allerersten Eindrücke“ als „die Grundlagen aller folgenden“ (MzE I, 1, 50) betrachtet, zeigt sich zudem eine Übereinstimmung mit den englischen Empiristen und Sensualisten. Insbesondere John Locke stellt in seiner Abhandlung Some Thoughts Concerning Education den nachhaltigen Einfluss der frühkindlichen Eindrücke heraus. Indem Locke ausschließlich die intentionale Einflussnahme des Erziehers auf den Edukanten im Blick hat, verwendet er den Begriff des „äußern Eindrucks“ jedoch in einem engeren und spezifischeren Sinn als Moritz. Dieser bezieht sich mit dem Begriff des Eindrucks auf die Gesamtheit aller auf das Kind einwirkenden soziologischen, materiellen und ideellen Faktoren und nicht wie Locke allein auf die zielgerichtete und zweckgebundene Beeinflussung des Zöglings durch den Erzieher. Vgl.: Simonis (1993), S. 34-35.

[118] Vgl.: Meier (2000), S. 240.

[119] Martens, Wolfgang: Nachwort zur Reclamausgabe des Anton Reiser. (1972), S. 552.

[120] Vgl.: Ebd.

[121] Müller (1996), S. 269.

[122] Schings (1977), S. 242.

[123] Brenner, P. J.: Die Krise der Selbstbehauptung: Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung. Tübingen 1981, S. 99.

[124] Vgl.: Spies (1992), S. 155.

[125] Insbesondere Schrimpf betont die sozialkritische Intention des Anton Reiser: Schrimpf (1963) S. 107f.: „Er [Moritz] begehrt auf gegen die Verhältnisse, die es einem Menschen niederer Herkunft unmöglich machen, sein Menschsein zu verwirklichen.“; Ebd., S. 108: „Neigt Anton Reiser dazu, seine Leiden aus rein individualpsychologischen Gründen, aus seiner unglücklichen ‚Natur’ zu erklären, so führt der analysierende Moritz sie auf religiöse und vor allem soziologische Voraussetzungen zurück.“

[126] Schrimpf (1963), S. 107.

[127] Ratz, Norbert: Der Identitätsroman: Eine Strukturanalyse. Tübingen 1988, S. 51. Zur missverstandenen Auslegung der guyonischen Lehre durch Johann Fr. v. Fleischbein vgl.: ebd., S. 50-52; Zur religionsgeschichtlichen Einordnung des Anton Reiser vgl.: Minder, Robert: Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz. Frankfurt a. M. 1974.

[128] Grolimund (1967), S. 19.

[129] Vgl.: Simonis (1993), S. 62: „Moritz entscheidet sich hier gegen Rousseau für die Position Herders, der die These einer angeborenen Soziabilität des Menschen vertritt.“

[130] Vgl. dazu die folgenden Textstellen: AR 145f., 188, 303, 306, 445, 447.

[131] Vgl.: Müller (1996), S. 279.

[132] Ebd., S. 278.

[133] Vgl.: Martens (1972), S. 553. Dem Erzähler liegt viel daran, den ursächlichen Zusammenhang zwischen Antons negativen Kindheitserfahrungen und seiner Selbstverachtung, den der Protagonist selbst nicht zu durchschauen vermag, aufzudecken: „alle die Schmach und Verachtung, wodurch er schon von seiner Kindheit aus der wirklichen, in eine idealische Welt verdrängt worden war – darauf zurückzugehen hatte seine Denkkraft damals noch nicht Stärke genug, darum machte er sich nun selbst unbilligere Vorwürfe, als ihm vielleicht irgend ein anderer würde gemacht haben – in manchen Stunden verachtete er sich nicht nur, sondern er haßte und verabscheute sich.“ (AR 239f.)

[134] Martens (1972), S. 553.

[135] Vgl.: Simonis (1993), S. 55.

[136] Vgl.: Spies (1992), S. 187.

[137] Ebd.

[138] Vgl.: Ebd.

[139] Simonis (1993), S. 47.

[140] Moritz, Karl Philipp: Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik. – In: Ders.: Werke in drei Bänden, hg. von Horst Günther. Bd. 3: Erfahrung, Sprache, Denken. Frankfurt a. M. 1981, S. 461-462.

[141] Kinderlogik, S. 460.

[142] Vgl.: Grolimund (1967), S. 70f.

[143] Vgl.: Bezold (1984), S. 157.

[144] Vgl.: Martens (1972), S. 555.

[145] Vgl.: Ebd., S. 563.

[146] Schrimpf (1980a), S. 49.

[147] Müller (1996), S. 292.

[148] Renner (2002), S. 137.

[149] Schrimpf (1980a), S. 51. Zur Situation des Bürgertums vgl. auch: Grolimund (1967), S. 15f.

[150] Vgl. dazu die Diagnosen des Erzählers: AR 137, 168, 189, 214, 445.

[151] Über Lernmethoden und Inhalte in der Schullaufbahn Antons und die Bedeutung der Kenntnis der lateinischen Sprache für den sozialen Aufstieg im 18. Jahrhundert informiert ausführlich: Schreiner, Sabine: Sprachenlernen in Lebensgeschichten der Goethezeit. München 1992, S. 133-184.

[152] Müller (1996), S. 294.

[153] Ebd.

[154] Vgl.: Spies (1992), S. 164.

[155] Spies (1992), S. 167.

[156] Vgl.: Renner (2002), S. 160.

[157] Vgl.: Spies (1992), S. 160.

[158] Vgl.: Kaiser (1992), S. 139.

[159] Zur Moritzschen Ästhetik und Poetik vgl.: Schrimpf (1980a), S. 94-117. Zur Bedeutung seiner Kunsttheorie für den Anton Reiser vgl.: Schrimpf (1963), S. 125-131; Schrimpf (1980a), S. 53- 54.

[160] Meier (2000), S. 235.

[161] Ebd.

[162] Vgl.: Ebd., S. 232.

[163] Vgl. hierzu beispielsweise die folgenden Textstellen: „Aus den vorigen Teilen dieser Geschichte erhellet deutlich: daß Reisers unwiderstehliche Leidenschaft für das Theater eigentlich ein Resultat seines Lebens und seiner Schicksale war, wodurch er von Kindheit auf aus der wirklichen Welt verdrängt wurde, und da ihm diese einmal auf das bitterste verleidet war, mehr in der Phantasie als in der Wirklichkeit lebte […].“ (AR 382); „Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an; daher schrieb sich ganz natürlich während seiner Schuljahre, die Wut, Komödien zu lesen und zu sehen. - Durch jedes fremde Schicksal fühlte er sich gleichsam sich selbst entrissen, und fand in anderen erst die Lebensflamme wieder, die in ihm selber durch den Druck von außen beinahe erloschen war.“ (AR 413)

[164] Grolimund (1967), S. 78.

[165] Vgl. hierzu beispielsweise die folgende Textstelle: „Das Aufschreiben der Predigten hatte gleichsam eine neue Entwickelung seiner Verstandeskräfte bewirkt. – Denn von der Zeit an fingen seine Ideen an sich allmählich untereinander zu ordnen […]“ (AR 100).

[166] Dem Erzähler geht es um „den erzieherischen Wert der Lebensdarstellung, das Unterrichtende der psychologischen Enthüllung, die pädagogisch-therapeutische Einsicht“. Schrimpf (1963), S. 100.

[167] Martens (1972), S. 563.

[168] Vgl.: AR 159f.

[169] Vgl.: Martens (1972), S. 563.

[170] Vgl.: Bennholdt-Thomsen/ Guzzoni (1979b), S. 38.

[171] Esselborn, S. 85.

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Das Menschenbild in Karl Philipp Moritz' psychologischem Roman "Anton Reiser"
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Deutsche Sprache und Literatur)
Note
gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
74
Katalognummer
V29542
ISBN (eBook)
9783638310253
ISBN (Buch)
9783656562375
Dateigröße
761 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Menschenbild, Karl, Philipp, Moritz, Roman, Anton, Reiser
Arbeit zitieren
Alexandra Lisson (Autor:in), 2003, Das Menschenbild in Karl Philipp Moritz' psychologischem Roman "Anton Reiser", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29542

Kommentare

  • Gast am 4.12.2013

    Hallo Alex,
    tolle Abschlussarbeit! Ist a mittlerweile schon ein paar Jahr alt. Arbeitest Du mittlerweile als Lehrerin?
    Kannst Dich sicher noch an mich errinnern!
    ... dachte, ich meld mich mal trotzdem ;-))
    Hoffe, Dir geht's gut?
    Ich wohne mittlerweile in Düsseldorf und habe einen 9 Monate alten Sohn!
    Würde mich freuen, mal von Dir zu lesen (martinabarth63@yahoo.de)

Blick ins Buch
Titel: Das Menschenbild in Karl Philipp Moritz' psychologischem Roman "Anton Reiser"



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