E.T.A. Hoffmanns Doppelgänger-Motiv aus psychoanalytischer Perspektive


Bachelorarbeit, 2015

55 Seiten, Note: 2,5


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Das psychoanalytische Wissen Hoffmanns
2.1 E.T.A.Hoffmanns Wissen über die Psychoanalyse im wissenschaftlichen und bildungstechnischen Sinne
2.2 E.T.A.Hoffmanns Wissen über die Psychoanalyse als persönliches Leiden

3. Das Doppelgänger-Motiv im psychopathologischen Kontext und dessen charakteristischen Merkmale
3.1 Otto Ranks Werk „Der Doppelgänger“ hinsichtlich der symptomatischen Merkmale
3.2 Sigmund Freuds Werk „Das Unheimliche“ hinsichtlich der symptomatischen Merkmale
3.3 Die moderne Psychoanalyse hinsichtlich der symptomatischen Merkmale
3.4. Das Profil der Doppelgänger-Symptomatik

4. Das Profil der Doppelgänger-Sympomatik in den Werken „Die Elixiere des Teufels“, „Der Sandmann“ und „Die Brautwahl“
4.1 Die Elixiere des Teufels. Eine psychoanalytische Betrachtung Medardus´ anhand des erstellten Profils
4.2 Der Sandmann. Eine psychoanalytische Betrachtung Nathanaels anhand des erstellten Profils
4.3 Die Brautwahl. Eine psychoanalytische Betrachtung Herrn Tussmanns und des Goldschmieds anhand des erstellten Profils

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Doppelgänger-Motivik, also das wahrnehmen des eigenen Ichs in duplizierter, mitunter grotesker Form, oder das sehen von bekannten Personen, welche urplötzlich in dualer Existenz vorkommen zu scheinen, ist in der romantischen Literatur ein oft vorkommendes Thema. Diesem Motiv verschrieben sich eine Vielzahl von Autoren in ihren Werken, so beispielsweise Kleist in seinem „Amphitryon“, in welchem Jupiter die Gestalt Amphitryons annimmt, Tieck in seinem „Der blonde Eckbert“, oder Novalis in “Die Lehrlinge zu Sais“.

Als Vorreiter, bzw. demjenigen, wem die Verbreitung der Doppelgänger-Thematik innerhalb der deutschen romantischen Literatur zugeschrieben wird, ist Jean Paul zu nennen. Auf die Idee des Doppelgängers in seinem Werk „Siebenkäs“ legte er großen Fokus und durch ständige Verwechslungen der handelnden Protagonisten, welche sich ähnlich sehen und teilweise sogar die Namen tauschen, griff er diese Thematik auf. Neben dem Werk „Siebenkäs“ sind auch andere Schaffungen von Paul zu nennen, welche das Doppelgängertum behandeln, wie zum Beispiel in „Katzenbergers Badereise“.1

Dieses, durch Jean Paul eingeführte Motiv, griff E.T.A. Hoffmann wie kaum ein anderer Autor auf und ließ es in heterogener und vielfältiger Weise in viele seine Werke einfließen, oder strukturierte sogar die Handlungen seiner Schriften um die Doppelgänger-Motivik. Mit „Der Sandmann“, „Die Brautwahl“, „Die Elixiere des Teufels“, „Das Fräulein von Scuderi“ und dem Thema nahezu wortgleichen „Der Doppelgänger“ sind nur einige beispielhaft genannt.

Doch nicht nur im rein literarischen, bzw. literaturwissenschaftlichen Sinne waren, und sind, Hoffmanns Schriften als bedeutend anzusehen. In den Werken Hoffmanns spielt oftmals neben dem bereits genannten Doppelgänger-Motiv auch zwei andere, dem des Doppelgängers nicht allzu entfernte Motive, wenn man diese so nennen möchte, entscheidende Rollen: Wahn und Wahnsinn. Beides Hinweise auf mögliche Psychosen, welche oftmals von Hoffmanns Protagonisten Besitz ergreifen und deren Handlungen innerhalb der Erzählung beeinflussen und dominieren.

Hoffmann muss seine Erzählungen mit solcher Genauigkeit hinsichtlich seiner beschriebenen Wahnzustände geschrieben haben, dass sich die Anfang des 20. Jahrhunderts noch recht junge Psychoanalyse mit Hoffmanns Werken befasste, wobei hier primär „Das Unheimliche“ von Sigmund Freud zu nennen ist, welches 1919 erschien. Diesem schloss sich auch Otto Rank 1925 an, welcher in seinem Werk „Der Doppelgänger. Psychoanalytische Studie“ ebenfalls auf die Texte Hoffmanns zurückgriff. Beide der genannten Texte werden Verwendung in dieser Arbeit finden.

Auch in der neueren Literatur der Psychoanalyse finden sich Werke, welche sich mit den Erzählungen Hoffmanns befassen und als Nachzügler Freuds und Ranks zu sehen sind. Hierbei ist beispielsweise Rainer Tölle mit seinem Buch „Der in die tiefste Tiefe schaute. E.T.A. Hoffmann als Psychopathologe“ zu nennen, welches auch innerhalb dieser Arbeit genutzt werden wird. So schreibt Töller zu Hoffmanns Schriften: „Er [der Psychiater] kann an dem Reichtum psychopathologischer Schilderungen nicht achtlos vorbeigehen.“2, wobei hiermit die Schriften Hoffmanns gemeint sind. Des Weiteren merkt Töller in seinem Buch hinsichtlich Hoffmanns Beschreibungen von psychischen Leiden später noch an: „Die ausführlichen Psychosenbeschreibungen aus der Feder ETA Hoffmanns sind so meisterhaft, dass sie als psychopathologische Dokumente gelten können.“3 E.T.A. Hoffmanns Erzählungen und Schriften scheinen deshalb genug Nährboden für eine psychopathologische Betrachtung zu generieren, bzw. aufzuweisen.

Auch die vorliegende Arbeit wird versuchen sich diesem Thema, besonders im Hinblick auf das von Hoffmann gerne genutzte Doppelgänger-Motiv, aus einem psychopathologischen Ansatz zu nähern. Hierbei ist anzumerken, dass dies nur ansatzweise geschieht, so dass die mitunter genutzten psychopathologischen Ansätze, bzw. Vorgehensweisen oftmals als nur eine oberflächliche Betrachtung zu bezeichnen sind, da eine in alle psychischen Tiefen reichende diagnostische Betrachtung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.

Die Arbeit ist dabei wie folgt aufgebaut: Zunächst wird ein Punkt untersucht werden, der innerhalb der Hoffman-Forschung oftmals anklang findet und bereits Hoffmanns Zeitzeugen beschäftigte: Die geistige Gesundheit des Autors selbst.

Schon zur Zeit Hoffmanns, wurde dessen geistige Verfassung diskutiert. So schrieb beispielsweise Heinrich Heine über Hoffmanns Werke: „Seine Werke sind nichts anderes als ein entsetzlicher Angstschrei in zwanzig Bänden.“4

Auch Goethe äußerte sich über E.T.A. Hoffmann. So schrieb Goethe, dass dessen Schriften krankhafte Werke eines leidenden Mannes seien.5

Aufgrund solcher Äußerungen wird untersucht, inwieweit solche Behauptungen zutreffen könnten. Hierbei werden nicht Hoffmanns Werke in den Fokus gerückt, sondern andere Aufzeichnungen Hoffmanns, wie dessen erhaltenen Briefe oder Tagebucheinträge.

Die Annäherung an Hoffmanns eigene mögliche geistige Zerrüttung wird hierbei jedoch streng von den Protagonisten innerhalb seiner Werke abgegrenzt. Deshalb werden mögliche Erkenntnisse nur aus nicht fiktionalen, authentischen Texten Hoffmanns, wie beispielsweise Tagebucheinträge, wie bereits erwähnt, genutzt. Durch diese Vorgehensweise kann verdeutlicht werden, welches spezifisches Fachwissen Hoffmann aufgrund seiner biographischen Aspekte besaß und ebenfalls untersucht werden, inwieweit eine mögliche Erkrankung sein eigenes Leben beeinflusste.

In dem darauffolgenden Teil wird versucht, basierend auf einschlägiger Fachliteratur, eine Art Profil des am Doppelgänger-Wahns Leidenden zu schaffen, bzw. eine Beschreibung von auffälligen Charakteristika zu generieren. Hierbei werden neuartige psychologische Ansätze, wie auch die vielleicht mitunter als alt angesehenen Ansätze Freuds oder Ranks berücksichtigt. An dieser Stelle ist noch ausdrücklich anzumerken, dass die von Freud und Rank generierten Schriften zwar teilweise auf die Werke Hoffmanns aufbauen, aber ebenso, in diesem Fall spezieller die Arbeit Ranks, noch andere Quellen für ihre Arbeiten nutzten. Es wird daher nicht nur der Fokus auf die Passagen Hoffmanns in den Werken gelegt, was ja lediglich einer Überprüfung gleich kommen würde, sondern auf das gesamte Werk, einschließlich der anderen Quellen, welche ebenso auf das Ergebnis Freuds und Ranks Einfluss hatten. So soll gewährleistet sein, dass die gesamte Arbeit der Wissenschaftler genutzt werden kann.

Im dritten Schritt soll dieses Profil anschließend in dem Sinne überprüft werden, indem versucht wird, dieses auf Texte Hoffmanns und deren Protagonisten anzuwenden. Hierbei werden speziell drei Schriften Hoffmanns in den Fokus gerückt: „Die Elixiere des Teufels“, „Der Sandmann“ und „Die Brautwahl“. Es soll untersucht werden, inwieweit die davor beschriebenen Charakteristika anwendbar sind, und in welchen Punkten Abweichungen entstehen, welche zu anderen Ergebnissen hinsichtlich der untersuchten Charaktere führen können. Anzumerken ist, dass dies an den vorliegenden Werken schon teilweise geschehen ist. Deshalb wird versucht insbesondere auf andere Stellen des Textes, neben den bereits bekannten Stellen, zu verweisen und so im optimalen Fall neue Erkenntnisse über diese drei Werke zu erzeugen.

Jedes der genannten Werke wird in einem für sich stehendes Kapitel untersucht. Die Schriften werden dazu in chronologisch korrekter Abfolge der Handlung, also entlang der jeweiligen Handlung, untersucht. Sollten sich in der Betrachtung andere Vorgehensweisen hinsichtlich szenischer Abfolge als besser geeignet erweisen, kann eine Abweichung von der Chronologie vorkommen.

Abschließend wird ein Fazit hinsichtlich der Ergebnisse der Arbeit gezogen. In diesem wird des Weiteren noch versucht werden Überlegungen sowie Denkanstöße für weitere Forschungsaspekte bezüglich der Doppelgängerthematik zu kreieren.

2. Das psychoanalytische Wissen Hoffmanns

E.T.A. Hoffmanns geistiger Zustand ist eine Thematik, welche bis heute in der aktuellen Forschung vorhanden ist. So könnte eine psychische Erkrankung Erklärungen bieten, weshalb Hoffmanns Werke solch psychoanalytische Detailtreue besitzen. Möglicherweise hat er den Wahnsinn aus erster Hand beschrieben, eine Erkrankter, der in seinen geistig klaren Momenten die Kraft besaß jenes zu beschreiben, was ihm widerfuhr. Doch auch andere Umstände in Hoffmanns Biographie könnten erklärend sein, woher der Autor sein Wissen bezog. Dies wird im folgenden nun kurz dargestellt und soll Aufklärung bieten inwieweit das Thema des psychotischen Wahnsinns in Hoffmanns Leben existierte und wie dieser möglicherweise diese Umstände in seine Werke zu integrieren wusste.

2.1 E.T.A.Hoffmanns Wissen über die Psychoanalyse im wissenschaftlichen und bildungstechnischen Sinne

Hoffmanns musste sich früh in seinem Leben mit der Thematik der geistigen Erkrankung beschäftigen. So wird in der biographischen Betrachtung Hoffmanns oft dessen alleinerziehende Mutter als psychisch labil erwähnt. Der Vater verließ die Familie früh.6 Auch Otto Rank schreibt diesbezüglich über Hoffmanns Mutter und gibt ihr die Bezeichnung „einer hysterischen Mutter“7 Doch obwohl Hoffmann ohne Vater aufwuchs schien zu seiner Mutter ebenfalls keine engere Beziehung vorhanden zu sein, da er ihren Tod 1796 unbekümmert hinzunehmen schien. Des Weiteren soll Hoffmann bezüglich seiner Kindheit später rückblickend von einer empfundenen Einsamkeit geschrieben haben.8

Ein anderes Beispiel für Kontakt Hoffmanns zu labilen oder sogar psychisch erkrankten Menschen soll eine ältere Frau gewesen sein, welche zu Hoffmanns Kindheit in dessen Wohnhaus gelebt haben soll. Hierbei soll es sich um die Mutter des Dichters Zacharias Werner gehandelt haben.9

Eine Zeit, welche Hoffmann hinsichtlich seines eigenen psychischen Zustandes, und den Kontakt zu der Thematik der Psychoanalyse im wissenschaftlichen Sinne, beeinflusst haben könnte, war seine Zeit in Bamberg, wo sich auch das sogenannte Julia-Ereignis ereignete. In den sogenannten Bamberger Jahren Hoffmanns, arbeitete dieser als Gesangs- und Klavierlehrer. Über diese Tätigkeit lernte er die damals 13-jährige Julia Marks kennen, in welche er sich verliebte. Doch wurde jene im Jahre 1812 mit dem Kaufmann Graepel verlobt, was Hoffmann, der in dieser Zeit das Tagebuchschreiben erneut begonnen hatte und so detailreich aus seinem unglücklichen Liebesleben zu berichten wusste, in eine emotionale Krise stürzte. Dieses Ereignis soll für Hoffmann ein Schlüsselerlebnis für sein späteres Leben und Schaffen gewesen sein. Er verließ Bamberg.10

Der konkrete Inhalt des erwähnten Tagebuchs wird im folgenden noch genauer erläutert werden, wenn Hoffmanns geistiger Zustand anhand seiner Aufzeichnungen genauer betrachtet wird. Dennoch ist neben dem, Hoffmann höchstwahrscheinlich zu tiefst deprimierenden und Hoffmanns Psyche beeinflussenden, Ereignis noch Weiteres zu nennen, was Hoffmanns späteres Schaffen beeinflusste, und in Bamberg geschah.

Hinsichtlich der Bamberger Jahre hatte Hoffmann die Chance sein fachliches Wissen über die menschliche Psyche und Geisteskrankheiten durch den Kontakt zu diversen Ärzten zu manifestieren, welche in dem Hospital St. Getreu tätig waren, welches sich psychisch Kranken annahm. So geht aus einer Tagebuchnotiz Hoffmanns des 21.12.1812 hervor, dass dieser mindestens einen Besuch in diesem Hospital getätigt hat.11

Auch kam es zu mehreren Begegnungen zwischen dem wissenschaftlich interessierten Künstler und renommierten Wissenschaftlern und Naturphilosophen sowie Ärzten seiner Zeit, die ihn die Grundlagen dessen einführten, was Hoffmann später oftmals in seinen Texten verarbeitete: Wahnsinn und das Konstrukt der menschlichen Psyche. Einer dieser Wissenschaftler war der Psychologe Johann Christian Reil12

Johann Christian Reil, der nach 1800 zu einem der bekanntesten Ärzten Deutschlands gehört haben soll, wird ebenfalls nachgesagt, er hätte den Anspruch erhoben, der erste Psychologe gewesen zu sein.13 Reils Werk „Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerüttungen“, von 1803, war durchaus bekannt, wenn auch er sich in seinen Fallbeschreibungen eher einer anektodischen, denn einer empirischen Beschreibung bediente.14

Das Hoffmann das Werk Reils kannte ist als sicher anzunehmen. Einen Hinweis darauf lässt sich zwar nicht in seinen Tagebüchern finden, doch aber in einem seiner Werke, auch wenn hierbei die Gefahr existiert die Aussage eines fiktionalen Charakters auf das Leben des Autors zu projizieren. Ein Umstand, welcher eigentlich vermieden werden sollte.

Dennoch scheint die Aussage des Erzählers in Hoffmanns „Der Einsiedler Serapion“ zu passend, wenn dieser sagt: „Ich las den Pinel - den Reil – alle möglichen Bücher über den Wahnsinn, die mir zu Hand kamen.“15

Ein weiteres Indiz dafür nennt ebenfalls Rainer Tölle und schreibt: „Reil und Hoffmann schreiben über das gleiche Thema mit weitgehender Übereinstimmung.“16 Er nennt dafür folgend mehrere Beispiele. Eines sei zur Anschauung nochmals zusammengefasst.

In dem ausgewählten Beispiel handelt es sich um eine psychopathologische Symptomatik, bei einer Frau diagnostiert, welche Reil wie folgt beschreibt: „Ins Julius-Spital zu Würzburg, sagt Erhard, kam eine Weibsperson, der vor ein paar Wochen zur Ader gelassen war, und gab vor, dass sie ein Geschwulst am Arm hätte. Bey der Untersuchung fand sich nicht weit von dem Ort der Wunde eine Erhöhung, aus der man ein Stück Glas, zwey zusammengedrehete Haarnadeln und eine abgebrochene Nadel herauszog.“17

Diesen Fall, von Reil beschrieben, verwendet Hoffmann laut Tölle in dem Werk „Die Serapionsbrüder“ ebenfalls, in welchem Hoffmann schreibt: „...jenes Weib im Würzburger Hospital, die sich, den wütendsten Schmerz nicht achtend, Glasscherben, Nadeln in die Aderlasswunde bohrte, damit der Arzt über die fremdartigen Dinge in ihrem Körper erstaunen sollte[...]“18

Die Ähnlichkeit der beiden Stellen spricht dafür, dass Hoffmann die Schriften Reils nicht nur kannte, sondern sich sogar sehr detailreich mit diesen beschäftigt haben muss. Dieses erworbene Wissen setzte Hoffmann gezielt und ausführlich später in seinen Werken ein.

Doch neben den wissenschaftlichen Schriften, den möglichen Besuchen im Hospital sowie den persönlichen Kontakten zu Psychiatern seiner Zeit, existierte noch eine weitere Möglichkeit, bei welcher Hoffmann sein Wissen über die Psychoanalyse ausbauen, und sogar anwenden konnte: In seinem Beruf als Jurist.

So soll Hoffmann innerhalb seiner Tätigkeit als Richter selbst Gutachten über den psychischen Zustand sowie Zurechnungsfähigkeit von Personen erstellt haben, wobei er wohl als Sachverständiger fungierte, was laut Kremer insbesondere in dem Fall Schmolling geschehen sein soll. In dem Mordfall, in welchem Daniel Schmolling als Täter überführt worden war, nachdem dieser seine Lebensgefährtin getötet haben soll, stand nur ein Gutachten hinsichtlich des psychischen Zustandes des Täters aus, um ein finales Urteil fällen zu können. Bei Schmolling wurde durch einen Gutachter eine psychische Erkrankung namens amentia occulta diagnostiziert.19

Diese angebliche Erkrankung, auch versteckter Wahnsinn genannt, wurde 1797 durch den deutschen Arzt Ernst Platner erstmals beschrieben. So soll die meist schwere Straftat, ausgelöst durch die Erkrankung, unerwartet geschehen, nachdem sich im Innern des Täters ein psychischer Druck aufgebaut haben soll, welcher nur durch die Tat an sich zu vermindern ist. Platner weist in seinen Schriften darauf hin, dass die Tat immer auch eine Abkehr der Vernunft bedeutet, sodass der Täter als unzurechnungsfähig zu betrachten ist.20

Höchstwahrscheinlich wird Hoffmann diese Krankheitsbeschreibung ebenfalls gekannt haben, da auch Phillipe Pinel, dessen Werke Hoffmann kannte, diese Erkrankung ebenso wie Platner, beschrieb und diese an psychisch Kranken in der Pariser Klinik für Psychiatrie, diagnostizierte.21

Interessanterweise kam Hoffmann in dem Fall Schmolling zu einer anderen Auffassung, als die Psychiater seiner Zeit. Hoffmann ging davon aus, dass der Mensch selbst bei stark normwidrigem Verhalten seine Zurechnungsfähigkeit keineswegs eingebüßt haben musste, und ein fehlendes Motiv nicht sofort mit einer psychischen Störung zu erklären sei. Hoffmann attestierte deshalb eine vollkommene Schuldfähigkeit des Angeklagten.22

Dies scheint verwunderlich, da Hoffmann innerhalb seiner Werke die Taten seiner Protagonisten oftmals mit einer Psychose oder krankhaftem Verhalten erklärt. Auch die Tatsache, dass die damalige Fachliteratur die Erkrankung benennt, und Hoffmann sich dennoch gegen diese wendet, zeigt mitunter, dass Hoffmann sein Wissen um die Psychoanalyse streng zu unterteilen wusste. Dies geschah in einer rein künstlerischen Ebene, wie in seinen Schriften, sowie in einer vernunftorientierten Bewertung innerhalb seines Berufslebens.

Es ist unweigerlich erkennbar, dass Hoffmanns Wissen um die Psychoanalyse seiner Zeit oftmals in einem beruflichem Kontext, bzw. wissenschaftlichinteressierten Maß zu sehen ist. Doch existierte unter Hoffmanns Zeitgenossen stets die These, bzw. Vermutung, der Künstler wäre in der Lage das von ihm beschriebene Leiden aus einem ganz anderen Grund, als pure wissenschaftliche Sachkenntnis kennen: Nämlich aufgrund seines eigenen psychisch labilen Zustands. Eine Perspektive, welche bis in die heutige Forschung anklang findet.

2.2 E.T.A.Hoffmanns Wissen über die Psychoanalyse als persönliches Leiden

Die Frage nach E.T.A.Hoffmanns geistigen Zustand wurde bereits zu dessen Lebzeiten thematisiert. So könnte es sein, dass Hoffmanns explizites Wissen über psychische Erkrankungen nicht nur in einem wissenschaftlichen Kontext existierten, sondern auch in einem zu tiefst persönlichem. Dies soll im Folgenden beleuchtet werden.

Hierbei ist noch anzumerken, dass lediglich Tagebucheinträge des Autors Verwendung finden. Von der Idee, Belege bezüglich Hoffmanns möglichem psychischen Leiden innerhalb dessen Werken zu finden, sollte Abstand genommen werden, auch wenn diese Texte sich diesbezüglich anbieten würden. Die fiktionalen Texte Hoffmanns sollten auch stets so behandelt werden: Fiktionale Erzählungen ohne Bezug zu dessen persönlichem Leben.

Der mögliche Beginn Hoffmanns Leiden wird in der Forschungsliteratur zusammen mit dem sogenannten Julia-Ereignis in Verbindung gebracht, welches bereits genannt wurde. In dieser Zeit seines Lebens schrieb Hoffmann wieder verstärkt Tagebucheinträge, so dass man diese hinsichtlich dieser Lebensphase Hoffmanns verwendet kann. Laut Kremer sollen jene Einträge von starker, unerfüllter Liebessehnsucht, dem Kampf gegen die eigene Triebe und der erlebten gesellschaftlichen Erniedrigung geprägt sein. Hoffmann soll hierbei stets in Form einer „kritisch-ironischen Selbstbeobachtung“ geschrieben haben. Auch ist auffällig, dass er in seinen persönlichen Einträgen seine Geliebte meist nicht mit korrektem Namen nannte, sondern zu meist den Namen „Ktch“ gab, was eine Anspielung auf Kleists „Das Käthchen von Heilbronn“ war.23

Diese Verschlüsselung seiner Geliebten könnte aber lediglich dazu gedient haben, seine Gefühle und Gedanken selbst innerhalb seines Tagebuchs zu verheimlichen, wenn man bedenkt, dass Hoffmann zu dieser Zeit verheiratet gewesen ist. Eine Ehe, welche seit 1802 mit Mariane Thekla Michaelina Rorer bestand.24

Vor dem eigentlichen Julia-Ereignis finden sich in Hoffmanns Tagebuch mehrere Einträge, welche sich auf Julia beziehen und im Kontext seiner Psyche betrachten lassen. So schrieb

Hoffmann, wie Kremer ebenfalls anmerkt, am 25.02.1811, nachdem Hoffmann auf einem Ball war, als Eintrag: „Ktch-Ktch-Ktch!!!! exaltiert bis zum Wahnsinn“.25

Am 08.01.1811 findet sich ebenfalls ein Eintrag, in dem Julia sowie eine auffällige Passage vorkommt, wenn Hoffmann schreibt: „[...]Humoristisch ärgerliche Stimmung – beim Kätchen[...]“.26 Ob diese Stimmung nun im direkten Kontext mit Julia zu sehen ist, ist nur schwer zu bewerten. Doch nur zwei Tage zuvor, und das eigentliche Julia-Ereignis, war noch nicht geschehen, schreibt Hoffmann:“[...] gespannt bis zu Ideen des Wahnsinns die mir oft kommen[...] Warum denke ich schlafend und wachend so oft an den Wahnsinn?“27

Hoffmann schreibt hier, dass er über den Wahnsinn nachdenkt. Ob dies nur im künstlerischen Sinne geschah, oder ob sich der Autor Sorgen über seine Gesundheit machte, lässt sich nur vermuten. Am 28.02.1811 berichtet Hoffmann anscheinend unabhängig von Geschehnissen bezüglich Julia Marc, in einem sehr drastischen Maße:[...] Hol` der Teufel die kuriose Stimmung – entweder schieße ich mich tot wie ein. Hund, oder ich werde toll!“.28 Hoffmann scheint selbst um seine geistige Verfassung besorgt zu sein, anscheinend in einem solchen Maße, dass er den Tod einer Psychose vorziehen würde. Eine weitere, möglicherweise auf Wahnsinn schließende Stelle, lässt sich am 05.02.1812 finden: „[...]-Ktch bis zum Wahnsinn zum höchsten Wahnsinn-[...] Betrachtung über das Selbst – dem der Untergang droht-[...]“.29 Dies scheint ebenfalls eine Reflexion Hoffmanns seine psychischen Gesundheit zu sein, in welcher er sich um diese sorgt. Das er hier von dem Untergang des Selbst schreibt, scheint in abstruser Weise passend zu einigen seiner Werke. Dies wird später offensichtlicher, wenn diese genauer beleuchtet werden.

Im September des Jahres 1812, nach dem Julia-Ereignis, scheint Hoffmann zu versuchen mit diesem, ihn sehr belastenden, Ereignis abzuschließen, da er am 17.09.1812 schreibt: [...]- das Zeichen Ktch wird nicht mehr erscheinen -[...]“.30 Doch kann er es nicht. Seine Bemühungen, Julia Marks anscheinend aus seinem Tagebuch, seinen schriftlichen Gedanken zu verbannen, misslingt, und so schreibt er bereits am 29.09.1812 wieder über Julia: [...]- in einer de-und wehmütigen Stimmung – Ktch wiedergesehen weil sie mit singt-[...]“.31

Vermutungen hinsichtlich Hoffmanns Geisteszustandes macht Otto Rank und bezieht sich hierbei auf Otto Klinke. So schreibt Rank, dass Hoffmann an Halluzinationen und Wahnvorstellungen litt und stets von der Angst beherrscht gewesen sein soll, wahnsinnig zu werden. Des Weiteren diagnostiziert jener Klinke bei Hoffmann Chorea, eine schwere Nervenkrankheit, welche nach dessen Ansicht ausschlaggebend genug sei, um so auch weitere Schlüsse auf Hoffmann neuropathischen Zustand zu schließen.32

Rainer Tölle hingegen ist der Ansicht, dass keine der Diagnosen, welche hinsichtlich Hoffmanns Geisteszustandes gemacht worden sind, als haltbar zu erachten ist. Als Grund dafür nennt er die Selbstkontrolle, welche sich in Hoffmann Einträgen finden lassen. Für ihn stellt sich vielmehr die Frage, weshalb die meisten Autoren stets so bemüht sind eine solche Krankheit zu beweisen.33

Ob E.T.A Hoffmann tatsächlich an einer psychischen Erkrankung litt, oder ob er sich über die Möglichkeit an dieser zu erkranken nur zu oft und sorgenreich Gedanken gemacht hat, ist schwer festzustellen. Eine eindeutige Aussage diesbezüglich ist trotz der vorliegenden Tagebucheinträge nicht zu machen, da diese wohl nicht als ausreichend anzusehen sind, um ein abschließendes Urteil über Hoffmann zu fällen, da hinsichtlich einer medizinischen Diagnose weitere Faktoren in Hoffmanns Leben zu berücksichtigen sein würden, welche der Wissenschaft mitunter für immer verborgen bleiben werden. Dennoch war die Psychologie anscheinend ein fester in Bestandteil Hoffmanns Leben, in künstlerischer sowie beruflicher Perspektive, welche sein Interesse geweckt hat und sich so wie ein roter Faden durch seine Aufzeichnungen und Werke zieht. Des Weiteren ist für dieses Kapitel anzumerken, dass dies wahrscheinlich noch nicht einmal einen Bruchteil der Thematik, ob Hoffmann an einer psychischen Erkrankung litt, abdeckt, sondern lediglich einen beispielhaften Einblick geben möchte.

3. Das Doppelgänger-Motiv im psychopathologischen Kontext und dessen charakteristischen Merkmale

Im Folgenden soll versucht werden anhand von einschlägiger Fachliteratur hinsichtlich des Doppelgänger-Motivs ein Profil zu erstellen, welches auf die Schriften Hoffmanns anwendbar ist, bzw. innerhalb dieser wiederzufinden ist. Hierfür werden neben bereits ältere Werke wie jene von Otto Rank oder Sigmund Freud auch moderne Quellen verwendet. Aus jeder dieser Quellen werden die genannten Charakteristika der psychischen Erkrankung herausgesucht und zusammengefasst. Abschließend soll versucht werden anhand dieser ein Profil zu erstellen, welches als Ergebnis angesehen werden kann und zusammenfassend für alle Quellen steht.

3.1 Otto Ranks Werk „Der Doppelgänger“ hinsichtlich der symptomatischen Merkmale

Als erstes wird das Werk von Otto Rank untersucht, um jene charakteristischen Merkmale eines an dem Doppelgänger-Motiv Leidendes zu benennen, bzw. jene Informationen aus dem Werk zu gewinnen. In Ranks Werk werden mehrere Charakteristika genannt, welche im Folgenden zusammengefasst wurden.

Zwei der grundlegendsten Merkmale, welche einen Leidenden widerfahren, sind, dass es zu einem Verfolgungswahn kommt, wobei der Verfolger hierbei der Doppelgänger ist, welcher dem Leidenden sehr ähnlich sieht, wenn nicht sogar vollkommene gleicht. Jener Doppelgänger tritt dem Leidenden dabei stets hindernd in den Weg. Dies geschieht insbesondere hinsichtlich des Liebeslebens.34

Des Weiteren leidet der Erkrankte an einem starkem Ich-Komplex, was eine krankhafte Fokussierung des eigenen Selbst bedeutet. Aufgrund dieser Fokussierung ist es dem Kranken nicht möglich eine realistische Beziehung, bzw. harmonisches Verhältnis zu seinem Objekt der Liebe zu entwickeln. Das Liebesgefühl, welches jener Kranke empfindet, wechselt hierbei stets zwischen Extremen. So kann einerseits eine Unfähigkeit der Liebe und dessen Gefühls entwickelt werden oder andererseits eine schon krankhafte, überdeutliche Sehnsucht nach dem Objekt der Liebe entstehen.35

Feldges und Stadler beziehen sich diesbezüglich ebenfalls auf Rank. Der Narzisst fühle sich durch die Sexualität des anderen Geschlechts, damit meist der geliebten Person, bedroht. Dies geschehe, da die krankhafte Selbstliebe ihren Untergang in der Geschlechtsliebe sieht. Die Verdopplung des Ichs wäre daher eine Vorsichtsmaßnahme um der Auflösung der eigenen Ichs durch jene Geschlechterliebe entgegenzuwirken.36

Des Weiteren benennt Rank Furcht und Hass, welche sich auf den Doppelgänger, bzw. das doppelgängerische Ich richten, die der narzisstischen Selbstliebe gegenüberstehen. Daher ist davon auszugehen, dass der Narzisst zu seinem eigenem Ich ambivalent gegenübersteht.37

Außerdem schreibt Rank, dass der Doppelgänger aufgrund eines bestimmten Ereignisses bezüglich des Schuldbewusstseins existent werden kann. Das Schuldbewusstsein des Erkrankten kann so stark empfunden werden, dass jenes Gefühl auf ein zweites, abgespaltenes Ich, dem Doppelgänger, projiziert wird. Dieser Doppelgänger, welcher dann mit diesem Schuldbewusstsein in Verbindung gebracht wird, wird daher von dem eigentlichen Ich oftmals verteufelt. Das Schuldbewusstsein, welches für den Vorgang verantwortlich sein kann, kann oftmals durch bestimmte unterdrückte Triebe oder Neigungen belastet werden. Diese Triebe werden so zwar so im eigenen Selbst unterdrückt, doch können sie gleichzeitig durch den Doppelgänger ausgelebt werden. Dem entgegen kann das Gewissen in Form einer anderen Gestalt erscheinen, um den Erkrankten quasi vor den Verfehlungen des abgespaltenen Ichs, des Doppelgängers, zu warnen.38

Einen weiteren Aspekt, welcher die Furcht und den Hass des Erkrankten auf den Doppelgänger erklärt, nennen Feldges und Stadler, wobei sie sich abermals auf Rank beziehen. So soll der Doppelgänger eine Art Versicherung vor dem Untergang, bzw. dem Verschwinden der eigenen Existenz, dem eigenen Ich, sein. Der Erkrankte fürchtet hierbei nicht primär den Tod des eigenen Selbst, sondern tatsächlich die Tatsache, dass das eigene Ich nicht mehr vorhanden sein könnte. Dies spricht abermals für eine starke Ausprägung narzisstischer Züge bei dem Erkrankten.39

Diese Todesfurcht kann bei dem Erkrankten paradoxerweise sogar im Selbstmord enden. Der Erkrankte leidet in einem solchen Maße an der Todesfurcht, dass der eigene Tod die letzte Form der Erlösung vor diesem Gefühl ist.40

Der Erkrankte ist hierbei nur in der Lage sich selbst zu töten. Der Versuch, seinen Doppelgänger zu vernichten ist meist nicht möglich, obwohl dies versucht wird. Die Tötung des Doppelgängers ist aufgrund des erlittenen Narzissmus unmöglich. Er, der Erkrankte könnte es nicht ertragen seinem Ich, hierbei dem abgespaltenem, Schaden zu zufügen. Rank schreibt, dass der Erkrankte bezüglich seines Narzissmus, welcher ihm die Tötung des Doppelgängers untersagt, oftmals in einer Phase der vergangenen Entwicklung des Ichs stagniert, was Rückschlüsse auf dessen Vergangenheit zu lässt.41

3.2 Sigmund Freuds Werk „Das Unheimliche“ hinsichtlich der symptomatischen Merkmale

Als nächstes wird Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ hinsichtlich der untersuchten Thematik betrachtet. Es ist noch anzumerken, dass sich Charakteristika welche bereits bei Rank genannt wurden, nochmals genannt werden, wenn diese in dem Aufsatz zu finden sind.

Ein Merkmal, welches Freud nennt, und welches ebenfalls bei Rank zu finden ist, ist die Beschreibung, dass der Doppelgänger stets als Störer der Liebe zu sehen ist. So werden speziell zwischenmenschliche Beziehungen des Erkrankten, welche auf Liebe beruhen könnten, unmöglich gemacht. Dies kann sogar extreme Handlungen wie Selbstmord beinhalten.42

Des Weiteren sieht Freud in dem Doppelgänger ebenfalls eine Art der Versicherung gegen den Tod, welche der Erkrankte eingeht, um sein Selbst vor der Nicht-Existenz zu bewahren. Dies geschieht hierbei wieder aus narzisstischen Zügen, da der Kranke aufgrund seiner Selbstliebe den Gedanken nicht ertragen kann, dass sein Selbst sterblich ist. Dennoch steht der Doppelgänger neben der Versicherung gegen den Tod auch so für den Tod, bzw. für Todesvorzeichen selbst.43

Auch sind Freud und Rank hinsichtlich des Doppelgängers und seines Bezugs zum Gewissen identisch. Freud sieht die Vorstellung des Doppelgängers als eine Instanz des Ichs, die sich dem übrigen Ich entgegenstellt und dieses zur Selbstbeobachtung und Selbstkritik zwingt. So entsteht aus diesem, sich entgegenstellenden Bestandteil des Ichs, das, was als Gewissen zu bezeichnen ist. Doch im Falle des psychisch Erkrankten spaltet sich das Gewissen in Form des Doppelgängers ab, so dass jener dieses repräsentiert und der Kranke es als fremd wahrnimmt. Auch jene Neigungen und Wunschhandlungen, welche aufgrund von verschiedensten Umständen nicht ausgelebt werden können, finden sich im Doppelgänger wieder.44

Ein Umstand, welchen Freud nennt, der bei Rank nicht zu finden ist, ist die Überlegung, dass der Doppelgänger durch Erlebnisse in der Kindheit erzeugt werden kann. Hierbei handelt es sich meist um prägende Ereignisse negativer Natur.45

Durch einen Rückgriff auf spezielle Phasen der kindlichen Entwicklung des Ichs, kann dann dennoch später die Erkrankung entstehen. Der Erkrankte sieht den Doppelgänger.46

3.3 Die moderne Psychoanalyse hinsichtlich der symptomatischen Merkmale

Auch in der heutigen Psychoanalyse ist die Symptomatik des Doppelgängers zu finden. Dennoch widerfährt der Thematik, bzw. Symptomatik hierbei eine speziellere und detaillierter Differenzierung. Im Folgenden werden mehrere Krankheitsbilder beschrieben, welche als passend erscheinen und möglicherweise innerhalb Hoffmanns Werken teilweise auffindbar sein könnten. Bei diesen Erkrankungen handelt es sich um vier Erkrankungen, die dem Doppelgänger-Syndrom zugeschrieben werden sowie das Leiden der Heautoskopie. Diese wurden ausgewählt, da sie den Beschreibungen und der Thematik Hoffmanns am nächsten kommen könnte.

Bei den ersten vier Erkrankungen handelt es sich um jene, welche zu den Grundmustern der Personenverkennung (DMS) gezählt werden können. Dies sind: Das Capgras-Syndrom, das Fregoli-Syndrom, die Intermetamorphose und das Syndrome of Subjective Doubles.47

Bevor es zu einer genaueren Beschreibung der genannten Erkrankungen sowie deren Krankheitsbilder kommt, kommt es zu einem kurzen Exkurs. Dieser soll verständlich machen inwieweit solche Erkrankungen innerhalb der Psychoanalyse einzuordnen sind.

Im groben Sinne lassen sich solche Erkrankungen der Symptomatik der Schizophrenie zuordnen. Innerhalb dieser lassen sich bereits Symptome finden, welche auch teilweise auf Hoffmanns Charaktere zutreffen.

Bei einer Schizophrenie kann es zu Überempfindlichkeit, sozialem Rückzug und dem Verlust der Ich-Grenze kommen, was alles von einer Unstetigkeit hinsichtlich der Häufigkeit sowie der Stärke der Symptome beherrscht sein kann. Die genannte Überempfindlichkeit entsteht dadurch, dass ein an Schizophrenie Erkrankter mehr Umweltreize wahrnimmt als eine gesunde Person, da die Selektionsfähigkeit des zentralen Nervensystems des Kranken nicht vollständig funktionstüchtig ist. Diese Empfindlichkeit kann zu unverhältnismäßigen Handlungen innerhalb einer, für nicht erkrankte Personen normalen Situation führen. Unverhältnismäßige Handlungen können hierbei auch exzessive Gewalt sein. Der Verlust der Ich-Grenze stört das eigene Identitätserleben des Erkrankten. Dem Verlust der Ich-Grenze können Depersonalisation sowie ein starker Realitätsverlust folgen, welche Zentralsymptome der Schizophrenie darstellen. Des Weiteren kann es hinsichtlich der Symptome noch zu Sinnestäuschungen sowie Wahnanfällen kommen.48

Sinnestäuschungen, bzw. Halluzinationen, treten meist als Gehörhalluzinationen auf. Hierbei hört der Patient Stimmen. Auch das Lautwerden seiner eigenen Gedanken kann geschehen. So glaubt der Patient seine eigenen Gedanken und Überlegungen würden laut ausgesprochen werden, da er diese als äußerliche Laute wahrnimmt. Optische Sinnestäuschungen kommen nicht so häufig vor, können aber dennoch auftreten. Ein schizophrener Patient kann unabhängig von Zeit, bzw.

[...]


1 Vgl.: Rank, Otto: Der Doppelgänger. Psychoanalytische Studie. Internationaler psychoanalytischer Verlag Leipzig/ Wien/ Zürich. 1925. S. 20f.: https://archive.org/details/Rank_1925_Doppelgaenger_k

2 Tölle, Rainer: Der in die tiefste Tiefe schaute. E.T.A. Hoffmann als Psychopathologe. Königshausen und Neumann. 2012. S. 7

3 Ebd.: S.15

4 Bönninghausen, Maria: Der Sandmann/ Das Fräulein von Scuderi, 1.Aufl. München: Oldenbourg 1999. S.19

5 Vgl.: Ebd. S.19

6 Vgl.: Kremer, Detlef (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Leben-Werk-Wirkung. DeGruyter. Berlin. 2012. S.1

7 Rank, Otto: Der Doppelgänger. Psychoanalytische Studie. Internationaler psychoanalytischer Verlag Leipzig/ Wien/ Zürich. 1925. S. 49: https://archive.org/details/Rank_1925_Doppelgaenger_k

8 Vgl.: Kremer, Detlef (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Leben-Werk-Wirkung. DeGruyter. Berlin. 2012. S.2

9 Vgl.: Feldges, Brigitte; Stadler, Ulrich: E.T.A. Hoffmann. Epoche-Werk-Wirkung. C.H. Beck. München. 1986. S. 22

10 Vgl.: Kremer, Detlef (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Leben-Werk-Wirkung. DeGruyter. Berlin. 2012. S.2

11 Vgl.: Tölle, Rainer: Der in die tiefste Tiefe schaute. E.T.A. Hoffmann als Psychopathologe. Königshausen und Neumann. 2012. S. 167

12 Vgl.: Ebd.: S. 9

13 Vgl.: Vgl.: Feldges, Brigitte; Stadler, Ulrich: E.T.A. Hoffmann. Epoche-Werk-Wirkung. C.H. Beck. München. 1986. S. 22

14 Vgl.: Tölle, Rainer: Der in die tiefste Tiefe schaute. E.T.A. Hoffmann als Psychopathologe. Königshausen und Neumann. 2012. S. 166

15 Ebd.: S. 165

16 Ebd.: S. 169

17 Zitiert nach Tölle Rainer: Der in die tiefste Tiefe schaute. E.T.A. Hoffmann als Psychopathologe. Königshausen und Neumann. 2012. S. 170

18 Zitiert nach Ebd.: S. 170

19 Vgl.: Kremer, Detlef (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Leben-Werk-Wirkung. DeGruyter. Berlin. 2012. S.172

20 Vgl.: Galassi, Silviana: Kriminologie im Deutschen Kaiserreich: Geschichte eines gebrochenen Verwissenschaftlichung. Franz-Steiner Verlag. Wiesbaden. 2004. S. 78 http://books.google.de/books?id=gkxF-U3TjrAC&pg=PA78&lpg=PA78&dq=amentia+occulta&source=bl&ots=Ebh4vxyQHw&sig=qyKcRJqxrIn8xGldnlTbyeXQzJo&hl=de&sa=X&ei=nFeFVJfeDsmuUaz2gpgE&ved=0CD4Q6AEwBg#v=onepage&q=amentia%20occulta&f=false

21 Vgl.: Ebd. S. 78

22 Vgl.: Kremer, Detlef (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Leben-Werk-Wirkung. DeGruyter. Berlin. 2012. S.172f.

23 Vgl.: Kremer, Detlef (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Leben-Werk-Wirkung. DeGruyter. Berlin. 2012. S.8

24 Vgl.: Ebd.: S.4

25 Steinecke, Hartmut (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Sämtliche Werke. Band 1. 1794-1813.Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt am Main. 2003. S. 385

26 Ebd.: S. 377

27 Ebd.: S. 385

28 Ebd.: S. 385

29 Ebd.: S. 397

30 Ebd.: S. 430

31 Steinecke, Hartmut (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Sämtliche Werke. Band 1. 1794-1813.Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt am Main. 2003. S. 431

32 Vgl.: Rank, Otto: Der Doppelgänger. Psychoanalytische Studie. Internationaler psychoanalytischer Verlag Leipzig/ Wien/ Zürich. 1925. S. 50: https://archive.org/details/Rank_1925_Doppelgaenger_k

33 Vgl.: Tölle, Rainer: Der in die tiefste Tiefe schaute. E.T.A. Hoffmann als Psychopathologe. Königshausen und Neumann. 2012. S. 44

34 Vgl.: Rank, Otto: Der Doppelgänger. Psychoanalytische Studie. Internationaler psychoanalytischer Verlag Leipzig/ Wien/ Zürich. 1925. S. 47: https://archive.org/details/Rank_1925_Doppelgaenger_k

35 Vgl.: Rank, Otto: Der Doppelgänger. Psychoanalytische Studie. Internationaler psychoanalytischer Verlag Leipzig/ Wien/ Zürich. 1925. S. 66: https://archive.org/details/Rank_1925_Doppelgaenger_k

36 Vgl.: Feldges, Brigitte; Stadler, Ulrich: E.T.A. Hoffmann. Epoche-Werk-Wirkung. C.H. Beck. München. 1986. S. 213

37 Vgl.: Rank, Otto: Der Doppelgänger. Psychoanalytische Studie. Internationaler psychoanalytischer Verlag Leipzig/ Wien/ Zürich. 1925. S. 98f.: https://archive.org/details/Rank_1925_Doppelgaenger_k

38 Vgl.: Ebd.: S.104

39 Vgl.: Feldges, Brigitte; Stadler, Ulrich: E.T.A. Hoffmann. Epoche-Werk-Wirkung. C.H. Beck. München. 1986. S. 206

40 Vgl.: Rank, Otto: Der Doppelgänger. Psychoanalytische Studie. Internationaler psychoanalytischer Verlag Leipzig/ Wien/ Zürich. 1925. S. 106: https://archive.org/details/Rank_1925_Doppelgaenger_k

41 Vgl.: Ebd.: S. 109f.

42 Vgl.: Freud, Sigmund (Hrsg.): Das Unheimliche. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften.Heft 5. 1919. S.307: https://archive.org/details/Imago-ZeitschriftFuumlrAnwendungDerPsychoanalyseAufDie_464

43 Vgl.: Freud, Sigmund (Hrsg.): Das Unheimliche. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften.Heft 5. 1919. S.309: https://archive.org/details/Imago-ZeitschriftFuumlrAnwendungDerPsychoanalyseAufDie_464

44 Vgl.: Ebd. S. 310

45 Vgl.: Ebd.: S.308

46 Vgl.: Ebd. S. 311

47 Vgl.: Arenz, Dirk: Eponyme und Syndrome in der Psychiatrie. Biographisch-klinische Beiträge. Viavital-Verlag. Köln. 2001. S. 112

48 Vgl.: Freedman, A.M. (Hrsg.): Psychiatrie in Praxis und Klinik. Band 1. Schizophrenie affektive Erkrankungen Verlust und Trauer. Georg Thieme Verlag. Stuttgart. 1984. S. 94f.

Ende der Leseprobe aus 55 Seiten

Details

Titel
E.T.A. Hoffmanns Doppelgänger-Motiv aus psychoanalytischer Perspektive
Hochschule
Universität Vechta; früher Hochschule Vechta  (Germanistik)
Note
2,5
Autor
Jahr
2015
Seiten
55
Katalognummer
V295271
ISBN (eBook)
9783656933960
ISBN (Buch)
9783656933977
Dateigröße
539 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
hoffmanns, doppelgänger-motiv, perspektive
Arbeit zitieren
Lars Johannes Nowack (Autor:in), 2015, E.T.A. Hoffmanns Doppelgänger-Motiv aus psychoanalytischer Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/295271

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