Scripted Reality. Der Reiz der inszenierten Realität

Eine quantitative Rezipientenbefragung zur Analyse der Nutzungsmotive


Diplomarbeit, 2013

149 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Hintergrund und Ziel der Arbeit
1.2 Aufbau der Arbeit

2 Scripted Reality als Teilbereich des Reality TV
2.1 Der Ursprung des Fernsehgenre Reality TV
2.2 Einordnung innerhalb des Reality TV
2.3 Charakteristische Merkmale des Scripted Reality
2.4 Scripted Reality-Formate im deutschen Fernsehen

3 Medienwirkungsforschung
3.1 Der Uses-and-Gratifications-Ansatz
3.1.1 Konzept und Ursprung
3.1.2 Prozessmodelle und Weiterentwicklungen
3.1.3 Kritik am Uses-and-Gratifications-Ansatz
3.2 Fernsehnutzungsmotive in der Uses-and-Gratifications-Forschung
3.2.1 Bedürfnisse und Motive
3.2.2 Motivkataloge
3.2.3 Instrumentelle und ritualisierte Mediennutzung
3.2.4 Das Eskapismus-Konzept
3.2.5 Das Konzept der parasozialen Interaktion
3.3 Zwischenfazit
3.4 Der Einfluss verschiedener Faktoren auf die Fernsehnutzung
3.4.1 Soziodemographie
3.4.2 Individuelle Merkmale
3.4.2.1 Sensation Seeking
3.4.2.2 Interpersonelle Interaktion und Einsamkeit
3.4.2.3 Lebenszufriedenheit
3.4.3 Allgemeine Fernsehgewohnheiten
3.5 Empirische Forschungsergebnisse zu Reality TV und Scripted Reality

4 Empirischer Teil
4.1 Forschungsfragen
4.2 Hypothesen
4.3 Untersuchungsdesign: Online-Fragebogen
4.4 Aufbau des Fragebogens
4.4.1 Konzeption des Fragebogens
4.4.2 Fernsehgewohnheiten
4.4.2.1 Fernsehdauer und Fernsehnutzungssituation
4.4.2.2 TV-Genrepräferenzen
4.4.2.3 Fernsehverhalten
4.4.3 Fernsehverhalten in Bezug auf Scripted Reality
4.4.3.1 Nutzung von Scripted Reality-Formaten
4.4.3.2 Nutzungsmotive
4.4.3.3 Online-Aktivität
4.4.4 Individuelle Merkmale
4.4.4.1 Sensation Seeking
4.4.4.2 Interpersonelle Interaktion
4.4.4.3 Lebenszufriedenheit
4.4.5 Soziodemographische Daten
4.5 Durchführung der empirischen Studie
4.5.1 Pretest
4.5.2 Online-Befragung
4.5.3 Stichprobe

5 Ergebnisse
5.1 Deskriptivstatistische Beschreibung der Stichprobe
5.1.1 Soziodemographische Beschreibung der Stichprobe
5.1.2 Allgemeine Fernsehgewohnheiten der Befragten
5.1.3 Angaben zur Scripted Reality-Nutzung
5.1.4 Angaben zu den individuellen Merkmalen
5.2 Verifikation und Falsifikation der Hypothesen
5.2.1 Identifikation der Nutzungsmotive der Scripted Reality-Rezipienten
5.2.2 Befunde zur Nutzungsmotivation der Scripted Reality-Rezipienten (Hypothese 1a bis 1c)
5.2.3 Der Einfluss soziodemographischer Daten auf die Scripted Reality-Sehdauer (Hypothese 2a bis 2c)
5.2.4 Der Einfluss soziodemographischer Daten auf die Nutzungsmotivation der Scripted Reality-Rezipienten (Hypothese 2d und 2e)
5.2.5 Der Einfluss des Merkmals Sensation Seeking auf die Nutzungsmotivation der Scripted Reality-Rezipienten (Hypothese 3a bis 3c)
5.2.6 Der Einfluss des Umfangs an interpersoneller Interaktion auf die Nutzungsmotivation der Scripted Reality-Rezipienten (Hypothese 4a bis 4e)
5.2.7 Der Einfluss der Lebenszufriedenheit auf die Nutzungsmotivation der Scripted Reality-Rezipienten (Hypothese 5a bis 5c)
5.2.8 Der Einfluss allgemeiner Fernsehgewohnheiten auf die Scripted Reality- Sehdauer (Hypothese 6a)
5.2.9 Der Einfluss allgemeiner Fernsehgewohnheiten auf die Nutzungsmotivation der Scripted Reality-Rezipienten (Hypothese 6b und 6c)
5.3 Übersicht der Ergebnisse der Hypothesenprüfung
5.4 Vergleich der Einflüsse auf die Zuwendung zu Scripted Reality

6 Resümee
6.1 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
6.2 Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhangsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Subgenres des Reality TV heute

Abbildung 2: Vorläufer des Scripted Reality

Abbildung 3: Formate der fiktionalen Fernsehunterhaltung

Abbildung 4: Elemente des Nutzen- und Belohnungsansatzes

Abbildung 5: Erwartungs-Bewertungs-Modell

Abbildung 6: Rosengrens Paradigma für die U&G-Forschung

Abbildung 7: Transaktionales U&G-Modell nach McLeod & Becker (1981)

Abbildung 8: Modell zur Erklärung der Scripted Reality-Rezeption

Abbildung 9: Sehhäufigkeit der beliebtesten Scripted Reality-Formate

Abbildung 10: Aufteilung der Stichprobe nach der Scripted Reality-Sehdauer

Abbildung 11: Aufteilung der Stichprobe in LSS und HSS

Abbildung 12: Aufteilung der Stichprobe nach dem Umfang interpersoneller Interaktion

Abbildung 13: Aufteilung der Zufriedenheits-Gruppen

Abbildung 14: Vergleich der Mittelwerte der acht Nutzungsmotive

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Aufbau des Fragebogens

Tabelle 2: Nutzungsmotivskala

Tabelle 3: Subskalen der Sensation Seeking Skala von Gniech et al. (1993).

Tabelle 4: Soziodemographische Beschreibung der Stichprobe.

Tabelle 5: Sehdauer, Nutzungssituation und Fernsehverhalten

Tabelle 6: Allgemeine Format- und Genrepräferenzen

Tabelle 7: Präferierte Scripted Reality-Formate.

Tabelle 8: Cronbachs Alpha der Skalen zur Messung persönlicher Merkmale

Tabelle 9: Eigenwerte und Anteile aufgeklärter Varianz der Faktoren I bis IV

Tabelle 10: Eigenwerte und Anteile aufgeklärter Varianz der Faktoren V bis VIII

Tabelle 11: Cronbachs Alpha der neu gebildeten Nutzungsmotivskalen Teil 1.

Tabelle 12: Cronbachs Alpha der neu gebildeten Nutzungsmotivskalen Teil 2.

Tabelle 13: Mittelwertvergleich Scripted Reality-Sehdauer und Bildungsstand

Tabelle 14: Mittelwertvergleich Nutzungsmotive und Interpersonelle Interaktion

Tabelle 15: Mittelwertvergleich Nutzungsmotive und Lebenszufriedenheit.

Tabelle 16: Mittelwertvergleich instrumentelle Nutzungsmotive und Selektivität

Tabelle 17: Mittelwertvergleich instrumentelle Nutzungsmotive und Aufmerksamkeit

Tabelle 18: Übersicht der Ergebnisse der Hypothesenprüfung - Forschungsfrage 1.

Tabelle 19: Übersicht der Ergebnisse der Hypothesenprüfung - Forschungsfrage 2.

Tabelle 20: Einfluss verschiedener Variablen auf die Scripted Reality-Sehdauer

Tabelle 21: Einfluss verschiedener Variablen auf die Nutzungsmotive.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

1 Einleitung

1.1 Hintergrund und Ziel der Arbeit

Seit geraumer Zeit zeichnet sich auf Seiten der privaten Fernsehsender ein neuer Trend ab. Das Nachmittagsprogramm sowie der Vorabend werden mit einer ganz bestimmten Sen- dungsart regelrecht überhäuft. Auf den ersten Blick wirken die Inhalte dieser Sendungen wie eine Art Dokumentation und daher real. Im Vor- bzw. Abspann wird mit dem Hinweis „Alle handelnden Personen sind frei erfunden.“ allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass diese Inhalte nicht echt sind, sondern alles gespielt wird. Die Tatsache, dass es sich um inszenierte Fernsehdramen und nach Drehbuch agierende Laiendarsteller1 handelt, schadet den Formaten jedoch nicht, sie erzielen nicht selten sogar beachtliche Einschaltquoten. Die Rede ist von Scripted Reality.

Die Formate dieser Form des Reality TV, das schon seit vielen Jahren fester Bestandteil der deutschen Fernsehlandschaft ist, stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung. Als Vorreiter des Scripted Reality gelten die Gerichtsshows und die Doku-Soaps. Nachdem die Erfolge dieser Formate, die auf wahren Fällen beruhten und damit reale Geschichten der Protagonisten dokumentierten, zunehmend ausblieben, entwickelten die Programmmacher ein neues Konzept: Durch ausgedachte und von Laienschauspielern dargestellte Inhalte sollten die Sendungen spannender und dichter erzählt und zugleich kostengünstig produziert werden. Ihre Rechnung mit der Fiktionalisierung bestehender Formate ging auf, die Einschaltquoten stiegen. Und auch neu entwickelte Formate, die diesem Konzept entsprechen, erfreuen sich hoher Beliebtheit. So entpuppte sich bspw. eines der Scripted Reality-Formate, „Berlin - Tag & Nacht“, das lediglich als Lückenfüller für die nächste „Big Brother“-Staffel konzipiert war, als Quotengarant.

Es drängt sich nun die Frage auf, aus welchen Gründen Millionen von Fernsehzuschauern täglich die gescripteten Formate einschalten. Wie der Titel dieser wissenschaftlichen For- schungsarbeit bereits ankündigt, besteht das Hauptinteresse darin, Erkenntnisse über die Nutzungsmotivation der Scripted Reality-Rezipienten zu gewinnen. In Anbetracht des enor- men Erfolges dieser Art des Fernsehens stellt sich der Autor in der vorliegenden Untersu- chung daher die Frage, welchen Reiz die fiktiven, intimen Geschichten von ihnen unbekann- ten, frei erfundenen Personen auf die Zuschauer auswirken. Die Rede ist häufig von Voyeu- rismus, manchmal sogar von moralischem Verfall. Liegt der Zuwendung ein spezifisches individuelles Bedürfnis zugrunde? Haben wir uns gar zu einem Volk von Voyeuren entwi- ckelt? Oder stellen die Scripted Reality-Formate einfach eine Sendungsform des Realitäts- fernsehens dar, die Authentizität bietet und zugleich bestens unterhält und Ablenkung ver- spricht?

Da die individuelle Fernsehnutzung und die dahinter stehenden Bedürfnisse und Motive der Rezipienten sehr eng mit persönlichen Eigenschaften und Merkmalen verknüpft sind, wird untersucht, welchen Einfluss verschiedene individuelle Faktoren auf die Zuwendung zu Scripted Reality ausüben. Im Zuge dessen werden neben soziodemographischen Merkmalen der Rezipienten auch Faktoren in die Untersuchung miteinbezogen, die sich in vergangenen Forschungsarbeiten für die Medienzuwendung bereits als relevant erwiesen haben und deren Berücksichtigung auch für die vorliegende Untersuchung sinnvoll erscheint. So wird nicht nur die Lebenszufriedenheit der Rezipienten, sondern auch deren individuelle Reizsuchetendenz und der soziale Kontext, genauer gesagt der Umfang an interpersoneller Interaktion, ins Auge gefasst. Dabei wird zusätzlich das allgemeine Fernsehverhalten der Rezipienten und dessen Auswirkung auf den Scripted Reality-Konsum untersucht. Das Forschungsinteresse bezieht sich demzufolge nicht nur auf die Aspekte, die den Konsum dieser Formate motivieren, sondern liegt auch darin, inwieweit sich die Nutzungsmotivation innerhalb des Publikums unterscheidet und durch welche Faktoren diese beeinflusst wird.

Die Identifizierung der Gründe für die Zuwendung zu Scripted Reality sowie die Erkenntnis über Faktoren, die die Nutzungsmotivation beeinflussen, trägt nicht nur zur Medienwirkungsbzw. Rezipientenforschung bei, sondern ist im Hinblick auf die wachsende Anzahl an Scripted Reality-Formaten und die damit einhergehende zunehmende Bedeutung dieser Sendungsart auch im Interesse der Programmmacher und -planer, die an den Bedürfnissen und Interessen des Publikums orientierte Fernsehinhalte anbieten wollen.

1.2 Aufbau der Arbeit

Im ersten Kapitel der Arbeit werden zunächst die Ursprünge und die Entwicklung des Scripted Reality beschrieben. Dabei wird auf die Einordnung der Scripted Reality-Formate in das umfassende Fernsehgenre Reality TV eingegangen (Kap. 2.1 und 2.2). Um die Fernseh- formate von anderen Sendungsformen abzugrenzen folgt daraufhin eine charakteristische Beschreibung des Scripted Reality (Kap. 2.3). Anschließend werden die aktuellen Scripted Reality-Formate im deutschen Fernsehen vorgestellt (Kap. 2.4). Um den empirischen Teil der wissenschaftlichen Arbeit auszuarbeiten sowie dessen Ergebnisse interpretieren und in einen Gesamtzusammenhang setzen zu können ist es erforderlich, relevante Literaturbereiche und Theorien aufzuzeigen. Im zweiten Kapitel wird demzufolge der medientheoretische Rahmen der vorliegenden Untersuchung erläutert. Hierbei werden der Uses-and-Gratifications-Ansatz (U&G-Ansatz) mit seinen wesentlichen Annahmen präsentiert und verschiedene Prozessmo- delle und Weiterentwicklungen des Ansatzes dargestellt (Kap 3.1). Weiterhin wird auf die Fernsehnutzungsmotive in der U&G-Forschung eingegangen (Kap. 3.2). Im nächsten Unter- kapitel wird ein Blick auf den Einfluss verschiedener individueller Merkmale und der allge- meinen Fernsehgewohnheiten eines Rezipienten auf dessen Scripted Reality-Konsum gewor- fen (Kap. 3.4). Es wird erläutert, welche Wirkung die soziodemographischen Daten, das Merkmal Sensation Seeking, der Umfang interpersoneller Interaktion und die Lebenszufrie- denheit auf die Zuwendung zu Scripted Reality haben. Schließlich folgt eine Zusammenstel- lung relevanter empirischer Forschungsergebnisse (Kap. 3.5).

Im vierten Kapitel werden die auf den theoretischen Vorüberlegungen basierenden zentralen Forschungsfragen und Hypothesen formuliert (Kap. 4.1 und 4.2). Darauf folgt die Darstellung der methodischen Umsetzung der Studie. Hier werden sowohl das Untersuchungsdesign und der Aufbau des Fragebogens mitsamt der Operationalisierung der berücksichtigten Variablen beschrieben (Kap. 4.3 und 4.4) als auch die Durchführung der Erhebung geschildert (Kap. 4.5). Die Auswertung und Darstellung der Ergebnisse bildet das fünfte Kapitel. Dabei werden nach der Beschreibung der Stichprobe die aufgestellten Hypothesen überprüft (Kap. 5.2). Anschließend werden im letzten Teil der Forschungsarbeit die Ergebnisse der Studie zusammengefasst und übergreifend interpretiert und diskutiert (Kap. 6.1). Die Einordnung der Studie in den Forschungskontext führt den empirischen Teil zu Ende (Kap. 6.2).

2 Scripted Reality als Teilbereich des Reality TV

2.1 Der Ursprung des Fernsehgenre Reality TV

Vorab ist anzumerken, dass das Reality TV einem stetigen Wandel unterliegt und zukünftig mit weiteren Entwicklungen zu rechnen ist. Es wird daher darauf hingewiesen, dass in der vorliegenden Arbeit lediglich eine aktuelle Bestandsaufnahme des Reality TV dargestellt wird.

Das Reality TV, das vor ca. 20 Jahren das erste Mal im deutschen Fernsehen auftauchte (Lücke 2002, S. 21), fasst mittlerweile eine Vielzahl verschiedener Subgenres und Fernseh- formate zusammen. Es dient sozusagen als Oberbegriff für zahlreiche Mischformen und Hybride, in denen verschiedene Sendungselemente aus einzelnen Sendungen herausgegriffen und zu einer neuen Sendung zusammengefügt wurden (Wolf, 2011, S. 41). Aufgrund dieser gewissen Unschärfe, die das Reality TV kennzeichnet, gestaltet es sich durchaus schwer eine eindeutige Definition zu formulieren. Hartley (2002) beschreibt dies wie folgt:

A recent generic phenomenon of television broadcasting, reality TV is difficult to define owing to the rapid development of programmes of this nature, and also because in both journalistic reviews and academic criticism different types of show have been bundled together under this banner. (S. 196f.)

Auch heute mangelt es trotz Einbezug verschiedener Studien und Beiträge, die sich an einer Eingrenzung des Reality TV versuchen, noch an einer einheitlichen und anerkannten Definition (Lünenborg, Martens, Köhler & Töpper, 2011, S. 17).

In ihrer genrevergleichenden Inhaltsanalyse zur Inszenierung von Reality TV weisen Schorr und Schorr-Neustadt (2000a, S. 315) darauf hin, „dass der Begriff eigentlich aus dem Ameri- kanischen stammt und nur eine Verkürzung der Bezeichnung ‚reality based stories‘ darstellt“. Winterhoff-Spurk, Heidinger und Schwab (1994, S. 17ff.) sehen die Wurzeln des Fernsehgen- re Reality TV zum einen in der Entwicklung der technischen Möglichkeiten (schnellere, kompaktere und billigere Videotechnik) und zum anderen im Wandel der ökonomischen Situation der Fernsehsender in den Vereinigten Staaten in den 80er Jahren, der eine Verände- rung im Programm, insbesondere hinsichtlich der Fernsehnachrichten, mit sich brachte. Nachrichten sollten nicht mehr nur informieren, sondern gleichzeitig einen Gewinn erbringen und damit profitabel sein. Aufgrund der Konkurrenz zwischen den Sendern mussten diese um möglichst hohe Einschaltquoten zu erzielen, auf neue Sendungsformen zugreifen bzw. vor- handene umgestalten. Nachrichtensendungen wurden zu „News-shows“, die nicht wie bisher aus einer eher objektiven und distanzierten Perspektive berichteten, sondern aus einem sub- jektiven Blickwinkel, mit immer kürzeren und konzentrierten Beiträgen sowie eindrucksvol- len Bildern, die die Zuschauer unterhalten sollten (ebd., S. 18). Aus den „News-shows“ entstanden eigenständige Sendungen, wie z.B. „I witness video“ und „Rescue 911“, die teilweise von Amateur-Reportern live gefilmte Sequenzen von Verbrechen und Unfällen enthielten (ebd., S. 18; Wegener, 1994, S. 19). Die ersten Schritte des Reality TV waren getan: Die sogenannten „eyewitness programmes“ thematisierten Kriminalität, Skandale, Gewalt, Sex und menschliche Tragödien und zeichneten sich zudem durch eine Überdramati- sierung, Personalisierung und Emotionalisierung aus (Winterhoff-Spurk et al., 1994, S. 16f.).

Nachdem einige Sendekonzepte dieser Art im europäischen Raum Anklang fanden, orientierte sich auch das deutsche Fernsehprogramm um. Der Wandel, der sich in Deutschland beobach- ten ließ, stand unmittelbar mit dem Aufkommen der kommerziellen Fernsehsender in Zu- sammenhang. Dadurch, dass sich die privat organisierten Sender im Gegensatz zu den öffent- lich-rechtlichen nicht über Rundfunkgebühren finanzieren, richteten sie ihre Programmstruk- tur insbesondere nach den Werbeunterbrechungen aus (Bleicher, 1999, S. 96). Das heißt, die Sendungen passten sich zeitlich den Werbeblöcken an und wurden so strukturiert, dass sie den Zuschauer durch einen inhaltlichen Spannungsaufbau vor, während und auch nach den Wer- bepausen an das Programm banden (ebd., S. 97). Das Fernsehen orientierte sich also immer mehr an den Rezipienten, was sich insbesondere in der Zunahme von Sendungen äußerte, die dem Zweck der Unterhaltung dienten. Mit der Ausweitung der Sendezeit war es zudem notwendig, die Programmflächen mit möglichst kostengünstigen Produktionen zu füllen. Eine sogenannte „industrielle Sendungs-Produktion, die durch zeitlich und ökonomisch rationale Vorgehensweise gekennzeichnet ist“ (ebd.), setzte ein.

Als Vorreiter des Reality TV in Deutschland gelten die Sendungen „Notruf“ und „Aktenzei- chen XY … ungelöst“ (Lücke, 2002, S.27; Wegener, 1994, S. 20f.). Die Gemeinsamkeit beider Formate liegt in den eingesetzten Kurzfilmen, innerhalb derer ein Unglück bzw. eine Straftat von Schauspielern rekonstruiert wird. In den nachfolgenden Jahren nahm die Anzahl der Sendungen, die einem ähnlichen Konzept entsprachen, rasch zu, und auch Publikationen zum Thema Reality TV ließen nicht lange auf sich warten. Eine der ersten Arbeiten lieferte Wegener (1994). Ihre Studie basiert auf Gesprächen mit verantwortlichen Redakteuren und Moderatoren einiger Fernsehsendungen, die dem „Wirklichkeitsfernsehen“ zugesprochen werden. Sie orientiert sich an den „eyewitness programmes“ und grenzt das bisher diffuse Genre auf der Basis verschiedener Sendungselemente ein. So zeichnet sich das Reality TV ihrer Meinung nach dadurch aus, dass vorwiegend Grenzsituationen, wie z.B. Katastrophen oder Verbrechen, wirklichkeitsgetreu nachgestellt oder durch Originalaufnahmen von Augen- zeugen dokumentiert sind (ebd., S. 15f.). Die Thematisierung von Gewalt ist laut ihrer Be- schreibung demnach fester Bestandteil der Sendungen. Die Forschungsgruppe um Winter- hoff-Spurk (1994, S. 205) untersucht mehrere Sendungen inhaltsanalytisch und kam zu dem Ergebnis, dass Reality TV ein neues Fernsehgenre mit Unterkategorien darstellt. Im Gegen- satz zu Wegener (1994) beziehen Winterhoff-Spurk und seine Mitarbeiter auch gewaltfreie Sendungen in ihre Analyse mit ein und fassen den Begriff Reality TV weiter. Es folgten weitere Forschungsarbeiten, wie z.B. die Studie zum Affektfernsehen von Bente und Fromm (1997), einem aus ihrer Sicht neuen Genre, das sowohl im Bereich Information als auch Unterhaltung angesiedelt ist, und der Veröffentlichung von Eberle (2000), der das Reality TV auf der Basis des Definitionsversuchs des Instituts für Medienanalyse und Gestalterkennung Essen in verschiedene Kategorien einteilt. Neben diesen und etlichen anderen Publikationen, ragt eine Arbeit aufgrund eines neuen Aspekts besonders hervor: In ihrem 1994 erschienenen Werk „Wirklicher als die Wirklichkeit? Das neue Realitätsprinzip der Fernsehunterhaltung“ unterscheidet die Sozialwissenschaftlerin Keppler zwischen narrativem und performativem Realitätsfernsehen. Als narrativ gelten „jene Sendungen, die ihre Zuschauer mit der authenti- schen oder nachgestellten Wiedergabe realer oder realitätsnaher außergewöhnlicher Ereignis- se nicht-prominenter Darsteller unterhalten“ (Klaus & Lücke, 2003, S. 199). Im Gegensatz dazu, werden Sendungen, „die eine Bühne für nicht-alltägliche Inszenierungen sind, jedoch zugleich direkt in die Alltagswirklichkeit nicht-prominenter Menschen eingreifen“ als per- formativ bezeichnet (ebd.). Die von vielen medienwissenschaftlichen Studien (Klaus & Lücke, 2003; Lücke, 2002; Lünenborg et al., 2011; Weiß & Ahrens, 2012a) aufgegriffene Unterscheidung erleichtert die Einteilung der vielfältigen Sendungsformen des Realitätsfern- sehens und damit auch die konkrete Einordnung des Scripted Reality, die im Folgenden beschrieben wird.

2.2 Einordnung innerhalb des Reality TV

In Anlehnung an Lücke (2002) und weitere Arbeiten, wie z.B. die Studien von Klaus und Lücke (2003), Lünenborg et al. (2011) und Weiß und Ahrens (2012a), werden die verschiede- nen Subgenres des Reality TV, die sich bis heute entwickelt haben, nachfolgend in Form eines Schaubildes dargestellt und damit klassifiziert. Erwähnt werden sollte an dieser Stelle noch einmal, dass die Subgenres des Reality TV gleichzeitig auch mit einem oder mehreren weiteren Genres verwandt sind und damit als in hohem Maße hybridisiert bezeichnet werden können (Klaus & Lücke, 2003, S. 200). Allein die Bezeichnung Doku-Soap macht bereits deutlich, dass dieses Subgenre Elemente der Dokumentation und der Seifenoper beinhaltet. Das Reality TV ist also besser gesagt eine „Genrefamilie“ (Klaus & Lücke, 2003, S. 196), die sich aus verschiedenen Genres zusammensetzt und im Sinne der Hybridisierung aus unter- schiedlichen Gattungen und Genrecharakteristiken neue Formate schafft (Weischenberg, 2001, S. 67f.).

Ob einzelne Subgenres dem Reality TV zugewiesen werden, hängt vom inhaltlichen Kontext ab. Eberle (2000, S. 215) begründet die Einordnung des Daily Talks, der zweifelsfrei auch zur Oberkategorie der Talkshows gehört, bspw. damit, dass er über mehr Gemeinsamkeiten mit anderen Reality TV-Sendungen als mit den intellektuell ausgerichteten politischen und kulturellen Talkshows verfügt. Des Weiteren ist zu beachten, dass hinsichtlich der Bezeich- nung der verschiedenen Sendungsformen des Reality TV ein ziemlicher Begriffswirrwarr herrscht (Wegener, 1994, S. 15; Wolf, 2011, S. 40). So kann es vorkommen, dass unterschied- liche Formate gleich benannt werden und für gleiche Formate verschiedene Bezeichnungen Verwendung finden. Selbst ein Blick auf die Websites der Sendeanstalten und Produktions- firmen verhilft nicht zu einem besseren Durchblick. Bezüglich des Reality TV und der Eintei- lung und Benennung seiner Subgenres herrscht grundsätzlich keine Einigkeit in der wissen- schaftlichen Literatur.

Basierend auf der bestehenden Forschungsliteratur zeigt Abbildung 1 die derzeitigen Subgen- res des Realitätsfernsehens, aufgeteilt in narratives und performatives Reality TV. In der vorliegenden Studie werden von den insgesamt 17 Subgenres neun dem narrativen und acht dem performativen Reality TV zugeordnet. Zum performativen Reality TV gehören Formate wie z.B. Beziehungs-Shows (z.B. „Verzeih mir“ (RTL)) und Daily Talks (z.B. „Britt“ (Sat.1)), die sich dadurch auszeichnen, dass sie das Leben „echter Menschen“ thematisieren. Ein realer, allerdings auch dramaturgisch konstruierter Hintergrund stellt die Basis der Formate dar (Lünenborg, 2011, S. 22). Neben Castingshows (z.B. „Germany’s Next Topmodel“ (ProSieben)) und Reality Soaps („Big Brother” (RTL2)), in denen Personen in einem ihnen unbekannten neuen Setting Aufgaben bewältigen müssen, werden zudem bspw. auch Reality- Star-Sitcoms (z.B. „Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!“ (RTL)), in denen prominente Persönlichkeiten auftreten, zu dieser Kategorie des Wirklichkeitsfernsehen gezählt. Die ursprüngliche Definition von Wegener (1994), die besagt, dass der Fokus auf dem Alltag „normaler Menschen“ liegt, gibt zwar auch heute noch einen passenden Rahmen für eine Einordnung vor, trifft aber wie man sieht nicht mehr auf jede einzelne Sendungsform zu.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

Abbildung 1: Subgenres des Reality TV heute

Quelle: Darstellung in Anlehnung an Klaus & Lücke (2003, S. 199f.) und Lünenborg et al. (2011, S. 21ff.)

Das narrative Reality TV umfasst gewaltzentrierte Sendungen (z.B. „Notruf“ (RTL)), Real Life Comedy-Formate („Jackass“ (MTV)), Gerichtsshows („Richterin Barbara Salesch“ (Sat.1)) und Personal-Help-Shows („Die Jugendberaterin“ (ProSieben)). Ein gemeinsames Merkmal dieser Subgenres ist die darin enthaltene Inszenierung in Form von nachgestellten Unfallszenen, Gerichtsprozessen oder zwischenmenschlichen Konflikten. Diese findet sich auch bei den Scripted Reality-Formaten (z.B. „Verdachtsfälle“ (RTL)) wieder, die in dieser Arbeit entsprechend der Beschreibung von Lünenborg et al. (2011, S. 24) daher auch dem narrativen Wirklichkeitsfernsehen zugeteilt werden. Anders als in den bisherigen Publikatio- nen (Klaus und Lücke, 2003; Lünenborg et al., 2011), die sich mit der Einordnung der einzel- nen Subgenres befassten, fallen die Doku-Soap (z.B. „Die Wollnys“ (RTL2)) und deren Subgenres (Make-Over-Shows, Coaching-Formate und Problemlösesendungen) in der vorlie- genden Studie nicht in die Kategorie des performativen, sondern in die des narrativen Reality TV. Nicht nur Weiß und Ahrens (2012a) verweisen auf die Richtigkeit dieser Zuteilung, auch Göttlich (2001, S. 79ff.) grenzt die Doku-Soap gegenüber Subgenres des performativen Reality TV ab. In der vorliegenden Studie wird der Begriff Doku-Soap demnach relativ eng gefasst und von performativen Reality TV-Formaten, die im Grunde eine „quasi- experimentelle Laborsituation“ (Weiß & Ahrens, 2012b, S. 22) in Form von Wettbewerben und Spielen darstellen, strikt getrennt. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass das Verständnis des narrativen Realitätsfernsehens von Wegener (1994) in der vorliegenden Arbeit um einen Aspekt erweitert wird. Da die dargestellten Fälle in den jeweiligen Formaten dieser Kategorie fiktiv sind, wird das narrative Reality TV als Teil des Wirklichkeitsfernse- hens beschrieben, der „Sachverhalte, Handlungen, Geschehnisse, Personen und Dinge, die sich so nicht tatsächlich zugetragen haben, die statt dessen nur in der Vorstellung oder in der (dichterischen, filmischen, künstlerischen usw.) Darstellung existieren“ (Borstnar, Pabst & Wulff, 2008, S. 41), umfasst.

Bei Doku-Soaps handelt es sich um Formate, die „normale Menschen“, also keine professio- nellen Schauspieler, zeigen. Diese lassen sich freiwillig in ihrer gewohnten Umgebung von einem Kamerateam begleiten und stellen sich damit der Öffentlichkeit bzw. den Zuschauern in privaten und häufig intimen Situationen zur Schau (Klaus & Lücke, 2003, S, 201). Orien- tiert man sich an dieser Definition, ähneln Scripted Reality-Formate den Doku-Soaps in hohem Maße. Stichler (2010) beschreibt die festgestellte Verbindung zur Doku-Soap, und damit die Herkunft des Scripted Reality, folgendermaßen: „‘Scripted Reality‘ ist eine konse- quente Weiterentwicklung der bisherigen Doku-Soaps, kombiniert mit den Erfahrungen, die bei Gerichtsshows und den Nachmittags-Talks gewonnen wurden.“ (S. 22). Der Ursprung des Scripted Reality liegt also in der Fiktionalisierung bestehender erzählender Formen des Realitätsfernsehens (Abbildung 2). So unterhielten Daily Talks, Gerichtsshows und Personal Help-Shows den Rezipienten nach einiger Zeit mit inszenierter Realität: Konflikte wurden redaktionell zugespitzt und Laienschauspieler erhielten konkrete Anweisungen. Dieser Ent- wicklung folgten auch die Doku-Soaps. Bestes Beispiel hierfür stellt das Format „Mitten im Leben“ (RTL) dar. Zu Beginn der Ausstrahlung wurden reale Geschichten thematisiert, inzwischen unterstellt man der Sendung eine zunehmende Fiktionalisierung.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

Abbildung 2: Vorläufer des Scripted Reality

Quelle: Darstellung in Anlehnung an Weiß & Ahrens (2012a, S. 67)

Begründet wird der Wandel der Sendungsformen vom Realen zum Fiktionalen anhand ver- schiedener Aspekte. Zum einen ist es auf Dauer schwierig, interessante Geschichten und zugleich Personen, die diese selbst erlebt haben, zu finden (Weiß & Ahrens, 2012a, S. 61). Der Aufwand ist um ein Vielfaches geringer, wenn Geschichten nachgespielt oder neu erfun- den werden. Durch ausgedachte Inhalte sind die Sendungen besser planbar, können dichter erzählt und nach Belieben um spannende, unterhaltende und dramatische Szenen ergänzt werden. Zum anderen kann dadurch, dass es sich bei den Protagonisten letztendlich um Schauspieler bzw. Laiendarsteller handelt, die Verletzung der Persönlichkeitsrechte und der Privatsphäre umgangen werden (Bergmann, von Gottberg & Schneider, 2012, S. 10; Weiß & Ahrens, 2012, S. 61). Die Darsteller schlüpfen in eine Rolle und stellen offiziell nicht sich selbst dar, sie haben also nicht zu befürchten, dass ihnen nach der Ausstrahlung der Sendung die Offenlegung des (gespielten) Privaten in ihrem sozialen Umfeld zum Verhängnis wird. Der Wandel hat des Weiteren ökonomische Hintergründe. Die Produktionskosten der Scripted Reality-Formate sind relativ gering. Nach Angaben der Produktionsfirmen filmpool und Norddeich TV, die eine Vielzahl der Formate produzieren, belaufen sich die Kosten einer 45- minütigen Folge eines Scripted Reality-Formats auf ca. 40.000 Euro (Weiß & Ahrens, 2012a, S. 61). Eine Episode der Daily Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ (RTL) kostet bspw. das Doppelte (Sarkar, 2012, o.S.). Scripted Reality zeichnet sich daher als kostengünstige, zeit- sparende und zudem erfolgreiche Sendungsform aus und nimmt damit nicht ohne Grund einen großen Teil der Sendezeit ein. Die Zuschauer scheinen Gefallen an der inszenierten Wirklich- keit gefunden zu haben. Dabei ist es für sie eher zweitrangig, ob die dargestellten Konflikte wirklich so geschehen und authentisch sind, sie interessieren sich vordergründig für ein fesselndes und glaubhaftes Programm. Eine Umfrage bestätigt diese Annahme: 80 %2 der Rezipienten sind sich darüber im Klaren, dass es sich bei den Scripted Reality-Formaten um erfundene Geschichten handelt, und schalten trotzdem ein (von Gottberg, 2011, S. 77). Der große Anklang beim Publikum äußert sich auch in den TV-Quoten. Einzelne Formate können sich teilweise über einen Marktanteil von bis zu 35 % freuen (Bergmann et al., 2012, S. 4).

Betrachtet man rückblickend die Entwicklung der verschiedenen Sendungsformen des Reality TV lässt sich feststellen, dass eine Art Wandel im Begriffsverständnis stattfand. An die Stelle der Information trat die Unterhaltung der breiten Masse. Die Wirklichkeit wird im Fernsehen sowohl in Nachrichten- als auch in den Unterhaltungssendungen zunehmend inszeniert und soll so immer mehr Zuschauer ansprechen. Mit der Zeit ließ das Interesse am Spektakulären nach und man wandte sich dem Alltäglichen zu. Das Publikum hat genug von tragischen Schicksalen und Emotionen, den Themen der frühen 1990er Jahre, es befasst sich lieber mit dem narrativ aufbereiteten Alltag des Einzelnen (Göttlich, 2001, S. 79). Diesen findet man in den Scripted Reality-Formaten wieder. Nachdem die nachmittäglichen Talkshows im Pro- gramm der kommerziellen Fernsehsender durch die Gerichtsshows ersetzt wurden, folgten kurze Zeit später die „gescripteten Doku-Soaps“. Nachdem diese nun im programmstrukturel- len Kontext des Realitätsfernsehens lokalisiert wurden, folgt eine detaillierte Beschreibung des Subgenre.

2.3 Charakteristische Merkmale des Scripted Reality

Bei Scripted Reality, das seit 2009 auf fast allen privaten Kanälen zu sehen ist, handelt es sich im Wesentlichen um Sendungen, die auf erfundenen Geschichten sowie einem Drehbuch basieren und wie Dokumentationen aussehen sollen. Da die Sendungen mit der Realität demzufolge kaum etwas gemein haben und dem dokumentarischen Erzählen ähneln, finden anstelle der Bezeichnung Scripted Reality für diese Art des Fernsehens des Öfteren auch die Begriffe „Scripted Entertainment“ (von Gottberg, 2012a, S. 33), „scripted documentary“, „scripted (Docu-)Soap“ (Hißnauer, 2011, S. 364) und „Pseudo-Doku“ Gebrauch. Da die Doku-Soap als Vorläufer des Scripted Reality gilt, liegt es nicht fern, dass die Begriffe von Seiten der Produktionsfirmen und Fernsehsender, in Fernsehzeitschriften und sogar in wissen- schaftlichen Beiträgen und Artikeln renommierter deutscher Wochenzeitungen, wie z.B. „Die Zeit“ (Pauer, 2010, o.S.), synonym verwendet werden.

Das Besondere an den Scripted Reality-Formaten ist, dass die Produktionsfirmen mit Laien- darstellern arbeiten, die entweder offiziell gecastet oder gar auf der Straße angesprochen werden. Aus einem Pool von teilweise bis zu 100.000 Laiendarstellern, die die Kölner Pro- duktionsfirma filmpool bspw. bereits in der Kartei hat, werden für jedes erfundene Fernseh- drama passende Charaktere ausgesucht (Tokarski, 2011, o.S.). Die meist unerfahrenen Prota- gonisten agieren beim Dreh nach vorgegebenen Handlungen und bereits formulierten Dialo- gen, die je nach Format mal mehr und mal weniger Raum für Improvisation lassen (Wolf, 2011, S. 44). Das heißt die Laiendarsteller geben die Inhalte zum Teil nur sinngemäß wieder, bringen ihre eigene Sprache mit ein und wirken so authentischer (Bergmann et al., 2012, S. 4). Dass die schauspielerischen Fähigkeiten der Laiendarsteller meist schlecht bewertet werden, scheint keine negativen Auswirkungen auf den Erfolg der Formate zu haben. Im Gegenteil: Der Quotenerfolg kam erst durch den Einsatz von Laien, die fiktive Persönlichkeiten in erfundenen Geschichten verkörpern. „Das unbeholfene Spiel, das hilflose Grimassieren, das Aufsagen alberner Sätze, alles erhöht paradoxerweise die Glaubwürdigkeit: Wer so mies spielt, muss ‚echt‘ sein“ (Kissler, 2010, o.S.).

Als Drehorte dienen vorwiegend reale Privatwohnungen bzw. eigens angemietete Räume oder auch die offene Straße (ebd.; Götz, Holler, Bulla & Gruber, 2012, S. 15). Die Sendungen werden also nicht in einem künstlichen Studio aufgenommen. Ein weiteres charakteristisches Merkmal der Scripted Reality-Formate ist der Einsatz von dokumentarischen Stilmitteln, die Realität vortäuschen. Unkenntlich gemachte Namen, Klingelschilder und Autokennzeichen sowie Pieptöne beim Sprechen der Protagonisten erwecken den Anschein, es handle sich um eine Dokumentation (Bergmann et al., 2012, S. 15f.; Götz et al., 2012, S. 12). Zudem wird die Kamera zur Verdeutlichung der Authentizität bewusst eingesetzt. Heimliches Filmen an Orten wie dem Gerichtssaal oder dem Arbeitsamt, an denen normalerweise nicht gedreht werden darf, sowie eine wackelige Kameraführung lassen den Zuschauer glauben, das Kamerateam begleite lediglich reale Menschen im Alltag oder bei besonderen Ereignissen. Durch direkte Äußerungen der Protagonisten in die Kamera sowie durch die Offstimme, die als Erzählin- stanz fungiert, grenzen sich die Scripted Reality-Formate eindeutig von als fiktional erkenn- baren Serien ab (Götz et al., 2012, S. 12ff.). Die Inhalte der Sendungen umfassen hauptsäch- lich Alltagsprobleme, die sich um die Themen Familie und Beruf drehen, sozial abweichendes Verhalten und den Bereich Recht und Ordnung, bei dem zum Teil auch private oder staatliche Ermittler eingesetzt werden (Mikos, 2013, S. 128). Dabei wird in den einzelnen Folgen zumeist ein Konflikt thematisiert und gelöst. Laut Felix Wesseler, Pressesprecher der Produk- tionsfirma filmpool, folgt jede Sendung sozusagen einer „klassischen Heldenreise“ (von Gottberg, 2012a, S. 34). Auch wenn der Streit und die Konflikte einmal nicht positiv ausge- hen, so vermitteln die Formate darüber hinaus jedoch sehr häufig moralische Botschaften (Bergmann et al., 2012, S. 27). Ein weiteres Merkmal der Formate ist also, dass die zumeist individuellen zwischenmenschlichen Probleme am Ende der Sendung „im Sinne des gesell- schaftlichen Wertekonsens“ gelöst werden (ebd., S. 28). Eine Ausnahme bilden in dieser Hinsicht diejenigen Scripted Reality-Formate, die nicht wie eine klassische Episoden-, son- dern wie eine Fortsetzungsserie bzw. Daily Soap konzipiert sind. Um die Zuschauer noch mehr an das Programm und den Sender zu binden, verknüpft man die Scripted Reality- Formate mit Elementen der Daily Soap und lässt mehrere Erzählstränge nebeneinander bestehen (von Gottberg, 2012b, S. 53). Die Konflikte werden in diesem Fall nur oberflächlich gelöst und bringen wiederum neue Konflikte mit sich. Wie viele Scripted Reality-Formate im deutschen Fernsehen diesem Konzept folgen und wie viele und welche Formate dieser fiktio- nalen Sendungsform generell ausgestrahlt werden, wird nachfolgend dargestellt.

2.4 Scripted Reality-Formate im deutschen Fernsehen

Wie bereits dargelegt, füllen die Scripted Reality-Formate nicht nur preiswert das Programm, sondern versprechen gleichzeitig auch hohe Zuschauerzahlen. Die privaten Fernsehsender der ProSiebenSat.1 Media AG und der RTL Group greifen daher nicht ohne Grund immer häufi- ger auf diese Formate zurück (Krüger, 2011, S. 215f.). Innerhalb der ALM-Studie, die von der Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten regelmäßig in Auftrag gegeben wird und die sich mit den Programmstrukturen der reichweitenstärksten Fernsehvollprogramme befasst, wurden die fiktionalen Programminhalte und damit auch das Scripted Reality genauer ins Auge gefasst. Abbildung 3 zeigt eine Übersicht des zeitlichen Umfangs der Formate der fiktionalen Fernsehunterhaltung acht verschiedener Fernsehsender an einem durchschnittli- chen Wochentag. Dabei wurden die Scripted Reality-Formate neben den konventionellen fiktionalen Sendungen, wie z.B. Spielfilmen und Fernsehserien, aufgeführt. Als Grundlage für die Daten dient als Stichprobe eine Kalenderwoche im Frühjahr 2012.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

Abbildung 3: Formate der fiktionalen Fernsehunterhaltung 2012 Quelle: Trebbe & Schwotzer (2013, S. 39)

Auf den ersten Blick lässt sich feststellen, dass die gescripteten Formate mittlerweile einen beachtlichen Teil der Sendezeit einnehmen. Insbesondere das Programm von VOX und SAT.1 weist inzwischen mehr Sendungen im Bereich Scripted Reality als konventionelle fiktionale Sendungsformen auf. Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten setzen hingegen vorwiegend auf Spielfilme und Serien, ihr Programm enthält nicht ein einziges Scripted Reality-Format.

Ähnliches stellte sich auch im Stichprobenmonat der vorliegenden Studie heraus. In dem Zeitraum von 01.07.2013 bis 01.08.2013 konnten insgesamt 20 Formate dem Bereich Scripted Reality zugeordnet werden. Da es sowohl für Laien als auch für Programmexperten eher schwer ist, einzuschätzen, ob ein Fernsehformat auf einem Drehbuch basiert und damit frei erfunden ist, werden nur die Scripted Reality-Formate in die Studie miteinbezogen, die seitens ihrer Produktionsfirmen und der Sendeanstalten ausdrücklich als solche ausgewiesen werden bzw., die im Vor- oder Abspann explizit auf das „Scripten“ ihrer Fälle hinweisen. Die 20 Formate verteilen sich hinsichtlich ihrer Anzahl relativ gleichmäßig auf die vier privaten Fernsehvollprogramme RTL, RTL2, VOX und SAT.1.

Bei zwei der identifizierten Formate handelt es sich um fiktionalisierte Gerichtssendungen, die bereits seit über 10 Jahren im deutschen Fernsehen ausgestrahlt werden. Die Sendungen „Richter Alexander Hold“ und „Richterin Barbara Salesch“ sind bei SAT.1 im Programm und gelten trotz der Tatsache, dass die eingesetzten Richter keine reinen Darsteller sind, sondern den Beruf wirklich erlernt haben, als fiktionale Formate (Brauer, 2007, S. 41). Auch im Scripted Reality-Format „mieten, kaufen, wohnen“, das vom Fernsehsender VOX täglich ausgestrahlt wird, werden echte Makler als Darsteller eingesetzt. Laut VOX-Sprecherin Julia Kikillis werden hier mit schauspielernden Wohnungssuchenden Immobilien-Geschichten frei nacherzählt, die sich in etwa bereits so zugetragen haben oder zugetragen haben könnten (Linder, 2012, o.S.). Weitere drei Formate zählen zu den sogenannten Fortsetzungsserien, die wie eine Daily Soap aufgebaut sind. Sie erhalten den größten Zuspruch bei den Zuschauern und erzielen herausragende Einschaltquoten (Kohlmaier, 2013, o.S.; Roßmann, 2013, o.S.). Die ursprünglich nur auf ein paar wenige Folgen konzipierte Sendung „Berlin - Tag & Nacht“ (RTL2) stellte sich z.B. schon nach kurzer Zeit als Quotengarant heraus. Ihr Nachfol- ger „Köln 50667“ folgte diesem Beispiel. In den Formaten zu denen auch die Sendung „X- Diaries - love, sun and fun“ hinzuzählt dreht sich alles entweder um Begebenheiten am Urlaubsort oder um eine Berliner bzw. Kölner WG und deren alltägliche und auch außerge- wöhnliche Dramen wie z.B. Untreue, Drogenmissbrauch und Schwangerschaftsabbruch. Parallel zur Fernsehserie ist das Format auch im Internet präsent und dabei überaus erfolg- reich. Es bietet den Rezipienten direkten und permanenten Kontakt (von Gottberg, 2012a, S. 55) und sorgt damit für eine noch engere Zuschauerbindung. Anders ist dies bei den restlichen 14 Scripted Reality-Formaten, zu denen z.B. die Formate „Die Trovatos - Detektive decken auf“ (RTL) und „Schicksale - und plötzlich ist alles anders“ (SAT.1) gehören. Diese sind im Internet kaum vertreten und befassen sich in jeder Folge mit einem neuen Konflikt. Sie thematisieren vorwiegend Familien- und Beziehungsprobleme sowie dramatische Schicksale und nehmen den Großteil der Sendezeit am Nachmittag ein.

3 Medienwirkungsforschung

Wie anfänglich erläutert bildet die Analyse der Nutzungsmotivation der Scripted Reality- Rezipienten den Kern der vorliegenden wissenschaftlichen Studie. Aufgrund der Neuartigkeit dieses Subgenre liegen derzeit jedoch kaum Forschungsergebnisse zur Rezeptionsmotivation des Scripted Reality vor. Da die allgemeinen Motive der Fernsehnutzung in den letzten Jahrzenten allerdings bereits ausführlich untersucht wurden und einige Wissenschaftler sich darauffolgend mit verwandten Genres des Scripted Reality befassten, wird im dritten Kapitel auf diese Untersuchungen und deren Hintergrund eingegangen. Um einen theoretischen Rahmen für die vorliegende Arbeit zu schaffen, folgt, nachdem im letzten Kapitel die Ur- sprünge des Realitätsfernsehens und dessen Subgenre Scripted Reality mit seinen charakteris- tischen Merkmalen und aktuellen Formaten näher beleuchtet wurden, nun die Darstellung des kommunikationswissenschaftlichen Hintergrundes der Medienzuwendung. Dabei wird ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand der Fernsehnutzungsmotive sowie den Einfluss verschiedener Faktoren auf diese gegeben. Anschließend werden Erkenntnisse thematisch relevanter Studien vorgestellt.

3.1 Der Uses-and-Gratifications-Ansatz

Da die Untersuchung von Mediennutzungsmotiven in der Forschungstradition des U&GAnsatzes steht, dient dieser als Fundament für die vorliegende Studie. Aufgrund der Vielzahl an Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen zu dieser Theorie ist es kaum möglich den aktuellen Stand der Forschung auf einigen wenigen Seiten wiederzugeben. Um trotzdem einen möglichst vollständigen Überblick zu geben, wird neben den Grundlagen des Ansatzes und seinen Weiterentwicklungen auch die daran geäußerte Kritik dargelegt.

3.1.1 Konzept und Ursprung

Der U&G-Ansatz, auch „Nutzen-und-Belohnungsansatz“ genannt, ist eine Theorie bzw. eine Art Forschungsrichtung, die sich als eine Antwort auf das klassische Stimulus-Response- Modell der frühen Kommunikationsforschung und als einen Teil der umfassenden Medien- wirkungsforschung beschreiben lässt (Bonfadelli, 2004, S. 27ff., Merten, 1984, S. 66). In der Tradition der Wirkungsforschung untersuchte man über Jahrzehnte hinweg die Einflüsse der Medieninhalte auf einen eher passiven Rezipienten. Im Mittelpunkt dieser Forschungsper- spektive standen damit universelle Medienwirkungen, die als einfaches Reiz-Reaktions- Konstrukt auf jede Person den gleichen Einfluss ausüben. Interessen, Bedürfnisse, Motive und auch persönliche Merkmale der Rezipienten fanden keinerlei Beachtung. Mit der Erweiterung des Stimulus-Response-Modells zum Stimulus-Organismus-Response-Modell, bei dem Stimuli der Medien zuerst auf intervenierende Organismus-Variablen wie z.B. die Einstellung eines Rezipienten treffen, bevor sie eine Reaktion auslösen, wandte man sich in gewisser Weise den Rezipienten zu und tat einen ersten Schritt in Richtung der U&G-Forschung (Bonfadelli, 2004, S. 31f., Schweiger, 2007. S. 61). Im Umkreis von Lazarsfeld erschienen in den 40er Jahren erste Arbeiten, die Publikumsinteressen bei der Beschreibung der Mediennut- zung berücksichtigten (Schenk, 2007, S. 681, Vorderer, 1992, S.17). So führte Herzog (1940, 1941, 1944) als eine der ersten Kommunikationsforscher mehrere Studien durch, die Auf- schluss über die Gratifikationen der Rezipienten von Quizsendungen im Radio und täglichen Hörfunksendungen liefern sollten. In ihrer Gratifikations-Studie „Professor Quiz“ (1940) kam Herzog auf der Basis mehrerer Interviews mit Zuhörern zu dem Ergebnis, dass das Quiz sehr vielfältige Reize bietet. So wenden sich die Hörer dem Programm aufgrund des Wettbewerbs, des sportlichen Ehrgeizes, des Bildungserwerbs und der Selbsteinschätzung zu (Klaus, 2008, S. 233). In einer weiteren Studie stellte sich Herzog die Frage „What do we really know about daytime serials and what satisfactions do listeners say they derive from daytime serials?“ (1944) und befasste sich damit, welche Belohnungen Hausfrauen durch das Anhören täglicher Radio-Serien bzw. Seifenopern erhalten. Bei einer Stichprobe von ca. 12.000 Befragten resultierten auch hier verschiedene Zuwendungsgründe (Schenk, 2007, S. 682). Die Sendung dient als Ratgeber und bietet zugleich emotionale Erfüllung (ebd.). Nicht nur die Studien von Herzog, sondern auch die Arbeiten von Lazarsfeld und seinen Kollegen (1944) sowie weitere Forschungen (z.B. Berelson, 1949; Warner & Henry, 1948) in diesem Bereich lassen darauf schließen, dass Rezipienten die Medien aus bestimmten Gründen und zur Befriedigung verschiedener Bedürfnisse nutzen und damit eine aktive Rolle einnehmen. Diese frühe For- schung, die eher Medienmotive beschrieb und nicht direkt U&G-Modelle verwendete, gilt daher als Vorläufer der einschlägigen Erklärungsansätze zum Mediennutzungsverhalten, die einige Jahre später aufkamen (Rubin, 2000, S. 139; Schweiger, 2007, S. 60).

Obwohl der U&G-Ansatz bereits in den 40er Jahren thematisiert wurde, erlebte er seine Blüte erst in den 70er und 80er Jahren, die durch das vermehrte Aufkommen des Kabelfernsehen und damit einen Sender- und Programmzuwachs gekennzeichnet waren (Schweiger, 2007, S. 60). Gleichzeitig traten verstärkt Diskussionen um die Wirkungen der Massenmedien auf und ganz neue Fragestellungen rückten in den Vordergrund (Bonfadelli, 2004, S. 27; Suckfüll, 2004, S. 20). Das Augenmerk sollte nicht mehr länger auf den Auswirkungen der medialen Reize, sondern auf dem Rezipienten und dessen Aktivitäten im massenmedialen Kommunikationsprozess liegen. Katz (1959) kehrte die klassische und bis dato gängige Frage des Wirkungsansatzes um und gab damit den entscheidenden Anstoß, den Rezipienten als aktiv zu betrachten:

The direction I have in mind has been variously called the functional approach to the media, or the "uses and gratifications" approach. It is the program that asks the question, not "What do the media do to people?" but, "What do people do with the media?". (S. 2)

Der U&G-Ansatz ist nach Katz (1959, S. 3) demnach als publikumszentrierte Theorie zu verstehen, die davon ausgeht, dass die Menschen den Massenmedien aktiv gegenüberstehen und ihre Werte, ihre Interessen, ihre Verbindungen und ihre sozialen Rollen im Vorhinein wirken und sie das, was sie sehen und hören, entsprechend diesen Interessen selektiv gestalten. Diesen grundlegenden Gedanken griffen Katz, Blumler und Gurevitch (1974, S. 21f.) in ihrem Werk „Utilization of Mass Communication by the Individual“ auf und formulierten fünf Grundannahmen, die den U&G-Ansatz kennzeichnen:

- Das Publikum der Massenmedien ist aktiv, es besitzt Eigeninitiative und Zielstrebig- keit und handelt sinnhaft. Der Rezipient stellt bei gegebenen psychischen Dispositionen und sozialen Rollen Erwartungen an die Massenmedien.
- Die Initiative zur Medienzuwendung liegt auf Seiten des Rezipienten, er entscheidet, ob ein Kommunikationsprozess stattfindet oder nicht.
- Die Massenmedien konkurrieren untereinander und mit anderen Quellen der Bedürf- nisbefriedigung. Es müssen funktionale und nicht-mediale Alternativen zur Mediennutzung berücksichtigt werden.
- Die Rezipienten sind dazu fähig, ihre Ziele, Interessen und Bedürfnisse anzugeben, die sie veranlassen, die Massenmedien zu nutzen.
- Die Handlungsorientierungen der Rezipienten werden in deren eigenen Kategorien ermittelt, also so, wie sie ihre Nutzung der Massenmedien selbst verstehen.

Anders als in den klassischen behavioristischen Stimulus-Response-Modellen wird im U&G- Ansatz also der Mediennutzer als ausschlaggebend betrachtet. Ihm wird ein rationales Verhal- ten zugrunde gelegt, da er Massenmedien bewusst konsumiert und dadurch bestimmte Be- dürfnisse befriedigt. Dabei entscheiden die einzelnen Rezipienten auf der Basis der eigenen, individuellen Bedürfnisse und Erwartungen, ob, in welchem Umfang und zu welchem Zweck sie die Medien nutzen. Diese Bedürfnisse und Erwartungen hängen wiederum von den per- sönlichen Eigenschaften und Merkmalen des Rezipienten sowie von seiner sozialen Umge- bung und dem Umfang interpersoneller Interaktion ab und fungieren als „konzeptuelle Filter bei der Verarbeitung von Medienbotschaften“ (Rubin, 2000, S. 139). Zu beachten ist bei dieser Theorie zudem, dass gleiche mediale Angebote unterschiedliche Bedürfnisse befriedi- gen und dementsprechend nicht für jeden den gleichen Zweck erfüllen. Während eine Person bspw. beim Fernsehen entspannen kann, schaltet eine andere Person den Fernseher ein, um unterhalten zu werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

Abbildung 4: Elemente des Nutzen- und Belohnungsansatzes Quelle: Schenk (2007, S. 686)

Fasst man diese grundlegenden Aspekte in einer Forschungskette zusammen, lässt sich nachfolgende Aussage machen: Die Gratifikationsforschung befasst sich mit (1) den sozialen und psychologischen Ursprüngen von (2) Bedürfnissen, die (3) Erwartungen an (4) die Massenmedien oder andere (nicht-mediale) Quellen stellen und die zu (5) verschiedenen Mustern der Medienexposition (oder zu anderen Aktivitäten) führen, woraus (6) eine Bedürf- nisbefriedigung und (7) andere (möglicherweise unbeabsichtigte) Konsequenzen resultieren (ebd.; Schenk, 2007, S. 686).

Damit war der theoretische Rahmen des U&G-Ansatzes gegeben. Zahlreiche Kommunikati- onswissenschaftler übernahmen diese Sichtweise, führten die Annahmen weiter und ergänzten sie. Dabei setzten die verschiedenen Ansätze innerhalb der Forschungsrichtung unterschiedli- che Schwerpunkte, orientierten sich aber zumeist an den formulierten grundlegenden Prämis- sen.

3.1.2 Prozessmodelle und Weiterentwicklungen

Nachdem der U&G-Ansatz anhand seiner grundlegenden Aspekte skizziert wurde, werden im Folgenden drei der bekanntesten und am häufigsten zitierten Prozessmodelle und Weiterentwicklungen, die durchaus als eigene Theorien betrachtet werden können, vorgestellt.

Bereits relativ früh erkannten die U&G-Forscher (z.B. Greenberg, 1974; Palmgreen, 1984; Rosengren, 1974), dass man zwischen den Motiven für die Mediennutzung und der tatsächli- chen Befriedigung der Bedürfnisse durch die Medien unterscheiden muss (Schweiger, 2007, S. 85). Eine solche Unterscheidung ermöglicht es nicht nur, Aussagen über das zukünftige Medienverhalten der Rezipienten zu treffen sondern es liefert auch Erkenntnisse darüber, ob aktuelle Medieninhalte den Publikumswünschen entsprechen oder ob Anpassungen notwen- dig sind. In diesem Zusammenhang betrachtet man in der Literatur zum einen die gesuchten Gratifikationen (= gratification sought (GS)) und zum anderen die wahrgenommenen erhalte- nen Gratifikationen (= gratification obtained (GO)) als Folge des Medienhandelns und stellt sie gegenüber. Je niedriger die Diskrepanz zwischen GS und GO, desto besser eignet sich ein Medium zur Bedürfnisbefriedigung und desto häufiger wird sich das Publikum bei ähnlichen Bedürfnissen diesem zuwenden (Palmgreen, Wenner & Rayburn, 1980). Dabei sollte erwähnt werden, dass eine vollständige Übereinstimmung der gesuchten und erhaltenen Gratifikatio- nen als Idealfall angesehen wird, in der Realität trifft man aber eher auf eine starke Unzufrie- denheit (Palmgreen, 1984, S. 54). Ist die Diskrepanz zwischen GS und GO hoch, werden die Erwartungen des Rezipienten demnach nicht (vollständig) erfüllt. Er wird zukünftig verschie- dene Alternativen vergleichen und sich für die Variante mit der höchsten Gratifikationserwar- tung entscheiden. Abbildung 5 stellt das Erwartungs-Bewertungs-Modell nach Palmgreen (1984, S. 56) dar, das die Unterscheidung zwischen GS und GO berücksichtigt. Wie die Bezeichnung des Modells bereits verdeutlicht, nehmen auch in Palmgreens Ausdifferenzie- rung die Erwartungen des Rezipienten, die als wesentlicher Bestandteil der Annahme vom aktiven Mediennutzer innerhalb des U&G-Ansatzes gelten (ebd., S. 54), eine zentrale Position ein. Die gesuchten Gratifikationen setzen sich aus zwei Dimensionen zusammen: der Vorstel- lung bzw. Erwartung und der Bewertung. Die Erwartung entspricht in diesem Sinne der vermuteten Wahrscheinlichkeit, dass Medieninhalte bestimmte Eigenschaften besitzen und ihre Nutzung eine bestimmte Folge nach sich zieht (Palmgreen, 1984, S. 55). Die Rezipienten vergleichen also vor ihrer Entscheidung für eines der Medien die Gratifikationen, die sie von diesen jeweils zu erhalten glauben, und wählen davon das Medium mit der potentiell höchsten Gratifikation aus. Daneben steht die Bewertung dieser Phänomene, die in Palmgreens Modell als relativ stabiles Element definiert wird (ebd., S. 56).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

Abbildung 5: Erwartungs-Bewertungs-Modell Quelle: Palmgreen (1984, S. 56)

Die wahrgenommenen erhaltenen Gratifikationen lassen sich als eine Art episodische Nutzungserfahrungen beschreiben (Schweiger, 2007, S. 88). Das heißt, bei jedem neuen Mediennutzungsprozess entstehen einzelne Erfahrungen, die zum allgemeinen Medienwissen verdichtet werden (ebd.). Was den Ansatz schließlich zum Prozess macht ist damit die implizierte Feedback-Schleife. Durch sie sind die bereits gesammelten Erfahrungen der früheren Nutzungsepisoden, die der Mediennutzer für sein weiteres Medienverhalten berücksichtigt, mit der aktuellen Zuwendung zum Medium verbunden (ebd.).

Als weiteres elaboriertes Gratifikationsmodell ist Rosengrens Paradigma für die U&G- Forschung zu nennen (Rosengren, 1974, S. 271). Rosengren entwickelte ähnlich wie Katz et al. (1974) ein Modell, das den Kommunikationsvorgang beschreibt. Er bezog dabei allerdings weitere wichtige Differenzierungen mit ein und befasste sich mit „certain basic human needs of lower and higher order“ (Rosengren, 1974, S. 270f.), die in Interaktion mit verschiedenen Kombinationen intra- und extraindividueller Charakteristiken des Rezipienten sowie der ihn umgebenden gesellschaftlichen Struktur und der Medienstruktur verschiedene individuelle Probleme bzw. Defizite hervorrufen und das Individuum veranlassen, Lösungsmöglichkeiten dafür wahrzunehmen (ebd.). Abbildung 6 zeigt, dass die wahrgenommenen Probleme und Lösungen zu differentiellen Motiven bezüglich der Gratifikationssuche und dem Problemlö- severhalten führen, woraus wieder verschiedene Arten der aktuellen Mediennutzung und bzw. oder alternative Verhaltensweisen entstehen. Daraus resultieren Gratifikationen bzw. Nicht- Gratifikationen, die schließlich wiederum nicht nur die intra- und extraindividuellen Eigen- schaften der Rezipienten, sondern auch die Gesellschafts- und die Medienstruktur beeinflus- sen (ebd.). Im Gegensatz zum eher statischen Modell des U&G-Ansatzes von Katz et al. (1947) berücksichtigt Rosengrens Paradigma verschiedene Rückkopplungsmechanismen und ist durch eine gewisse Dynamik gekennzeichnet, wodurch es der Realität besser gerecht wird. Zudem wird nicht nur zwischen Bedürfnissen und deren Ursprüngen, sondern auch zwischen Bedürfnissen und Problemen sowie verhaltensspezifischen Motiven unterschieden (Schenk, 2007, S. 686). Dadurch, dass die von Rosengren einbezogenen Elemente allerdings auf der Mikro- und Makroebene zusammengeführt sind und gesellschaftliche und persönliche Elemente dauerhaft auf den Nutzungsprozess einwirken, gilt eine empirische Umsetzung seines Modells als problematisch (Schweiger, 2007, S. 89).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

Abbildung 6: Rosengrens Paradigma für die U&G-Forschung Quelle: Rosengren (1974, S. 271)

Das letzte der drei Prozessmodelle der U&G-Forschung, das in diesem Abschnitt vorgestellt wird, ist das Transaktionale Nutzen- und Belohnungs-Modell nach McLeod und Becker (1981, S. 73). Die Forscher entwickelten ein Modell, das, wie das Erwartungs-Bewertungs- Modell von Palmgreen (1984), gesuchte und erhaltene Gratifikationen einbezieht, sich durch verschiedene Merkmale allerdings wesentlich von diesem unterscheidet (Abbildung 7). Nach diesem Modell sucht ein Rezipient bestimmte Gratifikation, die auf dessen basale Bedürfnis- se, die soziale Situation und seinen persönlichen Hintergrund zurückzuführen sind. Unter Berücksichtigung der Gratifikationen bzw. Motive, die mehrere Ursprünge haben können, führt der Rezipient zunächst eine Beurteilung der zur Verfügung stehenden Verhaltensvarian- ten der Bedürfnisbefriedigung durch (Schweiger, 2007, S. 90). Dabei stützt er sich auf die Erfahrungen der vergangenen Mediennutzung. Auch dieses Modell enthält also eine Feed- back-Schleife (Rückkopplung), die in diesem Fall jedoch direkt vom gewählten Verhalten hin zur Bewertung der Mittel der Bedürfnisbefriedigung verläuft (ebd., S. 91). Der Rezipient entscheidet sich letztlich für das Verhalten, das ihm unter allen verfügbaren Varianten als das beste zur Bedürfnisbefriedigung erscheint (ebd., S. 90), woraus entweder eine Gratifikation bzw. Bedürfnisbefriedigung (subjektiver Effekt) oder eine unbeabsichtigte Folge (objektiver Effekt) resultiert (Schenk, 2007, S. 687).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

Abbildung 7: Transaktionales U&G-Modell nach McLeod & Becker (1981) Quelle: McLeod & Becker (1981, S. 73)

Als Besonderheit des Modells ist das Element „Verfügbarkeit“ zu betrachten. Durch den Aspekt, dass Rezipienten nur einige ihrer Bedürfnisse situativ zu befriedigen versuchen, weil für andere Bedürfnisse kein Mittel zur Befriedigung verfügbar ist, wird der Kritikpunkt am U&G-Ansatz, die Medien seien das optimale Mittel zur Bedürfnisbefriedung, entkräftet (Schweiger, 2007, S. 91). Ist neben der Mediennutzung keine vergleichbar attraktive (nichtmediale) Alternative vorhanden, greifen Rezipienten auf mediales Verhalten zurück, empfinden es vergleichsweise aber oftmals als eher defizitär (ebd.).

3.1.3 Kritik am Uses-and-Gratifications-Ansatz

Kaum ein anderer Ansatz der Kommunikationsforschung erfuhr eine derartige Kritik wie der U&G-Ansatz (z.B. Elliot, 1974; McLeod & Becker, 1981; McQuail, 1985; Merten, 1984; Vorderer, 1992). So lieferte er mit seiner zentralen Annahme eines aktiven und rational handelnden Rezipienten nicht nur die Grundlage für eine neue Sichtweise in der Medienwir- kungsforschung, er wurde auch zur Zielscheibe für zahlreiche Kritik. Durch die Weiterent- wicklungen des Ansatzes, wie bspw. das Erwartungs-Bewertungs-Modell, das eine Unter- scheidung zwischen gesuchten und erhaltenen Gratifikationen berücksichtigt, konnten zwar einige Kritikpunkte entschärft werden, jedoch liegen nach wie vor Unklarheiten vor. Obwohl es „sicherlich für die Tragfähigkeit dieses Ansatzes [spricht], wenn er trotz der steigenden Zahl kritischer Studien und Überprüfungen noch nicht verworfen wurde“ (Keller, 1992, S. 78), werden im Folgenden nun die wesentlichen Kritikpunkte diskutiert.

Der Haupteinwand gegen den U&G-Ansatz stellt in erster Linie seine Theorieschwäche bzw. Tautologie dar (Vorderer, 1992, S. 28). Diese begründet sich in der funktionalistischen Erklärungsstruktur der U&G-Logik, genauer gesagt in dem Versuch, die Mediennutzung durch menschliche Bedürfnisse zu erklären (ebd.). Da bislang noch keine grundlegende Theorie menschlicher Bedürfnisse vorliegt (abgesehen von der Theorie Maslows (1954)) und es demzufolge an einem adäquaten Bezugspunkt für die Mediennutzung mangelt, drehen sich die Forscher sozusagen im Kreis (ebd.). Sie gehen davon aus, dass die Medien aufgrund bestimmter Bedürfnisse genutzt werden, leiten die Bedürfnisse aber wiederum aus der Medi- ennutzung ab. Die U&G-Forschung gilt demnach nicht als eigenständige Theorie, sondern eher als eine Forschungsrichtung bzw. als ein Denkansatz, auf dessen Basis kommunikati- onswissenschaftliche Theorien mitsamt ihren Hypothesen entwickelt werden (Blumler & Katz, 1974, S. 15). Darüber hinaus bietet auch die Annahme eines zielgerichteten und rational handelnden Rezipienten Grund für Kritik. Es wird völlig außer Acht gelassen, dass die Medi- enzuwendung häufig habituell und impulsiv erfolgt (Meyen, 2004, S.17). Dadurch, dass sich Bedürfnisse, Motive und Erwartungen größtenteils aus unbewusstem und ritualisiertem Verhalten ergeben, sei es für die Rezipienten überhaupt nicht möglich in empirischen Unter- suchungen Auskunft über diese zu geben (Schweiger, 2007, S. 69). Dem U&G-Ansatz wird daher vorgeworfen, dass eine Operationalisierung der Bedürfnisse und Motive mittels Befra- gung und Selbstauskunft des Publikums nicht möglich bzw. nicht aussagekräftig sei. Dieser Kritik kann man allerdings entgegensetzen, dass das Verhalten, auch wenn es oft nicht be- wusst, sondern eher habituell erfolgt, im Nachhinein bewusst formuliert werden kann. Auch für eine gewohnheitsmäßige Mediennutzung kann es ursprünglich gute Gründe gegeben haben. So kann es durchaus als rational gelten, Gewohnheiten, die sich in der Vergangenheit als bewährt erwiesen haben, wie bspw. das tägliche Einschalten der Nachrichten zur Informa- tion, aufrechtzuerhalten (ebd., S. 70). Insbesondere von Vertretern eines ideologiekritischen Wissenschaftsverständnisses wird an der U&G-Forschung die sogenannte „konservativ- restaurative Perspektive“ kritisiert (Vorderer, 1992, S. 30). Die Annahme, die Mediennutzung diene grundsätzlich der Befriedigung vorhandener Bedürfnisse, rechtfertigt es, jedes Pro- gramm und jeden Inhalt als sinnvoll anzusehen. Dem Modell nach finden die Zuschauer Gefallen an dem, was sie sehen, woraus man schlussfolgern könnte, dass das Fernsehen nur das sendet, was die Rezipienten wünschen. Eine kritische Betrachtung des Medienangebots ist demzufolge nahezu unmöglich (ebd.). Der U&G-Ansatz berücksichtigt ferner nicht, dass der Sinn der Medienzuwendung auch in der Handlung selbst liegen kann und sich bspw. im Empfinden von Freude oder Genuss während der Rezeption äußert (ebd., S. 31). Es wird von einer instrumentell-utilitaristischen Perspektive ausgegangen, in der nur solche Ziele akzep- tiert werden, die jenseits der eigentlichen Handlung liegen (ebd.). Weiterhin wird dem U&G- Ansatz eine gewisse Medien- bzw. Inhaltsvergessenheit unterstellt (ebd., S. 32). Damit ist gemeint, dass weder eine ausreichende Auseinandersetzung mit den Medieninhalten erfolgt noch berücksichtigt wird, wie die Rezipienten die Inhalte verstehen (ebd.). Generell sind die Kritiker der Meinung, dass die Gratifikationsforschung sich zu sehr auf eine individualistische Perspektive und den selegierenden Rezipienten konzentriert und damit eine ziemlich einseiti- ge Betrachtungsweise vorherrscht (Keller, 1992, S. 78).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der U&G-Ansatz trotz aller Unzulänglichkeiten und Kritikpunkte weiterhin als der wichtigste Versuch gilt, die Mediennutzung über die Perspektive des Rezipienten zu erklären (Palmgreen, 1984, S. 59). Da er sich in bestehenden Studien durchaus als geeigneter theoretischer Bezugsrahmen herausstellte, dient er auch als Basis der vorliegenden Arbeit und damit der Beantwortung der Forschungsfragen.

3.2 Fernsehnutzungsmotive in der Uses-and-Gratifications-Forschung

Betrachtet man rückblickend die grundsätzlichen Annahmen des U&G-Ansatzes, dessen Ausdifferenzierungen sowie die Kritik, ist erkennbar, dass es an einer eindeutigen Kategorisierung und Systematisierung der Bedürfnisse und Motive mangelt. So stellen im Ansatz von Katz et al. (1974) die Bedürfnisse die Grundlage für die Medienauswahl dar, während in den Modellen von Rosengren (1974) und McLeod und Becker (1981) von Motiven und gesuchten Gratifikationen die Rede ist. Zum besseren Verständnis wird nachfolgend ein Blick auf die zentralen Erkenntnisse der Bedürfnis- und Motivforschung sowie speziell der Fernsehnutzungsmotivforschung im Kontext des U&G-Ansatz geworfen.

3.2.1 Bedürfnisse und Motive

Wie bereits geschildert, besagt eine grundsätzliche Annahme des U&G-Ansatzes, dass die Medien zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse und aufgrund bestimmter Motive genutzt werden. In der Literatur werden die Begriffe Bedürfnis und Motiv häufig synonym verwen- det, eine einheitliche Definition, geltend für alle Theorien, blieb bislang aus (Fuchs-Heinritz, Lautmann, Rammstedt & Wienold, 2007, S. 445). Grundsätzlich sind Bedürfnisse und Motive als Mangelzustand anzusehen, den ein Individuum mit Hilfe eines bestimmten (zielgerichteten) Verhaltens zu überwinden sucht (ebd., S. 77, S. 445). Eine Abgrenzung der beiden Begriffe erfolgt über ihre Rang- bzw. Reihenfolge: man spürt zuerst ein allgemeines Mangelgefühl (Bedürfnis) wie z.B. Hunger, und darauf folgt ein gezieltes Mangelgefühl (Motiv) wie z.B. das Essen eines Apfels (Meyen, 2004, S. 18).

Von verschiedenen Versuchen, Motive und Bedürfnisse einzuordnen, ist die klassische Bedürfnishierarchie von Maslow (1954), die bereits von den frühen U&G-Theoretikern (z.B. Rosengren, 1974, S. 270) erwähnt wurde, die bekannteste. In seiner Theorie grenzt Maslow mehrere Bedürfnisgruppen voneinander ab und ordnet sie hierarchisch an. Der Mensch befriedigt also zuerst die Bedürfnisse der einen Stufe und wendet sich dann der nächsthöheren zu. Die einzelnen Bedürfnisse sind dabei unterschiedlich dringlich und werden nacheinander verhaltensrelevant (Maslow, 1999, S. 127ff.). Die Hierarchie, die insgesamt acht Bedürfnis- gruppen umfasst, beginnt mit den physiologischen Bedürfnissen wie bspw. Hunger, Sexualität und Entspannung. Hinsichtlich der Massenmedien nimmt das Bedürfnis nach Entspannung oder Spannung in der Unterhaltungsforschung eine zentrale Rolle ein (Schweiger, 2007, S. 76). An zweiter Stelle stehen die Sicherheitsbedürfnisse, die durch die Mediennutzung wohl am geringsten befriedigt werden können. Dennoch ist es durchaus denkbar, dass der Konsum massenmedialer Angebote Angstgefühle vermindert oder Ruhe und Behaglichkeit hervorruft (ebd.). Nach der Befriedigung biologischer und sicherheitsbezogener Bedürfnisse wendet sich der Mensch den sozialen Bedürfnissen zu. Hierzu zählt der Wunsch nach Zunei- gung, Liebe und Gesellschaft. Die Massenmedien dienen hier als Gesprächsgrundlage für die Anschlusskommunikation. Zudem spielen sie, wie später genauer erläutert wird, für das Bedürfnis nach parasozialer Interaktion insbesondere bei einsamen Menschen eine entschei- dende Rolle (ebd.). Die vierte Stufe nimmt das Selbstwertbedürfnis ein, das sich in einem Streben nach sozialem Vergleich und Status sowie Anerkennung äußert. Neben dem Lesen einer prestigeträchtigen Zeitung wird das Motiv, das Selbstwertgefühl zu heben, auch im Zusammenhang mit fiktiven Medieninhalten beobachtet. Menschen tendieren dazu, ihre Person und ihre Situation mit Serienfiguren, wie man sie bspw. in Scripted Reality-Formaten findet, zu vergleichen, um einzuschätzen, ob sie einem Vergleich mit diesen standhalten oder womöglich sogar besser abschneiden (ebd.). An fünfter Stelle stehen kognitive Bedürfnisse, die das Streben nach Wissen, Verstehen und neuen Reizen sowie die menschliche Neugier umfassen. Sie können bspw. durch die Nutzung von Informationsangeboten oder auch Nach- richten befriedigt werden (ebd.). Auf der nächsten Stufe geht es um die ästhetischen Bedürf- nisse. In medialer Hinsicht tragen hier z.B. Konzert- und Theaterübertragungen im Fernsehen sowie Kunstfilme der Befriedigung des Bedürfnisses nach Ordnung und Schönheit bei (ebd., S. 77). Die beiden höchsten Stufen umfassen das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Transzendenz. Sie beinhalten nicht nur die Verwirklichung der eigenen Träume und das Ausschöpfen des eigenen Potentials, sondern auch religiöse bzw. spirituelle Bedürfnisse. Aufgrund ihrer esoterischen Orientierung und der dadurch erschwerten empirischen Überprüfbarkeit wird diese Bedürfnisgruppe in den meisten Untersuchungen nicht berücksichtigt (ebd.). Insgesamt gesehen werden die acht Stufen der Bedürfnishierarchie wiederum in zwei große Bereiche eingeteilt: Defizit- und Wachstumsmotive. Die vier untersten Stufen beinhalten die Defizitmotive, die sich durch einen Mangel an bedürfnisbefriedigenden Reizen ergeben, während die oberen vier Stufen Wachstumsmotive beschreiben, die einen Menschen dazu veranlassen, über sich selbst hinauszuwachsen (ebd.).

3.2.2 Motivkataloge

Wie man sieht, ist die Liste menschlicher Bedürfnisse und Motive sehr lang, wobei ein Großteil dieser ein Verhalten hervorruft, das mit der Mediennutzung im Grunde nicht viel zu tun hat. Innerhalb der U&G-Forschung beschränkt man sich deshalb auf Bedürfnisse, die sich durch Mediennutzung befriedigen lassen, und entwickelte über viele Jahre hinweg eine beachtliche Anzahl an eigenen Bedürfnis- bzw. Motivkatalogen, die auch heute noch als Grundlage vieler Forschungsarbeiten dienen.

Als für die Forschungsentwicklung wegweisende Studie gilt die „Israel-Studie“ von Katz, Gurevitch und Haas (1973). Diese setzten sich das Ziel, in ihrer Untersuchung herauszufin- den, welche Bedürfnisse die insgesamt 1500 in Israel lebenden Befragten als wichtig empfin- den, und inwiefern die verschiedenen Medien zur Erfüllung derselben beitragen. Neben dem Fernsehen, dem Radio und der Zeitung wurden auch Bücher und Filme (Kino) berücksichtigt (ebd., S. 165). Anhand der bestehenden Literatur identifizierten die Autoren 35 unterschiedli- che medienbezogene Bedürfnisse, die mithilfe eines dreidimensionalen Rasters klassifiziert wurden (ebd., S. 166). Daraus ergaben sich fünf soziale und psychologische Bedürfniskatego- rien: kognitive Bedürfnisse (z.B. Wissenserwerb und besseres Verständnis), affektive Bedürf- nisse (z.B. Erweiterung angenehmer und emotionaler Erfahrungen), persönlich-integrative Bedürfnisse (z.B. Stärkung des Selbstvertrauens und der Glaubwürdigkeit), sozial-integrative Bedürfnisse (z.B. Intensivierung des Kontakts zu Familie und Freunden) sowie das Bedürfnis nach Ablenkung bzw. Spannungsabbau (z.B. Verminderung des Kontakts zu anderen). Es zeigte sich, dass insbesondere die Zeitung der Bedürfnisbefriedigung dient, während der Hörfunk für kein Bedürfnis als hilfreich empfunden wird (ebd. S. 169ff.). Katz und seine Kollegen kamen unter anderem zu dem Ergebnis, dass das Fernsehen insbesondere zum Zeitvertreib, zur Unterhaltung und zum Zusammensein mit der Familie, genutzt wird (ebd.). Das deutsche Pendant zu dieser Studie stellt der Infratest (1975) im Auftrag der Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems dar. In Anlehnung an die Israel- Studie wurden die subjektiven Bedingungsfaktoren der Mediennutzung in der Bundesrepublik Deutschland untersucht und 2000 ausgewählte Personen zu 27 kommunikationsrelevanten Absichten (z.B. „Mich nicht einsam zu fühlen.“) befragt (Bonfadelli, 2004, S. 178). Die Ergebnisse zeigten, dass den Teilnehmern nicht alle Absichten gleich wichtig waren. So schrieben die Befragten insbesondere dem sozialen Kontakt, der Entspannung und der Le- benshilfe einen großen Wert zu (ebd.). Im Vordergrund stand für sie das Bedürfnis nach Unterhaltung und Information (ebd.). Anders als in der Israel-Studie stellte im Infratest das Fernsehen an Stelle der Zeitung das universellste Medium dar (ebd.). Zugleich erwies sich jedoch das persönliche zwischenmenschliche Gespräch für nahezu alle Bedürfnisgruppen als bevorzugte Gratifikationsquelle (ebd.).

Auch Palmgreen, dessen Erwartungs-Bewertungs-Modell bereits vorgestellt wurde, brachte in einer Studie verschiedene Motivdimensionen hervor (Palmgreen et al., 1980, S. 169f.). Rezipienten suchen in den Medien nach allgemeinen Informationen über ihre Umwelt und zudem nach speziellen Informationen, die sie in ihrer Entscheidungsfindung und Meinungs- bildung unterstützen (ebd.). Zusätzlich dienen die Medien zur Unterhaltung und als Ge- sprächsstoff, und stellen für die Rezipienten eine Plattform dar, die es ermöglicht, parasoziale Beziehungen mit Fernsehfiguren einzugehen (ebd.). Eine weitere bedeutsame Studie, in der die Fernsehnutzung britischer Schüler untersucht wurde, stammt von Greenberg (1974). Er befragte 726 Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 15 Jahren zu ihren Fernsehgewohn- heiten und den Gründen für die Zuwendung. Dabei stellte er eine Motivskala auf, die aus acht Dimensionen und insgesamt 31 Fernsehnutzungs-Items besteht (ebd., S. 91). Die acht Dimen- sionen lauten: Entspannung („Relaxation“), Geselligkeit („Companionship“), Information („Learning about Things“), Gewohnheit („Habit“), Zeitvertreib („To Pass Time“), Selbstfin- dung („Learning about Myself“), Spannung („Arousal“) und Realitätsflucht („To Forget“). Nachdem sich Greenbergs Skala durch Methodentests als reliabel erwiesen hatte, fungierte sie als Vorbild zahlreicher weiterer Nutzungsmotiv-Forschungen im amerikanischen Raum (Schenk, 2007, S. 699). In seiner Studie „Television Use by Children and Adolescents“ setzte Rubin (1979) eine gekürzte Version des Motivkatalogs von Greenberg ein, um herauszufin- den, welche Fernsehnutzungsmotive bei 9- bis 17-jährigen Kindern und Jugendlichen eine große Rolle spielen (S. 111). Rubin identifizierte dabei sechs Nutzungsmotive (Lernen, Zeitvertreib/Gewohnheit, Geselligkeit, Eskapismus, Anregung/Spannung, Entspannung) und schlussfolgert ähnlich wie auch Greenberg (1974), dass bspw. zwischen den Motiven der Fernsehnutzung und der Fernsehdauer sowie der Affinität zum Fernsehen ein Zusammenhang besteht (ebd., S. 118). Weiterhin ist eine Forschungsarbeit von Rubin und Perse (1987) aufzuführen, in der die Nutzungsmotivation von über 300 „Soap Opera“-Rezipienten unter- sucht wurde. Die Autoren arbeiteten mit einer aus verschiedenen Studien zusammengesetzten Motivskala, bestehend aus 30 Items, und ermittelten in ähnlicher Form ebenfalls sechs Fakto- ren, die die Zuwendung zu Seifenopern beschreiben: Spannung/Unterhaltung, Zeitvertreib, Voyeurismus, Eskapismus/Entspannung, Information und soziale Nützlichkeit (ebd., S. 258f.).

Durch die Aufzählung der verschiedenen Studien mitsamt ihren Ergebnissen wird deutlich, dass sich die einzelnen Motivkataloge zwar ähneln, es allerdings kein allgemein gültiges Instrument zur Untersuchung der Fernsehnutzungsmotivation gibt. Gerade die Zuwendung zu speziellen Medieninhalten erfordert einen auf den Untersuchungsgegenstand ausgelegten und umfangreichen Motivkatalog. Bezüglich des Scripted Reality, das bislang kaum im Zentrum der Forschung stand, ist demzufolge auch mit einem breiten Spektrum an Motiven und Nut- zungsmustern zu rechnen. Zusammenfassend lassen sich nun einige Motive innerhalb der Medien- bzw. Fernsehnutzung nennen, die immer wieder auftauchen. In Anlehnung an Kunczik und Zipfel (2005, S. 345) sowie Schweiger (2007, S. 80f.) können vier „klassische“ Bedürfnisgruppen identifiziert werden:

1. Kognitive Bedürfnisse: Information, Wissenserwerb, Orientierung, Umweltbeobach- tung
2. Affektive Bedürfnisse: Entspannung, Erholung, Ablenkung, Verdrängung von Prob- lemen, Bekämpfung von Langeweile, Unterhaltung, Suche nach emotionaler Erregung
3. Soziale Bedürfnisse: Parasoziale Interaktion mit Medienakteuren, Anschlusskommu- nikation
4. Identitätsbedürfnisse: Selbstfindung, Suche nach Rollenvorbildern, Identifikation, Bestärkung von Werthaltungen, sozialer Vergleich der eigenen Situation mit der Situa- tion von Medienakteuren

Die Kategorisierung der einzelnen Bedürfnisse variiert je nach Studie und Forschungsgegen- stand. Es hängt also an der Unterteilungsstrategie ab, wie viele Motive ein Katalog enthält und wie diese schließlich gruppiert werden. Im Folgenden werden einzelne Konzepte und spezielle Rezeptionsmotive bzw. Motivdimensionen näher beleuchtet, denen die Forschung besondere Aufmerksamkeit schenkte und die auch für die vorliegende Studie von Bedeutung sind.

3.2.3 Instrumentelle und ritualisierte Mediennutzung

Anstatt die einzelnen Bedürfnisse bzw. Nutzungsmotive in mehrere Gruppen aufzuteilen, was bspw. Kunczik und Zipfel taten, unterscheiden einige U&G-Forscher lediglich zwischen instrumenteller und ritualisierter Mediennutzung. Handfeste Forschungsergebnisse, die zur Etablierung dieser Sichtweise beitrugen, stammen zu einem großen Teil von Rubin, der in zahlreichen nennenswerten Studien das Konzept des „aktiven Publikums“ im U&G-Ansatz untersuchte. In seiner Studie zur Nutzung der in den USA sehr populären Informationssen- dung „60 Minutes“ identifizierte Rubin (1981a) zwei Zuschauertypen, und unterschied damit zwischen einem eher aktiven und einem eher passiven Rezipienten. Die einen Zuschauer wiesen eine hohe Affinität zur Sendung „60 Minutes“ auf, sahen aber generell eher wenig fern. Sie wählten das Format gezielt aus und nutzten es nicht nur zum Zeitvertreib, sondern befriedigten damit sowohl ihr Informations- als auch ihr Unterhaltungsbedürfnis (ebd., S. 532). Die anderen Zuschauer sahen hingegen generell viel fern, hatten eine geringere Bindung zur Sendung und nutzten sie vorwiegend zum Zeitvertreib (ebd.).

In den darauffolgenden Studien (Rubin, 1984; Rubin & Perse, 1987; Rubin & Rubin, 1982a) bestätigte sich die beschriebene Unterscheidung zweier Nutzertypen. So konnten bspw. auch beim älteren Publikum zwei Nutzungsmuster festgestellt werden: Es gab auf der einen Seite den habitualisierten Rezipienten, der das Fernsehen sehr häufig und hauptsächlich zum Zeitvertreib, zur Entspannung und zur Realitätsflucht nutzte und zudem eine hohe Affinität zum Medium aufwies, und auf der anderen Seite den selektiven Rezipienten, der sich vorwie- gend über das Fernsehen informierte und sich hauptsächlich Nachrichten, Talksendungen und Magazine ansah (Rubin, 1984, S. 69). Der Rezipient agiert demzufolge nicht immer aktiv und zielgerichtet, wodurch der Mediengebrauch durch unterschiedliche Grade der Publikumsakti- vität gekennzeichnet ist (ebd.). Dabei variieren die Art und das Ausmaß der Mediennutzung, die Einstellung einer Person gegenüber einem Medium sowie deren Erwartungen bezüglich der Medienbotschaft (Rubin, 2002, S. 142). Es lassen sich schließlich zwei zentrale Grund- muster der Medienorientierung nennen (ebd.):

- Die ritualisierte Mediennutzung ist durch einen habituellen Medienkonsum zum Zeitvertreib und zur Ablenkung geprägt. Sie lässt sich durch eine hohe Nutzungsfrequenz und eine hohe Affinität zum Medium charakterisieren. Das Rezipientenverhalten ist weniger aktiv und weniger zielgerichtet.
- Die instrumentelle Mediennutzung zeichnet sich durch ein aktives und intentionales Rezipientenverhalten sowie durch eine zielgerichtete Suche nach Medieninhalten aus, die vorwiegend der Information dienen. Die Medienzuwendung impliziert Absicht, Selektivität und Involviertheit.

Es bleibt weiterhin festzuhalten, dass instrumentelle und ritualisierte Mediennutzung nicht eindeutig dichotom sind (Rubin, 1984, S.76). Die Rezipienten können nicht grundsätzlich einem der beiden Typen zugeordnet werden, da ihr Verhalten und ihr Aktivitätsniveau je nach Situation variieren (ebd.).

Übertragen auf die Scripted Reality-Rezipienten heißt das, dass es zum einen Personen gibt, die zumindest eine der Sendungen gezielt einschalten, an den Inhalten interessiert sind und diese konzentriert verfolgen, und zum anderen Personen, die die Sendungen weniger aufmerksam und lediglich deshalb verfolgen, weil ihnen keine bessere Alternative zur Verfügung steht. Neben dem Zeitvertreib und der Langeweile spielt bei den eher passiven Rezipienten auch das Motiv, sich abzulenken und aus dem Alltag und der Realität zu entfliehen, eine große Rolle. Dieses Bedürfnis wird empirisch mithilfe der Motivdimension „Eskapismus“ erfasst und im Folgenden genauer beschrieben.

3.2.4 Das Eskapismus-Konzept

“The favorite answer of the popular-culture writers to this question, ‘What do people with the media?’ is that they use it for escape.” (Katz & Foulkes, 1962, S. 379)

Schon zu Beginn der U&G-Forschung nahm das Eskapismus-Konzept eine besondere Rolle ein, und auch heute taucht es als Mediennutzungsmotiv in nahezu jeder Studie auf (Kunczik & Zipfel, 2005, S. 345; Meyen, 2004, S. 22; Pürer, 2003, S. 347). Aus der Sicht des U&G- Ansatz ist es eng mit dem affektiven Bedürfnis nach Unterhaltung verbunden (Kuhn, 2000, S. 90). Zunächst erklärte das Eskapismus-Konzept die Zuwendung zum Hörfunk (Herzog, 1940, 1941, 1944), mittlerweile beschreibt es die Befriedigung eskapistischer Motive durch weitere Medien, wobei insbesondere das Fernsehen ein geeignetes Mittel darstellt (Bonfadelli, 2004, S. 211; Espe & Seiwert, 1987a, S. 31). Das Eskapismus-Konzept geht davon aus, dass Menschen Medien nutzen, um der realen Welt und ihrem häufig tristen Alltag kognitiv und emotional zu entfliehen („escape“), und weist den Medien damit eine kompensatorische Funktion zu (Schmitz, Alsdorf, Sang & Tasche, 1993, S. 6; Vorderer, 1996, S. 311). Der Medienkonsum dient den Menschen demnach dazu, ihre unbefriedigenden und mangelhaften Lebensverhältnisse sowie alle Spannungen und ungelösten Konflikte in ihrem Leben zu vergessen und sich in eine „dreamlike world of the mass media“ (Katz & Foulkes, 1962, S. 379) zu begeben. Die Flucht in eine entfernte, eigene Welt ist allerdings nicht durchweg als negativ zu betrachten. So muss es letztendlich nicht zu einer Realitätsentfremdung kommen - das Fliehen in die Medienwelt ist zweifellos auch als ein geeignetes Mittel zur Entspannung und Erholung anzusehen (ebd., S. 377ff.). Obwohl auch andere Mittel als die technischen, z.B. Drogen und Alkohol oder einfach Tagträumerei, die Realitätsflucht zulassen, unterstüt- zen die Medien diese in besonderer Weise (ebd., S. 387f.; Vorderer, 1996, S. 311). Sie ermög- lichen jederzeit einen normalerweise problemlosen Ein- bzw. Ausstieg und bieten eine Viel- falt an exotischen Welten voller emotionaler Handlungen, Leidenschaft und Abenteuer (Vorderer, 1996, S. 312). Dabei fesselt speziell die audiovisuelle Darstellung der Medienin- halte die Rezipienten, gleichzeitig sind sie sich jedoch bewusst, dass sie das, was sie beobach- ten und in gewisser Weise passiv miterleben, kontrollieren können (ebd.). Die Medieninhalte, die zur Bedürfnisbefriedigung herangezogen werden, sind meist den personenzentrierten Unterhaltungsangeboten zuzuordnen (Gleich, 2001, S. 525) und in der Regel fiktiv (Kunczik & Zipfel, 2005, S. 121; Pürer, 2003, S. 347), es kann also durchaus davon ausgegangen werden, dass das hier beschriebene Nutzungsmotiv auch für Scripted Reality-Rezipienten eine besondere Stellung einnimmt.

3.2.5 Das Konzept der parasozialen Interaktion

Nimmt man Bezug auf die bereits beschriebene Einteilung der Bedürfnisse, ist das Konzept der parasozialen Interaktion der Kategorie der sozialen Bedürfnisse zuzuordnen. Diese Kate- gorie umfasst neben der parasozialen Interaktion einige weitere zentrale Motive, die in An- lehnung an Schweiger (2007, S. 120f.) zunächst kurz aufgezählt und erläutert werden.

Generell lässt sich festhalten, dass die Mediennutzung in verschiedenen sozialen Konstellati- onen stattfindet. Das heißt, unterschiedliche Kommunikationssituationen, wie z.B. die indivi- duelle Mediennutzung oder auch der Medienkonsum innerhalb einer Gruppe, tragen zur Befriedigung sozialer Bedürfnisse bei. Nicht selten wählen Menschen den Weg über die Medien andere Personen kennenzulernen, um mit diesen später in einen direkten Kontakt zu treten. Die rezipierten Medieninhalte dienen als Gesprächsstoff und damit der interpersonellen Kommunikation, genauer gesagt der Anschlusskommunikation.

[...]


1 Im Interesse der Lesbarkeit des Textes wird bei der Bezeichnung von Personengruppen in dieser Arbeit nur die männliche Form verwendet, gemeint sind aber stets Männer und Frauen.

2 Bei allen Prozentangaben sind die Prozentwerte auf ganze Zahlen gerundet.

Ende der Leseprobe aus 149 Seiten

Details

Titel
Scripted Reality. Der Reiz der inszenierten Realität
Untertitel
Eine quantitative Rezipientenbefragung zur Analyse der Nutzungsmotive
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Institut für Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik)
Note
1,5
Autor
Jahr
2013
Seiten
149
Katalognummer
V295210
ISBN (eBook)
9783656929727
ISBN (Buch)
9783656929734
Dateigröße
1401 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Scripted Reality, Berlin Tag Nacht, Rezipienten, Nutzungsmotive, Uses and Gratification, Reality TV, U&G, Medienwirkungsforschung, Eskapismus, Rubin, Realität, Scripted, Doku-Soap
Arbeit zitieren
Diplom Sozialwissenschaftlerin Daniela Fritsch (Autor:in), 2013, Scripted Reality. Der Reiz der inszenierten Realität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/295210

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