Innere und äußere Einflussfaktoren auf den Umgang mit Außenseiterrollen in Raquel J. Palacios "Wunder"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

21 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1. Äußere Einflüsse und passive Akzeptanz der Außenseiterrolle
1.1 Physische Aspekte
1.2 Gesellschaftliche Aspekte

2. Innere Einflüsse und aktives Annehmen der Außenseiterposition

3. Veränderung des Selbstbildes als Grundlage der Integration

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Der Jugendroman Verkaufsschlager[1] Wunder beleuchtet das Thema der sozialen Isolation, indem er den Lesern einen Einblick in das Leben des zehnjährigen August Pullman ge­währt, der unter den schwerwiegenden physiologischen Begleiterscheinungen einer Erb­krankheit leidet. Die Autorin Raquel J. Palacio versteht es, im Rahmen einer überwiegend im Schulmilieu angesiedelten Geschichte die verschiedenen Mechanismen der Ausgren­zung offen zu legen und zu beweisen, dass deren Überwindung kein einseitiger Prozess ist. Deshalb widmet sich die vorliegende Arbeit dem spannungsreichen Zusammenspiel äuße­rer und innerer Einflussfaktoren, die zur Verfestigung von Einzelgängerpositionen beitra­gen. Neben Auggies Gestalt und den verbliebenen körperlichen Einschränkungen werden dabei auch sein limitierter emotionaler Erfahrungshorizont, die Sonderbehandlung inner­halb der Familie und Gründe für ein freiwilliges Verweigern zwischenmenschlicher Inter­aktion berücksichtigt. Abschließend soll ein Blick auf die persönliche Entwicklung des Protagonisten im Laufe der Handlung und der nahezu parallel einsetzende Prozess der kol­lektiven Reflexion in seinem Umfeld verdeutlichen, welchen Lösungsvorschlag der Roman für die Bewältigung von Außenseiterrollen bereithält.

1. Äußere Einflüsse und passive Akzeptanz der Außenseiterrolle

1.1 Physische Aspekte

Die Ausgrenzung einzelner Mitglieder sozialer Gemeinschaften basierend auf Merkmalen der äußerlichen Erscheinung bildet als Thema von fortlaufender gesellschaftlicher Rele­vanz auch ein wiederkehrendes Motiv in der Kinder- und Jugendliteratur. Das Arsenal fik- tionaler Umsetzungen reicht von Protagonisten, die aufgrund ihres Körpergewichtes oder ihrer Haarfarbe zu Außenseitern werden[2], über Peer Group Konflikte bezüglich Mode und Stil, bis zu dem Umgang mit Krankheit und körperlichen Anomalien.[3] Doch während die handelnden Figuren in einigen dieser Fälle zumindest theoretisch durch Anpassung an die von der Mehrheit vorgelebten Ideale den Zustand vollständiger Integration erreichen kön­nen[4], bleibt anderen Betroffenen die Möglichkeit solch unmittelbarer Einflussnahme ver­wehrt. Unterschieden werden muss mit Blick auf die letztgenannten, „existentiellen“[5] Ein­zelgänger zwischen Menschen mit angeborenen Einschränkungen oder Entstellungen auf der einen Seite und den Opfern eines irreversiblen Schicksalsschlages auf der anderen. Während die jugendlichen Helden in Robert Cormiers Heroes und Benjamin Zephaniahs Face etwa anfänglich noch damit ringen ihr neues, durch Gesichtsverletzungen verändertes Selbst zu akzeptieren[6], kennt August Pullman in Raquel J. Palacios Wunder keine Existenz ohne sein von der Norm abweichendes Äußeres. Dies bedeutet keineswegs, dass er mit seinem Spiegelbild immer glücklich ist und sich nicht wünscht, etwas daran ändern zu können.[7] Den Zehnjährigen begleiten sein spezielles Aussehen, die Reaktionen seiner Mit­menschen und die sich daraus ergebende Isolation jedoch schon solange er denken kann.

Als Folge dessen hat der Protagonist eigene Strategien des Überlebens am Rande des Kol­lektivs entwickelt. Dazu zählt zum Beispiel die Vermeidung von Situationen, die seiner Physiognomie besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. So hat er es zunächst nicht gern, wenn sein Gesicht auf Bildern festgehalten wird[8] oder Fragen zu dessen Fehlbildun­gen[9] gestellt werden. Es überrascht auch kaum, dass Auggie konsequenterweise darauf verzichtet, seine Erscheinung näher zu beschreiben.[10] Der durchgängig aus seiner Perspek­tive geschilderte erste Teil des Jugendromans legt den Fokus vielmehr auf innere Vorgänge und die emotionale Bewältigung gehäuft auftretender Ausgrenzungserfahrungen.[11] Denn die Vorstellung, dass er von der Gesellschaft für etwas bestraft wird, auf das er keinen Ein­fluss hat, prägt den Alltag des Jungen mehr als die ständige, ausführliche Beschäftigung mit jeder einzelnen der seit Jahren bestehenden physiologischen Auffälligkeiten. Augusts konkrete äußerliche Gestalt und die medizinischen Faktoren, die dafür verantwortlich sind, werden dementsprechend erst dann vordergründig thematisiert als er durch die Augen sei­ner Schwester betrachtet wird. Olivia beschreibt die Züge des jüngsten Familienmitgliedes über zwei Seiten hinweg sachlich und präzise, tastet sie mit ihren Worten von der Stirn bis zu dem Kinn ab und zählt währenddessen jede Fehlstellung, Missbildung und alle Wund-male auf. Dadurch zeichnet sie dem Leser ein schonungsloses Bild der Ausmaße seiner Krankheit bevor sie ihr als Erste auch die korrekte wissenschaftliche Bezeichnung zuweist.

Ihr Bruder leidet unter einer spezifischen Ausprägung des Treacher Collins Syndroms.

Wie selten dieser genetische Defekt ist lässt sich mit Hilfe einer Statistik ausdrücken, die besagt, dass nur eines von zwischen 25000 bis 50000 Neugeborenen als Treacher Collins Patient zur Welt kommt.[12] [13] [14] Häufig ahnten die Eltern betroffener Kinder zuvor nicht einmal, dass mindestens einer von ihnen die entsprechenden Erbanlagen in sich trägt.[15] Gleiches gilt in Raquel J. Palacios Werk auch für Nate und Isabell Pullman. Bis zu der Geburt ihres Sohnes gab es in dem Stammbaum des Ehepaares keinen bekannten Fall von Erbkrank- heit[16] und nachdem das erste gemeinsame Kind ebenfalls gesund das Licht dieser Erde erblickt hatte, sah niemand einen Anlass davon auszugehen, dass es sich bei der zweiten Schwangerschaft anders verhalten könnte.[17] Seitdem ihnen jedoch bekannt ist, dass die „genetische Lotterie“[18] alle vier Pullmans als Überträger des veränderten Erbgutes ausge­wählt und Auggie lediglich das denkbar ungünstigste Los gezogen hat[19], findet vor allem Via Trost in einer intellektuell geprägten Beschäftigung mit dem Anderen als Resultat ei­ner hereditär bedingten Erkrankung: „Ich persönlich mag es, wie die Ärzte reden. Ich mag es, wie sich die Wissenschaft anhört. Ich mag es, wie Worte, die man nicht versteht, Dinge erklären, die man nicht verstehen kann.“[20] Ähnlich schwer zu begreifen war lange auch die positive gesundheitliche Entwicklung des Protagonisten, weshalb er nicht nur für seine Ärzte ein Wunder der Medizin ist.[21] Denn die Diagnose Treacher Collins Syndrom stellte ursprünglich gar die Lebensfähigkeit des Säuglings in Frage[22] und zieht zudem, im An­schluss an die kritischen ersten 24 Stunden, meist noch eine Vielzahl an Behandlungen nach sich. Diese betreffen in der Regel den Kiefer, die Atemwege oder Gehörgänge und bergen eigene Risiken.[23] Insbesondere die ersten medizinischen Eingriffe dieser Art zielen darauf ab, das Überleben des Patienten zu sichern, die Funktion der Sinnesorgane zu opti­mieren und die Qualität seines Daseins zu steigern.[24] Es handelt sich längst nicht nur um Vorgänge plastischer Chirurgie [25], doch viele der essentiellen Operationen fanden zu früh nach seiner Geburt statt als dass der Zehnjährige bewusst daran zurückdenken könnte.[26]

Auch Außenstehende sehen ihm nicht seine ganze Krankengeschichte an und deshalb sind beiden Seiten in erster Linie die verbliebenen physischen Anomalien und Einschränkungen vertraut. So kann Auggie etwa trotz diverser Korrekturen seiner Mundpartie nur unbehol­fen essen.[27] Dies führt dazu, dass er in sozialen Situationen, die mit Nahrungsaufnahme verknüpft sind, unangenehm auffällt und seine Mahlzeiten eigens für ihn zubereitet werden müssen.[28] Welch Fortschritt sich aber darin bereits manifestiert wird erst deutlich, als Via die Problematik aus ihrer Sicht darstellt: „Er kann zumindest essen: Als er jünger war, brauchte er eine Magensonde.“[29] Ihr Bruder hatte noch in anderer Hinsicht Glück im Un- glück, da er trotz seiner extrem unterentwickelten Hörorgane nicht taub geboren wurde.[30] Für August sind seine Ohren allerdings nur ein weiterer entstellter Teil seines Kopfes und er erträgt den Gedanken kaum, dass er gezwungen sein wird, sie durch große Hörgeräte noch auffälliger wirken zu lassen.[31] Eine zusätzliche, als negativ empfundene Veränderung der Optik ist für viele junge Treacher Collins Patienten, deren Körperbau oft nicht dem Altersdurchschnitt entspricht[32] , gewöhnungsbedürftig. Denn dass sein Anblick Altersge­nossen und Erwachsene gleichermaßen schon genug überfordert, weiß auch August spätes­tens seitdem er andere Jungen und Mädchen veranlasste, „schreiend vom Spielplatz weg- zulaufen.“[33] Jack Will und Olivias Freund Justin geben zu, dass sie geschockt waren, als sie ihm erstmals gegenüberstanden und Schwierigkeiten hatten, dies nicht offen zu zei­gen[34]. Auch mit Versuchen, diesen ersten Eindruck zu überspielen, ist der Protagonist längst vertraut.

Dann passierte das, was ich schon eine Million Mal erlebt hatte. Als ich zu [Mrs. Garcia] auf­schaute, weiteten sich ihre Augen für den Bruchteil einer Sekunde. Es ging so schnell, dass es niemand anderem aufgefallen wäre, denn der Rest ihres Gesichts veränderte sich kein bisschen. Sie setzte ein besonders strahlendes Lächeln auf.[35]

Anhand dieser Szene, die sich in ähnlicher Weise wiederholt während Auggie an seiner neuen Schule verschiedenen Lehrern und Klassenkameraden zum ersten Mal begegnet[36] , wird deutlich, wie sehr er daran gewöhnt ist, die Körpersprache und selbst kleinste Reflexe der Personen in seinem Umfeld zu lesen. Eine solche Herangehensweise suggeriert, dass Erfahrungswerte und die sich daraus ergebende eigene Einschätzung seiner Erscheinung dafür gesorgt haben, dass er grundsätzlich damit rechnet, auf Ablehnung oder zumindest vorübergehendes Entsetzen zu stoßen.[37] Der Versuch, alle Anzeichen frühzeitig zu regist­rieren und entsprechend einzuordnen, dient dem Selbstschutz.[38] Die Einzige, für die seine körperliche Gestalt niemals von Bedeutung war und die deshalb auch keine Zeit brauchte, um sich darauf einzustellen[39], ist laut Palacios jungem Helden die Familienhündin Daisy.[40] Doch das Treacher Collins Syndrom prägt Auggies Leben nicht nur hinsichtlich seiner äußeren Hülle, sondern fügt seiner Außenseiterposition noch eine soziale Komponente hinzu.

1.2 Gesellschaftliche Aspekte

Da August Pullman gezwungen war, viel Zeit in Krankenhäusern und unter ärztlicher Auf­sicht zu verbringen[41], nahm ihm die Erbkrankheit auch die Möglichkeit, stets zusammen mit anderen Kindern aufzuwachsen. Raquel J. Palacios Protagonist hat nie eine Grund­schule besucht, sondern bekam elterlichen Heimunterricht.[42] Obwohl insbesondere Julian Albans und seine Mutter mit Skepsis auf die Qualität dieser extracurricularen Ausbildung blicken[43], lässt Wunder keinen Zweifel daran, dass Auggie geistig problemlos mit seinen Altersgenossen Schritt halten kann.[44] Doch neben der intellektuellen Vorbereitung auf eine Zukunft in der Arbeitswelt ist das regelmäßige gemeinsame spielen und lernen von Kin­desbeinen an auch von unschätzbarem Wert für die Entwicklung sozialer Kompetenzen.

[...]


[1] Wheeler, Elizabeth A.: “No Monsters in This Fairy Tale: Wonder and the New Children’s Literature”. In: Children’s Literature Association Quarterly 38.3 (2013), S. 335-350. Web. Letzter Zugriff: 21. Januar 2015. http://muse.jhu.edu/login?auth=0;type=summary;url=/journals/childrens_literature_association_quarterly /v038/38.3.wheeler.html>, hier: S. 336.

[2] Kurpjuhn, Jutta: Außenseiter in der Kinderliteratur: Darstellungsvarianten und Wirkungsaspekte moderner Prosa für die junge Generation. Frankfurt am Main: Lang 2000, S. 72-73, 76.

[3] Büker, Petra/Clemens Kammler: „Das Fremde und das Andere in der Kinder- und Jugendliteratur“. In: Petra Büker, Clemens Kammler (Hrg.): Das Fremde und das Andere. Interpretationen und didaktische Ana­lysen zeitgenössischer Kinder- und Jugendbücher. Weinheim: Juventa 2003, S. 7-28, hier: S. 12.

[4] Kurpjuhn: Außenseiter in der Kinderliteratur, S. 33-34.

[5] Schulz, Gudrun: “Außenseiter als Thema der Kinder- und Jugendliteratur“. In: Günther Lange (Hrg.): Ta­schenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler: Schneider 2000, S. 746 - 765, hier: 746.

[6] Wilkie-Stibbs, Christine: The Outside Child: In and Out of the Book. London: Routledge 2011, S. 66-72.

[7] Palacio, Raquel J.: Wunder. München: DTV 2015, S. 9, 86, 92.

[8] Ebd., S. 106.

[9] Ebd., S. 47.

[10] Ebd., S. 10.

[11] Wheeler: „No Monsters in This Fairy Tale“, S. 341.

[12] Palacio: Wunder, S. 133-134.

[13] Ebd., S. 155.

[14] Posnick, Jeffrey C./Ramon L. Ruiz: “Treacher Collins Syndrome: Current Evaluation, Treatment, and Future Directions”. In: Cleft Palate-Craniofacial Journal 37.5 (2000), S. 483-1-483-22. Web. Letzter Zugriff: 21. Januar 2015.http://xa.yimg.com/kq/groups/65396915/404361023/name/49+Treacher+Collins+syndrome..pdf>, hier: S. 483-1.

[15] Ebd., S. 483-2.

[16] Palacio: Wunder, S. 155.

[17] Ebd. , S. 14.

[18] Ebd., S. 158.

[19] Ebd., S. 156.

[20] Ebd., S. 158.

[21] Ebd., S. 134.

[22] Ebd., S. 16, 134.

[23] Posnick/Ruiz: “Treacher Collins Syndrome”, S. 483-4.

[24] Ebd., S. 483-4-483-7.

[25] Wheeler: “No Monsters in This Fairy Tale”, S. 340.

[26] Palacio: Wunder, S. 11.

[27] Ebd., S. 77.

[28] Ebd., S. 77-78, 151.

[29] Ebd., S. 134.

[30] Ebd.

[31] Ebd., S. 134-135, 304-305.

[32] Posnick/Ruiz: “Treacher Collins Syndrome”, S. 483-7; Palacio: Wunder, S. 11.

[33] Palacio: Wunder, S. 9.

[34] Ebd., S. 201-203, 267.

[35] Palacio: Wunder, S. 30.

[36] Ebd., S. 59-60.

[37] Oyserman, Daphna/Janet K. Swim: “Stigma: An Insider’s View”. In: Journal of Social Issues 57.1 (2001), S. 1-14. Web. Letzter Zugriff: 20. Januar 2015.

[38] <http://dornsife.usc.edu/assets/sites/782/docs/oyserman_swim_stigma_an_insiders_view.pdf>, hier. S. 6.

[39] Ebd.

[40] Palacio: Wunder, S. 208. 1 Ebd., S. 325.

[41] Ebd., S. 11.

[42] Ebd.

[43] 1 Ebd., S. 46, 235-137.

[44] ‘ Ebd., S. 237-238, 407.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Innere und äußere Einflussfaktoren auf den Umgang mit Außenseiterrollen in Raquel J. Palacios "Wunder"
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Jugendbuchforschung)
Veranstaltung
Das Fremde und das Andere in der Kinder- und Jugendliteratur
Note
1,3
Jahr
2015
Seiten
21
Katalognummer
V295029
ISBN (eBook)
9783656927853
ISBN (Buch)
9783656927860
Dateigröße
502 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Raquel Palacio, Wunder, Außenseiterrollen
Arbeit zitieren
Anonym, 2015, Innere und äußere Einflussfaktoren auf den Umgang mit Außenseiterrollen in Raquel J. Palacios "Wunder", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/295029

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