Das Dresdner Bürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Welchen Einblick eine Abendhandtasche von etwa 1910 gewährt


Hausarbeit, 2013

13 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt

1 Überblick und Einführung in das Projektseminar

2 Das Objekt
2.1 Material, Zustand, objektive Beschreibung
2.2 Historische Verortung
2.3 Gebrauch
2.4 Überlieferungsweg

3 Exponat-Text

4 Zusammenfassung und abschließende Bemerkungen

1 Überblick und Einführung in das Projektseminar

Das Projektseminar Geschichte konkret war als Übung im Beschreiben und Interpretieren historischer Sachzeugnisse anhand von Objekten aus der Familienüberlieferung der Teilnehmer konzipiert. Unter der Leitung von Herrn Dr. M. D. wurden Objekte aus den Familien der Kursteilnehmer vorgestellt und zusammen nach austellungsrelevanten Kriterien ausgewählt: Die Aussagekraft eine Objektes aufgrund seiner Verwendung oder Überlieferung, der politische Aspekt, ausreichendes Material, interessanter Forschungsgegenstand, Seltenheit oder häufiges Vorkommen. Die Liste der Kriterien ist lang und teilweise für jedes Objekt individuell, lediglich den Zeitraum (1890-1990) ihrer Entstehung und Verwendung teilten sich alle Forschungsobjekte miteinander. Durch eine Abendhandtasche des Dresdner Bürgertums um die Jahrhundertwende, eine Motorradmütze aus dem zweiten Weltkrieg, Sammelalben von Militärbildern aus Zigarettenschachtel, einfache Hochzeitsfotos und Urlaubsalben und Weitere konnte so ein großer Aspekt des 20. Jahrhunderts in Deutschland beleuchtet werden. Es war interessant zu erfahren, durch welche Objekte sich der Alltag noch heute nachzeichnen lässt und die einzelnen Überlieferungsgeschichten der individuellen Objekte zu verfolgen. Hierfür waren ausreichende Recherchetätigkeiten in Bibliotheken, Museen oder in den Familien selbst notwendig.

Wie bereits erwähnt, war es im Projektseminar ein großes Anliegen, die Geschichte Deutschlands in den letzten 100 Jahren, durch Gegenstände teilweise zu veranschaulichen. Das Essay von Ulrich Herbert Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert erklärt die Bedeutung dieser Epoche: „Die erste Hälfte war von Kriegen und Katastrophen gekennzeichnet, wie sie die Welt nie zuvor gesehen hatte. In ihrem Mittelpunkt stand Deutschland, mit dessen Namen seither die furchtbarsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verbunden sind. Die zweite Hälfte führte schließlich zu politischer Stabilität, zu Freiheit und Wohlstand, wie sie nach 1945 völlig unerreichbar schienen.“[1] Also Abstieg und Aufstieg einer ganzen Nation in nur 100 Jahren: Wirtschaftlicher Zusammenbruch, der erste Weltkrieg, Diktatur, der zweite Weltkrieg, Wirtschaftswunder, deutsche Teilung, Mauerfall, Demokratie, Technisierung und Fortschritt. Dieser Strang von unterschiedlichen Entwicklungen ist deshalb für die Kunst und die Forschung, aber auch für die Historik so interessant, weil alle gravierenden Entwicklungen in diesen 100 Jahren so unvorhersehbar wie nur irgend möglich waren.

„Die deutsche Geschichte in diesem Jahrhundert unterscheidet sich von der Geschichte aller anderen Länder, und sie geht nicht in der europäischen Geschichte auf.“[2] so Herbert weiter. Auch für die Gegenwart hat die deutsche Geschichte für ihr eigenes Volk wohl so viel Bedeutung, wie kaum eine andere Landeshistorie für ihr eigenes Volk: Die Präsenz der Weltkriege, des Wirtschaftswunders, der Teilung und des Kalten Krieges ist auch noch nach drei und vier Generationen stark präsent und die Deutschen setzen sich viel mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinander. In diesem Essay soll allerdings der historische Blick, so weit wie möglich, im Vordergrund stehen. „Der Vorteil des historischen Blicks liegt eher darin, aufgrund der Distanz und der Vielzahl der Perspektiven neue Zusammenhänge aufzuschließen und längerfristige Prozesse und Veränderungen der Lebensbedingungen, der politischen Mentalitäten oder kulturellen Orientierungen zu entdecken, die für die Zeitgenossen in ihrer Bedeutung oft gar nicht erkennbar waren.“[3]

Das hier vorgestellte Objekt, eine Abendhandtasche von etwa 1910, kann durch Besitz-Überlieferung und Zeit dem Dresdner Bürgertum um die Jahrhundertwende zugeschrieben werden. Dementsprechend soll im Nachfolgenden im Hinblick auf den Gebrauch des Gegenstandes besonders das Dresdner Bürgertum um die Jahrhundertwende dargestellt werden, also vor allem eine Gesellschaft, die zu Beginn der von Herbert beschriebenen bedeutenden hundertjährigen Epoche Deutschlands steht. Mit dem Verweis auf die Zukunft sollen auch einige Ansätze, die auch im Dresdner Bürgertum, wie damals generell im Bürgertum, vorhanden waren, aufgezeigt werden, die mitunter wegweisend für die folgenden hundertjährigen Entwicklungen in Deutschland waren.

2 Das Objekt

Das in diesem Essay dargestellte und untersuchte Objekt ist eine kleine Abendhandtasche aus Samt in dunkelgrün. Sie stammt aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts (etwa 1910 laut Überlieferung) und gehörte Frau Marie-Luise Müller, geb. Klaus (1890-1973).Die Tasche ist mit kleinen, goldenen Pailletten verziert und besitzt einen Unterarmhenkel aus Metall. Die Abendhandtasche ist ein Erbstück meiner Familie und wurde meiner Großmutter von Ihrer vererbt. In der Handtasche selbst befindet sich außerdem eine Lorgnette, welche laut meiner Großmutter dem Ehemann von Frau Marie-Luise Müller gehört haben soll. Zum Einsatz gekommen sei diese Lorgnette im Theater oder in der Oper.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenAbbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Abendhandtasche mit Unterarmhenkel Abb. 2: Abendhandtasche geöffnet von oben

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenAbbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Lorgnette geöffnet Abb. 4: Lorgnette geschlossen

2.1 Material, Zustand, objektive Beschreibung

Bei dem dunkelgrünen Samt, aus welchem die Tasche besteht, handelt es sich um sogenannten Schuss-Samt, auch Velvet oder Kettsamt genannt. In das Grundgewebe aus dunkelgrünem Leinen wurde ein Schussfaden-System (Kettfaden-System) eingearbeitet, welches Schlingen (auch Flottierungen) über dem Grundgewebe bildet, die dann aufgeschnitten und abrasiert den samtweichen Faserflor bilden. Die Besamtung kann nur auf einer Seite des Leinens hergestellt werden (hier auf der Außenseite), im Inneren ist gut die pure und maschinell gewebte, dunkelgrüne Leinenstruktur zu erkennen. Im Allerinnersten der Tasche, dem mit einem Klappschluss aus Metall versehenen Portemonnaie, ist grober, weißer, naturbelassener Leinenstoff verarbeitet. Dieser Innenraum besitzt zusätzlich ein kleines seitliches Schlitzfach, welches etwa zum Aufbewahren von Visitenkarten oder losen Geldscheinen gedient haben mag. Direkt am Klappverschluss befindet sich ein metallenes Kettchen (leicht patiniert) aus einfachen Gliedern und Ringen von etwa 20 cm Länge. Der Verschluss mit zwei seitlichen kleinen Schraubscharnieren lässt sich auf etwa 45° öffnen. Verschluss und Henkel sind vermutlich aus einfachem Messing und maschinell gefertigt.

Die Tasche wird an den Außenkanten einmal komplett von einem verzwirbelten Draht in Form gehalten.

Auffällig an dem Täschchen ist vor allem die goldene Pailletten-Verzierung auf der Vorderseite. Das antike Muster setzt sich zusammen aus runden Pailletten in verschiedenen Größen, ovalen Pailletten, goldenen Metallperlen und einem Zierdraht. Dieser, sowie das Paillettenmuster könnten von Hand aufgestickt sein, da sich leichte Unregelmäßigkeiten und Abweichungen in der Anordnung dieses graphischen Musters erkennen lassen.

Die Tasche besitzt eine Größe von 13 cm auf 17 cm. Zusammen mit dem kurzen Unterarmhenkel liegt nahe, dass es sich bei einer Tasche dieser Größe um eine Abendhandtasche handelt (Pochette).

Das Objekt weißt einige Abnutzungsspuren im Samt und fehlendes Gewebe am Leinen auf. Auch ist der Draht an den Seiten an einigen Stellen nicht mehr durch einen starken Leinfaden an der Tasche vernäht, sondern löst sich. Des Weiteren wurde der weiße Leinenstoff im Inneren an zwei deutlich zu erkennenden Stellen von Hand geflickt. Auch das Paillettenmuster auf der Vorderseite zeugt durch lose Fäden und vergilbten oder gar fehlenden Pailletten von häufigem Gebrauch.

2.2 Historische Verortung

Laut den Angaben meiner Großmutter, Frau Anne-Marie Tenner, stammt diese Abendhandtasche von ihrer Großmutter, Frau Marie-Luise Müller, geb.Klaus , welche diese Tasche wohl um die Zeit ihrer Eheschließung herum, etwa 1910, erworben hat. Frau Müller lebte in Plauen und kann, aufgrund der Nähe, des Standes und der Zeit, in der sie lebte, dem Dresdner Bürgertum im deutschen Kaiserreich zugeordnet werden.

Um 1911 florierte die Industrie in Deutschland. 65 Millionen Einwohner verzeichnete das Kaiserreich damals, 42,2 % von Ihnen arbeiteten bereits 1907 in der Industrie, mehr als in der Landwirtschaft (28,4 %) und das Nettoinlandsprodukt vervierfachte sich seit 1871. Es gab deutlich mehr Studenten an den Universitäten (1872: 22.892 und 1912: 71.710), ebenso lehrten mehr Professoren und Lehrer an allgemeinbildenden Volksschulen und die Krankenversicherungen und die Anzahl der Rentenversicherten stiegen deutlich.[4]

Das Bürgertum um 1900 herum in Dresden, einer der deutschen Kulturmetropolen, neben Berlin und München, separierte sich in der damaligen Zeit sozial stark von der sogenannten Arbeiterschaft. „In der zunehmenden sozialen Distanz bürgerlicher Bildungsschichten gegenüber dem vermeintlichen Müßiggang der Großstadtjugend äußerte sich die bürgerliche Angst vor Autoritätsverlust.“[5] Vielen erschien das Bürgertum als materiell und erfolgsgeleitet, auch Standesdünkel spielte eine große Rolle in der Selbstwahrnehmung des Bürgertums: Studiert, gebildet, kunstinteressiert und kulturversiert. „Im Kaiserreich hatte das Bürgertum eine soziale und kulturelle Machtstellung erreicht […] Die gesellschaftlichen Verhältnisse entsprachen weitgehend bürgerlichen Vorstellungen.“, beschreibt Andreas Schulz die Zeit um 1900 herum.

„Die Geselligkeits-, Organisations- und Handlungsformen des Bürgertums wie Vereine oder Stiftungen gestalteten das öffentliche Leben. Bürgerliche Werte setzten sich durch, wurden als universelle Werte sogar von Gegnern akzeptiert. Selbstbewusst identifizierte sich das Bürgertum als allgemeiner Stand, kulturtragende Klasse und gleichsam natürliche, zur Herrschaft befähigte Elite. Ein Hang zur Selbstdarstellung und Gönnerhaftigkeit war unverkennbar…“[6]

Um 1900 herum florierte auch das Wachstum in Dresden, der Stadt, die insofern als wichtiger Bestandteil dieser Hausarbeit gilt, da der Überlieferung meiner Großmutter nach, Frau Debes mit dieser Handtasche (zusammen mit passendem Hut) oft dorthin in die Oper gegangen sei. Die 1878 nach einem Brand wieder erbaute Zweite Semperoper in Dresden wurde im genannten Jahr am 2. Februar mit den Uraufführengen von Carl Maria von Weber (Jubelouvertüre) und Johann Wolfgang von Goethe (Iphigenie auf Tauris) gefeiert.[7] „Bis 1895 war das Hoftheater gemeinsame Spielstätte für Oper und Schauspiel. Unter Generalmusikdirektor Ernst von Schuch, seit 1882 auch Direktor der Hofoper, begann die weltweit anerkannte Dresdner Richard-Strauss-Pflege mit den Opern-Uraufführungen Feuersnot (1901), Salome (1905), Elektra (1909) und Der Rosenkavalier (1911).“[8] Gerade um die Jahrhundertwende erlebten Musik, Kunst und Kultur generell einen Wachstumsschub, Dresden allerdings erwarb sich sogar einen internationalen Ruf als europäische Hochburg für Musik. „Große Erfolge feierten Hofkapelle und Hofoper unter der Leitung des Dirigenten Ernst von Schuch […] der hier während seines 42jährigen Wirkens das klassische Erbe und die Dresdner Traditionen pflegte, die Stadt aber auch zu einem Eldorado von Uraufführungen werden ließ…“[9]

Dresden wuchs im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Metropole heran, zu einer Halbmillionenstadt. Unter anderem dafür verantwortlich war der weltweite Wachstum von Wissenschaften, etwa der Elektrotechnik, der Chemiewissenschaft und natürlich der Ingenieurswissenschaften. Dresden profitierte damals von ausgebauten Verkehrswegen, Straßennetzen und Schienen-, sowie Güterverkehr und auch die Elektrizität verhalf dieser Stadt zum Wachstum. „Nach kleineren Stationen wurde im November 1895 das erste Elektrizitäts-Lichtwerk für Einphasen-Wechselstrom mit 2.000 Volt Netzspannung auf dem Gelände der stillgelegten Gasanstalt in der Stiftsstraße eröffnet. Es diente hauptsächlich der Ablösung der Gasbeleuchtung und versorgte bis zum Jahresende bereits die ersten elektrischen Straßenbahnen […]“[10] Auch die Oper wurde vom Fernheiz- und Elektrizitätswerk ab 1900 mit Strom und Fernwärme versorgt. Genannte Veränderungen und Modernisierungen waren unter anderem in der Wilheminischen Ära von 1890 bis 1918 ein Zeichen des Glaubens an die Fortschrittlichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, welche aber auch in großer Spannung zum Konservativismus der damaligen Gesellschaft, insbesondere der Bürgerlichen, lag. Dieser Konservativismus des Bürgertums zeigte sich auch im Wahlsystem: „Das 1896 in Sachsen eingeführte und dem überlebten preußischen Dreiklassenwahlrecht entlehnte Wahlgesetz stieß von Anbeginn auf heftigste Proteste seitens der Sozialdemokratie, die damit faktisch von der Mitwirkung im Landesparlament ausgeschlossen wurde.“[11] Der Sozialdemokratische Verein konnte bei den Reichstags-wahlen dieser Zeit meist bis zu 50% aller Stimmen verzeichnen, dies schlug sich allerdings so im Ergebnis nicht nieder, da im sogenannten Dreiklassenwahlrecht (gewählt wurde das Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages) die Stimmgewichtung nach Steuerklasse verteilt wurde. Erst 1909 wurde das Pluralwahlrecht in Sachsen eingeführt, welches die unteren Wählerschichten immer noch, allerdings weniger, benachteiligte. „Neben den politischen Parteien hatten sich in Dresden bereits im 19. Jahrhundert zahlreiche Vereine unterschiedlichster Art und Ziele als Organisationsform vor allem der bürgerlichen Mittelschichten gebildet, die mehr oder weniger stark das gesellschaftliche Leben in der Stadt beeinflußten.“[12] Diese Vereine und Clubs beschäftigten sich mit der Kultur oder der Kunst in Dresden oder dienten der Geselligkeit, etwas, das man heutzutage als Networking bezeichnen würde und der Berufs-, beziehungsweise Standes- und Karrieresteigerung. Eine besondere Rolle spielten die politischen nationalen Verbände des Wilhelminismus, welche von einflussreichen Personen angeführt wurden. Genannt seien hier vor allem der Alldeutsche Verband, der Ostmarkenverein, die Deutsche Kolonialgesellschaft oder der Deutsche Wehrverein (gegründet 1912)[13] „Sie versuchten mit sozialdarwinistischem, antisemitischem, rassistischem und nationalistischem Gedankengut auf das gesellschaftliche Leben in der Stadt Einfluß zu nehmen.“[14]

2.3 Gebrauch

Die Handtasche mit Unterarmhenkel wurde damals zu einem passenden Abendkleid aus ebenfalls grünem Samt erworben. Für feine Anlässe, wie abendliche Gesellschaften, Theateraufführungen in Plauen und auch Opernbesuche in Dresden trug Frau Marie-Luise Müller Kleid und Handtasche. Damals waren kleine Handtaschen sehr in Mode und mehr, als nur ein Accessoire. Die sogenannte Form der Pochette war bestimmt durch einen Klappverschluss und einen leichten Metallrahmen und gab noch bis in die späten 1920er Jahre den Ton in der Handtaschenmode an. Gerade bestickte Modelle mit Perlen, Pailetten, Steinchen und Stoffe wie Samt oder Seide waren sehr beliebt, allerdings auch teuer und daher hauptsächlich in den höheren Gesellschaften und den entsprechenden Anlässen (Abendgarderobe) gesehen.

Bereits im Mittelalter kannten die Menschen Handtaschen in Beutelform, welche oft an oder unter der Schürze, beziehungsweise von Männern am Gürtel getragen wurden. Damals war die Handtasche noch keine (fast) ausschließliche Frauenerscheinung, was sich vermutlich auf ihre damalige Unscheinbarkeit und Praktikabilität zurückführen lässt. Ein Statussymbol waren diese Beutel nämlich nicht, dienten sie doch hauptsächlich der Aufbewahrung von Münzen und anderen Habseligkeiten. Die reiche und adlige Schicht verzichtete gar vollständig auf die Handtasche. Lediglich sogenannte Jagdtaschen erfreuten sich beim männlichen Adel im 17. und im 18. Jahrhundert größerer Beliebtheit.[15] „Mit prall gefüllten Geldbeuteln und Geldtaschen demonstrierte ein aufsteigendes Bürgertum ab dem 16. Jahrhundert Reichtum und Wohlstand. Frauen trugen diese Beutel an langen Bändern, die am Rock herabhingen, bei Männern waren sie direkt am Gürtel befestigt.“[16] Im Biedermeier sah man die Frau gerne mit Strick- oder Stickbeutelchen unterwegs und als mit der Eisenbahn das Reisezeitalter anbrach, wuchsen den Handtaschen auch Henkeln – so hatte sich die Tasche ab etwa 1875 als festes Accessoire der Frau etabliert. „Seit 1910 war die Handtasche nicht mehr nur modisches Beiwerk, sondern unverzichtbarer Gebrauchsgegenstand. Die engen Kleider erlaubten es den Damen nicht mehr, ihre Utensilien in einem kleinen Beutel oder einer eingenähten Tasche versteckt unter dem Oberrock aufzubewahren; sie mussten zur separaten Handtasche greifen.“[17] Schon damals setzte die Pariser Haute Couture die Maßstäbe und schrieb etwa den Frauen zum Kleid im Prinzess-Schnitt (Oberteil und Rock, mit Gürtel getrennt, aus demselben Stoff) eine Abendhandtasche mit Unterarm- oder extralangem Henkel vor. Der Orient kam Anfang des 20. Jahrhunderts in das Ballett Russe (Cleopatrê von Michail Fokin und Schéhérazade von Nikolai Rimski-Korsakow) und von dort übertrug sich der orientalische Stil mit seinen fließenden und luxuriösen Gewändern auch in die Mode. Besonders beliebt waren schwere Stoffe wie Damast, Brokat oder Samt und Verzierungen in gold oder silber.

2.4 Überlieferungsweg

Der Überlieferungsweg dieses Objektes ist in diesem Sinne ein Kurzer, auch wenn das Objekt bereits über 100 Jahre alt ist. Meine Großmutter Frau Anne-Marie Tenner bekam die Tasche von ihrer Großmutter auf Anfrage hin in den 1960er Jahren geschenkt. Ihre Großmutter ging zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit Samtkleid ins Theater oder in die Oper, allerdings war die Pochette mit Samtstoff und Perlenbestickung und das ist sie auch heute noch, nie aus der Mode gekommen und so wurde die Abendtasche auch noch von meiner Großmutter zum Tanz mitgenommen.

Mittlerweile handelt es sich allerdings bei der Tasche aufgrund des Alters beinahe wieder um eine Antiquität, sodass ich als neue Besitzerin sie wohl lediglich (nur noch) als Familienstück gut aufbewahren werde. Auch erzählt diese Tasche insbesondere für meine Großmutter Frau Anne-Marie Tenner ein tragisches Stück ihrer Familiengeschichte. Ihr Großvater hatte eine kleine Spitzenmanufaktur in Plauen, mit wichtigen Handelsbeziehungen nach Amerika, welche natürlich im Laufe des 1. Weltkrieges zerbrachen. Für meine Großmutter stellen beide Weltkriege und der damit einhergehende wirtschaftliche Niedergang ihrer Familie in der sowjetischen Besatzungszone bis heute ein sehr einschneidendes Erlebnis dar, da sie auch als junge Frau unter anderem Aufgrund der drohenden Verarmung mit ihrem Freund, meinem Großvater, nach Westdeutschland fliehen musste. Deshalb sind „gerettete Stücke“, wie meine Großmutter Teile ihrer Mobiliars, Kristallgläser und Kleidungsstücke nennt, für sie sehr wichtig; eben wie diese Abendhandtasche: Weil sie eine greifbare Erinnerung mit historischem Hintergrund darstellt.

3 Exponat-Text

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die hier gezeigte Abendhandtasche stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert und wurde von ihrer Besitzerin, Marie-Luise Müller (1890-1975), etwa 1910 in Dresden erworben. Die 13 x 17 cm kleine Tasche aus grünem Kettsamt ist auf der Vorderseite mit goldfarbenen Perlen und Pailletten aus feinem Metall bestickt. Die Tasche wird durch einen dünnen Metalldraht in Form gehalten. Sie besitzt einen Klappverschluss aus Messing und ist Innen mit weißem Leinen ausgekleidet. Dieser Innenraum besitzt zusätzlich ein kleines seitliches Schlitzfach, welches etwa zum Aufbewahren von Visitenkarten oder losen Geldscheinen gedient haben mag.

Diese sogenannte Pochette trug man im 20. Jahrhundert mit dem Henkel aus Messinggliedern am Unterarm zu passendem Kleid auf abendlichen Gesellschaften, Bällen, im Theater oder in der Oper.

Die Handtasche als modisches Accessoire etablierte sich erst etwa 1875 als solches. Als Vorläufer der Handtasche gilt nach den mittelalterlichen Aufbewahrungsbeuteln der Biedermeier-Strickbeutel für die Frau, an welchen die moderne Handtasche als Aufbewahrung für Hab und Gut anknüpft. Die Pariser Mode der damaligen Zeit etablierte durch Kunst- und Kultformen der Handtasche diese als festen Bestandteil der femininen Couture.

Handtaschen wie die hier Ausgestellte waren eher bei den besser gestellten Damen mit breiter Garderobe zu festlichen Anlässen zu finden. Das Bürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts wollte sich unter anderem durch kulturellere Freizeitgestaltung, Malerei, Theater und natürlich Mode von anderen Klassen, etwa der Arbeiterschicht, absetzen.

4 Zusammenfassung und abschließende Bemerkungen

Die Geschichte Deutschlands zwischen 1890 und 1990 könnte vielfältiger wohl kaum gewesen sein. Dementsprechend interessant war es, in diesem Projektseminar durch völlig unterschiedliche Gegenstände Teile dieser Historie zu beleuchten und sie dadurch zugänglicher zu machen.

Durch mein Objekt, die Abendhandtasche aus dem frühen 20. Jahrhundert, habe ich mich intensiv mit dem Dresdner Bürgertum und dem Wilhelminismus auseinandergesetzt. Für mich waren die Recherchearbeiten zu dieser Zeit insofern besonders lehrreich, als dass ich mich , in einem Umfang, der in diesem Essay aus inhaltlichen Gründen gar keinen Platz finden konnte, mit den frühen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen konnte, was viel zum Verständnis für die darauf folgenden, signifikanten Geschichtsverläufe des 20. Jahrhunderts beitrug.

Auch war es für mich überraschend, wie viel Engagement und Forschung nötig ist, um eine Ausstellung zu konzipieren. Kritik muss ich an mir selbst üben, in punkto Recherche: Ich hätte mir vom Besuch bei einem Schneidermeister mehr erwünscht; die dort erhaltenen Informationen waren leider zu lückenhaft, um sie in diesen Essay mitaufzunehmen. Vielleicht wäre die Recherche in einem Textilmuseum (ideal wäre natürlich die Sonderausstellung des bayerischen Nationalmuseum zur Geschichte der Handtasche gewesen (2013), zu welcher ich leider nicht einmal den Ausstellungskatalog auftreiben konnte) hilfreich gewesen.

Dennoch kann ich abschließend behaupten, viele Einblicke durch dieses Projekt gewonnen zu haben. Gerade im Hinblick auf die historische Verortung des Gegenstandes und das Stück Familiengeschichte, welche das Objekt erzählt.

[...]


[1] Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20 Jahrhundert. München 2014. S. 15

[2] Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20 Jahrhundert. München 2014. S. 17

[3] Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20 Jahrhundert. München 2014. S. 21

[4] Epkenhans, Michael und von Seggern, Andreas: Leben im Kaiserreich. Deutschland um 1900. Stuttgart 2007. S. 6

[5] Schulz, Andreas: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. Und 20 Jahrhundert. Enzyklopädie Deutscher Geschichte. Band 75. Herausgegeben von LothaGall. München 2005. S. 26

[6] Ebenda S. 22

[7] http://www.semperoper.de/haus/geschichte-der-semperoper

[8] Ebenda

[9] Kolditz, Gerald: In der Zeit des Kaiserreiches (1871-1918). In: Dresden. Die Geschichte der Stadt. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. vom Dresdner Geschichtsverein e. V. Hamburg, 2002. S. 193

[10] Ebenda S. 184

[11] Kolditz, Gerald: In der Zeit des Kaiserreiches (1871-1918). In: Dresden. Die Geschichte der Stadt. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. vom Dresdner Geschichtsverein e. V. Hamburg, 2002. S. 186

[12] Kolditz, Gerald: In der Zeit des Kaiserreiches (1871-1918). In: Dresden. Die Geschichte der Stadt. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. vom Dresdner Geschichtsverein e. V. Hamburg, 2002. S. 188

[13] Ebenda S. 188 ff.

[14] Ebenda

[15] Roedig, Andrea: www.tagesspiegel.de/wissen/evolution-der-handtasche-liebling-der-frauen

[16] Ebenda

[17] Loschek, Ingrid: Mode im 20. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte unserer Zeit. München, 1984. S. 36

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Das Dresdner Bürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Welchen Einblick eine Abendhandtasche von etwa 1910 gewährt
Hochschule
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Note
1,5
Autor
Jahr
2013
Seiten
13
Katalognummer
V294851
ISBN (eBook)
9783656926252
ISBN (Buch)
9783656926269
Dateigröße
673 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bürgertum, Jahrhundertwende, Dresden 1910, Dresden um Jahrhundertwende, Ausstellungsstück, Alte Handtasche, Antike Handtasche, Objekte verstehen, Objekte interpretieren
Arbeit zitieren
Vanessa Hindinger (Autor:in), 2013, Das Dresdner Bürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Welchen Einblick eine Abendhandtasche von etwa 1910 gewährt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294851

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