Bertolt Brecht und Peter Weiss. Realität und Teilfiktion in "Die Ästhetik des Widerstands"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Peter Weiss - Eine Einführung
1.1 Die Ästhetik des Widerstands

2. Die Kunstwerke in Die Ästhetik des Widerstands
2.1 Mythologische Stoffe
2.2 Die Bildende Kunst
2.3 Literaturrezeptionen

3. Brecht im Roman von Peter Weiss
3.1 Beschreibung
3.2 Funktion und Rolle Bert Brechts
3.a Das Engelbrekt-Drama
3.b Bertold Brechts Pläne in Schweden und Peter Weiss͚ Recherchegrundlagen
3.c Brechts Position im Widerstand gegen den Faschismus

4. Abschließende Bemerkungen

Quellenverzeichnis

1. Peter Weiss - Eine Einführung

Franz Josef Görtz schrieb am 18. 10. 1982 in der FAZ einen besonderen Nachruf für den mit 65 Jahren früh verstorbenen Autor Peter Weiss:

ÄDer Meldung vom Tod des Schriftstellers Peter Weiss im Mai dieses Jahres folgte eine zweite unmittelbar auf dem Fuße: die Nachricht nämlich, daß die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt ihn mit dem Büchnerpreis für 1982 auszeichnen wolle. Und als gelte es, den unausgesprochenen Vorwurf zu entkräften, zu Lebzeiten sei er für diese Auszeichnung offenbar nicht in Frage gekommen, ließ man durchblicken, die Entscheidung sei schon in der Woche zuvor gefallen, Weiss habe davon Kenntnis gehabt und auch zugesagt, den Preis anzunehmen.“

Görtz beschreibt Weiss als einen der Autoren neben Grass, Handke und Enzensberger (allesamt Büchnerpreisträger) welche für die literarische Entwicklung in den sechziger Jahren in Deutschland eine bedeutsame Rolle gespielt haben und verweist klar auf die politische Rolle der Literatur dieser Zeit. Auch im Hinblick auf die NS-Vergangenheit (Weiss‘ Auschwitz-Oratorium Die Ermittlung sei hier genannt) betont Görtz die sozialistische Einstellung des Peter Weiss und verweist auf sein dreibändiges Spätwerk Die Ästhetik des Widerstands (Görtz:1982). Auch Norbert Krenzlin betont, dass Peter Weiss den Roman als sein Hauptwerk gesehen habe (1987:7) und auch die Tatsache, dass sich in Die Ästhetik des Widerstands (im Folgenden: ÄDW) viele Parallelen zum Autor und seiner Biographie (das Chronistische, die Politik, Schweden als Exil der Familie Weiss, Kunstverehrung etc.) finden, stützt Krenzlins These.

Peter Weiss (1916-1982), welcher die faschistische Zeit unter den Nationalsozialisten als junger Mensch jüdischer Abstammung aus einer Opferrolle heraus erlebt hat, in der Tschechoslowakei, in England, der Schweiz und schließlich in Schweden als Künstler ohne eine Berufsausbildung versuchte, zu leben und sich zu behaupten, wird besonders in der Nachkriegszeit durch seinen avantgardistischen Stil und seine politische Einstellung als Künstler (liberal, Gruppe 47, sozialistisch) bekannt.

ÄDie großen politischen Dramen, die von 1964 bis 1971, von 'Marat/Sade' über 'Die Ermittlung', den 'Gesang vom lusitanischen Popanz', den 'Vietnam-Diskurs', 'Trotzki im Exil' bis 'Hölderlin' dem zeitgenössischen Theater eine neue gesellschaftliche Brisanz und künstlerische Ausdruckskraft erobern, verschaffen Peter Weiss eine weltweite Geltung.“ (Höller:o.J.)

1.1 Die Ästhetik des Widerstands

Die dreibändige Ich-Erzählung um einen namenlosen Arbeitersohn spiegelt die politischen Entwicklungen und den Verlauf des antifaschistischen Widerstands im Deutschland des 20. Jahrhunderts wider und verknüpft diese mit Darstellungen der bildenden und literarischen Künste (ästhetischer Aspekt). Das innerhalb von 10 Jahren entstandene Werk umfasst etwa 1000 Seiten und gilt besonders in der Nachkriegsliteratur als ÄRoman einer Epoche“ (Krenzlin 1987:7). Peter Weiss versucht in seinem Werk die Arbeiterbewegung mit der ursprünglich bis dato als bürgerlich angesehenen Kunstausübung zu verknüpfen und politische (Widerstand) sowie künstlerische Schaffensprozesse (Entstehung des Engelbrekt- Drama) und bedeutsame Kunstwerke (etwa Pergamon-Altar) miteinander zu verbinden. So wird also bereits am etwas widerspenstigen Titel Ästhetik des Widerstands nach Bearbeitung des Romans deutlich, auf was der Autor abzielt: Auf einen Gebrauch und eine Auslegung, beziehungsweise Interpretation, der Kunst ganz im Sinne des linken Widerstandes. Insgesamt wird diese Verknüpfung im Mikro-Kosmos des Ich-Erzählers deutlich, der sich vom unwissenden Kunstanalphabeten zum Mitwirkenden einer Künstlergruppierung bis hin zum eigenständig Kunstschaffenden wandelt. Aus der Ich-Perspektive wird die Revolten- Stimmung des Widerstandes deutlich und der Roman appelliert immer wieder die Motive von Frieden, vom Kämpfen für den Sozialismus und gegen den Faschismus und vor allem für die Befreiung aus der Unmündigkeit: Die Arbeiterbewegung. Die Rolle der Arbeiterbewegung wird gleich zu Beginn etwa schon alleine mit der Geburt der Hauptfigur verbunden. So erwähnt etwa Kurt Pätzold, dass Äfür den Romancier […] dieses Jahrhundert mit dem Jahr des Sieges der ersten proletarischen Revolution: 1917…“ beginnt (1987:15).

Ä…denn vor zwanzig Jahren, als Lenin um acht Uhr abends, […] den Weg zum Smolny antrat, lag meine Mutter in der Frauenklinik am Weserufer in den Wehen, und […] am Morgen zum achten November, als Antonov Ovsejenko, […] die Mitglieder der Provisorischen Regierung im Winterpalais für verhaftet erklärte, kam ich auf die Welt und […] bei der Ausgabe des Ausrufs, daß [sic] alle Macht jetzt übergehe auf die Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern… (Weiss:1976,252)“

Jedoch steht ÄDW auch, neben dieser Geschichte der (schwedischen) Arbeiterbewegung, für die Geschichte der Kunst: In einer Art musée imaginaire finden sich im Roman unzählige Philosophen, Literaten, Maler, Komponisten, Dichter, Schauspieler und Regisseure, Tänzer, Bildhauer und ein Theologe wider und Kunstwerke aus der Antike, der griechischen Mythologie, der (modernen) Malerei, zudem Statuen, literarische (Meister-) Werke, Darstellungen aus der christlichen Lehre, Architektonisches und Opern.

Immer wieder, wie in Zitaten, wird indirekt auf die Kunst angespielt und es findet sozusagen eine subtile Unterzeichnung des gesamten Werkes mit dem Motiv des Künstlerischen statt. Wichtig ist hierbei hervorzuheben, dass die Kunst in ÄDW nicht bloß eine Rolle des Schönen besitzt, sondern dass vielmehr an ihr der Autor die politische Geschichte (u.a. der Arbeiterbewegung) nachzeichnet und stützt. Das Verhältnis von Kunst und Politik dient dabei zuvorderst als Modell für vergangene und zukünftige politikhistorische Begebenheiten. So sind etwa auch die Figuren der Erzählung selbst der Überzeugung, durch und aus Kunst für politisches Handeln lernen zu können. Herbert Claas beschreibt, wie etwa die Figur Bert Brecht in Gesprächskreisen versucht, durch die Anhörung von Ansichten der Angehörigen verschiedener politischen Gruppierungen die Ursachen für die Niederlage der spanischen Republik zu finden (1981:146).

Neben den politischen und ästhetischen (künstlerischen) Aspekten, vertritt die Erzählung als dritte Komponente auch das Historische, welches von Peter Weiss durch Recherchen sehr detailgetreu dargestellt wird: Weimarer Republik, Faschismus, Arbeiterbewegung und Sozialismus in Europa. Viele handelnde Figuren sind von (namensgleichen) Vertretern der realen Geschichte inspiriert gezeichnet (u. a. auch Brecht) und wirken als (politisch) Aktive am historischen Zeitgeschehen mit. Auch die historischen Orte (Berlin, Tschechoslowakei, Spanien, schwedisches Exil) sind Vorbild und fiktives Material für den Autor zugleich. Krenzlin betont, dass der besondere Titel Ästhetik des Widerstands sinngemäß betrachtet werden sollte und dass der Leser sich mit dem Titel wie mit einem Schlagwort bei der Lektüre beständig auseinandersetzen sollte, dass als die wesentliche und hauptsächliche Fragestellung des Romans auf den Zusammenhang zwischen Widerstand und Ästhetik abzielt und demnach alle Wendungen der Erzählung auch stets unter diesem Aspekt zu verstehen sind (1987:88).

In der folgenden Arbeit sollen die Kunstwerke (und Künstler) mit dem Verweis auf den Grund ihres Vorkommens und ihre Funktion in der ÄDW aufgezeigt werden, im Speziellen wird die Figur des Bert Brecht untersucht und analysiert, sowie das Engelbrekt-Drama und es soll der Versuch angestellt werden, einige Parallelen zwischen der Figur und dem echten Bertold Brecht darzulegen.

2. Die Kunstwerke in die Ästhetik des Widerstands

Weiss stellt einen hohen Anspruch an die Kunstwerke in der ÄDW: Er sieht Kunst als bildendes und lehrendes Material, sieht in ihr die verdichtete oder komprimierte Wahrheit und verleibt gerade der Hochkunst einen universellen Bildungsanspruch, bemerkt etwa Harald Olbrich (1987:123f.). Kunst besitzt in ÄDW eine immer wieder anders zu interpretierende Schlüsselstellung und soll dem Leser die Erzählung näher bringen, sie insgesamt in einen Kanon stellen und aus der simplen Arbeiterbewegung das maximale Maß an Intellekt und höherem Gedankengut herausbefördern. Wie eine klassische Kunsthistorik beginnt die Erzählung quasi chronologisch in der Antike, mit der Beschreibung des steinernen Pergamon-Altars und endet auch wieder mit der Betrachtung dessen, insbesondere mit der fehlenden Herakles-Figur.

2.1 Mythologische Stoffe

Besonders finden sich in ÄDW Stoffe und Motive aus der griechischen Mythologie verarbeitet. So erschließt sich etwa der Ich-Erzähler in seinen abendlichen Kompositionsstudien mythologische Kunstwerke der Medusa und des Minotaurus (Picasso) oder auch des Pegasus (Weiss 1976:334-340) und er erkennt:

ÄAuch die Geschichte der Kunst glich einer Spirale, in deren Verlauf wir immer in der Nähe des Früheren waren, und alle Bestandteile ständig aufs neue moduliert und variiert sahn [sic], und wenn sich eine für uns bedeutsame Verändrung [sic] ergab, so lag sie darin, daß [sic] wir den anfänglichen Wert der Kunst wiederentdeckt hatten, denn sie war, seitdem es ein Denken gab, Eigentum aller, verwachsen mit unseren Impulsen und Reflexen. (1976:75f.)“

Er zieht also aus der Kunstbetrachtung seine Lehren für sich selbst und vor allem für die Arbeiterbewegung und verknüpft klassische Stoffe der Mythologie, wie etwa den Herakles, mit seinen eigenen Interessen und Zielen. In architektonischen Kunstwerken sieht er wiederum die eigentlichen Kreatoren, die einfachen Handwerker und Steinmetze als Kunstschaffende und stellt sie indirekt auf eine Stufe, mit den Tempeln, die sie bauen, etwa mit den mythologischen Motiven des Hinduismus (Gottheit Vishnu) und beschreibt ihre Verbundenheit mit den erschaffenen Köpfen der göttlichen Könige, welche Äkolossal die Bauwerke krönten“ (1976:352). Auch sein ÄVater verlangte nach einer Wissenschaft, deren Anliegen es war, die Vorboten der proletarischen Kämpfe in Zeichnungen, Holzschnitten, Gemälden, Skulpturen, aufzufinden.“ (1976:351)

Des Weiteren finden als Motive der griechischen Mythologie Erwähnung: Ikarus, Nike, Mnemosyne, Ge sowie die Götter des Olymp und die Kinder der Ge im Gigantenkampf (Gigantomachie).

2.2 Die Bildende Kunst

Bei den Malereien in ÄDW sticht besonders die Gruppe der französischen Kunst von der Zeit der französischen Revolutionen bis hin zum Deutsch-Französischen Krieg heraus. Diese knapp 100 Jahre als Hauptbestandteil der zitierten Kunst auszuwählen, ist keine Zufälligkeit. Als Inspiration und historisches Vorbild für die Arbeiterbewegung bildet diese Epoche ein zentrales Schlüsselmotiv und ist der Grund, für die Beschäftigung des Ich-Erzählers und seiner Freunde mit der Kunst. ÄDiese Arbeit der Rezipienten im Roman, ihre Arbeit mit dem Bild, ist geistig und körperlich, politisch und existenziell, ist für Weiss Widerstand per se.“ stellt Harald Olbrich fest (1987:129). So finden sich etwa im Roman die Siegessäule Napoleons (gestürzt am 18. Mai 1871 während des Aufstands der Pariser Kommune), die Marseillaise (1792), Die Internationale (Hymne der sozialistischen Arbeiterbewegung 1871 (1881), Los Caprichos (1796-1797 als Kritik am spanischen Adel), Desastres de la Guerra (1810-1814 Kriegsschreckensbilder des napoleonischen Heeres gegen die aufständische Bevölkerung Spaniens) und die Freiheit führt das Volk (1830) von Eugéne Delacroix, das wohl bis heute sinnbildlichste Motiv für die Arbeiterbefreiung.

Auch das Motiv Arbeiter und Arbeiterinnen an sich findet sich sehr häufig in der Malerei in ÄDW. So werden etwa Beispiele der Malerei des russischen Realismus besprochen, welche das Motiv der Arbeit erfassen: Konstantin Sawizkis: Reparaturarbeiten an der Eisenbahn von 1874, Nikolai Yaroshenkos Heizer (1878), und Troika von Wassili Perow (1866) werden alle im ersten Band der ÄDW erwähnt: ÄNur Erniedrigung, Unterdrückung, Gefangensein gab es in den Gemälden der russisches Realisten, doch in ihrer Verbundenheit mit den Menschen, die sie darstellten, in der Schilderung des Unrechts, das ihnen wiederfuhr, standen sie schon auf der Seite derer, die eine Erneuerung planten.“, erkennt der Ich-Erzähler bei der Betrachtung der Arbeiter-Motive und spricht von einer Äneuartigen Aussagekraft“, die die Bilder die Äaus dem neunzehnten Jahrhundert auf uns zu kamen“ umfängt.

Er interpretiert auch Die Steinklopfer von Gustave Courbet von 1849/1850 und stellt fest, dass zwar die Aufstände der Arbeiter bisher niedergeschlagen wurden, dass allerdings Äder harte Griff des Älteren um den Hammerschaft schon wieder den Gesten beim Barrikadenbau, beim wütenden Widerstreit“ gleicht (ÄDW 1975:60f.). Auch hier bezieht der Protagonist die Kunst wieder in das eigene Leben mit ein, erkennt sich selbst in den Bildern wieder und hofft, Wissen aus ihnen ziehen zu können. Geradezu besessen zieht sich dieser Gedankenstrang des Ich-Erzählers durch den gesamten Roman. Stets hofft er, durch Bildung aus der Kunst Schlüsse für den Widerstand und Hilfe zur Selbsthilfe ziehen zu können.

Hierzu schreibt Stephan Meyer:

Vor allem in den ersten zwei Romanbänden nehmen Bilderfahrung und Bilddeutung eine zentrale Position innerhalb des Handlungszusammenhangs ein. Dabei setzt sich die Interpretation von Werken der darstellenden Künste zumeist aus drei Komponenten zusammen: […] die Deutungsteile, in denen die Bilderfahrung als individuelle Erleben beschrieben wird, […] das Bilderlebnis […] unter einem allgemeinen, […] sozialen Blickwinkel festgehalten […] und […] dann die Verbindung jener beiden 'Erfahrungsweisen', d. h. die Synthese von subjektiv-kritischer Bildrezeption und […] des gesamtgesellschaftlichen, respektive historischen Zustands.“ (1998:288).

Das Motiv der Arbeit auf dem Felde findet sich auch in den Malereien des Jean-François Millet wieder. Eine andere große Gruppe an Motiven sind die biblischen Abbildungen, Heiligenzeichnungen und Darstellungen der christlichen Lehre. So finden sich etwa Kreuzigungsszenen von Piero della Francesca und Heiligenabbildungen des Giotto di Bondone aus dem Spät- und Hochmittelalter. Das Ich zieht Parallelen zwischen der Kargheit seiner Wohnung und zwischen der Anna di Bondones und seiner eigenen Mutter und hält sich vor, dass Ä…jetzt unterm Dröhnen der Manövergeschwader, daß [sic] die bei unsrer Amut absurd erscheinende Beschäftigung mit gedanklichen Reichtümern unser Anteil im Kampf ums Überleben sei…“ (ÄDW 1975:88f.). Diese Stelle im Roman ist insofern von Interesse für die Gesamtdeutung des Werkes, da sich hier bereits die Meinung des Ich- Erzählers über die wichtige Vergangenheit und Zukunft seiner Klasse, seiner Arbeiterklasse zeigt: Er stellt sich und seine Angehörigen des sozialistischen Widerstandes in eine lange Tradition der Unterdrückten, bis hin zum Ursprung des Christentums, frei nach der Lehre Christis, in welcher die Letzten die Ersten sein werden.

Hier wird also schon früh deutlich, welche Stellung die Arbeiterschaft inne hat und vor allem, welche ihr, laut Ich-Erzähler, endlich zustehen wird. In der Buchhandlung am Marktplatz entdeckt der Erzähler weitere spätmittelalterliche Darstellungen von Pieter Brueghel dem Älteren, welche Menschen zeigen, die Äim Unabänderlichen gefangen“ sind und hauptsächlich Schmerz zum Ausdruck bringen, welcher sich allerdings kaum vom Ausdruck der Ekstase unterscheidet: ÄVon Vergnügen und Geselligkeit gab es in den Gemälden, die das Volksleben schilderten, nicht eine Spur.“ (ÄDW 1975:174). Und auch hier lernt das Ich wieder aus den Bildern Eigenschaften zu erkennen, welche er bei den Arbeitern seiner Zeit ebenso feststellen kann, beispielsweise das Joch der Unterdrückung, welches seine Klasse stets niederringt.

Weitere auftauchende Motive in ÄDW sind Schrecken, Krieg, Kampf, Aufstand und Widerstand, Mord und Völkermord.

2.2 Literaturrezeptionen

Deutlich weniger Literatur als Kunst wurde von Peter Weiss in der ÄDW verarbeitet und doch ist gerade diese mit dem Beispiel der Figur des Bert Brechts besonders weitschweifig und detailliert ausgearbeitet. Im Zuge der Selbstedukation und der Abendschule stoßen der Ich- Erzählers und seine Freunden Coppi und Heilmann auch auf Dante Alighieri, denn sie Äverurteilten den Abfall, der sich täglich aus den Kloaken der Massenmedien über die Bevölkerung ergoß [sic]“ und wollen keine Schund- oder Pseudoliteratur lesen, sondern die echten Werke des Weltkanons des Bürgertums (ÄDW 1975:79) und lassen sich allerdings ebenso wenig vom Sozialismus vorschreiben, regelkonforme Werke zu lesen: ÄSo verlief unser Bildungsgang […] im Widerstreit zum Grundsatz einer sozialistischen Kultursicht, nach dem die Meister der Vergangenheit sanktioniert und die Pioniere […] exkommuniziert wurden.“ (1975:79). Sie stoßen also auf Dantes Inferno und die Divina Comedia und versuchen herauszufinden, was diese mit ihrem Leben zu tun hat (1975:81). Sie erkennen, dass sie die Aussagen nicht so verstehen müssen, wie sie vor hunderten von Jahren gemeint waren, sondern dass es vielmehr darum geht, immer noch gültige, fortwährende Erkenntnisse aus der Divina Comedia zu ziehen (1975:82).

Die Buddenbrooks und Wilhelm Meisters Wanderjahre von Thomas Mann und Johann Wolfgang von Goethe werden als Beispiele für den bürgerlichen Gesellschaftsroman genannt. Auch Heinrich Heine findet mit Lutetia, einer politischen Auseinanderlegung des Marxismus, Erwähnung in der ÄDW, ebenso wie Das Schloss von Franz Kafka, in welchem sich der Ich-Erzähler selbst wiedererkennt in der Rolle des Landvermesser, der niemals zu den höher Bemächtigten oder ins Schloss kommen kann, so wie er, der Arbeiter (der IchErzähler) nicht zu den Bürgerlichen, Adeligen, Kapitalistischen, um mit ihnen einmal von Angesicht zu Angesicht sprechen zu können (ÄDW 1975:178).

Als Beispiele für Romane über die Arbeiterbildung, welche das Ich im Roman erfährt (Ä…die Sprache, die zusammenhing mit unsern alltäglichen Handhabungen, hatte sich erweitert, plötzlich verstanden wir Gedichte, die scheinbar nichts zu tun hatten mit unsern Stempelkarten […] und Gewerkschaftstreffen.“ (1975:185) ) werden unter anderem Romane von André Gide, Knut Hamsun und Elias Canetti aufgeführt.

3. Brecht im Roman von Peter Weiss

Als Romanfigur taucht Brecht im zweiten Band der ÄDW auf, welche 1978 erscheint. Der Ich-Erzähler lernt ihn im schwedischen Exil kennen und schließt sich dem Arbeitskreis um den berühmten Schriftsteller an. Die Arbeitstechniken des Bert Brecht werden genauestens geschildert und der Ich-Erzähler tritt das erste Mal aus seiner passiven Kunstrezeption hervor und wird als Chronist gemeinsamen Denkens selbst zum Kunstschaffenden. Auch das von Brecht im Roman verworfene Engelbrekt-Drama, führt der Erzähler eigenständig fort. Brecht lehrt ihn also (indirekt), aus der Unmündigkeit zu entkommen und selbst zum Sprachrohr von Gedanken durch die Kunst zu werden. Gudrun Klatt behauptet, dass Peter Weiss‘ Brecht-Rezeption auf dem Hintergrund der siebziger und achtziger Jahre betrachtet werden muss:

ÄZur Diskussion stehen Geschichte der Klassenkämpfe und Geschichte der Kunst, der kulturrevolutionäre Anspruch des proletarischen Befreiungskampfes und dessen tatsächlicher historischer Verlauf seit der Oktoberrevolution, Sozialprozesse in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und praktische Politik mit Bündnissen neuer Art, wie sie durch die Herrschaft des Faschismus erforderlich wurden.“ (1987:140)

Und Herbert Claas betont, weshalb die Figur des Brecht bei Weiss‘ so eine bedeutsame Rolle spielt: ÄVom Auftauchen der Brecht-Figur an datiert der Impuls für den Übergang der Ästhetik des Widerstands von der rezeptiven Aneignung der Kunst zur produktiven Aneignung der Wirklichkeit im Medium der Dichtung.“ (Claas 1981:146). Hiermit ist vor allem der bereits erwähnte Wandel des Ich-Erzählers vom Rezipienten zum aus der Wirklichkeit heraus Kunst Erschaffenden gemeint. Obwohl Brecht für den Erzähler eine eher abschreckende Wirkung hat und er nicht mit ihm sympathisiert (ÄZum Kreis seiner Freunde gehörte ich nie. Nie war ich Gast bei ihm…“ (ÄDW 1978:205) ), beteiligt er sich am Arbeitskreis um Brecht so weit, bis er schließlich sogar seine angefangenen Werken selbstständig fortsetzt. Die ist laut Claas sein Wille, da erst durch die Sprache, durch das zur Sprache kommen, für ewig in der Schrift fixiert, Erfahrungen richtig verarbeitet und aufbereitet werden können und vor allem vor Zersetzung bewahrt werden (Claas 1981: 146). Der Ich-Erzähler lernt also durch die Figur Brecht, nach dem Vorbild etwa eines Dante Alighieri etwas zu produzieren, was für andere neue Erkenntnisse bringt, auch nach vielen Jahren.

Im Folgenden wird die Brecht-Episode und das Wirken dieser im Roman behandelt.

3.1 Beschreibung

Die Handlung um Brecht beträgt knapp 150 Seiten des etwa 1000 Seiten langen Romans und beginnt mit der Erwähnung Hodans, er habe Beziehungen zu Brecht, als altem Schulfreund, welcher sich momentan ebenfalls im schwedischen Exil, in einem Vorort von Viggbyholm, befinde. Für Brecht soll ein Haus organisiert werden und Hodan schlägt dem Ich-Erzähler einen gemeinsamen Besuch vor, welcher sich allerdings immer wieder verschiebt und hinauszögert. Schließlich wird der Erzähler von Tombrock, dem Maler, einem ihm unsympathischen Landstreicher angehalten, welcher überraschend eine Vermittlung zu Brecht, zu welchem er freundschaftliche Beziehungen unterhält, vorschlägt: ÄEin Besuch bei Brecht, um dort vielleicht Erklärungen zu erhalten über die Hintergründe der gespenstischen Ereignislosigkeit, war oft besprochen und immer wieder aufgeschoben worden. Nicht durch Hodan, […] sondern durch die Vermittlung eines Meldegängers, eines Landstreichers, […] kam die Begegnung schließlich doch zustande.“ (ÄDW 1978:142f.). Der Ich-Erzähler erkennt schon beim ersten Treffen in dessen Literaturkommune, weshalb Brecht wie ein Pate Anhänger um sich schert:

Während der folgenden Aussagen wurde es deutlich, daß [sic] er Angehörige verschiedner [sic] politischer Gruppierungen zu sich bestellt hatte, um aus ihren gegensätzlichen Ansichten Schlüsse ziehn [sic] zu können über die Gründe des republikanischen Zusammenbruchs. Es war, als entspräche sein abgesonderter Sitzplatz auch einer Reserviertheit den Versammelten gegenüber.“ (1978:148)

Der Ich-Erzähler beschreibt Brecht als kalt und fordernd und erkennt, dass Brecht Ämit dem Recht, das in den Leistungen begründet war, die er zurückgab, voraussetzte, daß [sic] jeder zu ihm kam, dem er winkte…“ (1978:152). Trotz dieser Erkenntnis um den Charakter des kollektivistischen Arbeitens um Brecht, lässt sich auch der Erzähler auf eine Tätigkeit für den im Exil lebenden und dort ebenso wie in Deutschland vergötterten Schriftsteller ein. Brecht befragt immer wieder die Anwesenden nach ihren Einstellungen (ÄWelche Wirkung der Pakt auf die Kommunisten in Frankreich und die deutsche Opposition ausüben würde…“ (1978:165) ) politischer Natur und ihren Vorhersagungen zum bevorstehenden Weltkrieg. Dieser wird nämlich bereits von den Meisten als ziemlich sicher aufgefasst und selbst der Ich-Erzähler bemerkt die angespannte Vorkriegssituation, welche sich im Mikrokosmos des Brechtschen Arbeitskreises als Stilmittel abzeichnet: ÄEine Atmosphäre des Argwohns, des gegenseitigen Überwachens war aufgekommen. Das Atelier, mit den geduckt Sitzenden, den verschwimmenden Gestellen, glich einer Art Verhörsraum.“ (1978:166). Die Beschreibung des Arbeitsraumes um Brecht, mit seinen vielen Tischen voller Bücher, Manuskripte und einer alten Schreibmaschine sind hauptsächlich negativ konnotiert. Als Werkstatt und Fabrik wird Brechts Haus vom Erzähler charakterisiert, womit wieder Bezüge zu seiner Arbeit in der Fabrik hergestellt werden.

ÄIn seiner unter Dampf stehenden Fabrik eilte er hin und her, alle Abteilungen überblickend, hier und da kurze Anweisungen gebend, den Weg der verschiednen [sic] Produkte verfolgend, die Ergebnisse überprüfend und stets bereitstellend zu weitrer [sic] Verwertung.“ (1978:213)

Brecht selbst ist dem Erzähler unsympathisch, er wertet ihn ab und beschreibt ihn teilweise angewidert und abgeschreckt und teilweise angezogen, wenn er sagt: ÄLichtspiegelungen auf seinen Brillengläsern weckten den Eindruck von zwei glühenden Pupillen. Spitz stieß die Nase vor. Seine Mundwinkel waren bräunlich gefärbt vom Saft der zerkauten Zigarre.“ (1978:170). Zu Beginn der Veranstaltungen bei Brecht, fügt sich der Erzähler zwar ein, versteht allerdings die Vorgehensweisen rund um die Literaturschaffung bei Brecht kaum und ist irritiert. Er möchte zwar aus der Anonymität herauskommen, besitzt allerdings nichts, was für die Teilnehmer, unter anderem Ärzte, Schriftsteller, Politiker und Wissenschaftler oder für Brecht von bedeutender Relevanz wär. Auch kümmert sich niemand um sein persönliches Schicksal, dass er in einer Fabrik arbeitet scheint niemanden zu interessieren, vor allem nicht Brecht selbst:

ÄZum Kreis seiner Freunde gehörte ich nicht. Nie war ich Gast bei ihm, wie die sozialdemokratischen Abgeordneten Branting und Ström, denen er verpflichtet war, weil sie ihm die Einreiseerlaubnis nach Schweden beschafft hatten, wie die Ärzte Hodann und Goldschmidt, die schriftsteller Blomberg und Edfelt, die Schauspieler Greid und Wifstrand, die Wissenschaftler Steinitz, Scholz und Ziedorn, die Politiker Enderle und Plenikowski. Ich vermutete, daß […] Brecht nicht einmal wusste, daß [sic] ich in einer Fabrik arbeitete…“ (1978:205).

Auch hier, in der Werkstatt von Brecht, befindet sich das Ich im Abseits, da Brecht sich mit einer künstlerischen Elite umgibt, neben denen der Erzähler trotz aller bis dato betriebenen Selbststudien der Künste, nichts vorzuweisen hat. Allerdings ist diese Stelle als Moment von der Passivität zur aktiven Teilnahme heraus jedoch gekennzeichnet durch den Wunsch des Ichs, aus seiner Anonymität herauszukommen und an den Werken mitzuwirken, welche Ävon der Anteilnahmen an Geschehnissen sprachen, die meine Existenz berührten.“ (1978:168). Die liegt daran, dass Brecht Äallem kollektiven Wissen, das er in sich einsog“ und was er niederschreibt, Äeine allgemeingültige, politische Bedeutung“ verleiht. Hier greifen an dieser Stelle wieder die Motive der Allgemeingültigkeit der Kunst und ihre Verwobenheit mit dem politischen Geschehenen, welche den Ich-Erzähler im ersten Band zu detaillierten Kunstbetrachtungen und -interpretationen verleiten. Nun erkennt er quasi erneut den Wert der Kunst und zieht daraus den Entschluss, dass auch er sich einbringen muss, Kunst schaffen muss, um seine Erkenntnisse und seine Realität artifiziell zu verwirklichen und somit weitertragen zu können. Konkret möchte das Ich zum ÄSchüler seiner eigenen Erfahrungen werden“ und bekommt eine Arbeit übertragen. Er hofft, der Verworrenheit seiner aktuellen, politisch schwierigen Zeit durch nüchterne literarische Betrachtung beizukommen: ÄUnd doch rückte ich, nach den vielen Vorbereitungen, dem, das ich als meine Aufgabe ansah, näher. Berufsschreiber, das klang wie Berufsrevolutionär.“ (1978:169). Zwischen der Arbeit in der Fabrik kurzen Nächten und flüchtigen Mahlzeiten beginnt der Erzähler für Brecht Materialien zum Engelbrekt-Drama zu sammeln. Der Stoff entpuppt sich als schwierig in Form zu bringen, und die Herausforderung besteht darin, die Äständigen Verzweigungen und Abspaltungen, den Widersprüchen und Vieldeutigkeiten der Geschehnisse“ in eine Epik zu fassen. Brecht verwirft das Stück auch nach längerer Arbeit daran und widmet sich der Mutter Courage und einem Hörspiel für den schwedischen Rundfunk. Brecht will mit dem schwedischen Freiheitskämpfer ein Stück entwerfen, welches sich auch auf die aktuelle Weltlage (der Arbeiterschaft) beziehen lässt und von Unterdrückung und Widerstandskämpfen handeln soll. Bevor also das Stück entsteht, weiß er schon, auf was er hinausmöchte und verarbeitet quasi nur noch den historischen Stoff, welcher von seinen Mitarbeitern besorgt wird, zu einem Ganzen. Er selbst schafft in ÄDW keine Kunst aus dem Nichts, sondern verarbeitet eher, wie in einer Montage, die von ihm in Auftrag gegebenen Rechercheergebnisse seiner freiwilligen Mitarbeiter. Brecht bezahlt keinen seiner Helfer und dennoch ist die Atmosphäre wie in einer Fabrik, in welcher jeder an dem Gehalt, dem Job klammert und dem Chef, aus Angst, den Job zu verlieren, niemals widerspricht:

Ä… und oft vergaß ich während der Aufzeichnungen, daß [sic] ich vor mir das Werk eines andern hatte. Und wieder gehörte dies zu den Bedingungen, unter denen ich lebte, als Bote, als Medium, als Dienender, und dabei gab ich mich oft dem Gedanken hin, daß […] mich die kaum gewürdigten Leistungen doch eines Tages zu Aufgaben führen würden, die ich meine eignen nennen könnte. Von Brecht war ich vorläufig entlassen worden, mit flüchtigem Hinweis auf spätre [sic] Wiederaufnahme der Arbeit…“ (1978:204f.)

Der von Weiss eingefügte Bruch zwischen den Hoffnungen des Ich-Erzählers und seiner plötzlichen vorläufigen ÄEntlassung“ (aus der Arbeit von Brecht) zeigt wieder die Ähnlichkeiten zum kapitalistischen Arbeitsmarkt auf und der Erzähler erkennt, dass er für Brecht keinen persönlichen Wert hat.

ÄGeleitet von Brechts Souveränität, die nie einen Zweifel daran ließ, daß [sic] er es war, dem alles, was in seiner Werkstatt erzeugt wurde, zugute kam, verblieb ich, trotz scheinbarer Selbstverantwortlichkeit, eine Art Angestellter, doch ohne befragt zu werden, wovon ich eigentlich lebte.“ (1978:214)

Dennoch bleibt er Teil der Engelbrekt-Arbeit und führt diese letztendlich sogar in Eigenregie zu Ende. Er bleibt Teil, da er dieses Mal versucht, aus der Mitarbeit zu lernen und sich zum Schriftsteller heranzubilden. Nach mehr als einem Jahr Arbeit in Brechts Werkstatt drängt sich bei ihm der Wunsch auf, Änicht nur Beobachter in einem Provisorium zu sein, sondern einzugehn [sic] in eine Gegenwart, die erfüllt war von den Erwartungen der letzten Jahrzehnte.“ Und es kommt ihm darauf an, Ädurch die verstärkte Beziehung zu einer Gesamtheit“ seine eigenen ÄFunktionen zu festigen.“ (1978:256). So beginnt der Erzähler also, sich am Werk des schwedischen Freiheitskämpfers massiv zu beteiligen, führt es selbst zu Ende und erlebt somit seinen Weg aus der politischen Unmündigkeit, niedergedrückt von den Reichen und Mächtigen. Wenngleich er auch keine vollständige Revolution miterlebt oder gar anführt, so verewigt er immerhin den Gedanken dieser im Engelbrekt-Stück und kämpft wie die Figur im Widerstand gegen Unterdrückung (Nationalsozialismus).

Das Ende der Brecht-Episode in ÄDW ist gekennzeichnet durch die gezwungene und plötzliche Weiterreise Brechts nach Norwegen. Der Erzähler bemerkt: ÄUnverbindlich, wie meine Tätigkeit bei Brecht begonnen hatte, hörte sie auch auf […] Brecht reichte mir flüchtig die Hand…“ und als er nach dem Grund für den Besuch auf der Insel gefragt wird, antwortet er: ÄAbschiednahme von einem Freund, der mein Freund nicht, doch mein Lehrer gewesen war.“ (1978:319).

3.2 Funktion und Rolle Bert Brechts

Die Entwicklung, die der Ich-Erzähler während des einjährigen Mitwirkens am Kollektiv Brechts durchmacht, kann als Wendepunkt im Roman bezeichnet werden, da alles, was den Erzähler im ersten Teil so bewegt, die Bilder und Malereien, mit welchen er zum ersten Mal in Kontakt kommt und von denen er gleich spürt, dass sie mehr sind als nur Kunst und auch eine (politische) Aussagekraft haben, welche er für sich selbst nutzen kann und daraus Erfahrungen ziehen kann, lernt er bei Brecht anzuwenden und umzuwandeln. Er wird selbst zum Schaffenden dank Brecht, bei dem er die dafür nötige Arbeitsweise lernt. Herbert Class beschreibt die Importanz des Brecht-Teils wie folgt:

ÄDas große Thema, das mit der Darstellung der Brechtschen Werkstatt abgehandelt wird, ist das des intellektuellen Klassenverrats, des parteilichen Zugriffs des sozialistischen Künstlers auf die fortgeschrittenen Produktionsmittel der Kultur seiner bürgerlichen Herkunftsklasse, an denen ihn nicht der Verfall, sondern ihr Reichtum interessiert. Das Problem tritt scharf hervor, weil der Vorgang aus der wunschbiographischen Perspektive des Ich-Erzählers wahrgenommen wird, der den historisch nächstfolgenden Tag ästhetischer Weltaneignung vorstellt, zugleich geduldig und ungeduldig befaßt mit der Erbschaft.“ (1981:147f.)

Brecht wird im Roman oft als Pate dargestellt, thronend auf dem Sessel, bestimmend, herrisch und er lässt andere für sich arbeiten. Jost Hermand beleuchtet den Charakter der Brecht-Figur psychoanalytisch und stellt Bezüge zum Autor Peter Weiss her, indem er behauptet, dass Brecht für Weiss eine Art ÄÜber-Vater“ in seinem Leben sei und ÄMinderwertigkeitskomplexe“ eine große Rolle spielen, weshalb Weiss auch dem Ich- Erzähler eine Art Emanzipation und Abwendung vom Vater zuschreibt, als dieser selbst zum Kunstschaffenden wird (Hermand 1983:190-202, zit. n. Klatt: 1987:138f.) Eventuell ist dies mitunter ein Grund, für die Einarbeitung Brechts als zentralen Wendepunkt in ÄDW. Brecht ist nämlich insofern Drehmoment des Romans, als das der Ich-Erzähler von der rezeptiven Aneignung der Kunst übergeht zur produktiven Aneignung und Verarbeitung der Wirklichkeit (Göllner 1988:249). Im Abschluss, kurz bevor Brecht nach Norwegen reisen muss, beendet der Erzähler das Engelbrekt-Drama, von dem Brecht schon lange nichts mehr wissen will, da er es für ungeeignet hält, den politischen Stoff mit der aktuellen Situation zu vereinen. Da ist der Erzähler schon der Chronist gemeinsamen Denkens und arbeitet alle Notizen zu den Gesprächen Brechts für diesen aus. Er hat somit bereits eine wichtige Funktion in der literarischen Fabrik inne, er ist aufgestiegen und bald ist sein ÄBewußtsein [sic] vom Prozeß [sic] des Schreibens erfüllt“. Er registriert Aussagen und Impulse, erinnert sich an Bilder und Handlungen und setzt diese nun ebenso wie Brecht als Montage zusammen, wo alles Vorherige nur ÄVorübung“ gewesen war und er baut auf allen Momenten, die er greift, seine ÄGedanken und Reflexionen auf.“ Endlich blickt er hinein in den Mechanismus und die Kluft, die er zuvor verspürt hat, als er sich ausgeschlossen von der intellektuellen Elite um Brecht fühlte, Ähatte nichts Quälendes mehr“ und er empfindet, dass das, was er eigentlich ausdrücken möchte ihm nun zugänglich ist durch Äden Druck der realen Verhältnisse“. So verarbeitet er also gegen Brechts Meinung, dass Engelbrekt-Stück tauge nicht zur Darstellung aktueller politischer Verhältnisse, seine eigenen Ansichten, indem er Engelbrekt nachspürt, denn dieser Ämußte [sic] seine Fahrt antreten“ (ÄDW 1978:306).

Für Peter Weiss stand schon sehr früh fest, dass Brecht eine zentrale Rolle der Figurenkonstellation ausfüllen wird. So beschreibt er etwa in seinen Notibüchern von 1971- 1980 immer wieder, wie er Brechts Leben recherchiert und es so umkonzipiert, dass er es für seinen Roman verwenden kann:

ÄBerlin DDR Brecht - seine Bibliothek? Der hat nur Krimskrams gelesen. Seine Mitarbeiter haben ihm Exzerpte angefertigt, haben ihm Zusammenfassungen von irgendwie interessanten Büchern geliefert. Marx studiert - hat er nicht. Korsch hat ihm alles Notwendige zusammengefaßt [sic].“ (1981:74)

Die Brecht-Figur bei Peter Weiss ist jedoch trotz intensivster Recherchen teilfiktional, obgleich der belegbaren Fakten und Gesprächen rund um die Arbeitsgruppe des echten Brechts, betont Dieter Bähzt und verweist auf den Autor selbst, welcher bekennt, dass für ihn die Namen echt, allerdings wie Chiffren zu sehen seien und selbst das Ich im Roman jemand anderer sei (1998:37). Und im Gespräch mit Arne Ruth (1979) antwortet Weiss auf die Frage nach Fakt und Fiktion der Figur Brecht: ÄEs gibt im ganzen Roman außer der Hauptfigur keine einzige Gestalt, die erfunden wäre. Ich habe Sie dann natürlich so behandelt, als seien sie imaginär, aber der äußere Rahmen, alle Zusammenkünfte, Gespräche, Geschehnisse und Adressen - das ist authentisch.“ Und Bähtz interpretiert die Aussage Weiss‘ als eine Äpost-virulente Therapie, eine Art Selbst-Heilung, zumindest deren Versuch“ und meint damit Weiss‘ Identifikation mit dem Ich-Erzähler (1998:39).

Brechts Kollektiv ist gleichzusetzen mit dem Kollektiv der Arbeiterklasse, welches gemeinsam gegen die Unterdrückung kämpft. Brecht repräsentiert die künstlerische Avantgarde in der ÄDW und befindet sich politisch auf der Seite der Sowjetunion (was sich deckt mit der Zustimmung Brechts zum Marxismus). Im Untergrund, im Exil führt Brecht einen Kampf gegen den Faschismus und die Unterdrückung und irgendwie für alles Linke, weshalb es auch nicht verwunderlich ist, dass sich der Ich-Erzähler sofort angezogen fühlt von Brecht und seinen Mitarbeitern. Er sucht nach der Niederlage in Spanien eine ähnliche Tätigkeit als Revolutionär, darf sich allerdings als Emigrant nicht öffentlich politisch betätigen und etwa der KP beitreten und somit ist Brecht eine Alternative für den Erzähler, als dass er hier durch Mitarbeit und später eigenständiges Arbeiten als Berufsschreiber, Berufsrevolutionär unter dem universellen Deckmantel der Kunst sich trotzdem politisch betätigen und verwirklichen kann. ÄIn der Zusammenarbeit mit Brecht erfährt der IchErzähler, wie politisches Denken und ästhetische Aktivität einander durchdringen, wie Lebenswelt und -erfahrung sich in Kunstwirklichkeit umsetzen, wie dem Schriftsteller Schreiben zur Lebenspraxis wird.“ (Klatt 1987:142-146).

Ein Grund für die Entscheidung des Ich-Erzählers ist mitunter, dass der Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse und gegen den Faschismus noch nicht bereit ist, weshalb er auch mehr Sinn darin sieht, durch die Kunst Gedankengut zu verbreiten, statt selbst zu kämpfen, schließlich beschreibt er immer wieder, wie Aufstände niedergeschlagen wurden in der Geschichte und wie die NS-Bedrohung stetig wächst.

Brecht als Funktion fungiert insofern auch als eine komplette Ideologie in der ÄDW, welcher sich der Erzähler verschreibt und durch die er erstmals seine berufliche Zukunft erkennt, nämlich die, des Berufsschreibers für die politische Sache. Bis dato irrt er eher umher, gedanklich sowie vor allem geographisch und erst durch Brecht festigt er sich. Somit ist das Ich, um erneut die psychoanalytische These von Hermand aufzugreifen, an seinem Über- Vater gewachsen und wurde erst durch ihn (dasselbe) das, was er schließlich ist. So hat im Prinzip durch eine Adaption Brechts, durch seine Schreibwerkstatt und den sich darin spiegelnden Prozess einer kapitalistischen Fabrik erst eine Emanzipation hin zum Künstler, welcher ja theoretisch frei von jeglichem System sein sollte, stattgefunden. Dies lässt sich eventuelle deuten als eine These von Weiss‘, nach der der Kapitalismus bereits in der Kunst Einzug gehalten hat, also selbst im eigentlich freiesten Winkel aller Berufsfelder und es somit nicht vollständig möglich, wenn nicht sogar unmöglich ist, dass sich der Sozialismus und mit ihm die Befreiung der Arbeiter von der Unterdrückung der kapitalistischen Bürger jemals durchsetzen wird.

3.a Das Engelbrekt-Drama

Das Material zum Engelbrekt und seiner Epoche beschaffen Brecht Matthis und Jungdal, letzterer arbeitet in der Stadtbibliothek und hat Zugriff zu vielen Büchern. Der eigentliche Auslöser für Brechts Auftrag, nach Material für ein Stück über den schwedischen Freiheitskämpfer zu suchen, liegt in der Zurückweisung Brechts und seines Manuskripts des Galilei durch Brunius (Pauline Brunius), der Leiterin des Dramatischen Theaters (Schwedisches Nationaltheater Stockholm). Matthis hatte ihr das Skript übergeben, doch die lehnte ab, mit der Begründung, sie würden keine religiösen Stücke spielen (ÄEr [Matthis] es handle sich nicht um die Galiläer, sondern um einen italienischen Wissenschaftler der Renaissance. Auch das könnte kaum von Interesse sein, sagt sie…“ (ÄDW 1978:177) ). Brecht ist über diese Zurückweisung so verärgert, dass er Äerbittert und empört nach dem ersten Bericht“ Matthis auffordert darzulegen, Äwelche Freiheitskämpfer, Volksführer es in Schweden gegeben habe“ (1978:178). Brecht fühlt sich unterdrückt von den Herrschenden und sucht eine Parallele zu sich und der Historie des Exillandes und möchte zur Geschichte dessen Stellung beziehen.

ÄDie Erwähnung Engelbrekts, oder Engelbrechts, wie Brecht ihn anfangs noch, nach seinem ursprünglichen deutschen Namen, nannte, hatte ihn sogleich beeindruckt, er legte seine Heftigkeit, seinen Zorn in diese Gestalt, malte sie sich schon aus, ehe ihm Einzelheiten über deren Charakter und Wirken bekannt waren. Engelbrekt aufgreifend, konnte er auch Stellung nehmen zur Geschichte dieses Lands, in das es ihn verschlagen hatte.“

Der echte Bertolt Brecht hat das Drama nie geschrieben, beziehungsweise er hat es früh verworfen, gleich der Brecht-Figur im Roman. Es ließ sich keine geeignete Spielform für die Breites des Stoffes finden, da er sich nicht zu einer Fabel biegen ließ und es Brecht, wie der Ich-Erzähler später erkennt, hauptsächlich um Stilübungen ging und er eher vom Experimentieren als vom fertigen Werk fasziniert war. Weiss notiert am 30.05.1972 in seinen Notizbüchern: ÄKönigl. Bibliothek, Handschriftensammlung. Einsicht in die Mappe Brecht. Die Skizzen zum engelbrekt-drama 1. engelbrecht instruiert die bauen sollen ihre dreckigen stiefel abputzen 2. adel und klerus beraten 3. eröffnung des neuen reichstags, wahl engelbrechts zum reichsvorstand 4. antrag des adels: die bauern sollen ihre dreckigen stiefel abputzen 5. discussion, ob der gesandte des königs erscheinen darf. er spricht dann dänisch. Kontrolle des Reichstags durch die Straße. Tod und Beweinung des Engelbrecht.“ (Weiss Notizen I:88). Diese Notizen ist alles, was Weiss zum Engelbrekt-Drama vermerkt. Weiss schreibt das Stück also selbst und orientiert sich in Gestaltung und Sprache an anderen Stücken von Brecht.

3. b Bertolt Brechts Pläne in Schweden und Peter Weiss‘ Recherchegrundlagen

Bertolt Brecht blieb genau 359 Tage im schwedischen Exil, vom 23. April 1939 bis zum 16. April 1940. Im August 1939 begegnen sich Brecht und Weiss, letzterer empfindet lediglich Respekt für den bekannten Dramatiker. ÄWas der in der linken Welt tonangebende Theatermann, Essayist und Prosaschreiber Peter Weiss drei Jahrzehnte später in seinem epochalen Roman konstruiert und demonstriert - ‚macht‘ - ist die Erinnerung und Fiktion einer ‚Wunschautobiographie‘.“ (Bähtz 1998:36f.). Hauptansätze für die Recherche der sehr detaillierten und dennoch teilfiktionalen Darstellung des echten Bertolt Brecht im Roman von Peter Weiss lassen sich natürlich in seinen Notizbüchern finden, vermerkt sind Einteilungen und Verhalten Brechts zu seiner Familie, Frauen und Mitarbeitern, genug Negatives um ihn für Weiss Äabstoßend“ zu machen (Weiss Notizen:98f., 101, 528, 634). Für Weiss ist Bertolt Brecht unzugänglich und unsympathisch aber er vermerkt, dass gebrochene Charaktere wohl Ädazugehören, zu dem, was so voll von Fehlern, Missverständnissen, Zwisten ist.“ (W.Not.: 334) und meint damit unter anderem das literarische Schaffen.

Im Interview mit Burkhardt Lindner 1981 finden sich auch zahlreiche Kommentare von Weiss zur Brecht-Figur: ÄDas Ich setzt sich mit fertigen Figuren wie Brecht auseinander und in dieser imaginären Zusammenarbeit mit dem Lehrer erreicht es, was es selber auch will, zum Beginn seines eigenen Ausdrucks zu kommen. Es fängt ja da erst an, zu schreiben…“. Und Weiss erklärt auch seine eigene Begegnung mit Brecht, welcher ihn nur als unbekannten Emigranten wahrnimmt, der Brecht nichts zu bieten hat.

Zwar greift Weiss nur auf flüchtige Erinnerungen und Eindrücke zurück, schildert diese allerdings als beeindruckend, da Brecht damals schon sehr bekannt war und Weiss auch seine Stücke wie Mahagonny und die Dreigroschenoper bereits als junger Mensch gesehen hatte. Im Gespräch mit Lindner erklärt Weiss auch, inwiefern seine eigene Begegnung mit Bertolt Brecht die Begegnung des Ich-Erzählers mit der Brecht-Figur ist: ÄMir war Brecht eigentlich nicht sympathisch, weil er sich für mich nicht interessierte. Ich habe auch Minderwertigkeitsgefühle gehabt: ich hatte ihm nichts zu zeigen, keine fertigen Werke; ich stand da als blinder Anfänger und er war der Meister. Diese Rolle des Meisters teilte sich ja in den kurzen Begegnungen sofort mit.“ Auf die Aussage des Ichs im Roman Äein Freund nicht, doch ein Lehrer“, lässt sich Weiss‘ Aussage beziehen, von Brecht habe er Äeben doch etwas gelernt nämlich, wie jemand, der seiner ganzen männlichen Herkunft nach in Konvention gefangen ist, doch Vorstellungen von Veränderungen wie kaum ein anderer“ haben kann.

3.c Brechts Position im Widerstand gegen den Faschismus

Bertolt Brecht gehörte keiner (kommunistischen) Partei an oder war besonders politisch engagiert. Für ihn war sein Wirken als Literat Politik, so wie es für den Ich-Erzähler in der ÄDW ist und wie es auch Hans-Wilhelm Grote in seinem Essay in der Zeitschrift Dialektik 1983 beschreibt: ÄDie in praktisch-gegenständlicher Absicht orientierte Reflexion des Zusammenhanges von ‚Krieg‘ (Kampf) und Literatur (als Moment von ‚Kultur‘) ist zentral für Brechts Werk ab Ende der zwanziger Jahre bis zu seinem Tod 1956“ (Grote 1983: 143).

Die Werke Brechts wurden 1933 von den Nationalsozialisten verbrannt und verboten, 1935 wurde ihm sogar die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Als bekennender Marxist (bis zur DDR) war er ein Volksfeind für die Nationalsozialisten und flüchtete nach dem Reichstagsbrand zunächst in die Tschechoslowakei, weiter nach Österreich, Schweiz, Frankreich und Dänemark, bis er schließlich in Schweden landete, bevor er weiter nach Finnland, Russland und in die USA reiste. Ein Vertriebener also war er, ein politischer Flüchtling.

Für Brecht ist mitunter der Kapitalismus und die daraus resultierende Zwietracht in den Arbeiterparteien (vor allem kritisiert er die SPD) Schuld am Faschismus im Europa des 20. Jahrhunderts. Trotz bürgerlichem Hintergrund vertritt er daher die Position der Arbeiterbewegung und des Widerstandes gegen den Faschismus und für den Sozialismus. ÄBrechts antifaschistische Kritik verweist auf die Möglichkeiten der ‚Vernunft im Kampf gegen den Faschismus. Herausragendes Beispiel dafür ist Leben des Galilei. […] Angesichts der Entwicklung der (deutschen) bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zum Faschismus ist es vollends offenkundig, daß [sic] das Bürgertum nicht mehr Träger historischer Vernunft sein kann.“ (Grote 1983: 148). Die Einstellung gegen eine bestimmte politische Richtung, wie dem Nationalsozialismus, erfordert nicht nur eine genaue oder zumindest genauere Kenntnis derer, sondern auch eine eigene exakt formulierte Perspektive. Brecht formuliert seine Einstellung also durch die These der Vernunft und gestaltete durch sie als Motiv in seinen Werken, seine Umgebung ethisch und moralisch um; als Künstler und gleichzeitig als literarischer Bote der Politik.

4. Abschließende Bemerkungen

Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss kann mit Sicherheit als ein herausragender Roman Nachkriegsdeutschlands bezeichnet werden, da sich kaum ein Autor sonst so mit der Politik des 20. Jahrhunderts im Hinblick auf die Arbeiterbewegung befasst hat und versucht hat, Historisches, Künstlerisches und Poltisches miteinander zu vereinbaren. Durch exakte und aufwändige Recherchen ist es Weiss gelungen, das Fiktionale eines Romans mit realen Personen, Orten und historischen Zusammenhängen zu verknüpfen, so dass dadurch eine Art verifizierter Hintergrund entstanden ist, welcher dem Roman die nötige Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit verleiht, den er braucht, um sich in der literarischen Rezeption Geltung zu verschaffen. Denn der Roman bleibt schlussendlich genau das, was er ist, ein Politikum. Politik ist Geschichte und Geschichte wird zur Kunst - wenn man dieser These Glaubwürdigkeit unterstreichen möchte, dann mit der Ästhetik des Widerstands. Weiss verknüpft auf über 1000 Seiten Kunst, Historie und Politik zu einem großen Ganzen und zeigt die Verbindungen auf, zwischen Kunstausbildung und Mündigkeit, zwischen Politik und Belesenheit und zeigt wie in einem Entwicklungsroman die Wandlung des Ich-Erzählers hin zum Literaten. Ein Schriftsteller zwar und kein Politiker, aber der Kunstschaffende bringt sich mit seinem Ende des Engelbrekt-Stückes in die Geschichte Schwedens und in die Kunst und somit zusammengenommen auch in die Politik ein. Subtil und legal.

Möglicherweise ist auch diese Art der Politikbeeinflussung, des politischen Widerstandes, für Peter Weiss die Effektivste und gerade deshalb geht der Erzähler in sein ÄWunschautobiographie“ diesen Weg. Als Künstler und nicht als Kämpfer, mit der Vernunft als Waffe, um Brechts Ansatz zum antifaschistischen Widerstand aufzugreifen. Im Spätwerk von Weiss werden auch die politischen Einstellungen des Autors selbst verdeutlicht und Parallelen zwischen ihm und seinem Erzähler sind häufig. Daher kann Die Ästhetik des Widerstands generell mit einer starken Auslegung auf den linken Widerstand gelesen werden, um einen Zugang zur diesem zu erhalten: So könnte die Verworrenheit und Vielfältigkeit der Figurenwelt, der Schauplätze und der (zeitlich) teilweise sprunghaften Handlungen, Vor- und Rückblenden als Wirrungen des tatsächlichen linken Widerstands betrachtet werden, dessen Verlauf niemals stetig war oder gar jemals beendet wurde, sondern der linke Widerstand steht bis heute immer wieder vor neuen Herausforderungen und vor dem Problem, sich durch die richtige Auslebung zu etablieren. Dass es vielerlei falsche, beziehungsweise problematische Arten gibt, linken Widerstand zu leisten oder gar eine kommunistische Weltordnung zu erreichen, erkennt man an der geschichtlichen Realität (etwa DDR, blutige Bürgerkriege / Aufstände) aber auch bereits im Roman von Peter Weiss anhand der zahlreichen Darstellungen von zerschlagenen Auf- und Widerständen, verlorenen Kämpfen und beschriebenen Versagen der linken Ideologie in Kunstszenen oder Geschichtsrückblenden des Ich-Erzählers.

Peter Weiss hat an die vorkommenden Kunstwerke, die Malereien, Skulpturen, Schriften einen hohen Anspruch und lässt ausschließlich wahre Meistwerke den Weg des Widerstands der Arbeiterklasse begleiten. Er und der Ich-Erzähler verleihen der Kunst einen Bildungsanspruch und fordern diesen geradezu ein. Als Mittel zum Zweck wird der Klassenverrat des Ich-Erzählers deutlich, wenn er sich den bürgerlichen Kunstwerken, den Zeichnungen der Literati des Mittelalters oder den Bauwerken und Skulpturen der Reichen und Mächtigen zuwendet. Er begeht allerdings nicht nur einen Klassenverrat, sondern versucht vor allem durch den Übertritt hin zum Bürgerlichen, zum belesenen Schriftsteller, seine eigene Klasse, die Arbeiterbewegung mit hoch zu ziehen. Er hat erkannt, dass die Arbeiterbewegung nicht durch das bloße Kämpfen zu erreichen ist, sondern dass sie mit den Mitteln der Brechtschen Vernunft diplomatisch zu erreichen ist. Daher nimmt er sich der Aufgabe an, linkes Gedankengut zu produzieren und er macht auch hier eine Wandlung durch und begeht erst recht den Klassenverrats, indem er vom Mitarbeiter in Brechts Schreibfabrik zum eigenständigen Produzenten von Literatur wird. Er lernt die Prozesse und wird wie Brecht (sein eigener) Chef. Durch Vernunft und vor allem aber durch Bildung kann er diesen Weg gehen und selbstständig und mündig werden. Zwar befreit er sich so aus der Unterdrückung der Arbeiter, wird allerdings selbst ein Stück weit zu einem solchen, dadurch, dass er seinem Arbeiterleben den Rücken kehrt. Hauptsächlich versucht der Ich-Erzähler aber - und hier ist wieder die Parallele zu Weiss - durch eigene Bildung und Ausflucht aus der unterdrückten Klasse, durch Bildung, durch das Schreiben, etwas für die Arbeiterbewegung zu erreichen und zwar genau an der Wurzel allen Übels, im Bürgertum, bei den Unterdrückern selbst.

Literaturverzeichnis:

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Klatt, Gudrun: Korrespondenz und Widerspruch - Brecht bei Peter Weiss. In: Ästhetik des Widerstands. Erfahrungen mit dem Roman von Peter Weiss. Hrsg. von Norbert Krenzlin. Berlin 1987.

Krenzlin, Norbert: Vorbemerkung und Ästhetik im Epochenumbruch - Zur Stellung der ‚Ästhetik des Widerstands‘ in den Ästhetik-Debatten der Gegenwart. In: Ästhetik des Widerstands. Erfahrungen mit dem Roman von Peter Weiss. Hrsg. von Norbert Krenzlin. Berlin 1987.

Lindner, Burkhardt: Peter Weiss im Gespräch mit Burkhard Lindner. Zwischen Pergamon und Plötzensee oder die andere Darstellung der Verläufe. In : ‚Ästhetik des Widerstands‘ lesen. Literatur im historischen Prozeß. Neue Folge 1. Hrsg. von Karl-Heinz Götz und Klaus

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Seite | 22

Pätzold, Kurt: Jahrhundertsicht in Peter Weiss‘ Roman ‚Die Ästhetik des Widerstands‘. In:

Ästhetik des Widerstands. Erfahrungen mit dem Roman von Peter Weiss. Hrsg. von Norbert Krenzlin. Berlin 1987.

Weiss, Peter: Die Ästhetik des Widerstands.

Weiss, Peter: Notizbücher 1971-1980. Frankfurt am Main 1981.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Bertolt Brecht und Peter Weiss. Realität und Teilfiktion in "Die Ästhetik des Widerstands"
Hochschule
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
24
Katalognummer
V294830
ISBN (eBook)
9783656926153
ISBN (Buch)
9783656926160
Dateigröße
1012 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
bertolt, brecht, peter, weiss, realität, teilfiktion, ästhetik, widerstands
Arbeit zitieren
Vanessa Hindinger (Autor:in), 2014, Bertolt Brecht und Peter Weiss. Realität und Teilfiktion in "Die Ästhetik des Widerstands", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294830

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