The Theory Of Moral Sentiments - ein dekriptives oder ein normatives Projekt?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Adam Smith
Die Sympathie
Der unparteiische Zuschauer
Das Gewissen – der imaginäre Zuschauer

Der Anspruch der Theory Of Moral Sentiments
Einleitung
Die Normativität kommt ins Spiel
Karl Graf Ballestrem
T.D. Campbell

Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Einleitung

Wir fällen täglich Urteile. Diese Feststellung scheint nicht sonderlich spektakulär. Ein ar­beitsloser Ingenieur schaut sich die Nachrichten im Fernsehen an und verurteilt anschließend mit bitterbösen Worten die Arbeit der Regierung, muss er doch mit der Streichung eines Teils seines Arbeitslosengeldes aufgrund der Hartz IV-Reformen rechnen. Die meist gehörte Frage, nachdem ein Film im Kino zu Ende gegangen ist, lautet: „Na, wie fandest du’s?“ Und der Fragesteller erwartet von seinem Gegenüber ein Urteil über die Qualität des eben gesehenen Streifens.

Doch nicht alle Urteile scheinen von derselben Art zu sein. Einige haben den Anspruch, persönliche Präferenzen auszudrücken, andere werden mit objektivem Anspruch vertreten.

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Jürgen war am Samstagabend in der Disco und macht sich zu Fuß auf den Weg in seine nahe gelegene Wohnung. Plötzlich rennt eine Frau über die Straße, die aus der Nase blutet. Ihr auf den Fersen ist ein junger Mann, der offensichtlich für die Nase verantwortlich ist. Jürgen erkennt ihn als den stadtbekannten Schläger Achim. Die Situation legt nahe, dass die Frau, sollte Achim sie erwischen, weitere Verletzungen davontragen wird. Ob Jürgens Zivilcourage ohne die fünf in der Disco getrunkenen Bier ebenfalls so enorm ausgefallen wäre, sei dahin gestellt. Auf alle Fälle fasst er sich ein Herz und stellt sich dem Mann in den Weg:

„Hey, was soll denn das?“, fragt er entschlossen den Prügelknaben.

„Hau ab, die Schlampe hat mich betrogen. Sie verdient eine Abreibung!“, schreit ihn der Verfolger an.

„Jetzt komm mal runter, betrogen worden zu sein ist noch lange kein Grund dafür, auf andere einzuschlagen.“, versucht Jürgen ihn zu beruhigen. „Komm, ich lad Dich auf ein Bier ein, dann kannst Du mir die Geschichte in aller Ruhe erzählen.“

„Hör auf mit dem Gelaber, mich betrügt keine Frau! Und wenn doch, dann muss sie mit den Konsequenzen leben.“, brüllt Achim, rempelt Jürgen unsanft zur Seite und verschwindet in die Richtung, in welche die Frau geflohen ist.

Der frustrierte Jürgen reagiert zu langsam, als dass er die Verfolgung noch aufnehmen könnte. Darüber hinaus schreckt ihn, durch das Gespräch etwas klarer im Kopf, die Erinnerung an die enorme Körpergröße und die breiten Schultern des Provokateurs davon ab, jetzt alleine in irgendwelche dunklen Gassen zu rennen. Er beschließt, zum Polizeirevier einige Straßen weiter zu gehen. Auf dem Weg dorthin führt er ein wütendes Selbstgespräch:

„Klar, wer ihn betrügt, der verdient es halt, eine drauf zu bekommen. Was bildet der Mann sich ein? Solche Menschen gehören ins Gefängnis. Und dort sollten sie neben reichlich Toilettenputzdienst auch noch tägliche Nachhilfestunden in Sachen Moral bekommen damit sie mal lernen, wie sie ihre Mitmenschen zu behandeln haben. Das Universum dreht sich nicht nur um sie. Man muss doch Rücksicht auf die anderen nehmen.“

Wahrscheinlich würden die meisten von uns über den Schläger ähnlich wie Jürgen denken. Jürgens Urteil beinhaltet jenen oben angedeuteten objektiven Anspruch. Er vertritt nicht den Standpunkt, dass er lediglich der subjektiven Meinung ist, wonach Achim für sein Verhalten bestraft werden sollte. Jürgens Urteil impliziert, dass jeder, der in seiner Situation gewesen wäre, unter normalen Umständen zu demselben Urteil gekommen wäre.

Dass dies nicht für jedes Urteil gilt, scheint evident. Denn jemanden, der beim Biss in eine Rinderleber das Gesicht verzieht, freundlich darauf hinzuweisen, dass diese Reaktion jetzt doch objektiv falsch ist, scheint unangemessen. „Geschmäcker sind halt verschieden“ ist ein dazu passender und oft gehörter Ausspruch.

Um was für eine Art Urteil handelt es sich bei Jürgens Überlegungen? Nun, offensichtlich um das, was wir normalerweise ein moralisches Urteil nennen. Er qualifiziert Achims Reaktion auf den Betrug als falsch. Und zwar im Sinne von moralisch falsch. Es scheint zumindest auf den ersten Blick eine überzeugende These zu sein, dass moralische Urteile im Allgemeinen einen objektiven Anspruch haben. Ganz im Gegensatz beispielsweise zu ästhetischen Urteilen.[1] Schönheit mag im Auge des Betrachters liegen, Moral jedoch nicht. Doch wie kann man den objektiven Anspruch moralischer Urteile erklären?

Adam Smith, ein schottischer Moralphilosoph des 18. Jahrhunderts, hat in seinem Werk The Theory Of Moral Sentiments (TMS) einen Ansatz dafür präsentiert. Dieser Ansatz wird im ersten Teil der vorliegenden Arbeit vorgestellt. Im zweiten Teil soll geklärt werden, was für einen Anspruch dieser Ansatz selbst hat. Möchte Smith lediglich erklären, wie wir moralische Urteile fällen, oder möchte er auch – was darüber hinausgehen würde – eine Rechtfertigung für moralische Urteile liefern? Handelt es sich also um eine rein deskriptive oder auch um eine normative Theorie?

In diesem Rahmen werde ich auch darauf eingehen, inwiefern Smith dem Anspruch der Objektivität gerecht werden kann oder inwieweit er sich der Gefahr des Relativismus aussetzt.

Zum Abschluss dieser Einleitung sei noch kurz erwähnt, dass die von mir dargestellte Auffassung, nach der moralische Urteile einen objektiven Standpunkt implizieren, natürlich nicht unwidersprochen in der Philosophie ist. Es gibt durchaus Philosophen, die keinerlei Objektivität in moralischen Urteilen vermuten und in ihnen beispielsweise nur den Ausdruck persönlicher Vorlieben – ähnlich ästhetischen Urteilen – sehen. Darauf werde ich in der Arbeit nur am Rande eingehen, wenn ich die Frage erläutere, inwieweit Smith dem objektiven Anspruch gerecht werden kann. Eine ausführliche meta-ethische Debatte würde den Rahmen sprengen.

Adam Smith

Die Sympathie

Um die Überlegungen Smiths richtig einordnen zu können, sei zunächst etwas zu dem Hintergrund gesagt, vor dem er die TMS schrieb. Smith war stark beeinflusst von dem Aufkommen und dem zunehmenden Erfolg der empirischen Wissenschaften. Vor allem die Newtonsche Mechanik überzeugte ihn durch ihre Präzision, die nicht durch Komplexität erkauft wird.[2] Im Gegenteil: Newton gründet seine Lehre der Mechanik auf ein einziges Prinzip, nämlich das der Gravitation. In dieser Hinsicht ist sein System ein Paradebeispiel für ökonomisches Haushalten.

Ähnlich hochgesteckte Ziele verfolgt Smith in seiner TMS. Er glaubt allerdings nicht, dass die Motivation, die hinter moralisch korrekten Handlungen steckt, stets ein einheitliches Gefühl ist. So könnte man beispielsweise argumentieren, dass wir Handlungen immer lediglich dann als moralisch gut bewerten, wenn die Motivation, welche zur Handlung führt, aus einem Wohlwollen gegenüber den Mitmenschen resultiert. Doch diese Denkweise scheint für Smith unplausibel. Für ihn scheint es evident, dass wir die unterschiedlichsten Handlungen beziehungsweise Gefühle moralisch billigen können, seien sie egoistisch oder altruistisch motiviert. Seine Hoffnung ist es jedoch, alle moralischen Urteile auf ein einheitliches Prinzip zurückzuführen.

Das hatten vor ihm bereits andere Philosophen versucht, doch Smith verwirft in Kapitel VII seines Buches die Vorschläge seiner Vorgänger.

Er selbst findet dieses einheitliche Prinzip in der Sympathie[3]. Es ist keine ganz einfache Sache, sich darüber klar zu werden, was Smith mit Sympathie gemeint hat. Im heutigen Sprachgebrauch spricht man meist von Sympathie im Sinne von: Jemand ist mir sympathisch. In diesem Sinn ist die Smith’sche Sympathie jedoch nicht zu verstehen. Zum einen sympathisieren wir nach Smith nicht nur mit Menschen, sondern in erster Linie mit ihren Handlungen und Gefühlen. Darüber hinaus ist Sympathie auch mit äußerst negativen Gefühlen wie Schmerz, Hass oder Zorn möglich. In unserem Sprachgebrauch würde es jedoch äußerst suspekt wirken, würde jemand den Satz: „Ich sympathisiere mit seinen Schmerzen“ äußern. Die Smithsche Sympathie muss sich also auf etwas beziehen, was weiter gefasst ist. «Mitfühlen» wäre vielleicht ein passender Ausdruck. Denn Mitgefühl haben wir nicht nur bei angenehmen, sondern oft und vielleicht in einer größeren Intensität bei negativen Erfahrungen, die andere machen. Allerdings ist auch damit noch nicht genau das charakterisiert, was Smith meint. Denn wäre die Sympathie lediglich ein einfaches Mitfühlen, dann wäre sie ein Affekt. Wenn Smith sich jedoch in Kapitel II der TMS mit den Affekten auseinandersetzt, ist dort von Sympathie nichts zu lesen.

Das ist nicht etwa ein Lapsus, sondern nur konsequent. Denn die Sympathie ist für Smith mehr ein terminus technicus für ein Meta-Gefühl, also ein Gefühl für Gefühle[4]. Um genau herauszuarbeiten, was damit gemeint ist, müssen wir uns zunächst den Mechanismus anschauen, von dem Smith glaubt, dass er charakteristisch für die Ausbildung moralischer Urteile ist.

Ein erster naiver Vorschlag könnte sein, dass die Sympathie eine unmittelbare Übertragung von Gefühlen ist. Wenn wir jemanden sehen, der sich freut, freuen wir uns mit ihm. Auch wenn andere Leid erfahren zucken wir instinktiv zusammen. Dennoch scheint der Ansatz aus zwei Gründen nicht plausibel. Denn erstens entwickeln wir von Zeit zu Zeit Gefühle, welche der eigentlich Handelnde gar nicht hat. Peinlich berührt schalten wir in ein anderes Fernsehprogramm, wenn bei einem Gesangswettbewerb ein Kandidat ständig die Töne verfehlt. Wir schämen uns für ihn. Ihm selbst ist jedoch die Angelegenheit überhaupt nicht peinlich, ist sein Ego doch vielleicht so groß, dass er seine schrägen Töne schlicht überhört.

Zweitens können wir die Gefühle des anderen auch für übertrieben halten. Es fällt uns schwer mit jemandem im Smith’schen Sinne zu sympathisieren, der sich vor Schmerz auf dem Boden windet, weil er sich mit einem Hammer leicht auf den Finger geklopft hat. „Jetzt heul nicht so rum!“ denkt man sich im Stillen. Was man meint ist, dass die Reaktion nicht angemessen ist.

Sympathie funktioniert anders und zwar mittels der Einbildungskraft. Smith verdeutlicht diesen Vorgang anhand des Anblicks eines Leidenden, der auf der Folterbank liegt:

„By the imagination we place ourselves in his situation, we conceive ourselves enduring all the same torments, we enter as it were into his body, and become in some measure the same person with him, and thence form some idea of his sensation, and even feel something which, though weaker in degree, is not altogether unlike them.“[5]

Wir versetzen uns also in Gedanken in die Situation des anderen. Dadurch sind wir in der Lage darüber zu urteilen, ob wir seine Reaktion angemessen finden oder nicht. Ich überlege mir, wie ich reagieren würde, wenn ich mir mit dem Hammer auf dem Finger geklopft hätte. Normalerweise würde ich mich wohl nicht weinend auf dem Boden wälzen. Ich finde diese Reaktion deshalb unangemessen und kann nicht mit ihr sympathisieren.

In dieser Hinsicht ist die Smithsche Sympathie ein Meta-Gefühl: Natürlich bleibt sie ein Gefühl, das sich einstellen mag oder nicht. Aber sie ist insofern kein unmittelbares Gefühl, als dass sie sich nicht auf Gegenstände oder Personen richtet. Sie richtet sich auf die Gefühle anderer Personen. Die Sympathie ist unser Gespür dafür, ob Gefühle angemessen sind oder nicht – ein Gefühl für Gefühle.

Doch diese Konzeption stößt schnell auf ein grundlegendes Problem: Was für eine Motivation habe ich, mich in die Situation anderer zu versetzen?

Smiths Antwort: Gegenseitige Sympathie bringt uns Freude[6]. Wenn wir merken, dass unsere Gefühle im Einklang schwingen, versetzt uns das grundsätzlich in eine positive Stimmung. Menschen sind in dieser Hinsicht harmoniebedürftig. Ich freue mich nicht nur mit anderen, ich freue mich auch darüber, dass ich mich mit den anderen freue.

Hieraus ergibt sich ein weiteres Problem. Denn wenn uns gegenseitige Sympathie erfreut, dann müsste es uns auch erfreuen, wenn wir mit den angemessenen Schmerzen des Gegenüber mitfühlen können. Ein Krankenhaus müsste demnach, wie Hume anmerkte[7], für einen Besucher ein Haus der Freude sein, vorausgesetzt, die Kranken gehen dort mit ihren Leiden in angemessener Art und Weise um. Doch das Gegenteil ist der Fall: Viele Menschen fühlen sich schlecht, nachdem sie in einem Hospital zu Besuch waren und sich dort mit viel Leid konfrontiert sahen.

Smith hat auch dafür eine Erklärung. Mit der Sympathie gehen zwei Gefühle einher[8]: Zum einen jenes, das wir mit dem Menschen, den wir beobachten, mitfühlen. Das ist mal positiv, mal negativ, je nachdem ob der Handelnde Glück oder Leid erfährt. Darüber hinaus gibt es aber noch ein zweites Gefühl und dieses steckt in dem Bewusstsein der Übereinstimmung der Gefühle. Und lediglich dieses zweite Gefühl ist immer positiv.

Die Tatsache, dass das Gefühl des Mitfühlens bei Leiden ein negatives ist, hat jedoch einen Nebeneffekt: Es fällt uns leichter, mit Freude als mit Leid zu sympathisieren. Zwar fällt das Mitfühlen mit Leid im Normalfall stärker aus als das mit Glück, aber gerade deshalb sind wir geneigt, es zu vermeiden.

[...]


[1] Wobei an dieser Stelle angemerkt sei, dass das unter Philosophen natürlich nicht unumstritten ist. Jedoch wird diese Problematik im Folgenden keine Rolle mehr spielen und ich begnüge mich an dieser Stelle deshalb mit der „landläufigen“ Meinung.

[2] vgl. Campbell, 1975, S. 69f

[3] Auch Hume hatte bereits vor Smith die Sympathie als einen Eckpfeiler bei moralischen Urteilen erkannt. Jedoch weisen die Theorien von Smith und Hume Unterschiede im Detail auf, die Smith selbst in Teil VII der TMS darstellt. Auf eine ausführliche Diskussion der Differenzen wird in der vorliegenden Arbeit verzichtet.

[4] vgl. Ballestrem, 2001, S. 66

[5] TMS, I.i.1.2

[6] TMS I.i.2

[7] Smith verweist auf einen entsprechenden Brief Humes datiert vom 28 Juli 1759 (s. TMS I.iii.1.9)

[8] TMS I.iii.1.9

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
The Theory Of Moral Sentiments - ein dekriptives oder ein normatives Projekt?
Hochschule
Universität Karlsruhe (TH)  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Hauptseminar Adam Smith
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
28
Katalognummer
V29392
ISBN (eBook)
9783638309097
Dateigröße
582 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Adam Smith ist vielen als Vater der modernen Ökonomie bekannt. Er selbst betrachtete jedoch sein Werk zur Moralphilosophie "The Theory Of Moral Sentiments" als bedeutender. Die Grundzüge der Theorie werden im ersten Teil der Arbeit ausführlich dargestellt. Im zweiten Teil folgt die Analyse des Anspruchs der Smith'schen Moralphilosophie. Betrieb der schottische Empirist lediglich ein deskriptives Projekt oder kann aus der Theorie auch ein normativer Anspruch abgeleitet werden?
Schlagworte
Theory, Moral, Sentiments, Projekt, Hauptseminar, Adam, Smith
Arbeit zitieren
Holger Siebnich (Autor:in), 2004, The Theory Of Moral Sentiments - ein dekriptives oder ein normatives Projekt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29392

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