Gesellschaft als intermediales Bindeglied? Eine wissenschaftliche Untersuchung über das Verhältnis zwischen Drama, Film und Theater unter dem Aspekt der Gesellschaft


Seminararbeit, 2014

20 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Analytische Betrachtungsweise der Intermedialität
2.1 Darstellung der Gesellschaft in Fellinis E la nave va
2.2 Thematisierung des Arm-Reich-Konflikts in Der haarige Affe
2.3 Inhaltliche Verschmelzung der Medien in Johan Simons Inszenierung

3. Schlussbemerkung

4. Quellenverzeichnis

1. Einführung

„Wird Bühnenkunst vor dem Hintergrund des konkurrierenden Films beleuchtet, muss zunächst auf eine beachtliche Gemeinsamkeit beider Kunst-und Unterhaltungsformen hingewiesen werden: der mimetische Anspruch sowohl des Theaters als auch des Films bedingt, dass beide Formen streng genommen bereits intermedial konzipiert sind. Es handelt sich um Kombinationen auditiver und visueller Elemente“1

Die Frage nach der Intermedialität der Künste hat besonders in den letzten Jahrzehnten stark an Relevanz gewonnen. Das Theater und auch die Filmkunst sind einem ständigen Wandel unterzogen. Sie entwickeln und verändern sich, profitieren voneinander und verschmelzen zu neuen Kunstformen. Es fällt zunehmend schwer, ein Medium strikt von anderen zu trennen. Gerade im künstlerischen Bereich verschwimmen die Grenzen der einzelnen Medien immer häufiger. Regisseure sehen darin weniger eine Gefährdung ihrer Kunstform, sondern sie begreifen diesen Wandel vor allem als Möglichkeit, ihren Inszenierungen einen ganz neuen Ausdruck zu verleihen und sich hinsichtlich ihrer künstlerischen Ideen noch besser verwirklichen zu können. Doch nicht nur die Integration anderer Medien in einer Inszenierung fällt unter den Begriff der Intermedialität. Auch die jeweilige Medienästhetik kann angedeutet und in einen neuen Kontext gebracht werden.

Das Ziel der Seminararbeit wird es sein, die Verknüpfung von Film, Drama und Theater am Beispiel der Inszenierung „E la nave va“ von Johan Simons, dem gleichnamigen Fellini-Film und dem Drama „Der haarige Affe“ von Eugene O’Neill zu untersuchen. Alle drei Kunstformen thematisieren eine Art der Gesellschaftskritik, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer medienspezifischen Umsetzung teils stark voneinander. Besonders Film und Drama setzen das Thema Gesellschaftskritik jeweils anders in Szene. Die Inszenierung von Johan Simons dient daher vor allem als zusammenführendes Medium, das Film und Drama einander näher bringt. Das konkrete intermediale Verhältnis zwischen den Kunstformen wird im Fokus der Untersuchung stehen. Zunächst wird es um die Darstellung der Gesellschaft in Fellinis „E la nave va“ gehen, woraufhin die prägnantesten Szenen analysiert und in einen gemeinsamen Kontext gebracht werden. Dann wird die Thematisierung des Arm-Reich- Konflikts in „Der haarige Affe“ einmal näher untersucht. Auch hier werden besonders die Schlüsselszenen herausgegriffen und erörtert. Schließlich wird es um die inhaltliche Verschmelzung von Film und Literatur in der Inszenierung „E la nave va“ gehen. Dabei wird ausführlich erläutert, an welchen Stellen Simons eine Änderung vorgenommen hat und wie sich dies konkret auf den Gesamtkontext auswirkt.

2. Analytische Betrachtungsweise der Intermedialität

2.1 Darstellung der Gesellschaft in Fellinis „E la nave va“

Mit seinem Film „E la nave va“ macht Federico Fellini auf die Missstände in der Gesellschaft der 20er Jahre aufmerksam. Interessant ist hierbei, dass sich der Film vor allem auf die Perspektive der wohlhabenden Gesellschaft fokussiert. Dies lässt sich zum einen an der quantitativen Relation der Szenen festmachen, deren Tendenz deutlich zur Darstellung der Reichen geht. Zum anderen ist zu erkennen, dass diese selbst dann die scheinbar bedingungslose Kontrolle über die Situation haben, wenn sie zusammen mit der Arbeiterklasse agieren. In der Forschungsliteratur betont Fellini zwar beständig, dass sein inhaltlicher Fokus auf der historischen Entwicklung des Films liege, doch aus einer anderen Perspektive betrachtet, erzählt dieser Film auch viel über die Gesellschaft. Wörtlich heißt es in einem seiner Interviews: „In ‚E la nave va‘ ist die Form der Inhalt, da es ein Film über die Fotografie und das Kino ist.“2 Durch diese mediale Doppelung bekommt der Kinofilm, der über das Kino reflektiert, eine noch viel tiefere Bedeutung.

Die erste bezeichnende Sequenz findet unmittelbar nach dem Betreten des Schiffes statt. In Minute 10:10 des Filmes3 ist zum einen die Arbeitergesellschaft dargestellt, die unten am Hafen steht und der bevorstehenden Abfahrt des Luxusdampfers entgegenfiebert. Ihre Köpfe sind stets nach oben gerichtet, was den Eindruck von Bewunderung und Ehrfurcht der reichen Gesellschaft gegenüber verstärkt. Interessant ist dabei auch die Kameraeinstellung, da die zurückgebliebenen Passanten stets nur von hinten gefilmt werden und man dadurch keine Gesichter erkennen kann. Somit wird die Arbeiterklasse zu einer homogenen Masse, die keine Individualität zulässt. Zudem wird die Diskrepanz in der Gesellschaft noch dadurch verschärft, dass Arm und Reich in keiner Einstellung gemeinsam zu sehen sind. Die Distanz zwischen den beiden Klassen scheint so groß, dass die Kamera sie nicht zeitgleich in einem Bild zusammenführen kann. Durch die Nähe der Kamera an Deck wird der reichen Gesellschaft schon eine viel präzisere Darstellung zuteil, wodurch einzelne Persönlichkeiten bereits erkannt und voneinander unterschieden werden können. Selbst als die Einstellung in Minute 10:35 nach unten zu den Armen führt, scheinen diese so weit entfernt, dass man keines ihrer Gesichter erkennen kann4. Daran wird bereits deutlich, dass der Fokus der Darstellung eher auf der Perspektive der Reichen liegt.

Eine weitere Konfrontation zwischen armer und reicher Gesellschaft findet in der Szene ab Minute 27:34 statt, in der ein alter Mann musikalische Klänge mit Hilfe von Gläsern erzeugt. Das Besondere hierbei ist, dass die wohlhabenden Gäste nun zum ersten Mal in die Welt der Arbeiter eindringen. Zwar sind einige Unterschiede allein schon an der spezifischen Gestik der Protagonisten erkennbar, doch es wird auch eine gewisse Abhängigkeit beiderseits deutlich. Ohne die Bereitstellung der Gläser und des Raumes durch die Arbeiter wäre es dem alten Mann nicht möglich, sein Konzert zu realisieren. Zudem setzt jede künstlerische Vorführung ein Publikum voraus. Es scheint, als würden in dieser Szene beide Gesellschaftsklassen voneinander profitieren. Dem Künstler ist es möglich, seine musikalischen Ideen auszuleben und das improvisierte Publikum kann dem streng kalkulierten Arbeitsalltag für einen Moment entfliehen. Bezeichnend ist das Kostümbild in dieser Szene. Arbeiter und Passagiere sind stark konträr in weiß und schwarz gekleidet. Durch diesen Kontrast wird die Distanz zwischen den beiden Klassen nochmals hervorgehoben. Nach anfänglicher Skepsis lassen sich die Bediensteten von der gläsernen Musik begeistern. Es wird deutlich, dass die Arbeiter erst eine gewisse Eingewöhnungsphase brauchen, bis sie sich der Welt der Reichen hingeben können. Trotz der Harmonie, die im Verlauf der Szene aufkommt, bleiben die gesellschaftlichen Unterschiede dennoch bestehen. Durch die Platzierung des Tisches an den Anfang des Raumes wird eine theatrale Bühnensituation hergestellt. Die Angestellten stehen vor dem Tisch und rücken ihn ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Verstärkt wird diese Aufführungssituation noch gegen Ende der Szene, als das gesamte Küchenpersonal applaudiert. Diese Gegebenheit kann durchaus als eine Form der Intermedialität gesehen werden, denn die „Realisierung medialer Konventionen eines oder mehrerer Medien in einem anderen- bezeichnet Intermedialität im engeren Sinne.“5 In dieser Sequenz werden spezifische Charakteristika des Mediums Theater angewandt und in einen filmischen Kontext gebracht.

Ebenso bedeutsam ist die Szene im Kesselraum ab Minute 44:00. Eingeführt wird sie mit der Darstellung der körperlich geforderten Arbeiter. Sie sind derart mit ihrer Tätigkeit verwoben, dass ihre Haut die Farbe der Kohle angenommen hat. Interessant ist die Kleidung eines Arbeiters, der in Minute 44:23 gezeigt wird. Er trägt ein schwarz-weißes Hemd mit Querstreifen und dazu eine graue Mütze. Mit dieser Kombination erinnert er stark an einen Gefängnisinsassen. Diese Symbolhaftigkeit verweist möglicherweise auf die erschwerten Lebensumstände der Arbeiter. Sie sind gewissermaßen im Inneren des Schiffes gefangen und können nicht frei sein. Als die reichen Passagiere den Kesselraum betreten, zeichnet sich das Erstaunen in den Gesichtern der Arbeiter ab. Sie sind es nicht gewohnt, mit den Gästen des Schiffes in Kontakt zu treten. Beide Gesellschaftsklassen wirken im ersten Moment etwas befremdet. Es findet eine direkte Konfrontation mit der jeweils anderen Lebenswelt statt. Die Passagiere werden aufgefordert zu singen. Bezeichnend für das Verhältnis zwischen den wohlhabenden Gästen und der Arbeiterklasse ist die Tatsache, dass die Kommunikation zwischen den Beiden allein schon durch die räumlichen Begebenheiten nicht richtig funktioniert. Als ein Arbeiter etwas fragt, muss er seine Worte wiederholen: „Scream louder!“6 heißt es. Es scheint, als könne die bloße Stimme der Arbeiter die Diskrepanz in der Gesellschaft nicht überwinden. Erneut nutzt Fellini auch die Kameratechnik, um das Verhältnis zwischen den Klassen noch präziser darzustellen. Auch in dieser Szene sind Arm und Reich in keiner Einstellung gemeinsam zu sehen. Die stets nach oben gerichteten Köpfe der Arbeiter vermitteln dem Zuschauer eine Vorstellung davon, wie hoch oben sich die wohlhabenden Gäste befinden. Durch den Lärm, der hinzukommt, scheint die gesellschaftliche Kluft unüberwindbar. Was nun folgt, kommt einem gesanglichen Wettkampf gleich. Die Sänger versuchen stets, den anderen stimmlich zu übertreffen. Auch in dieser Szene findet ein Verweis auf die medialen Charakteristika des Theaters statt. Die Reichen inszenieren sich selbst und ihre Tätigkeit vor einem Publikum. Es ist eine Reflexion über das gesamte künstlerische Dasein im Theater. Der Künstler lebt von der Präsenz und Reaktion des Publikums. Die Begeisterung, die von den Arbeitern ausgeht, motiviert die Gäste zum Fortfahren der Inszenierung. Durch die ausgeprägte Mimik der Sänger bekommt die Szene ein noch stärkeres Maß an Theatralität. Dies bleibt auch den damaligen Filmkritikern nicht verborgen. „Das schrecklich Lächerliche an dieser Gesellschaft ist ihre Theatralik, ihre Posenhaftigkeit, ihre längst zur zweiten Natur gewordene Selbstdarstellungssucht.“7 Auch in der zweiten Küchenszene8 dringen die wohlhabenden Sänger in die Welt der Arbeiter ein und üben ihnen gegenüber Macht aus. Sie beanspruchen den Raum für sich und verhindern somit den gewöhnlichen Arbeitsablauf. Durch das Hypnotisieren eines Huhns bringen die Künstler ihre Macht zum Ausdruck und machen sie sichtbar. Ihre Umwelt muss sich dem Darstellungsdrang der Passagiere beugen.

Dann nimmt die Handlung eine bedeutsame Wendung. Unvermittelt taucht ein kleines Mädchen an Deck auf9. Trotz ihrer kindlichen Erscheinung erinnert dieses plötzliche Auftreten an das Phänomen des Deus ex machina. Durch diesen Auftritt wird die Handlung in eine nicht vorhersehbare Richtung gelenkt. Das Mädchen scheint ängstlich und ist ärmlich bekleidet. Die reichen Passagiere fassen Vertrauen zu dem Kind, wodurch sie für die bevorstehende Ankunft der Flüchtlinge sensibilisiert werden. Diese erscheinen als Kollektiv und lassen sich an Deck nieder. Beide Gesellschaftsgruppen stehen sich sprachlos gegenüber. Hinzu kommt die scheinbar unlösbare sprachliche Barriere. Anhand der Kameraeinstellungen wird immer wieder signalisiert, dass auch die serbischen Flüchtlinge den Passagieren unterlegen sind. Oft werden sie von oben herab betrachtet. Die Reichen an Deck stehen der Situation mit Abneigung gegenüber: „Captain, no one can force us to travel with these people“10. Sie fühlen sich in ihrer Privatsphäre beeinträchtigt. Doch anstatt zu protestieren, zeigen sie den hilfsbedürftigen Flüchtlingen die kalte Schulter und gehen ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nach. Prägnant ist die Szene im Speisesaal, die kurz darauf folgt11. Die reiche Gesellschaft nimmt ihr exquisites Essen zu sich und erwähnt die serbischen Flüchtlinge mit keinem Wort. Das Wirkungsvolle an dieser Szene ist, dass die Serben während dieser ausgelassenen Situation draußen vor der Scheibe stehen, wodurch eine klare Trennung zwischen Arm und Reich stattfindet. Sie werden bewusst ausgegrenzt und verstoßen. Diese Art der Desintegration ist besonders verachtend, da die Flüchtlinge durch die Scheibe direkt wahrnehmen, was ihnen fehlt bzw. was sie nicht sind. Ihnen wird klar vor Augen geführt, dass sie kein Teil dieser Gesellschaft sind. Als zweite Phase der Desintegration wird den Serben sogar der Blickkontakt verwehrt. Die Vorhänge werden zugezogen und somit verschwinden die Flüchtlinge scheinbar endgültig aus dem Bewusstsein der Reichen. Doch dann geschieht etwas Unerwartetes. Die wohlhabende Dame Violet setzt sich gegen die Meinung des Kollektivs durch und bringt den Flüchtlingen etwas zu Essen. Es findet zwar eine Annäherung zwischen beiden Gesellschaftsklassen statt, dennoch behalten die Reichen nach wie vor die Kontrolle über die Situation. Ein langes Seil ist über das Deck gespannt, welches als Grenze dienen soll und nicht übertreten werden darf.

[...]


1 Steltz, Christian: Zwischen Leinwand und Bühne. Transcript-Verlag, Bielefeld, 2010, S. 144.

2 Fellini, Federico: Ich bin ein großer Lügner. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main, 1995, S. 59.

3 Fellini, Federico [Reg.]: E la nave va. Italien, 1983. >https://www.youtube.com/watch?v=STXjXv_ID3A<

4 Fellini, Federico [Reg.]: E la nave va. Italien, 1983. >https://www.youtube.com/watch?v=STXjXv_ID3A<

5 Balme, Christopher: Crossing media. ePODIUM-Verlag, München, 2004, S. 20.

6 Fellini, Federico [Reg.]: E la nave va. Italien, 1983. >https://www.youtube.com/watch?v=STXjXv_ID3A<

7 Jenny, Urs: Das Abendland in einem Boot. SPIEGEL-Ausgabe 42, 15.10.1984.

8 Fellini, Federico [Reg.]: E la nave va. Italien, 1983. >https://www.youtube.com/watch?v=STXjXv_ID3A<, Minute 60:03.

9 Fellini, Federico [Reg.]: E la nave va. Italien, 1983. >https://www.youtube.com/watch?v=STXjXv_ID3A< Minute 75:36.

10 Ebd., Minute 79:06.

11 Ebd., Minute 79:35.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Gesellschaft als intermediales Bindeglied? Eine wissenschaftliche Untersuchung über das Verhältnis zwischen Drama, Film und Theater unter dem Aspekt der Gesellschaft
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Theaterwissenschaft München)
Note
2,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
20
Katalognummer
V293877
ISBN (eBook)
9783656915522
ISBN (Buch)
9783656915539
Dateigröße
571 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gesellschaft, bindeglied, eine, untersuchung, verhältnis, drama, film, theater, aspekt
Arbeit zitieren
M.A. Simone Holzäpfel (Autor:in), 2014, Gesellschaft als intermediales Bindeglied? Eine wissenschaftliche Untersuchung über das Verhältnis zwischen Drama, Film und Theater unter dem Aspekt der Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/293877

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