Dichtung nach Auschwitz. Sprich auch du von Paul Celan


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

22 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

I. Worüber nicht geschwiegen wird nach Auschwitz
1. Kann und darf man nach Auschwitz Gedichte schreiben? Oder muss man schweigen – im Gedicht?
2. Stationen aus Celans Leben sprechen und schweigen
3. Worüber gesprochen wird
4. Was verbricht – wer schweigt – wer spricht?

II. Sprich auch Du
1. Nicht in Sprache – Ausgesprochene Identität
2. Schweigen in Paradoxie und Negation
3. Totalität im Schweigen
4. Begründetes Schweigen
5. Wiederholtes Schweigen
6. Wahrheit zeigt sich
7. Aushalten der Ortlosigkeit
8. Befreiung zur Identität am Grund uneinholbarer Bedeutungsvielfalt
9. Landschaft des Schweigens
10. Die Wende im Gedicht
11. Selbstbegegnung in der Begegnung mit dem Anderen
12. Erinnertes Leid im neuerlernten Sprechen
13. Literaturangaben

I. Worüber nicht geschwiegen wird nach Auschwitz

1. Können und dürfen nach Auschwitz noch Gedichte geschrieben werden? Oder muss man schweigen – im Gedicht?

Was kann der großen Sprachlosigkeit jener Zeit nach Auschwitz überhaupt noch an sprachlich Geformtem gegenübertreten? Soll man das Zerbrechen des Sinns, das Versagen des Begriffs immer wieder in Gedichten geschehen lassen? Soll man den Schrecken thematisieren? Wird er, wenn man ihn zum Thema macht, ästhetisch – und ist die Ästhetisierung nicht nur eine Verlängerung und damit eine andere Form des Schreckens, wenn von Verstehen und Bewältigung nicht die Rede sein kann? Oder könnte es gelingen, Worthöhlen schaffen, um darin nichts anderes zu beherbergen als genau dieses Schweigen, das allein der Situation angemessen scheint? Dieses Schweigen ist aber nicht gleichzusetzen einem Verschweigen, sondern meint ein Stummwerden an einer bestimmten Stelle – einer Stelle im Gedicht, das vom Gerede nicht wieder überrannt werden dürfte. Denn es braucht das Bewusstsein, dass – obwohl wir uns unserer Vergangenheit erinnern müssen, wir Leiden und Opfer unsere Stimme leihen müssen – wir die Katastrophe nie in ihrem ganzen Ausmaß in Worte fassen können.

Das klingt ja auch in „nach Auschwitz“ an, wo ein nüchterner Ortsname für jene Situation steht, in der wir uns nach dem Zweiten Weltkrieg wiederfinden. Das geschieht jedoch „nicht, um die ungezählten Katastrophen der Geschichte in dieser einen vergessen zu machen, sondern um die Katastrophe genau zu verorten.“[1] Es geht darum, aufzuzeigen, dass der Schrecken einen „Ort“ hat und nicht noch einmal verallgemeinert werden kann. Die mit dem Namen Auschwitz beschriebene Katastrophe verweigert sich jeder historisierenden Einordnung in die Geschichte. Historische Objektivierung der Schrecken bleibt hinter dem, was sie zu benennen versucht, zurück. Jedoch wird man kritisch fragen müssen, ob bei der Betonung der Signatur „nach Auschwitz“ nicht die Gefahr droht, Auschwitz aus der Geschichte zu verdrängen und als meta- oder transhistorisches Datum seinem spezifischen Gewicht zu berauben. Was bliebe von den ungezählten, vielleicht auch un-erzählten Leidensgeschichten, die sich schicksalhaft mit dem Namen Auschwitz verbinden? Wäre Auschwitz dann noch mehr als eine hohle Chiffre für Leidensgeschichte „an sich“? Vielleicht benennt der Name „Auschwitz“ den Kulminationspunkt der Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderst.[2] Die Singularität von Auschwitz kann nur im Rückbezug auf ihren ursprünglichen Kontext recht verstanden werden: der Unverstehbarkeit von „Auschwitz“ Sprache zu verleihen. Selbstverständlich kann und soll Auschwitz nicht „in Konkurrenz“ zu anderen Katastrophen „aufgerechnet“ werden.

Die Frage Adornos nach der Möglichkeit der Lyrik „nach Auschwitz“ klingt im Celans Gedichten besonders als Befragung der vorhandenen Sprache an. Celan erinnert das Vernichtungsgeschehen im Zweiten Weltkrieg nicht durch direkte Nachbildung oder zwanghafte Poetisierung. Daher geht es in dieser Arbeit auch nicht um eine interpretatorische Aneignung der Celan eigenen Metaphern oder um die Enträtselung von symbolischen Strukturen innerhalb seiner Lyrik. Auch das möglichst umfangreiche Zusammentragen und authentische Verbinden biographischer Hintergründe und realer Ereignisse, die in die Dichtung verschlüsselt Eingang fanden, ist nicht Ziel dieser Seminararbeit. Trotzdem dürfen Einblicke in die Biographie Celans nicht gänzlich ausgeblendet werden (allerdings nicht deshalb, weil daran meine Gedichtinterpretation geknüpft ist).

2. Stationen aus Celans Leben sprechen und schweigen

Celan muss als Sohn jüdischer Eltern, die von deutsch-rumänischen Truppenkommandos verschleppt und in einem Arbeitslager von der SS ermordet werden, selbst Arbeitsdienst beim Straßenbau leisten. Nach dem Krieg sieht sich Celan genötigt, aus der „nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen“ Heimat zu flüchten (um über Bukarest, Budapest und Wien schließlich in Paris sich niederzulassen).[3] Diese Flucht als Heraufbeschwörung von Orts- und Namenlosigkeit, ein Gang durch endgültige Verluste, war jedoch auch geprägt vom Wissen um ein Bewahrtes (und ein Zukünftiges):

„Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache (...). Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigene Antwortlosigkeiten, hindurch gehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah. (...) Ging hindurch und durfte wieder zu Tage treten, angereichert von all dem. In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.“[4]

Celan lebt 1945 in Bukarest, 1947 in Wien, wo sein erster Gedichtband „Der Sand aus den Urnen“ erscheint. Man wird in Deutschland auf ihn aufmerksam, als er sich 1952 an einer Tagung der Gruppe 47 beteiligt. Sein zweiter Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ erscheint kurz darauf. 1955 folgt der Band „Von Schwelle zu Schwelle“, 1959 „Sprachgitter“. Schlüsselworte wie „Schweigen“, „Dunkel“, „Schlaf“, „Stummheit“, „Stille“ dominieren diesen letzen Band. Doch auch in „Von Schwelle zu Schwelle“, woraus das Gedicht „Sprich auch du“ genommen ist, klingen Problematik des Sprechens und das Thema „Schweigen“ an. Während Celans erste Gedichte nach 1944 – allen voran „Todesfuge“ – zumeist eine erschütterte Registrierung der Verfolgung und Ermordung und die verspürte Leere danach formulieren, steht die Lyrik der frühen Pariser Jahre im Zeichen der Sprachlosigkeit. Als zeige sich nach dem primären Festhalten der Schmerz- und Verlusterfahrung, dass das eigentliche Leiden (noch) nicht ausgedrückt werden könne.[5] Das heißt, dass man sprechen will – man kann aber nicht! Die Zeit, die das Ich braucht, um dem unaussprechlichen Leid Ausdruck zu verleihen, braucht das Ich, um an das Du als vollwertiges Ich heranzutreten. Das Ich will nicht, muss aber dem Du seine Begegnung vorenthalten, muss dem Du ein Fremdling bleiben, weil es noch nicht anders kann. Diese Wende hin zum Verstummen soll auch im Gedicht „Sprich auch du“ nachvollzogen werden. Die Suche nach Neuanfang nach den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges bedeutet zugleich eine schmerzhafte Erfahrung des erneuten Sprechenlernens. Das sinnliche Ringen in Celans früher Lyrik – sprechen zu wollen, aber es nicht zu können – ist Ausdruck dieser Erfahrung. Die Suche nach einem ansprechbaren Du ist nichts weniger als der Versuch, mit Hilfe eines Gegenübers die eigene Sprachlosigkeit zu durchbrechen.

3. Worüber gesprochen wird

In dem Gedicht „Sprich auch du“ wird dieses Gegenüber direkt angesprochen. „Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. (...) will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.“[6] Diese allgemeinen Aussagen Celans treffen auch besonders auf das Gedicht „Sprich auch du“ zu, denn in unermüdlichen Imperativen und der zentralen Frage „Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin?“ wird ein Gegenüber, ein Du gesucht, wird ein Gespräch, eine Begegnung mit diesem Du gesucht.

Das Gedicht spricht nicht direkt vom Schweigen und der Sprachlosigkeit, doch lässt sich eine Tendenz zum Verstummen darin aufzeigen. Mein Versuch einer Interpretation soll dem Schweigen, dem Verstummen und der Sprachlosigkeit nachspüren in diesem Gedicht, das durchsetzt mit Imperativen und der Aufforderung „Sprich“ auf den ersten Blick vielleicht wenig mit unserem Thema „Schweigen in der Literatur“ zusammenpasst. Dass aber auch gerade dieses Gedicht Beispiel für Celans Umgang mit und seine Entwicklung im Schweigen geben kann, soll in dieser Arbeit gezeigt werden. Grundlage für meine Ausdeutung war vor allem der Aufsatz von Marko Pajevic, der verschiedene Aspekte, Formen und Ausrichtungen des Schweigens in der Lyrik Celans ausfindig macht. Für diese Arbeit sind nur jene (Formen, Aspekte, Ausrichtungen) interessant, die auch in Zusammenhang mit „Sprich auch du“ gesetzt werden können. Bevor nun das Gedicht samt Interpretationsversuche angeführt wird, soll ein Vergleich zwischen dem Gedicht Bertolt Brechts „An die Nachgeborenen“ und einem 1968 darauf verfassten Gedicht Paul Celans, ein wenig Klarheit über dessen Einstellung zum Schweigen schaffen. Klarheit, die im Laufe der Arbeit – mit Celan gesprochen – wohl verschwinden muss in und aufgrund der Sprache.

4. Was verbricht – wer schweigt – wer spricht?

Einigermaßen eindeutig lässt sich Celans Auffassung zu Sprechen und Schweigen nach Auschwitz im Vergleich mit Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ thematisieren. Während für Brecht „Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/ Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“[7], sieht Celan in jedem Gespräch beinahe ein Verbrechen, „weil es soviel Gesagtes/ mit einschließt“[8]. Bei Brecht ist es ein Gespräch über Bäume, d.h. ein thematisch klar umrissenes Gespräch, dessen Sinnlosigkeit durch die Verzögerung des direkten Handelns gegenüber den Untaten geprägt wird, ein Verbrechen. Für Celan wird das Gegenteil, nämlich die korrumpierte Sprache zu benutzen, zum Verbrechen. Celan stellt damit den Sinn des Gesprächs, den Sinn von Sprache und Sprechen gänzlich in Frage und sucht nach der Möglichkeit von Kommunikation überhaupt. Da die Sprache durch den Nationalsozialismus verdorben, sei der Mensch (zunächst) zum Schweigen verurteilt. Für Brecht ist es ein Verbrechen über Banales zu reden, ist es ein Verbrechen zu schweigen; nach Celan sind wir dazu verurteilt – aber nicht bis zum Ende aller Tage. Sprache muss im Durchgang durch bewusstes Sprechen zuerst gereinigt werden. Das heißt, es bedarf der Thematisierung der Verunreinigung, es muss bewusst gemacht werden, dass hier erst etwas geläutert werden muss. Es gilt, die Sprache durch das Sprechen gegen diese Verunreinigung abgrenzen, damit sich diese nicht weiter ausbreitet. Doch gelingt das natürlich nur indirekt, weil (konventionelle) Sprache eben selber verdorben ist. Die notwendige (und zugleich Not wendende) Thematisierung dieser Verunreinigung wird aber möglich im und durch das Schweigen; damit lässt sich nun auch Schweigen näher bestimmen, denn es meint hier nicht das, was nicht gesagt wird, sondern ist Teil des Sprechens (ist eigener Sprachmodus).

Schweigen steht daher nicht als Ausdruck des Scheiterns, sondern als letzter Versuch sich mitzuteilen, der die Möglichkeit birgt, durch Dichtung Sprache zu reinigen.

[...]


[1] Peters: Johann Baptist Metz. Theologie des vermissten Gottes, S. 126.

[2] Metz: Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie, S.112.

[3] Vgl. Chalfen, S 113-132.

[4] Celan: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: B. Allemann (Hg): Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. Frankfurt/M: 1968, S. 127.

[5] Vgl. Du musst auch den Schweigenden hören, S. 101.

[6] Celan, Bücher-Preis-Rede, S. 98.

[7] Brecht: An die Nachgeborenen, S. 143.

[8] Celan: Ein Blatt. In: Klaus Reichert: Ausgewählte Gedichte, S. 172.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Dichtung nach Auschwitz. Sprich auch du von Paul Celan
Hochschule
Universität Wien  (Germanistik)
Note
2
Autor
Jahr
2004
Seiten
22
Katalognummer
V29374
ISBN (eBook)
9783638308960
ISBN (Buch)
9783638650243
Dateigröße
527 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Dichtung, Auschwitz, Sprich, Paul, Celan
Arbeit zitieren
Renate Enderlin (Autor:in), 2004, Dichtung nach Auschwitz. Sprich auch du von Paul Celan, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29374

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