Spiritualität als Ausdruck der Kulturkrise?

Ein Blick auf Georg Simmels Tragödie der Kultur


Hausarbeit, 2012

15 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


1. Einleitung

„Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg.“

Pater Willigis Jäger; Benediktiner-Mönch und Zen-Meister

Das alltägliche Leben in der heutigen Zeit der Spätmoderne ist ein recht unsicheres und unbeständiges geworden. Einstmals stabile Institutionen werden durch unberechenbare Ströme von Informationen, Ideen, Geldern und Menschen ersetzt. Kontinuierlich werden neue digitale Informations- und Kommunikationstechnologien entwickelt, die viele Prozesse gleichsam ort- und zeitlos werden lassen. Altbekannte Traditionen und Konventionen verlieren ihre Geltung[1]. Es scheint, als wäre man ständiger Bewegung und Beschleunigung ausgesetzt.

Das wirkt sich unverkennbar drastisch auf die Lebensführung von Individuen in unserer westlichen Welt aus. Es scheint unmöglich, das eigene Leben längerfristig zu planen, denn Offenheit und Unbestimmtheit beschlagnahmen die Stelle einstmals fester Entwicklungsbahnen[2].

Für Georg Simmel, einen der Gründerväter der Soziologie, ist dieser Zustand ganz klar ein Symptom des Zerfalls der Kultur. In solch einer komplexen Lebenssituation braucht das Individuum etwas, woran es festhalten kann. Die Religion liefert dafür oftmals einen Rahmen. Doch trotz zunehmender Entindividualisierung scheinen verschiedene Religionsströmungen das Individuum nicht locken zu können. Stattdessen gibt es einen stetigen Zuwachs spiritueller Bewegungen in allen Lebensbereichen, sei es Sport, Wohnen oder Ernährung, zu verzeichnen. Yoga und Feng Shui sind nur zwei Beispiele für die spirituelle Entdeckung der westlichen Gesellschaft.

Ist die ansteigende Spiritualität etwa ein Ausdruck der Krise unserer Kultur, wie Georg Simmel sie beschrieb? Ist Spiritualität der neue Anhaltspunkt im Alltag der Menschen? Und stellt Spiritualität vielleicht sogar eine neue Kategorie neben der Religion dar?

Um diese Fragestellungen soll sich die vorliegende Hausarbeit drehen. Dafür soll zunächst ein kurzer Blick auf Georg Simmels Kulturtragödie geworfen werden. Tragödie ist ein recht drastischer Begriff, was auch Simmel bald wahrnahm. Fortan sprach er von der Krise der Kultur.

In welchem Verhältnis die Spiritualität zu dieser Krise steht, soll im darauffolgenden Kapitel begutachtet werden. Ist oder kann sie der Lichtpunkt sein, an dem die Individuen sich in Zukunft orientieren?

Die Literaturlage zu diesem Thema ist recht vielfältig und von zahlreichen Einflüssen geprägt. Georg Simmel hat sich zumeist essayistisch mit diversen soziologischen Themen befasst, darunter auch die Religionssoziologie. Seine Gedanken sollen die Basis für die folgende Erörterung stellen.

2. Georg Simmels 'Tragödie der Kultur'

Um letztendlich entscheiden zu können, welche Rolle die Spiritualität in unserer westlichen postmodernen Gesellschaft spielt, muss zunächst der Begriff der Kultur näher untersucht werden.

Schlägt man den Begriff in Hillmanns ' Wörterbuch der Soziologie' nach, lässt sich unter 'Kultur' folgende Definition finden: die Gesamtheit der Lebensformen, Wertvorstellungen und der durch menschliche Aktivitäten geformten Lebensbedingungen einer Bevölkerung in einem historisch und regional abgrenzbaren (Zeit-)Raum. Zur Kultur gehören: alle [...] übernommenen und im Prozess der Weiterentwicklung und Veränderung befindlichen materiellen Gestaltungsformen der Umwelt [...]; das Wissen und die Nutzung von gesetzmäßig ablaufenden Naturprozessen einschließlich des menschlichen Lebens [...]; alle Ideen, Werte, Ideale, Sinngebungen und Symbole; die Methoden und Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.“[3]

Georg Simmel selbst hat den Kulturbegriff noch weitaus detailierter betrachtet und vier verschiedene Dimensionen von Kultur in seinem Werk 'Pathologie der Kultur' beschrieben. Um seine zentrale Fragestellung verstehen zu können, ist es notwendig, diese vier Grundbedeutungen von Kultur genauer zu beleuchten.

Die ersten beiden Kulturbegriffe sind auf das Individuum bezogen, während die letzteren beiden moderne Kulturbegriffe darstellen, die auf das Kollektiv übertragen werden können.

Der erste Kulturbegriff findet starke Anlehnung an die eigentliche Begriffsbedeutung. Kultur kommt aus dem Lateinischen von 'colere' bzw. 'cultura' und bedeutet wortwörtlich etwas bebauen, bearbeiten oder auch pflegen[4]. Es geht demzufolge im ursprünglichen Sinne darum, den Acker durch Kultivierung zu vervollkommnen. Georg Simmel bezieht diesen Vorgang jedoch weniger auf die körperliche, als auf die geistige Arbeit. Ihm geht es darum, den Geist durch Kultivierung zu vervollkommnen. „Alle Kultivierung also ist [...] nicht nur auf die Entwicklung eines Wesens über die seiner bloßen Natur erreichbare Formstufe hinaus, sondern nun auch Entwicklung in der Richtung eines inneren ursprünglichen Kerns, Vollendung dieses Wesens [...]“.[5] In seiner ersten Grundbedeutung meint Kultur also die Kultivierung als etwas, „das man betreibt oder tätigt, nämlich die Veredlung von Naturanlagen durch ihre sorgfältige Bearbeitung“.[6]

Die zweite Grundbedeutung von Georg Simmels Kulturbegriff bezieht sich im Umkehrschluss auf die erste. Sie meint die Kultiviertheit und beinhaltet demzufolge die Kultur, die man bereits erworben hat und damit die veredelten oder vervollkommneten Fähigkeiten. Kultivierung und Kultiviertheit verhalten sich also wie das Ergebnis zur Tätigkeit.[7]

Die dritte und vierte Dimension nehmen nun Abstand vom Individuum und beziehen sich stattdessen auf die Übertragung der Entwicklungsprozesse vom Individuum auf das Kollektiv. In der dritten Grundbedeutung werden also Tätigkeit und Zustand von Individuen auf den Geist und das Leben von Völkern und Epochen übertragen. In diesem Sinne lässt sich beispielsweise von der 'altägyptischen Kultur' sprechen.[8] Die letzte Grundbedeutung beinhaltet Kultur als etwas vom Menschen Erschaffbares, als die „Sphäre der Werte und Werke in Kunst, Literatur, Wissenschaft und Philosophie“.[9]

Die Frage, die Simmel sich in seiner 'Philosophie der Kultur' in Bezug auf diese vier Dimensionen von Kultur stellt, lautet: „Was bleiben in unserer durch fortgeschrittene Technisierung und Geldwirtschaft geprägten KultupKuta- з), die eine eigendynamisch expansive Teilsphäre von Kultur(Kultur 4) produziert, dem Individuum für Chancen, seine eigene Kultur durch Geistes- und Persönlichkeitskultivierung(Kultur i) zur ganzheitlichen Vervollkommnung(Kultur2) zu bringen?“[10]

Für Simmel stellen die ersten beiden Kulturbegriffe die Vervollkommung des Individuums dar. Dieser Prozess vollzieht sich als eine „kreisläufige, einzigartige Synthese des subjektiven und objektiven Geistes“.[11] Geht man von dieser Betrachtungsweise aus, so gibt es wiederum drei Dimensionen zu unterscheiden.

Für Simmel stellt der 'subjektive Geist' die Quelle aller Kultur dar.

[...]


[1] Vgl. Rosa, Hartmut, u.a., Soziologische Theorien, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2007, S.26.

[2] Vgl. ebd.,S.27.

[3] Definition 'Kultur', in: Hillmann, Karl-Heinz, Wörterbuch der Soziologie, 5. vollständig überarb. u. erweit. Aufl., Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2007, S.471.

[4] Vgl. ebd.

[5] Simmel, Georg, Brücke und Tor, in: Landmann, Michael (Hrsg.), Essays des Philosophen zu

Geschichte, Religion, KunstundGesellschaft, Stuttgart 1957, S.88.

[6] Busche, Hubertus, Antrittsvorlesung „Georg Simmels 'Tragödie der Kultur' - 90 Jahre danach“, <http://www.fernuni-hagen.de/KSW/download/av/av_busche.pdf>, aufgerufen am 19.09.2012, S.3.

[7] Vgl. ebd.,S.4.

[8] Vgl. ebd.

[9] Ebd., S.5.

[10] Ebd.

[11] Busche, Hubertus, Antrittsvorlesung „Georg Simmels 'Tragödie der Kultur' - 90 Jahre danach“, <http://www.fernuni-hagen.de/KSW/download/av/av_busche.pdf>, aufgerufen am 19.09.2012, S.5.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Spiritualität als Ausdruck der Kulturkrise?
Untertitel
Ein Blick auf Georg Simmels Tragödie der Kultur
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Soziologie)
Veranstaltung
Kultursoziologie
Note
2,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
15
Katalognummer
V293730
ISBN (eBook)
9783656912873
ISBN (Buch)
9783656912880
Dateigröße
437 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
spiritualität, ausdruck, kulturkrise, blick, georg, simmels, tragödie, kultur
Arbeit zitieren
Ulrike Leupold (Autor:in), 2012, Spiritualität als Ausdruck der Kulturkrise?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/293730

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