Auf dem Weg zu einer Neuen Erwerbsgesellschaft. Demografischer Wandel und Erwerbstätigkeit 1984 bis 2060


Forschungsarbeit, 2015

20 Seiten


Leseprobe


Auf dem Weg zu einer Neuen Erwerbsgesellschaft

Von Michael Schlese[1]

Summary

Net immigration by 100,000 people per year and the proportion of labour force to population by 50% ensure the supply of labour market with workers, as well as the functioning of social security systems. Thus the labour market and its constitutional foundations will evolve. Constant labour productivity and work time per resident or worker as well as constant real wages are provided. Also it must be able to maintain the employability of the people (up to 67 years of age) and to adjust government spending to a declining gross national product. Possible reserves are increasing work productivity, a higher qualified net migration as well as the extension of working life. The missing of necessary participation, declining labour productivity and high government spending, however, endanger supplying the population.

Zusammenfassung

Eine Nettozuwanderung von 100 Tausend Personen pro Jahr und ein Anteil der Erwerbstätigen an den Einwohner/innen von 50%gewährleisten die Versorgung des Erwerbssystems mit Arbeitskräften sowie die Funktionstüchtigkeit der sozialen Sicherungssysteme. Hierdurch werden sich die Erwerbsgesellschaft und ihre verfassungsmäßigen Grundlagen verändern. Vorausgesetzt sind konstante Arbeitsproduktivität und Arbeitszeit je Einwohner/in bzw. Erwerbstätigem sowie konstante Reallöhne. Zudem muss es gelingen, die Beschäftigungsfähigkeit der Erwerbsfähigen (bis zum 67. Lebensjahr) zu erhalten und staatliche Ausgaben an ein sinkendes Bruttosozialprodukt anzupassen.Mögliche Reserven sind die Steigerung der Arbeitsproduktivität, eine höhere, qualifizierte Nettozuwanderung sowie die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Das Verfehlen der notwendigen Erwerbsbeteiligung, sinkende Arbeitsproduktivität und zu hohe Staatsausgaben gefährden dagegen die Versorgung der Bevölkerung.

Einleitung

Der demografische Wandel gehört zu „Dauerbrennern“ öffentlicher Debatten. Anfangs ein Thema für Spezialisten, das seit der Ära Helmut Schmidt[2]diskutiert wird, ist der Wandel nun in aller Munde – verbunden mit allerlei „Empfehlungen“ für die Zukunft.[3]Ein Schlüssel zur Bewältigung des Wandels ist die Erwerbstätigkeit, da hierdurch Wohlstand geschaffen wird und die sozialen Sicherungssysteme bedient werden.[4]In diesem Beitrag geht es um die Frage, ob der zu erwartende Umfang der Erwerbsbeteiligung ausreicht, die in Deutschland lebenden Personen mit den notwendigen Gütern zu versorgen. Hierzu sind dasArbeitszeitvolumen und die realen Erwerbseinkommen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl zu betrachten. Dies soll mit Hilfe einer numerischen Simulation erfolgen.

Erwerbsbeteiligung (EB) erweist sich als Schlüssel zur Bewältigung des Wandels. Hierbei sind zwei Aspekte zu unterscheiden:

- Erstens der Anteil der Erwerbstätigen (ET) an den Erwerbsfähigen (EF), dies sei als EB I=ET/EF bezeichnet.[5]

- Zweitens der Anteil der Erwerbstätigen an den Einwohner/innen (EW), hier als EB II=ET/EW bezeichnet.

Bei konstanten Realeinkommen je ET ist EB II die entscheidende Größe. Hierdurch kann gemessen werden, ob die Erwerbstätigkeit ausreicht um Wohlstand und Sicherungssysteme zu erhalten. Wie wir sehen werden, sind es drei Risiken, die den Wohlstand der Bevölkerung bedrohen:Das Verfehlen der notwendigen EB II, ein Sinken der Arbeitsproduktivität, zu hohe Staatsausgaben, insbesondere beim Schuldendienst.Daraus lassen sich Aufgaben für die Politik der nächsten 40 Jahre ableiten, die im Kern bekannt sind und in Ansätzen bereits verfolgt werden:

Zum ersten sollte der Erhalt der Erwerbs- bzw. Beschäftigungsfähigkeit (Employability[6]) im Zentrum der Politik stehen. Das Risiko sinkender Arbeitsproduktivität und verfehlter EB kann hierdurchvermieden werden.Zum zweiten sollte die staatliche Ausgabenpolitik laufend auf den Prüfstand gestellt werden. Ein Resultat des unten dargestellten Modells ist, dass das reale Bruttosozialprodukt sinken wird. Das reduziert die Verteilmassen für investive und konsumtive Ausgaben des Staates sowie für die Kreditfinanzierung.

Ausgangslage und Fragestellung

Zur Bewältigung des Wandels gibt es eine Reihe von Überlegungen, die Einzug in die politische Rhetorik bzw. das politische Handeln gefunden haben[7], wobei interessengeleitete Übertreibungen (wie im Falle des „Fachkräftemangels“) nicht ausgeschlossen sind.

Gasche umschreibt eine Strategie zur Bewältigung des demografischen Wandels:

„Wenn die Zahl der Arbeitskräfte durch die demografische Entwicklung sinkt, sollte ungenutztes Arbeitskräftepotenzial gehoben werden. Dieses besteht im Wesentlichen aus den Frauen, den Älteren und den Jüngeren. Entsprechend muss Politik so gestaltet sein, dass die Erwerbstätigkeit dieser Gruppen gefördert wird. Da greifen die Familien-, die Arbeitsmarkt- und die Rentenpolitik, Maßnahmen zur alters- und familiengerechten Gestaltung von Arbeitsplätzen und -zeiten sowie eine auf die Erwerbsfähigkeit Älterer ausgerichtete Gesundheitspolitik. Arbeitskräftelücken können auch durch eine "produktive Zuwanderung" geschlossen werden. Hier sind Integrationsmaßnahmen für neue Zuwanderer und bereits Zugewanderte notwendig. Einem Rückgang der Arbeitskräftezahl kann zudem durch eine höhere Produktivität der noch vorhandenen Arbeitskräfte entgegengewirkt werden. Hier kommt es auf die Bildungs- und Weiterbildungspolitik an. Der technische Fortschritt muss durch entsprechende Forschungs- und Innovationspolitik unterstützt werden.“[8]

Lindh et al. skizzieren vergleichbare Lösungsansätze für die daraus resultierenden Probleme (ab 2020), die dem hier dargestellten Modell entsprechen:

„Ein erstes Instrument betrifft die bessere Ausschöpfung des vorhandenen Arbeitskräftepotenzials durch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit… Eine zweite Stellschraube besteht aus der Erhöhung der Erwerbsbeteiligung… Eine dritte Stellschraube betrifft die Erhöhung der Produktivität… Schließlich kann auch eine Bevölkerungszunahme einschließlich der damit verbundenen Erhöhung des Arbeitsangebots eine Maßnahme sein, mit deren Hilfe sich die demografisch bedingten Wachstumseinbußen abmildern lassen. Kurzfristig lässt sich eine Erhöhung des Arbeitskräftepotenzials nur durch eine Steigerung der Nettozuwanderung aus dem Ausland erreichen. Langfristig kann auch eine Erhöhung der Geburtenzahlen zu einer Steigerung des Arbeitskräfteangebots führen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass steigende Geburtenraten erst mit einer zeitlichen Verzögerung von rund 20 bis 25 Jahren eine Erhöhung des Arbeitsangebots zur Folge haben.“[9]

Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklungsetzt auf die genannten Instrumente.[10]Er fokussiert zwei Aspekte: Erwerbslosigkeit und Arbeitskräftemangel.[11]Bei einer Vorhersage des Arbeitskräftebedarfs ist er zurückhaltend.[12]Trotzdem lässt er sich auf eine Prognose ein.[13]Er prognostiziert den Rückgang der Erwerbspersonen[14]um 1/3 und macht eine Reihe von Vorschlägen hinsichtlich von Maßnahmen, die dazu beitragen die Erwerbsbeteiligung zu erhöhen und die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren. Seine Sorge gehört der Arbeitsproduktivität.[15]Der Sachverständigenrat hebt hervor, dass Auswirkungen der Altersstruktur auf die Arbeitsproduktivität an Bedeutung gewinnen. Er sieht dafür makroökonomische Zusammenhängeund verweist auf mikroökonomische Prozesse.[16]Alles in allem kommt er zu dem Schluss, dass der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter mittel- bis langfristig zu einem Rückgang des Arbeitsvolumens führen und die Wachstumsaussichten dämpfen wird.[17]Von einem „Ende der Arbeit“ oder der Arbeitswelt kann keine Rede sein.[18]In der Simulationsrechnung wird davon ausgegangen, dass die Arbeitsproduktivität und damit verbunden die Arbeitszeit je ET sowie die Reallöhne konstant sind. Spitznagel weist auf Arbeitszeitverlängerung als eine Option zur Bewältigung des demografischen Wandels hin. Ähnlich äußert sich Heckmann, wohingegen Hinze die Grenzen eines solchen Ansatzes betont.[19]

Arbeitszeitverlängerung hat verschiedene Aspekte:

- Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit.Wir gehen von einer Lebensarbeitszeit zwischen dem 15. und dem 67. Lebensjahr (einschließlich) aus. Das entspricht der gegenwärtigen Rechtslage.[20]Entsprechend werden die Erwerbsfähigen[21](EF) definiert.
- Die Verlängerung der vereinbarten und tatsächlichen Wochenarbeitszeit.In den letzten Jahrzehnten hat sich diese reduziert. Wir gehen für die Simulation von dem Niveau des Jahres 2012 aus. Die Wochenarbeitszeit ist zwischen Geschlechtern und Qualifikations- bzw. betrieblichen Hierarchiegruppen ungleich verteilt. Die Verteilung wird sich in Zukunft ändern.[22]Für den Mittelwert aller Erwerbstätigen soll eine mit dem gegenwärtigen Niveau vergleichbare Wochenarbeitszeit gelten.
- Eine höhere Erwerbsbeteiligung.Arbeiten mehr ET im Verhältnis zu den EF, kann das Arbeitszeitvolumen erhöht bzw. – bei sinkendem Arbeitskräfteangebot – die notwendige gesellschaftliche Beschäftigung erhalten werden. Das setzt qualifizierte und motivierte EF voraus.

Wir analysieren Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP), einer im Auftrag des DIW von Infratest durchgeführten repräsentativen Erhebung.[23]Wir nutzen das so genannte „Long-file“. Die Fallzahlen der Stichprobe werden mit Hilfe eines Hochrechenfaktors auf die Grundgesamtheit hochgerechnet. Für unsere Untersuchung stehen uns für die Jahre 1985 bis 2012699.926 Fälle zur Verfügung.Neben dem SOEP ziehen wir für den Zeitraum von 2013 bis 2060 die 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung heran.[24]Diese liefert Aussagen über die zu erwartende Zahl der Einwohner/innen nach Altersgruppen. Annahmen zur Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung und zum Wanderungssaldo ergeben – miteinander kombiniert – zwölf Varianten. Wir wählen ein Modell mit geringer Geburtenhäufigkeit, geringer Zuwanderung und hoher Lebenserwartung. Hierzu wählen wir die Variante 6-W1, „relativ alte“ Bevölkerung mit einer Lebenserwartung in 2060 (L1) von 87,7 Jahren (Männer) bzw. 91,2 Jahren (Frauen) und einem langfristigen Rückgang der Geburtenrate auf 1,2 (G3) sowie einem Zuwanderungssaldo (Nettozuwanderung) von 100.000 Personen ab 2014 (W1).

Die zu untersuchende Frage lautet: Reicht die mutmaßliche Zahl der Erwerbstätigen (inklusive der Nettozuwanderung) aus, um die notwendige Wirtschaftsleistung zur Verfügung zu stellen und die sozialen Sicherungssysteme zu finanzieren?

Grundannahmen und numerische Simulation

Der demografische Wandellässt sich durch vier Merkmale charakterisieren (Tabelle 1):[25]

- Wir werden weniger.Gemäß dem unten dargestellten Modell sinkt die Zahl der Einwohner/innen(EW) von 81,9 Mio. (2000) auf 69,4 Mio. (2060). Die Zahl der Erwerbsfähigen (EF) sinkt von 58,0 Mio. (2000) auf 39,3 Mio. (2060) und die Zahl der Erwerbstätigen (ET) von 38,4 Mio. (2012) auf 32,8 Mio. (2060). Siehe Abbildung 1.
- Wir werden älter („grauer“).Das mittlere Alter der Bevölkerung steigt von 39,64 Jahren (1990) auf 51,93 Jahre (2060). Siehe Abbildung 2. Entsprechend steigt das Alter der Erwerbstätigen, wenn auch weniger stark, da die obere Grenze der Erwerbsfähigkeit beim 67. Lebensjahr liegt.[26]
- Wir werden multikultureller („bunter“).[27]Der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund ist von 10,51% (1984) auf 22,15% (2012) gestiegen.[28]Setzt sich dieser Trendlinearfort, wird der Anteil 2060 42,11% betragen (Abbildung 3).[29]Das sind 29,22 Mio. Personen. Dieser Anteil ist nicht mit der Nettozuwanderung zu verwechseln, da nicht nur Personen zuwandern und den Migrationsanteil erhöhen, sondern Personen (mit und ohne Migrationshintergrund) abwandern. Die Bruttozuwanderung kann in den einzelnen Jahren stark schwanken (Abbildung 4).[30]
- Wir werden individueller („vereinzelter“).So verringert sich im Zeitverlauf die Haushaltsgröße, und die Zahl von Einpersonenhaushalte nimmt zu.[31]Das ist ein Indikator für zunehmende Individualisierung neben Veränderungen in Wertorientierungen, Lebensstilen und Biografien.

Der Migrationshintergrund wird nicht ohne Auswirkungen auf die Individualisierung bleiben, da kulturelle und religiöse Orientierungen „transportiert“ werden, welche Wertorientierungen und Lebensstile beeinflussen. Hierbei ist nicht nur an den Islam[32]zu denken, sondern auch an christliche Konfessionen und andere Religionsgemeinschaften.[33]Daneben gibt es an Ethnie und Nationalität[34]orientierte Einstellungen, deren Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung wachsen könnte. Säkularisierung sowie ein kulturübergreifendes Bekenntnis zum Verfassungspatriotismus[35]bzw. zu einer deutschen Willensnation[36]moderieren die kulturelle Diversifikation. Innovationen durch Neukombination konfessioneller, kultureller und säkularer Elemente sind denkbar, die sich heute schwer abschätzen lassen.

Für die numerische Simulation der Erwerbsbeteiligung bedarf es eines Modells, das sich auf wenige, einfache und plausible Grundannahmen stützt. So werden folgende Größen als Grundannahmen gewählt (Tabelle 1):

1. Die tatsächliche bzw. vorhergesagte Zahl der Einwohner/innen (EW) und der Erwerbsfähigen (EF), das heißt der EW im erwerbsfähigen Alter.
2. Die notwendige Wochenarbeitszeit (AZ) je EW. Diese lag von 1984 bis 2012 relativ konstant zwischen 17,22 Stunden (1984) und 17,71 Stunden (2012). Mit dem Beitritt der Neuen Länder gab es eine zwischenzeitliche Erhöhung auf 19,51 Stunden (1990), die durch den Transformationsprozess korrigiert wurde. Für die Modellierung ab 2013 wählen wir den Wert von 2012 (17,71 Stunden), der fortgeschrieben wird.
3. Die mittlere, tatsächliche AZ je Erwerbstätigen (ET). Diese sank von 40,58 Stunden (1990) auf 37,48 Stunden (2012). Der Wert wird für die Modellierung fortgeschrieben. Siehe Abbildung 5.
4. Der Reallohn, das mit Inflationsraten auf Basis des Jahres 1984 deflationierte reale, nominale Entgelt je Stunde. Das Entgelt wurde errechnet aus dem Bruttomonatseinkommen und der tatsächlichen AZ pro Woche. Der Reallohn stieg von 8,89 EUR (1984) auf 9,90 EUR (2012). Den Wert von 2012 schreiben wir für die Modellierung fort.

Wir gehen also davon aus, dass Reallohn, tatsächliche AZ je ET sowie die notwendige AZ je EW konstant und die mutmaßliche Entwicklung der Zahl der EW und der EF bekannt sind.

- Die Zahl der ET lässt sich aus der AZ je EW und der Zahl der EW sowie aus der AZ je ET berechnen. Zunächst wird das Arbeitszeitvolumen (AZV, Abbildung 6) berechnet, indem die Zahl der EW mit der AZ je EW (17,71 Stunden) multipliziert wird. Wird dieses AZV durch die AZ je ET (37,48 Stunden) dividiert, erhalten wir die Zahl der ET.

- Die EB I steigt von 59,80% (1984) bzw. 68,09% (2012) auf 83,48% (2060). Die EB II ist von 43,20% (1984) auf 47,26% (2012) gestiegen und bleibt danach aufgrund der Modellannahmen konstant. Siehe Abbildung 7.

- Mit Hilfe des Reallohnes lassen sich die (realen, deflationierten) Einkommen je ET und je EW berechnen. Die Realeinkommen je EW pro Monat von 1.595 EUR (2012) bleiben konstant.[37]Das gilt auch für die Einkommen je EW, die von 658 EUR (1984) auf 754 EUR (2012) gestiegen sind.

Zwar sinkt das „Volkseinkommen“ aus Erwerbstätigkeit ab 2013 auf das Niveau von 1990 (Abbildung 8). Der Anteil der zur Verteilung pro EW zur Verfügung steht, bleibt jedoch konstant, so dass wir davon ausgehen, dass die sozialen Sicherungssysteme auf dem heutigen Niveau bedient werden können. Nicht berücksichtigt sind Einkommen aus Vermögen.

Implikationen, Fazit und Ausblick

Erwerbsbeteiligung ist der Schlüssel zur Bewältigung des demografischen Wandels.Es besteht kein Spielraum für eine dauerhafte Absenkung des Rentenalters unter das 67. Lebensjahr sowie für eine Reduzierung der mittleren Wochenarbeitszeit. Qualifizierte Nettozuwanderung von 100.000 Personen p.a. genügt, um die Funktionalität des Erwerbssystems und der sozialen Sicherungssysteme zu gewährleisten.Allerdings sinken das Bruttosozialprodukt und die Einnahmen des Staates. Das Verhältnis der Branchen und Sektoren könnte sich verändern, wenn das gegenwärtige Exportvolumen aufrechterhalten und Humandienstleistungen automatisiert werden. So käme es zu einer Re-Sekundarisierung der Volkswirtschaft[38], was Auswirkungen auf Qualifizierung, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Erwerbstätigen hat.

Durch dieseNeue Erwerbsgesellschaftist der demografische Wandel zu bewältigen. Sie impliziert einen veränderten Gesellschaftsvertrag.In das Zentrum der Bemühungen ist der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit zu stellen. Work Life Balance, Lebenslanges Lernen und Diversity Management - einschließlich Alternsmanagement – werden als betriebswirtschaftliche Konzepte das Handeln der Unternehmen stärker bestimmen als heute.[39]Das entspricht Überlegungen zum „Sechsten Kondratieff“, wonach – neben Ökologie, Nano- und Biotechnologie – die Schonung und Entwicklung der Humanressourcen, einschließlich medizinischer und psychologischer Maßnahmen, den nach 2010 beginnenden Innovationzyklus der Weltwirtschaft bestimmen.[40]

Das politische System wird sich angesichts steigenden Durchschnittsalters, höherer EB I und der Pluralisierung kultureller, religiöser und lebenspraktischer „Konzepte“ verändern.[41]Der„neue“ Gesellschaftsvertrag ruht auf zwei Säulen:Verfassungspatriotismus, die Ablösung des verfassungsmäßigen Selbstverständnisses von ethnischen, religiösen und nationalen Orientierungen, und einsozioökonomischer „Pakt“, der die Beziehung der Generationen regelt.[42]Hierzu gehörtdie Anerkennung der Autonomie (aber nicht Autarkie) und Heterarchiegesellschaftlicher Funktionssysteme.[43]Diese erbringen füreinander und für die Bürger/innen Leistungen und operieren dabei gemäß ihren eigenen Funktionslogiken bzw. Rationalitäten.[44]Ebenso gehört hierzu die Anerkennung vonIndividualität bzw. Personalität, inklusive personenbezogener Rechte und Pflichten.[45]Dies schließt(konfligierende) individuelleoder kollektive Interessen ein, die organisiert verfolgt werden und sich gegenseitig begrenzen bzw. kontrollieren (Checks andBalances[46]). Es wird gestützt durch eine postkonventionelle Moral.[47]Das bedingt die Identifikation mit Regionen und Kollektiven, d.h. eine lebensweltliche Verankerung von Werten und Normen.[48]Individualität und systemische Autonomie ergänzen einander und bieten Platz für kulturelle Diversifikation, wenn sie hierdurch nicht infrage gestellt werden.[49]Der sozioökonomische Paktregelt die Erwerbsbeteiligung und die Absicherung im Alter sowie die Übergänge zwischen verschiedenen Formen der „Arbeit“ und Nicht-Erwerbstätigkeit. Das kann funktionieren, wenn sich Beteiligte dazu bekennen undes institutionell abgesichert wird.[50]

Fassen wir zusammen: Die mutmaßliche Zahl der Erwerbstätigen reicht aus, um die notwendige Wirtschaftsleistung zur Verfügung zu stellen und die sozialen Sicherungssysteme zu finanzieren. Folgende gesellschaftliche Aufgaben liegen in der Folgerungsmenge des dargestellten Modells:[51]

- Erhalt der Beschäftigungsfähigkeitbei steigendem EB I und konstantem EB II. Das soll durch den sozioökonomischen Pakt erreicht werden. Maßnahmen, welche die Lebens- oder Wochenarbeitszeit verkürzen, sind nicht zielführend. Allerdings ist der Begriff der Arbeit breiter zu fassen. Und die Übergänge zwischen den Arbeitsformen sind zu gestalten.
- Anpassen der Staatsausgabenan das sinkende, reale Bruttosozialprodukt. Dieses kann weniger stark sinken oder konstant bleiben bei steigender Arbeitsproduktivität und stärkerer Nettozuwanderung, wenn die Betroffenen in das Erwerbssystem integriert werden.[52]
- Justieren der Beziehung verschiedener Kulturenzu den normativen Grundlagen einer liberalen, funktional differenzierten Gesellschaft. Erwerbsbeteiligung ist eine Basis für Wohlfahrt und soziale Sicherheit. Sie bleibt nicht ohne Einfluss auf die Einstellungen der Betroffenen und die Kultur, in der diese leben. Integration in das Erwerbssystem und das vergleichsweise hohe Alter der Beteiligten dürften möglichen Konflikten entgegenwirken.

Abbildungen

Abbildung 1: Einwohner/innen, Erwerbstätige, Erwerbsfähige

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Mittleres Alter der EW

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Abbildung 3: Anteil von Personen mit Migrationshintergrund

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Abbildung 4: Personen mit Migrationshintergrund, Differenz zum Vorjahr

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Abbildung 5: Arbeitszeit je EW und ET

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Abbildung 6: Arbeitszeitvolumen in Wochenstunden

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Abbildung 7: Erwerbstätige je EW und EF

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Abbildung 8: Einkommen (1990=100)

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Abbildung 9: Größe und Anzahl der Haushalte (HH; 1990=100%)

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Abbildung 10: Arbeitszeitvolumen nach Wirtschaftsbereich (Wochenstunden)

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Abbildung 11: Reale Einkommen nach Wirtschaftsbereich (EUR je Woche)

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Abbildung 12: Glaubensbekenntnisse (16 Jährige und älter) 1990 – 2011

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Abbildung 13: Glaubensbekenntnisse nach Geburtsjahrgang

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Abbildung 14: Glaubensbekenntnis bei Migrationshintergrund nach Alter (2011)

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Abbildung 15: Zahl der Personen im Haushalt nach Religion

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabellen

Tabelle 1: Modellannahmen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] Dr. Michael Schlese (1964) ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Fresenius und Geschäftsführer der Organisationsberatung Schlese & Co. GmbH in Berlin. Bis 2011 war er Lecturer an der Universität Hamburg und bis 2000 Geschäftsführer des DGB Technologieberatung e.V. in Berlin sowie bis 1993 Wissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Lehre und Forschung zu verschiedenen betriebswirtschaftlichen Themen, z.B. Personalentwicklung, Organisationsgestaltung, Entgeltmanagement oder E-HRM sind Schwerpunkte seiner Arbeit.

[2] http://www.wiwo.de/politik/deutschland/altkanzler-helmut-schmidt-wir-brauchen-rente-mit-mindestens-67-dringend/5678654.html

[3] Vgl. Bryant Thomas (2007). Von der „Vergreisung des Volkskörpers“ zum „demographischen Wandel der Gesellschaft“. Geschichte und Gegenwart des deutschen Alterungsdiskurses im 20. Jahrhundert In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. XXXV (Demographie – Demokratie – Geschichte. Deutschland und Israel), Göttingen, S. 110–127. Mayer, T. (2014). Eröffnungsrede des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Demographie eV anlässlich der DGD-Jahrestagung 2013. DGD-Online-Publikation, Nr. 01/2014, 3.

[4] Vgl. Braun, S., Kamin, K., & Marten, M. K. (2014). Strategien für den Arbeitsmarkt der Zukunft: Die demografische Herausforderung meistern (No. 72). Kiel Policy Brief.

[5] Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Erwerbsfähige, online im Internet: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/9640/erwerbsfaehige-v7.html(20.09.2012).

[6] http://library.fes.de/pdf-files/wiso/05865.pdf.

[7] Vgl. Bundesministerium des Innern (2011). Jedes Alter zählt. Demografiestrategie der Bundesregierung. http://www.demografiestrategie.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Politik_Gesellschaft/DemographEntwicklung/demografiestrategie.pdf?__blob=publicationFile

[8] Gasche, Martin (2012). Demografischer Wandel: Allein es fehlt die Strategie! in: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 92, 5, S.288-289.

[9] Lindh, T., Malmberg, B., & Petersen, T. (2010). Die ökonomischen Konsequenzen der gesellschaftlichen Alterung. Wirtschaftsdienst, 90(1), 54-63.

[10] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2011). Herausforderungen des demografischen Wandels. Expertise im Auftrag der Bundesregierung. Statistisches Bundesamt Wiesbaden.

[11] „Zum einen wird die Frage gestellt, inwieweit der demografische Wandel die Erwerbslosigkeit verringern würde, und zum anderen, wann und in welchem Umfang ein Arbeitskräftemangel zu befürchten sei und wie diesem zu begegnen wäre.“ (Sachverständigenrat 2011: 7). Die hier prognostizierte EB impliziert ein Sinken der Arbeitslosigkeit.

[12] „Diesbezügliche Aussagen wären größtenteils spekulativen Charakters mit vergleichsweise geringem Nutzen für die Wirtschaftspolitik.“ (Sachverständigenrat 2011: 7) Vorliegend wird diese Auffassung nicht geteilt.

[13] „Konkret bedeutet dies unter Zugrundelegung der Basisvariante aus der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes eine Verringerung der Anzahl der Erwerbspersonen zwischen den Jahren 2010 und 2060 von rund 43 Millionen auf etwa 31 Millionen Personen, also um fast ein Drittel. Neben dieser Reduktion des Arbeitsangebots steigt das Durchschnittsalter der Erwerbspersonen.“ (Sachverständigenrat 2011: 8) Die Simulation geht von einer Variante aus (6-W1), die restriktiver ist als die Basisvarianten (1-W1 bzw. 1-W2).

[14] Erwerbstätige zzgl. Erwerbslose.

[15] „Dreh- und Angelpunkt für die Analyse der Arbeitsmarktauswirkungen ist die Frage, inwieweit eine alternde Erwerbsbevölkerung eine sinkende Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität verursacht, denn ein solcher Zusammenhang würde das künftige Produktionspotenzial und das Pro-Kopf-Einkommen reduzieren.“ (Sachverständigenrat 2011: 8) Hier wird eine konstante Arbeitsproduktivität unterstellt.

[16] „Über einen langen Zeitraum hinweg erklärten Forscher den Zusammenhang zwischen Alterung und Arbeitsproduktivität anhand des Defizitmodells, demzufolge die Leistung der Arbeitnehmer aufgrund von abnehmenden physischen und kognitiven Fähigkeiten mit dem Alter zurückgeht.“ (Sachverständigenrat 2011: 125)

[17] Die demografische Entwicklung beeinflusst „das Produktionspotenzial aber auch indirekt über eine Reihe von Altersstruktureffekten, die vor allem Rückwirkungen auf die Entwicklung der Arbeitsproduktivität haben und von denen a priori unklar ist, ob sie den quantitativen Effekt verstärken oder teilweise kompensieren.“ (Sachverständigenrat 2011: 126)

[18] Vgl. Dahrendorf, Ralf (1982). Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, in: Matthes, Joachim (Hrsg.). Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, S.25-37, Frankfurt/Main. Rifkin, Jeremy (1995a). Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt/Main. Rifkin, Jeremy (1995b). Das Ende der Arbeitswelt. Ist der „Dritte Sektor“ ein Ausweg? in: Psychologie heute, 12/95, S.59-63.

[19] Vgl. Spitznagel, Eugen (2010). Ist die Demografie unser Schicksal? Expansive Arbeitszeitpolitik - eine übersehene Option, in: Heilemann, Ullrich (Hg.). Demografischer Wandel in Deutschland. Befunde und Reaktionen, Berlin. Heckmann, Markus, Thorsten Schank (2004). Kehrtwende in der Arbeitszeitpolitik, in: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 84, 8, S.512-518. Hinze, Jörg (2004). Arbeitszeitverlängerung: Keine Generallösung, Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 84, 4, S.205-206.

[20] http://www.amtliche-sozialberichterstattung.de/B2sgbII-quote.html

[21] Die Definition der EF ist nicht zu verwechseln mit der individuellen Erwerbsfähigkeit. http://dejure.org/gesetze/SGB_II/8.html.

[22] Eine Umverteilung der für Erwerbstätigkeit aufgewendeten Arbeitszeit, abhängig von Lebensphasen, ist wahrscheinlich. Phasen hoher erwerblicher Arbeitszeit werden von Phasen geringerer Arbeitszeit unterbrochen für Erziehungs-, Pflege- und Bildungsarbeit. Dies wird geeignete arbeits- und sozialrechtliche Regelungen voraussetzen. Vgl. Kast, Rudolf (2009). Lebensphasenorientierte Arbeitszeit und Weiterbildung, in: Employability - Herausforderungen für die strategische Personalentwicklung, S.503-514, Wiesbaden. Kocher, E., Groskreutz, H., Nassibi, G., Paschke, C., Schulz, S., Welti, F., ... & Zimmer, B. (2013). Das Recht auf eine selbstbestimmte Erwerbsbiografie. Arbeits-und sozialrechtliche Regulierung für Übergänge im Lebenslauf. Ein Beitrag zu einem sozialen Recht der Arbeit. Schriften der Hans-Böckler-Stiftung, 76.

[23] Vgl. Schupp, Jürgen (2009). 25 Jahre Sozio-oekonomisches Panel - Ein Infrastrukturprojekt der empirischen Sozial- und Wirtschaftsforschung in Deutschland, Zeitschrift für Soziologie 38 (5), 350-357. Wagner, Gert G., Jan Göbel, Peter Krause, Rainer Pischner, and Ingo Sieber (2008). Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Multidisziplinäres Haushaltspanel und Kohortenstudie für Deutschland - Eine Einführung (für neue Datennutzer) mit einem Ausblick (für erfahrene Anwender), AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv 2 (4), 301-328. Wagner, Gert G., Joachim R. Frick, and Jürgen Schupp (2007). The German Socio-Economic Panel Study (SOEP) - Scope, Evolution andEnhancements, Schmollers Jahrbuch (Journal of Applied Social Science Studies), 127 (1), 139-169.

[24] Vgl. Destatis (2009). 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerungsvorausberechnung/Bevoelkerungsvorausberechnung.html (22.09.2012)

[25] Vgl. Gans, P. (2011). Bevölkerung: Entwicklung und Demographie unserer Gesellschaft. Primus Verlag. S.89ff.

[26] Vgl. Scholz, Rembrandt (2011). Lebenserwartung und Beschäftigungsstruktur in Ost- und Westdeutschland. Wirtschaftsdienst 2011 | 1, S. 68-70. DOI: 10.1007/s10273-011-1173-2.

[27] Normativ bezeichnet der Begriff dieVisioneiner Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Sprachen, Religionen und Ethnien zusammenleben. Deskriptiv verwendet beschreibt er eine Gesellschaft, in derfaktischverschiedene Traditionen, Lebensstile,Werte und Ethiken existieren. Über die Qualität des Zusammenlebens ist damit noch nichts gesagt.

[28] Siehe auch Scheller, F. (2011). Bestimmung der Herkunftsnationen von Teilnehmern des Soziooekonomischen Panels (SOEP) mit Migrationshintergrund. SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research, (407).

[29] Geht man von der Situation jüngerer Personen mit Migrationshintergrund aus (Abbildung 14), dann würden davon 27,85% islamischen Glaubens sein; das wären 8,15 Mio. EW bzw. 11,75% der Bevölkerung.

[30] Vgl. Destatis. Hohe Zuwanderung nach Deutschland im Jahr 2011 https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2012/05/PD12_171_12711.html (07.10.2012)

[31] Die Größe der Haushalte hat sich seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierlich verkleinert, während die Zahl der Haushalte zugenommen hat (Abbildung 9). Dies hat Konsequenzen für die Finanzierungsbedürfnisse der Haushalte, die Erwerbsneigung und die Verbreitung von Beschäftigungsformen.Vgl. Schlese, M. (2014). Wie nachhaltig wirkt die Leiharbeit für die Betroffenen? Eine empirische und repräsentative Untersuchung mit Hilfe des Sozioökonomischen Panels (SOEP) 2001 bis 2012. Arbeitspapier Nr. 301 der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf. S.11.

[32] Effekte der Religion auf Einstellungen sind schwer nachzuweisen. Jüngere, männliche Muslime (bis 39 Jahre) weisen bspw. (im SOEP) „negative“ Reziprozität, wahrgenommene Fremdbestimmung, geringere Lebenszufriedenheit auf und sind neurotizistischer sowie weniger offen für neue Erfahrungen als ihre Alters- und Geschlechtsgenossen. Der nachweisbare (signifikante) Einfluss der Religionszugehörigkeit ist jedoch gering.

[33] Säkularisierung vollzieht sich zu Lasten der großen, christlichen Religionsgemeinschaften. Andere Religionen sind dagegen von einer geringeren quantitativen Bedeutung (Abbildung 12). Allerdings sind mit dem Wechsel der Generationen gegenläufige Entwicklungen zu beobachten, die für die Zukunft von Bedeutung sein können (Abbildung 13). Sollte sich ein „Trend“ für die Geburtsjahrgänge nach 1980 fortsetzen, werden in Zukunft relativ mehr Angehörige christlicher Religionsgemeinschaften mit einer wachsenden, aber verhältnismäßig kleinen Anzahl von Muslimen zusammenleben. Bei der Beurteilung möglicher Konflikte ist zwischen religiösen, ethnisch-kulturellen und sozioökonomischen Aspekten zu unterscheiden. Problematisch sind junge Angehörige ethnischer Minderheiten, die sich aufgrund ihrer sozioökonomischen Lage aus der „Mehrheitsgesellschaft“ ausgeschlossen fühlen und in der Religion Argumente für Abgrenzung und Gewalt finden. Hierbei spielt das regionale und familiäre Umfeld eine Rolle, wobei Letzteres mit der Religionszugehörigkeit variiert, wie sich am Vergleich der Haushaltsgröße zeigen lässt (Abbildung 15). Zudem sind partikulare politische Interessen, die Konflikt- und Gewaltneigung instrumentalisieren, nicht auszuschließen. Vgl. Heitmeyer, W., Kock, S., Marth, J., Thome, H., Thöle, U., Schroth, A., &Wetering, D. (2012). Gewalt in öffentlichen Räumen: zum Einfluss von Bevölkerungs-und Siedlungsstrukturen in städtischen Wohnquartieren. Springer-Verlag.

[34] Es wäre bspw. falsch türkische bzw. kurdische, arabische, persische, indonesische etc. Kulturen mit dem Islam zu identifizieren. Bereits „der“ Islam ist eine irreführende Ansicht. Und angesichts der Heterogenität der sozioökonomischen Lagen und Situationen der Betroffenen sind Ethnie, Kultur und Religion Konzepte, die nur bedingt Vorhersagen für Einstellungen und Verhalten der Akteure gestatten. Trotzdem sind es unverzichtbare Konzepte für die Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen.

[35] Dieser versteht sich als Alternative zum ethnischen Staatsverständnis. Die Staatszugehörigkeit beruht auf gemeinsamen politischen Werten statt auf Abstammungs- oder Sprachgemeinschaft. Vgl. Bühler, Joachim (2011). Das Integrative der Verfassung. Eine politiktheoretische Untersuchung des Grundgesetzes. Nomos Verlag. Sternberger, Dolf (1990). Verfassungspatriotismus. Insel, Frankfurt a.M. Habermas, Jürgen (1992). Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: (ders.). Faktizität und Geltung. Suhrkamp, Frankfurt a.M. Müller, Jan-Werner (2010). Verfassungspatriotismus. Edition Suhrkamp, Berlin.

[36] Im Sinne einer Gemeinschaft von Bürgern unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Vgl. Proudhon, Pierre-Joseph (1989). Über das Föderative Prinzip und die Notwendigkeit, die Partei der Revolution wieder aufzubauen. Erstausgabe 1863, Teil 1: Verlag Peter Lang, Bern. Renan, Ernest (1882). Qu’est-cequ’unenation? Conférencefaite en Sorbonne, le 11 mars 1882, Paris. Gasser, Adolf, Ulrich Mentz (Hrsg.) (2004). Gemeindefreiheit in Europa. Der steinige Weg zu mehr kommunaler Selbstverwaltung in Europa. Nomos, Baden-Baden.

[37] Es handelt sich um Schätzungen der auf Basis des Jahres 1984 deflationierten Monatseinkommen ohne Sonderzahlungen im Rahmen des Modells.

[38] Während das im Dienstleistungsbereich gebundene Arbeitszeitvolumen ungebrochen zunimmt, hat sich die Abnahme des Arbeitszeitvolumens im Produktionsbereich verlangsamt (Abbildung 10). Bleibt dieses Volumen auf dem gegenwärtigen Niveau und sinkt das Volumen der Arbeit insgesamt, kommt es zu einer Verschiebung der Beschäftigung zugunsten des sekundären Sektors. Noch deutlicher wird dieses Bild, wenn man sich die Entwicklung der realen Einkommen (je Woche) nach Wirtschaftsbereichen ansieht (Abbildung 11).

[39] Vgl. Eichhorst, Werner, Marx, Paul, Tobsch, Verena (2010). Familienfreundliche flexible Arbeitszeiten: ein Baustein zur Bewältigung des Fachkräftemangels, erstellt für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bonn: IZA researchreport, No.33.Hanglberger, Dominik (2011). Arbeitszufriedenheit und flexible Arbeitszeiten, in: Die Dynamik tiefgreifenden Wandels in Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen, S.245-257, Berlin.Wotschack, Philip, Scheier, Franziska, Schulte-Braucks, Philipp, Solga, Heike (2011). Zeit für lebenslanges Lernen: neue Ansätze der betrieblichen Arbeitszeit- und Qualifizierungspolitik, in: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut: WSI-Mitteilungen, Bd. 64.2011, 10, S.541-547, Frankfurt/Main.Dobischat, Rolf, Seifert, Hartmut (2007). Die Suche nach einer neuen zeitorganisatorischen Verteilung lebenslangen Lernens: Konzept und erste Erfahrungen zu Lernzeitkonten, in: Lebenslaufpolitik im Betrieb, S.105-118, Berlin.Franken, S. (2015). Vielfalt als Herausforderung und Chance: In Personal: Diversity Management (pp. 1-15). Springer Fachmedien Wiesbaden.Sporket, Mirko (2011). Organisationen im demografischen Wandel: Alternsmanagement in der betrieblichen Praxis, Wiesbaden. Dinges, Andreas (2010). Das "atmende Unternehmen" als Antwort auf die Herausforderungen des demografischen Wandels, in: Demografischer Wandel in der unternehmerischen Praxis, S.91-102, Wiesbaden.

[40] Vgl. Nefiodow, Leo A. (1996). Der sechste Kondratieff. St. Augustin. Händeler, Erik (2005). Kondratieffs Welt. Brendow, Moers.Jeschke, S., Vossen, R., Leisten, I., Welter, F., Fleischer, S., & Thiele, T. (2014). Industrie 4.0 als Treiber der demografischen Chancen. In Automation, Communication andCybernetics in Science and Engineering 2013/2014 (pp. 75-85). Springer International Publishing.Allianz Global Investors (2010). Der 6. Kondratieff – Wohlstand in langen Wellen. Frankfurt/M.

[41] Vgl. Wilms, P. (2012). Inklusion oder Integration?: Perspektiven der multikulturellen Gesellschaft im Spannungsverhältnis von Verfassungspatriotismus und Kulturnation (Doctoraldissertation). Ohlert, M. (2015). III. Schlussbetrachtung. In Zwischen „Multikulturalismus “und „Leitkultur “ (pp. 577-607). Springer Fachmedien Wiesbaden. Gathmann, C., Keller, N., Monscheuer, O., Straubhaar, T., Schäfer, H., Zimmermann, K. F., & Brücker, H. (2014). Zuwanderung nach Deutschland - Problem und Chance für den Arbeitsmarkt. Wirtschaftsdienst, 94(3), 159-179. Hinte, H., Rinne, U., & Zimmermann, K. F. (2012). Zuwanderung, Demografie und Arbeitsmarkt: Fakten statt Vorbehalte. Einwanderung - Bedrohung oder Zukunft, 263-278. Zimmermann, K. F. (2014). Freiheit und Bedrängnis: Zuwanderung am Arbeitsmarkt (No. 66). Institute forthe Study of Labor (IZA).

[42] Eine Alternative wäre ein weltanschaulich orientierter Staat, der von 75% Christen (verschiedener Konfessionen, ohne und mit Migrationshintergrund) getragen wird.

[43] Dem widerspricht ein Staatskonzept, dass die Trennung von Politik und Religion ablehnt, die Existenz unterschiedlicher Funktionsbereiche oder Individuen zwar anerkennt, den Primat aber bei einer – religiös motivierten – Politik sieht, deren Kern ein mit Moral und Sittlichkeit gekoppeltes, alle gesellschaftlichen Bereiche umfassendes zeitloses Recht ist, das sich aus religiösen Normen ableitet. Dies stellt entsprechende Anforderungen an die Regierenden und ihre Berater. Wenn auch zurecht auf Defizite systemischer Rationalisierung hingewiesen sowie der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Westens hervorgehoben wird und die Betonung von Wohlfahrt und Gerechtigkeit ein gemeinsamer Anknüpfungspunkt ist, handelt es sich um ein „platonisches“ Konzept („Herrschaft der Rechtsgelehrten (velāyat-e faqīh)“), das dem westeuropäischen Gesellschaftskonzept entgegensteht. Vgl. Azadpur, Mohammad (2004). Die Interpretation politischer Gewalt in der islamischen Philosophie. http://them.polylog.org/5/fam-de.htm. Chomeini, Imam SayyidRuhullah (2014). Der islamische Staat. Eslamica. Bremen. Popper, K. R. (1984). Ausgangspunkte meine intellektuelle Entwicklung. Hoffmann und Campe. Hamburg. S.61ff. Popper, K. R. (1987). Auf der Suche nach einer besseren Welt: Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren. Piper. München. S.127ff.

[44] Vgl. Runkel, Gunter, Burkhart, Günter (Hg.) (2005). Funktionssysteme der Gesellschaft. Beiträge zur Systemtheorie von Niklas Luhmann, Wiesbaden.Die westeuropäische Moderne ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: die Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme, die Pluralisierung von Lebenswelten, Individualität und Individualismus. Luhmann betont das Problem der strukturellen Kopplung. Zum einen betrifft es die Austauschbeziehungen zwischen Funktionssystemen, denen eine zentrale, koordinierende Instanz (z.B. in Form des Staates) fehlt. Zum anderen betrifft es die Kopplung von individuellen oder kollektiven Akteuren an Funktionssysteme bzw. gesellschaftliche Kommunikation (das „Interpenetrationsproblem“). Bei Habermas erscheint dieses Problem als Komplementarität von (Funktions-)Systemen und Lebenswelt(en).Vgl. Luhmann, Niklas (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1988). Theorie kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Band II, S.173ff.

[45] Diese betreffen sowohl Staatsbürger/innen als auch Menschen im Allgemeinen.

[46] Es reicht nicht, Gewalten zu trennen und ihre Unabhängigkeit zu garantieren, sondern den Gewalten sind Mittel an die Hand zu geben, die eigenen Interessen zu verteidigen.

[47] Diese orientiert sich am Prinzip zwischenmenschlicher Achtung und an selbstgewählten ethischen Prinzipien, die sich auf Universalität und Widerspruchslosigkeit berufen.

[48] Vgl. Kohlberg, Lawrence (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Suhrkamp, Frankfurt/M. Apel, Karl-Otto (1988). Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1991). Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Böhler Dietrich (2012). Verbindlichkeit aus dem Diskurs: Kommunikatives Denken und Verantwortung. Alber, Freiburg.

[49] Werte und Normen speisen sich aus lebensweltlichen Ressourcen, die so fundamental sind, dass sie Bedingungen ihrer eigenen Geltung enthalten (Habermas 1988 Band I: 84ff). Stellen Sie den Grundaufbau der Gesellschaft infrage, sind sie inkompatibel und auszuschließen. Andererseits können liberale Gesellschaften kaum verhindern, dass Lebenswelten entstehen, die sie infrage stellen oder gar bekämpfen. Und auch liberale Werte bedürfen einer lebensweltlichen Verankerung.

[50] Vgl. von Dohnanyi, K. (2004). Das Problem Ostdeutschland: Die Empfehlungen des „Gesprächskreises Ost“. Wirtschaftsdienst, 84(10), 611-614. Lepsius, M. R. (2013). Vertrauen zu Institutionen (pp. 55-64). Springer Fachmedien Wiesbaden. Constant, Amelie F., Otterbach, Steffen (2011). Work hoursconstraints: impactsandpolicyimplications. Bonn: IZA policypaper No.35.

[51] Ein höheres Beschäftigungsniveau oder höhere Erwerbseinkommen (bei hypothetisch konstanter Arbeitsproduktivität) implizieren längere Erwerbsfähigkeit (bspw. bis zum 70. Lebensjahr), höhere Geburtenraten (das Modell unterstellte 1,2 - in 2012 waren es 1,38 Geburten je Frau, in den USA bspw. 1,88) oder eine stärkere Nettozuwanderung. Letztere macht die Umgestaltung des „Gesellschaftsvertrages“ umso wichtiger.

[52] Vgl. Schefold, B., Theurl, T., &Kirchgässner, G. (2013). Wettbewerb zwischen wirtschaftspolitischen Modellen in Europa. Wirtschaftsdienst, 93(12), 807-817.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Auf dem Weg zu einer Neuen Erwerbsgesellschaft. Demografischer Wandel und Erwerbstätigkeit 1984 bis 2060
Hochschule
AMD Akademie Mode & Design GmbH
Autor
Jahr
2015
Seiten
20
Katalognummer
V293010
ISBN (eBook)
9783656902881
ISBN (Buch)
9783656902898
Dateigröße
562 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozioökonomie, Demografie, Beschäftigung, sozialer Wandel
Arbeit zitieren
Dr. Michael Schlese (Autor:in), 2015, Auf dem Weg zu einer Neuen Erwerbsgesellschaft. Demografischer Wandel und Erwerbstätigkeit 1984 bis 2060, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/293010

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