Über Rolf Dieter Brinkmanns Roman "Keiner weiß mehr und das Jahr 1968"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

14 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhalt

I.(Einleitung)

II.(Die Besonderheiten von „Keiner weiß mehr“)

III.(Verbindung zwischen dem Roman und seinem Erscheinungsjahr)

I.

Im Zentrum dieser Hausarbeit steht Rolf Dieter Brinkmanns Roman „Keiner weiß mehr“. Er erschien im Jahre 1968 zu einer Zeit der Studentenunruhen und gesellschaftlichen Umbrüche. Die Frage, die sich diese Arbeit nun stellt lautet: Wie paßt Rolf Dieter Brinkmanns Roman in das Erscheinungsjahr 1968 – ist er ein typischer Vertreter der Literatur dieser Zeit, und wenn ja, inwiefern? Kindlers neues Literatur-Lexikon spricht von einem „Protest ohne Rückhalt der Studentenbewegung“, von einer „Rebellion ohne Gegner“[1], aber worin äußert sich diese Rebellion? Die Beantwortung der Fragen wird darauf hinauslaufen, daß „Keiner weiß mehr“ viele typische Merkmale der Zeit widerspiegelt, wenngleich der Roman nicht politisch Stellung bezieht. Aber Gegenstand der Kritik waren Ende der 1960er Jahre neben dem politischen System eben beispielsweise auch gesellschaftliche Strukturen und die Bewußtseinsmanipulation durch die Massenmedien.

Aber auch die konventionellen Verständnis- und Denkweisen wurden kritisiert und sollten durch das Spiel mit sprachlichen Strukturen verändert werden. So entstanden Ende der 1960er Jahre viele völlig neue Darstellungsformen. Man suchte das Alltägliche, das Normale und Durchschnittliche auf, um es in seiner Struktur sichtbar zu machen und zu verändern. Dabei erhoffte man sich auch neue Erfahrungen und eine neue, nicht durch das „System“ festgelegte Identität.[2]

Um die Fragen der Hausarbeit beantworten zu können, soll im anschließenden Teil der Arbeit der Roman charakterisiert und auf seine inhaltliche und sprachliche Form mit den diesbezüglichen Besonderheiten untersucht werden. Dabei soll darauf geachtet werden, welche Intentionen Rolf Dieter Brinkmann verfolgt hat. Merkmale des Romans, die für die Fragestellung der Arbeit keine Bedeutung haben, werden hier nicht betrachtet. Im dritten und letzten Teil wird dann schließlich eine Antwort auf die Fragen versucht.

II.

Zunächst einmal soll ein Blick auf den inneren Aufbau von Rolf Dieter Brinkmanns Roman geworfen werden. Die Figur im Mittelpunkt von „Keiner weiß mehr“ ist ein junger Mann, dessen Namen der Leser nicht erfährt und aus dessen Bewußtseinsstrom der Roman aufgebaut ist. Die Gedanken werden dem Leser hauptsächlich aus der Er-, selten der Ich-Perspektive vermittelt. Sie drehen sich um die Beziehungen des Protagonisten zu seiner Umwelt, seiner Frau, seinem Kind und den beiden Freunden Gerald und Rainer. Die gedanklichen Einheiten sind in loser Folge und nicht chronologisch aneinandergereiht, wobei die Übergänge zwischen den einzelnen Sequenzen lediglich durch Assoziationen der Hauptfigur hergestellt werden.[3]Als Beispiel für eine ganze Reihe solcher Übergänge soll das folgende dienen: Als der Protagonist sich an seine Zeit mit Rainer in London erinnert, schweifen seine Gedanken zunächst hin zu einer Fahrt mit der Untergrundbahn, von dort zu den unvermuteten tödlichen Gefahren an den Bahnsteigen und schließlich dahin, auf welch merkwürdige Arten Menschen ansonsten sterben können.[4]Brinkmanns Werk trägt den Untertitel „Roman“. Diese traditionelle Bezeichnung erzeugt einige Erwartungen an ein literarisches Werk, denen „Keiner weiß mehr“ nur sehr grob entspricht. Es gibt zwar eine Haupt- und mehrere Nebenfiguren, von denen der Leser auch einiges erfährt, es fehlt jedoch der lineare Handlungsstrang, die zeitlich logische Abfolge im Erzählfluß. Mit viel Mühe kann man ein Zeitgerüst von Ereignissen im Leben der Romanfiguren ausmachen; die nicht kontinuierliche Wiedergabe dieser Ereignisse unterstützt jedoch den Eindruck, daß ihre Reihenfolge keine große Bedeutung hat, weder für die Beziehungen der Personen untereinander noch für den Roman als solchen. Es gibt keine für den traditionellen Roman typische Entwicklung, die Erkenntnisse des Protagonisten haben keine Auswirkungen, er dreht sich nur im Kreis, und der Roman endet im Prinzip da, wo er angefangen hat.[5]Brinkmanns Roman weicht also inhaltlich stark davon ab, wie sich nach herkömmlicher Auffassung ein Roman zeigen sollte.

Was – wenn keine Handlung mit einer Entwicklung – macht nun den Inhalt des Romans aber aus? Es werden Gedanken wiedergegeben, innere Vorgänge. Hermann Kinder bemerkt:

Daß sich Innerlichkeit als Kategorie für die Betrachtung von „Keiner weiß mehr“ anbietet, ist evident: in Brinkmanns Roman geht es um Wahrnehmungen, Empfindungen, gedankliche Ausfaltungen von Befindlichkeit, um Liebe und Haß, Sehnsüchte, vor allem um sexuelle Wünsche und Enttäuschungen zumal im Verhältnis des Er-Helden zu seiner Frau; von „objektiven“ Zwängen, von Geld und von beruflichen Problemen ist keine Rede.[6]

Die Hauptfigur in „Keiner weiß mehr“ ist auf der Suche nach sich selbst, nach ihrem Platz in der Welt.[7]Zu diesem Zweck versucht der junge Mann ständig, der Realität seiner Umwelt habhaft zu werden, das Wahre in den Erscheinungen, Personen und Dingen zu erkennen. Er ist so auf das Wahrnehmen und das Reflektieren darüber fixiert, daß er kaum noch am Leben seiner Umgebung teilnimmt. Er hat sich in starkem Maße auf die Rolle des stillen Beobachters zurückgezogen. Zu seinem kleinen Kind hat er keine Beziehung, er ist nicht imstande zu begreifen, daß es real ist, dauerhaft gegenwärtig, daß er eine Verantwortung für diesen Menschen hat:

Statt dessen war es auf einmal bei ihnen im Hinterzimmer, an einem bestimmten Platz, der vorher leer gewesen war und immer weiter hätte leer bleiben können, eine Ecke in einem Hinterzimmer, die nie aufgefallen wäre, wo nun dieser wannenförmige geflochtene Korb auf einem hölzernen Fahrgestell aufgebockt stand, vor dem er sich hilflos vorkam, wenn die anderen, seine Bekannten, ihn danach fragten, wie es so sei, so, mit dem Kind und so, da, in dem Korb, an der Stelle in dem Hinterzimmer bei ihnen, das Kind, das Kind, das Kind, das er sich ansah, dumm, mit herunterhängenden schlaffen Armen davorstehend, ein wenig beiseite gerückt mit im voraus auf die Fragen zurechtgelegten Erklärungen wie: was habe ich mit dem allem zu tun, was zu einem Teil doch auch stimmte, was hatte er mit allem wirklich zu tun, was konnte er überhaupt damit zu tun haben, oder: wo soll schon das Kind hin, an welche Stelle, nicht hierhin, dahin, zu niemandem, nirgendwohin, es gehört sich selbst, oder: die Frau mit dem Kind zusammen, ohne ihn.[8]

Wenn der Protagonist tagsüber stundenlang durch die Stadt geht, so sieht er die Welt um sich herum ständig in Bildern:

Man lebt ja schließlich in den Bildern, die ständig zerfallen. Siehst du das dünne lautlose Flimmern? Siehst du, kannst du noch sehen? Der Bildempfang ist einwandfrei. Das Flimmern, dieses zittrige Wirbeln hört nicht auf, ein winziges Zucken, ein Figur, noch einmal. Jetzt konnte er es deutlich sehen, jetzt nicht mehr und jetzt wieder. Eine Frau bog um die Ecke und verschwand nach ein paar Schritten. Aus der Ladentür kamen zwei Frauen. Ein Mann kam hinter ihnen aus dem Laden heraus und rief ihnen was nach. Eine der Frauen ging langsam zurück. Vor der Ampel sammelten sich mehr Leute. Aus einem Fenster beugte sich jemand vor und blickte nach unten. Drei, vier Kinder rannten weg. Das Fenster, aus dem eben noch jemand nach unten geschaut hatte, war wieder leer. Ruhig ging eine Frau an der Häuserfront entlang. Ein ruhiges, gewöhnliches Bild, draußen.

[...]


[1]KINDLERS NEUES LITERATUR-LEXIKON, herausgegeben von Walter Jens. Studienausgabe, München 1996, Band 3, S. 178.

[2]Vgl. WUCHERPFENNIG, Wolf: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1986, S. 281.

[3]Vgl. CHITTKA, Nicola: Kreisbewegung – Rolf Dieter Brinkmanns „Keiner weiß mehr“. In: Welfengarten 8. Jahrbuch für Essayismus, 1998, S. 132-134.

[4]BRINKMANN, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr. Roman, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 114-115.

[5]Vgl. CHITTKA, Nicola: Kreisbewegung – Rolf Dieter Brinkmanns „Keiner weiß mehr“. In: Welfengarten 8. Jahrbuch für Essayismus, 1998, S. 132/133.

[6]KINDER, Hermann: Formen dargestellter „Subjektivität“: Rolf Dieter Brinkmanns „Keiner weiß mehr“ und die „Tendenzwende“. In: Hermann Kinder: Von gleicher Hand. Aufsätze, Eggingen 1995, S. 62.

[7]Vgl. CHITTKA, Nicola: Kreisbewegung – Rolf Dieter Brinkmanns „Keiner weiß mehr“. In: Welfengarten 8. Jahrbuch für Essayismus, 1998, S. 132.

[8]BRINKMANN, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr. Roman, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 15/16.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Über Rolf Dieter Brinkmanns Roman "Keiner weiß mehr und das Jahr 1968"
Hochschule
Universität Koblenz-Landau
Note
2.0
Autor
Jahr
2001
Seiten
14
Katalognummer
V29267
ISBN (eBook)
9783638308267
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rolf, Dieter, Brinkmanns, Roman, Keiner, 1968
Arbeit zitieren
Fabian Otto (Autor:in), 2001, Über Rolf Dieter Brinkmanns Roman "Keiner weiß mehr und das Jahr 1968", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29267

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