Stärkenorientierte Kindererziehung. Das Bedürfnis des Kindes nach Bindung befriedigen


Akademische Arbeit, 2007

50 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Bindungssicherheit als Stärke

2. Drei wichtige Grundbegriffe der Bindungstheorie
2.1 Bindungsverhalten
2.2 Fürsorgeverhalten
2.3 Erkundungsverhalten

3. Zur Bedeutung elterlicher Feinfühligkeit
3.1 Zur Feinfühligkeit von Müttern
3.2 Feinfühlige Väter

4. Weitere Elternfähigkeiten, die Bindungssicherheit fördern
4.1 Kooperationsfähigkeit
4.2 Bedingungslose Annahme des Kindes
4.3 Zugänglichkeit für das Kind

5. Vier unterschiedliche Bindungsstile
5.1 Kinder mit sicherem Bindungsverhalten
5.2 Kinder mit unsicherer Bindung und vermeidendem Beziehungsverhalten
5.3 Kinder mit unsicherer Bindung und ambivalentem Beziehungsverhalten
5.4 Kinder mit unsicherer Bindung und desorganisiert/desorientiertem Beziehungsverhalten

6. Eine gefühlsbezogene Gesprächskultur aufbauen und pflegen
6.1 Verbale Feinfühligkeit im Umgang mit negativen Gefühlen
6.2 Gefühlsbezogene Gespräche mit älteren Kindern und Jugendlichen

7. Verbindliche Regeln aushandeln

8. Die Selbstbestimmungsmöglichkeiten des Jugendlichen fördern
8.1 Konfliktfreie Zonen aufrechterhalten und pflegen
8.2 Zwischenbereiche der Unabhängigkeit schaffen
8.3 Elterliche Toleranz für Besonderheiten
8.4 Die Familie als „Trainingslager“ und „fehlerfreundliches System“

9. Zur „privaten Bindungstheorie“ von Kindern und Jugendlichen

10. Stärken von sicher gebundenen Kindern und Jugendlichen
10.1 Stärken sicher gebundener Kleinstkinder
10.2 Stärken sicher gebundener Vorschulkinder
10.3 Stärken sicher gebundener älterer Kinder und Jugendlicher

11. Zusammenfassung

12. Literaturverzeichnis

1. Bindungssicherheit als Stärke

In dieser Arbeit sollen Bindungsstörungen und deren negativen Folgen für Personen aber weitgehend außer Acht gelassen werden. Stattdessen wird eine stärkenorientierte Betrachtungsweise in den Vordergrund gestellt, die aufzeigt, unter welchen Bedingungen tragfähige Bindungen zwischen Menschen zustande kommen und wie diese zu sichern sind. Zu diesem Zweck werden ausgewählte Ergebnisse der Bindungsforschung vorgestellt, die eine solche Sichtweise stützen. Der Bezug auf die Bindungstheorie erfolgt also vorrangig unter dem Gesichtspunkt des Gelingens von zwischenmenschlichen Bindungsbeziehungen, wobei Eltern-Kind-Bindungen im Mittelpunkt stehen. Dabei sollen für Eltern grundlegende Möglichkeiten erkennbar werden, wie ihre Kinder zu ihnen sichere Bindungen aufbauen und dadurch ihr Bindungsbedürfnis hinreichend und angemessen befriedigen können. Um bei Eltern für die Orientierung an einer solchen Erziehungsaufgabe zu werben, werden außerdem Forschungsergebnisse vorgestellt, die zeigen sollen, welche weiteren positiven Wirkungen sichere Bindungen für Kinder und Jugendliche haben.

Das Bindungsbedürfnis ist ein angeborenes psychisches Grundbedürfnis des Menschen, dessen angemessene und zuverlässige Befriedigung von erheblicher Bedeutung für sein körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden ist. Diese inzwischen durch die Forschung gestützte Erkenntnis geht ursprünglich auf Arbeiten des englischen Psychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby zurück, der als eigentlicher „Vater“ der so genannten Bindungstheorie anzusehen ist und erste Studien zu diesem Thema bereits während des II. Weltkriegs vorgelegt hat. Die Bindungstheorie kann im Wesentlichen zweierlei erklären:

Zwei Grundannahmen der Bindungstheorie

- Die Bindungstheorie ist auf der einen Seite eine Theorie über die normale Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Sie geht von der durch die Forschung gut gestützten Grundannahme aus, dass sichere zwischenmenschliche Bindungen bei Personen aller Altersgruppen ent- scheidend zum Aufbau und Erhalt von psychischer Sicherheit beitragen.

- Die Bindungstheorie ist auf der anderen Seite eine Theorie über das Ent- stehen von psychischer Unsicherheit sowie von Entwicklungs- und Per- sönlichkeitsstörungen als Folge von zwischenmenschlichen Bindungs- problemen.

John Bowlby war und ist allerdings mehr an den negativen emotionalen Folgen interessiert, die sich für Erwachsene, Jugendliche und Kinder aus unangemessenen Bindungserfahrungen und unsicheren Bindungen ergeben, um das Entstehen von Beziehungs- und Persönlichkeitsstörungen zu erklären und diese dann besser behandeln zu können.

2. Drei wichtige Grundbegriffe der Bindungstheorie

Der Leserin oder dem Leser soll an dieser Stelle ein tieferer Einblick in die Bindungstheorie und die vielfältigen Untersuchungsmethoden von Bindungsforschern erspart bleiben. Wer mehr darüber wissen möchte, findet im Literaturteil am Ende des Buches Hinweise auf einige Veröffentlichungen, die umfassender über dieses Thema informieren. Stattdessen werden anschließend zunächst nur drei Grundbegriffe kurz erläutert, deren Kenntnis zum Verständnis und zur Bewältigung dieser Erziehungsaufgabe unbedingt erforderlich ist.

Drei wichtige Grundbegriffe der Bindungstheorie

- Bindungsverhalten
- Fürsorgeverhalten
- Erkundungsverhalten

2.1 Bindungsverhalten

Bei sehr kleinen Kindern zeigt sich das Bedürfnis nach Bindung an eine besonders vertraute Bezugsperson normalerweise dadurch, dass sie Nähe zu dieser Person herstellen oder beibehalten wollen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Kinder sich unwohl fühlen, Angst haben oder in anderer Form Leid empfinden. Von Bindungsforschern werden solche dem Kind sehr vertrauten Bezugspersonen als Bindungspersonen bezeichnet, bei denen es sich oft, aber nicht immer um die Mutter des Kindes handelt.

- Nähe herstellen: Kleinstkinder versuchen Nähe herzustellen, indem sie zum Beispiel schreien, nach der Bindungsperson rufen oder nach ihr suchen, sobald sie sich fortbewegen können.
- Nähe beibehalten: Kleinstkinder zeigen, dass sie die Nähe der vertrauten Bezugsperson beibehalten wollen, indem sie die Person festhalten, sich bei ihr anklammern oder ihr erkennbares Vorhaben beklagen, sich entfernen zu wollen. Ihre momentane Absicht ist es, eine Trennung von der Bindungsperson möglichst zu verhindern.

Die verschiedenen Aktivitäten mit denen Kleinstkinder das Ziel verfolgen, durch die Herstellung oder Beibehaltung von Nähe zur Bindungsperson ein Gefühl von psychischen Sicherheit zu erreichen oder zu bewahren, werden auch als Bindungsverhalten bezeichnet. Ein gezeigtes Bindungsverhalten soll der Bindungsperson deutlich machen, dass das kleine Kind gerade bestrebt ist, sein Bedürfnis nach Bindung zu befriedigen und dazu ihre Hilfe benötigt.

Auch ältere Kinder und Jugendliche zeigen Bindungsverhalten. Ihr Bindungsbedürfnis wird jedoch mit zunehmendem Alter immer mehr durch sprachlichen Austausch mit der Bindungsperson zum Ausdruck gebracht, indem Nähewünsche direkt oder indirekt angesprochen werden.

2.2 Fürsorgeverhalten

Normalerweise wird durch das vom Säugling gezeigte Bindungsverhalten ein Fürsorgeverhalten der Mutter oder einer anderen Bindungsperson mit der Absicht ausgelöst, das kindliche Bindungsbedürfnis angemessen zu befriedigen. Die Bindungsperson geht zu dem Baby das ihre Nähe sucht, nimmt es behutsam auf, um es zu beruhigen oder anderweitig zu versorgen. Einem kleinen Kind, das sich nicht von ihr lösen möchte, gibt sie solange fürsorgliche Zuwendung bis das Nähebedürfnis des Kindes befriedigt ist, es eine vorübergehende Trennung aushalten kann oder sich beruhigt selbst von der Bindungsperson entfernt, um ein unterbrochenes Spiel wieder aufzunehmen oder neugierig und unbeschwert die nähere Umgebung zu erkunden.

Bindungsverhalten und Fürsorgeverhalten stehen demnach in einer engen Wechselbeziehung zueinander, wobei es von der Qualität des Fürsorgeverhaltens der Bindungsperson abhängt, ob das Bindungsbedürfnis des kleinen Kindes angemessen befriedigt wird oder nicht. Eine angemessene Befriedigung des kindlichen Bindungsbedürfnisses liegt normalerweise dann vor, wenn die Bindungsperson den Eindruck gewinnt, dass das Baby ihre Fürsorge im Augenblick nicht mehr benötigt. Sie kann dies daran erkennen, dass bei ihrem Säugling kein Bindungsverhalten mehr zu beobachten ist.

Wenn Kinder älter werden, ändert sich auch das elterliche Fürsorgeverhalten, um ihr Bindungsbedürfnis zu befriedigen. In späteren Abschnitten wird im Einzelnen dargestellt, worin diese Änderungen des Fürsorgeverhaltens bestehen. Zunächst soll im übernächsten Abschnitt aufgezeigt werden, welche Fähigkeiten Eltern benötigen, um das Bindungsbedürfnis von Säuglingen und Kleinkindern angemessen zu befriedigen.

2.3 Erkundungsverhalten

Wenn das kleine Kind kein Bindungsverhalten zeigt, spielt es normalerweise oder erkundet neugierig und unternehmungslustig seine nähere Umgebung. Dieses Verhalten wird von Bindungsforschern als Erkundungs- oder Explorationsverhalten bezeichnet. Durch das Erkundungsverhalten befriedigt das Kleinstkind vornehmlich sein angeborenes Neugierbedürfnis. Die starke Bereitschaft seine Umgebung erkunden zu wollen, setzt aber bei dem kleinen Kind ein Gefühl von Bindungssicherheit voraus, was am besten daran zu erkennen ist, dass Säuglinge ihr Erkundungsverhalten einstellen, sobald bei ihnen durch bestimmte Ereignisse ein Bindungsverhalten ausgelöst wird. Um sorglos und unbekümmert explorieren zu können, benötigen Babys also den sicheren Rückhalt durch eine fürsorgliche Bindungsperson. Ebenso wie das liebevolle Fürsorgeverhalten einer schützenden Bindungsperson dem Säugling Sicherheit durch Nähe vermittelt, erlebt das kleine Kind durch eine Bezugsperson, die Ihm sicheren Rückhalt beim Spielen und dem Erforschen seiner näheren Umgebung bietet Sicherheit beim Erkunden. Insofern besteht bei Bindungsforschern die übereinstimmende Auffassung, dass sich bei Kleinstkindern ein Gefühl von psychischer Sicherheit sowohl aus der Erfahrung einer sicheren Bindung als auch aus einem Gefühl von Sicherheit beim Erkunden herausbildet.

3. Zur Bedeutung elterlicher Feinfühligkeit

Um auf das beschriebene Bindungsverhalten von Kleinstkindern hinreichend und angemessen reagieren zu können, müssen Eltern über eine Fähigkeit verfügen, die von Bindungsforschern als Feinfühligkeit bezeichnet wird. Die nachstehenden Angaben über verschiedene Merkmale von Feinfühligkeit stützen sich auf Untersuchungen über das feinfühlige Fürsorgeverhalten von Müttern, doch nachweislich können auch andere Bindungspersonen, wie zum Beispiel Väter, ältere Geschwister, Großeltern, Erzieherinnen oder Tagesmütter ein entsprechend feinfühliges Verhalten zeigen und das Bindungsbedürfnis des Säuglings angemessen befriedigen.

3.1 Zur Feinfühligkeit von Müttern

Bindungsforscher haben festgestellt, dass sich im Wesentlichen vier Merkmale der Feinfühligkeit unterscheiden lassen, durch deren Verfügbarkeit und Aktivierung das Bindungsbedürfnis von Säuglingen am besten erkannt und befriedigt werden kann.

Vier wichtige Merkmale von Feinfühligkeit

- Den Säugling aufmerksam beobachten
- Sich in das Baby einfühlen
- „Prompt“ auf die Bedürfnisse des Säuglings reagieren
- Angemessen auf die Bedürfnisse des Babys reagieren

- Den Säugling aufmerksam beobachten: Die Bindungsperson achtet sorgsam auf das Befinden des Säuglings, indem sie ihn stets aufmerksam „im Blick“ hat. Sie besitzt eine niedrige Wahrnehmungsschwelle für seine Signale, um rechtzeitig bemerken zu können, was das Kind ihr mitteilen möchte.
- Sich in das Baby einfühlen: Eine feinfühlige Bindungsperson versteht es, die wahrgenommenen Äußerungen des Babys nicht aus ihrer Sicht, sondern aus der Sicht des Säuglings zu bewerten. Sie ist dabei stets bemüht, sein momentanes Befinden und seine Wünsche nach Bedürfnisbefriedigung richtig zu deuten.
- „Prompt“ auf die Bedürfnisse des Säuglings reagieren: Die Bindungsperson reagiert „prompt“ auf die Bedürfnisse des Säuglings, damit er zwischen seinem und ihrem Verhalten eine Verbindung erkennen kann („Meine Mutter kommt, wenn ich nach ihr rufe“). Dadurch wird dem Baby ein Gefühl der Wirksamkeit seines Verhaltens bzw. seiner Signale vermittelt und fördert so seine Bereitschaft, sich bei Bedarf wieder an die Bindungsperson zu wenden.
- Angemessen auf die Bedürfnisse des Babys reagieren: Die Reaktion der Bindungsperson ist angemessen, wenn sie dem Säugling gibt, was er gerade braucht. Die Angemessenheit dieser Reaktion verändert sich mit der Entwicklung des Kindes. Ein stark erregtes zwei Monate altes Baby lässt sich beispielsweise am besten durch Körperkontakt beruhigen, während zur Beruhigung eines Krabbelkindes mitunter schon gutes und anerkennendes Zureden weiterhilft.

Die „Sprache“ des Säuglings verstehen lernen. Der Säugling meldet der Bindungsperson zurück, ob ihr Fürsorgeverhalten bei ihm die gewünschte Wirkung erzielt hat. Sie kann also aus seinen Reaktionen ablesen, ob er sich von ihr „verstanden“ fühlt. Bekommt die Mutter eine negative Antwort, indem das Baby sich zum Beispiel von ihr abwendet, sich in ihrem Arm „steif“ macht, quengelt, weint oder verstärkte Unruhe zeigt, dann will es damit mitteilen, dass ihr Fürsorgeangebot nicht das gewünschte war, sondern bei ihm weiterhin unangenehme Empfindungen bestehen.

Um feinfühlig auf das Bindungsbedürfnis und andere Bedürfnisse des kleinen Kindes antworten zu können, müssen Eltern also auch lernen, seine „Sprache“ richtig zu deuten. Bei auftretenden Deutungsschwierigkeiten (Muss die Windel gewechselt werden? Hat das Baby Hunger? Ist ihm kalt? Will es schmusen? Ist es müde?) wird ihnen dann oft nichts anderes übrig bleiben, als verschiedene Fürsorgeangebote nacheinander auszuprobieren. Eine feinfühlige Bindungsperson kann schließlich an der Reaktion des Babys erkennen, ob das Passende gefunden worden ist oder ob weiter „gesucht“ werden muss. Und je besser sie sich in den Säugling einfühlen kann, desto treffsicherer wird sie mit der Zeit darin werden, das jeweils Richtige herauszufinden.

- Unterscheidung zwischen Bindungs- und Erkundungsverhalten: Um feinfühlig darauf reagieren zu können, was das kleine Kind in einem bestimmten Augenblick braucht, müssen Eltern ihr Kind nicht nur genau beobachten, sondern sie sollten vor allem auch erkennen, ob es gerade ein Bindungsverhalten zeigt oder sich momentan in einer Erkundungssituation befindet, ob es also Nähe, Zuwendung und Beruhigung benötigt oder gerade dabei ist, seine Umwelt zu erkunden, Anregungen wünscht oder zum Spielen aufgelegt ist. Es zeugt von geringer elterlicher Feinfühligkeit, ein weinendes und stark erregtes Kind etwa mit einer lauten Rassel besänftigen oder ablenken zu wollen; angemessener wäre es dagegen, das Baby auf den Arm zu nehmen und sanft solange mit ihm zu sprechen, bis es sich beruhigt hat. In jedem Fall ist es wichtig, das aktuelle Bedürfnis des Säuglings zu achten und insofern völlig unangebracht, ihn beispielsweise zu kitzeln, wenn er lieber schlafen will oder ihn auf den Schoß zu nehmen, wenn er sich gerade ausgiebig mit einem Spielzeug beschäftigt.
- Direkte Verbindung zwischen Bindungs- und Erkundungsverhalten. Überdies muss darauf hingewiesen werden, dass zwischen dem Bindungsverhalten und dem Erkundungsverhalten kleiner Kinder eine Verbindung besteht, deren Besonderheit von Bindungsforschern gern am Beispiel einer Wippe veranschaulicht wird. Solange ein Kleinstkind sich rundum wohl fühlt, zeigt es im Wachzustand normalerweise ein neugieriges Erkundungsverhalten oder spielt. Sein Bindungsverhaltenssystem ist in solchen Erkundungssituationen „abgeschaltet“, weil kein Bindungsbedürfnis besteht. Die Wippe „kippt“ dagegen zur anderen Seite, sobald das kleine Kind beunruhigt ist, deutliches Missbehagen oder Leid verspürt. Es wird in solchen Situationen normalerweise ein Bedürfnis nach Nähe zur Mutter oder einer anderen Bindungsperson haben, sein Bindungsverhaltenssystem aktivieren und das Erkundungs- oder Spielverhalten zunächst einmal einstellen. Dabei lassen sich allerdings zwischen einzelnen Krabbelkindern deutliche Unterschiede erkennen, welche häuslichen Ereignisse jeweils dazu führen, dass die Wippe vom Erkundungsverhalten zum Bindungsverhalten „umkippt“ oder umgekehrt. Bei vielen Kindern ist ein Bindungsverhalten in der häuslichen Umgebung dann ziemlich selten zu beobachten, wenn sie sich dort sicher fühlen, während bei anderen oft schon eine Kleinigkeit genügt, wie zum Beispiel das Klingeln des Telefons oder das laute Bellen eines Hundes auf der Straße, um das Erkundungs- oder Spielverhalten zu unterbrechen und die Nähe zur Bindungsperson zu suchen. Umgekehrt benötigen manche Kleinstkinder nach der Auslösung ihres Bindungsverhaltens nur einen kurzen „Kuschelkontakt“ mit der Mutter, um anschließend ihr Erkundungsverhalten beruhigt fortzusetzen, während andere bei einem vergleichbaren Anlass die Nähe ihrer Bindungsperson für deutlich längere Zeit beanspruchen und sich nur schwer wieder von ihr lösen können.
- Erfordernis von Entwicklungswissen: Zur feinfühligen Pflege und für eine angemessene Zuwendung gehört auch ein Grundstock an Wissen über die Entwicklung von Kindern, damit Eltern überhaupt einigermaßen verstehen können, wie Kinder denken, fühlen und handeln. Sie sollten sich diese Kenntnisse also unbedingt aneignen, um das Erleben und Verhalten ihrer Kinder richtig deuten und einordnen zu können. Solange Eltern dieses grundlegende Wissen fehlt, ist zu befürchten, dass sie zum Beispiel Erwartungen aufbauen, die ihre Kinder gar nicht erfüllen können. Es besteht dadurch die Gefahr, dass sie in einen Teufelskreis von Enttäuschung und Verärgerung geraten. Dies trifft etwa dann zu, wenn Eltern ihrem Kind negative Eigenschaften zusprechen, obwohl es lediglich das tut, was Kinder in einem bestimmten Alter üblicherweise zu tun pflegen. Dazu zwei Beispiele:

Beispiel 1: Achtmonatsangst

Stellen Sie sich eine Mutter vor, die die normale und gesunde Trennungs­- angst ihres achtmonatigen Sohnes („Achtmonatsangst“) und das damit oft verbundene „Klammern“ beim Auftreten fremder Personen irrtümlich als deutliches Zeichen dafür hält, dass er ein forderndes und übermäßig abhängiges Kind ist. Es wäre ein Fehler, wenn diese Mutter in solchen Situationen die Bindungswünsche ihres Sohnes missachten würde, indem sie ihn zurückweist oder mit ihm schimpft.

Beispiel 2: Trotzverhalten

Entwicklungswissen ist gleichermaßen erforderlich, wenn es um den feinfühligen elterlichen Umgang mit kindlichem Trotzverhaltens geht. Trotz tritt typischerweise erstmals in der Mitte des zweiten Lebensjahres auf und sollte keinesfalls als Ungehorsam fehleingeschätzt, sondern als ein bedeutender Entwicklungsfortschritt des kleinen Kindes bewertet werden. Sein Trotz ist normalerweise ein Zeichen dafür, dass es nun die Fähigkeit besitzt, sich vor dem Beginn einer Handlung schon das Ziel seiner Handlung vorstellen zu können. Aus diesem Grund ist das Kind gefühlsmäßig so stark an seinem Tun beteiligt, dass es versucht, ein bestimmtes Handlungsziel auch gegen den elterlichen Widerstand weiterverfolgen zu wollen. Wird es von den Eltern in der Durchführung der Handlung gestoppt oder behindert, steht ihm auf dieser Alterstufe noch kein anderer Handlungsplan zur Verfügung, so dass es nur mit Trotz auf die Blockade seiner Absichten reagieren kann.

Untersuchungen von Entwicklungspsychologen haben gezeigt, dass Eltern, die bei auftretendem Trotz direkt und massiv in das Widerstandsverhalten ihrer Kinder eingreifen und dabei zusätzlich auch noch ein gefühlsmäßig gespanntes Verhältnis zu ihnen aufbauen, entscheidend zur Verstärkung der kindlichen Trotzreaktionen beitragen. Das erzieherische Ziel darf also keinesfalls darin bestehen, den stark aufkommenden Willen des kleinen Kindes zu „brechen“, sondern dieser muss lediglich in sozialverträglichere Bahnen gelenkt werden. Schließlich handelt es sich bei den im Trotz zu erkennenden ersten Anzeichen einer sich anbahnenden „Ich-Stärke“ um ein kostbares Gut, mit dem sorgsam umzugehen ist. Feinfühlige Eltern versuchen deshalb ihren Kindern in solchen Widerstandssituationen verschiedene andere Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und ihnen behutsam dabei zu helfen, ihre teilweise zunächst sehr heftigen negativen Gefühle besser zu regulieren. Sie erreichen dadurch, dass die Trotzreaktionen ihrer Kinder zunehmend geringer werden, weil die Kinder von ihnen gelernt haben, ihren Willen auch weiterhin, aber angepasster zu behaupten und ihre negativen Gefühle besser zu kontrollieren.

- Feinfühligkeit • Überbehütung • Verwöhnung • Vernachlässigung. Unter Bindungsforschern gilt es inzwischen als gesicherte Erkenntnis, dass eine durchgängig hohe und angemessene mütterliche Feinfühligkeit bei der Antwort auf das kindliche Bindungsverhalten im ersten Lebensjahr eine sichere Mutter-Kind-Bindung zur Folge hat. Entsprechendes trifft für feinfühlige Väter oder andere wichtige Bindungspersonen des Kindes zu. Dabei ist es aber unbedingt erforderlich, Feinfühligkeit von einer Überbehütung oder Verwöhnung des Kindes abzugrenzen.

Abgrenzung zu Überbehütung und Verwöhnung. Eine Mutter handelt feinfühlig und nicht überbehütend oder verwöhnend, wenn ihre Reaktionen auf die Signale des Säuglings für ihn entwicklungsfördernd sind, d.h. sie nimmt ihrem Kind zum Beispiel nicht etwas ab, was es selbst tun könnte und zumeist auch möchte. Sie gibt ihm beispielsweise ein gewünschtes Plüschtier nicht, wenn es in seiner Reichweite liegt. In diesem Fall unterstützt die Mutter mit ihrer feinfühligen Zurückhaltung die Entwicklung der Selbständigkeit ihres Kindes. Sie möchte, dass es sich selbst ein wenig anstrengt, um das Plüschtier zu sich heranzuziehen.

Auch ihr behutsames Eingehen auf ein Weinen des Babys wird dann nicht als Verwöhnen, sondern als ihr einfühlendes Antworten auf die Mitteilung von negativen Gefühlen gesehen. Es dient der Förderung des Kindes, sich im vorsprachlichen Alter mitteilen zu können und stärkt seine Bereitschaft, auch künftig psychisches Leid gegenüber seinen Vertrauenspersonen unmittelbar und offen auszudrücken. Anders als verwöhnende oder überbehütende Mütter reagiert also eine feinfühlige Mutter auf die kindlichen Bedürfnisse erst dann, wenn das Kind sie äußert und diese nicht ohne ihre Hilfe befriedigen kann. Dadurch achtet und fördert sie die Möglichkeit ihres Kindes selbstbestimmt zu handeln, wobei natürlich Maßnahmen ausgenommen sind, die den Schutz des kleinen Kindes gewährleisten sollen, zum Beispiel dann, wenn es krank ist. Unter solchen Bedingungen werden ihm durchaus Dinge abgenommen, die es sonst schon selbständig erledigt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
Stärkenorientierte Kindererziehung. Das Bedürfnis des Kindes nach Bindung befriedigen
Autor
Jahr
2007
Seiten
50
Katalognummer
V289229
ISBN (eBook)
9783656894940
ISBN (Buch)
9783656906377
Dateigröße
646 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
stärkenorientierte, kindererziehung, bedürfnis, kindes, bindung
Arbeit zitieren
Dr. Bodo Klemenz (Autor:in), 2007, Stärkenorientierte Kindererziehung. Das Bedürfnis des Kindes nach Bindung befriedigen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/289229

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