Der Zufall in den Kriminalgeschichten Friedrich Dürrenmatts


Magisterarbeit, 2003

135 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Merkmale der Gattung Kriminalliteratur
2.1 Kriminalliteratur versus Verbrechensliteratur
2.2 Der Detektivroman
2.2.1 Inhaltliche Elemente des Detektivromans
2.2.2 Strukturelle Elemente des Detektivromans
2.3 Der Thriller
2.3.1 Inhaltliche Elemente des Thrillers
2.3.2 Strukturelle Elemente des Thrillers

3 Einordnung der Kriminalgeschichten Friedrich Dürrenmatts
3.1 Der Richter und sein Henker – Die Erweiterung des Schemas
3.2 Der Verdacht – Der philosophische Kriminalroman
3.3 Das Versprechen – Der Abgesang auf eine Gattung
3.4 „Die Panne“ – ‚Das Spiel kippt in die Wirklichkeit‘
3.5 Justiz – Das Spiel mit der Möglichkeit
3.6 Tradition und Regelbruch in den Kriminalgeschichten Dürrenmatts

4 Zufall
4.1 Der Zufall in der erzählenden Literatur
4.2 Zufall mit System? – Die Zufallskonzeption Friedrich Dürrenmatts
4.3 Spielarten des Zufalls

5 Formen zufälligen Geschehens in den Kriminalgeschichten Dürrenmatts
5.1 Der Richter und sein Henker – Bärlach als Nutznießer des Zufalls?
5.2 Der Verdacht – Bärlach, der mutige Mensch
5.3 Das Versprechen – ‚Die schlimmst-mögliche Wendung‘
5.4 „Die Panne“ – Eine Frage von Absicht und Zufall

6 Schlußbemerkung

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Do you promise that your detectives shall well and truly detect the crimes presented to them, using those wits which it may please you to bestow upon them and not placing reliance on nor making use of Divine Revelation, Feminine Intuition, Mumbo-Jumbo, Jiggery-Pokery, Coincidence or the Act of God?[1]

Dies ist ein Auszug aus dem nicht ganz ernst gemeinten Eid, den diejenigen Autoren ablegen mußten, die dem renommierten ‚Detection Club‘ beitreten wollten. Der Schwur stammt aus der Blütezeit des Kriminalromans, den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, und aus ihm wird ersichtlich, daß das Genre der Kriminalliteratur strengen Regeln unterliegt. Da ein Kriminalroman auf Analyse, Logik und Kausalität hin angelegt ist, verbietet sich die Verwendung eines Zufalls, weil sonst die Prinzipien der Gattung in Frage gestellt würden, die auf Kausalität und Rationalität fußen. Wie sich zeigen wird, halten sich die Autoren von Kriminalliteratur keineswegs immer an die Weisung, in ihren Werken den Zufall auszuschließen. In Kapitel 2 dieser Arbeit werden die Eigenheiten und Konventionen des Genres „Kriminalliteratur“ eingehender untersucht, unter besonderer Beachtung des Vorkommens und der spezifischen Art der Darstellung von Zufällen.

Im anschließenden Kapitel 3 werden die Prosawerke Dürrenmatts dahingehend überprüft, ob sie sich der Gattung „Kriminalliteratur“ zuordnen lassen. Als Arbeitsgrundlage für die Untersuchung der Zufälle in Dürrenmatts Kriminalgeschichten ist eine Definition des Begriffes „Zufall“ unumgänglich. Diese soll im vierten Kapitel dieser Arbeit vorgenommen werden.

Ohne zu diesem Zeitpunkt einer Zufallsdefinition vorausgreifen zu wollen, kann man davon ausgehen, daß der Zufall allgemein als willkürlich und unplanbar definiert wird. Es handelt sich bei ihm um ein Ereignis, dessen Eintreten nicht vorauszusehen ist. Versteht man die Handlung eines Romans als eine Kette fiktiver Ereignisse, so müssen diese Einzelereignisse miteinander verknüpft werden, um einen zusammenhängenden Erzähltext zu ergeben. Hierbei kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht: Zum einen kann eine Geschehensfolge den literarischen Figuren als bewußt konstruiert erscheinen. Das heißt, daß ein bestimmtes Ereignis

als Folge eines anderen geplant oder herbeigeführt wird. Zum anderen kann ein Zufall die Verbindung zwischen verschiedenen Ereignissen herstellen, ohne daß den Charakteren eine ursächliche Verknüpfung von vornherein offensichtlich erscheint. Im Fall eines bestehenden und ersichtlichen Kausalzusammenhangs können die Figuren einer Erzählhandlung selbst gestaltend in das Geschehen eingreifen, im zweiten Fall sind sie dem Zufall ausgeliefert, da dieser sie durch sein unvorhersehbares Eintreffen ebenso unvermutet trifft wie den Menschen des realen Lebens. Doch der Zufall in der Literatur wird immer vom Autor geschaffen und gezielt in das Werk eingebracht, um die Handlung voranzubringen oder ihr eine unerwartete Wendung zu geben. Der Zufall in der Literatur ist ein Paradoxon; er ist zugleich willkürlich und geplant.

Der Zufall nimmt sowohl in der Prosa als auch im umfangreichen dramatischen Werk Friedrich Dürrenmatts eine ganz besondere Stellung ein. In Kapitel 4.2 dieser Arbeit wird Dürrenmatts Zufallskonzeption erläutert, und in Kapitel 4.3 werden verschiedene Kategorien von Zufällen aufgestellt. In Kapitel 5 werden die Kriminalgeschichten auf der Grundlage dieser Kategorien im Hinblick auf die Verwendung und die spezifischen Formen von Zufällen analysiert.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Identifizierung und Kategorisierung unterschiedlicher Zufallstypen in den Kriminalgeschichten Friedrich Dürrenmatts. Anhand der vielgestaltig auftretenden Koinzidenzen in seinen Werken sollen die besondere Bedeutung und der große Einfluß, die der Zufall in Dürrenmatts Werken hat, veranschaulicht werden. Auch in den theoretischen und weltanschaulichen Überlegungen Dürrenmatts spielt der Zufall eine zentrale Rolle, wie in Kapitel 4.2 dieser Arbeit erläutert werden wird.

Der Einfachheit halber wurden diejenigen Primärwerke Dürrenmatts, die bei der Textarbeit häufig zitiert werden, mit Abkürzungen versehen. Der jeweilige Quellennachweis schließt sich im Text unmittelbar an die zitierte Passage an. Ein Verzeichnis der Abkürzungen findet sich im Anhang dieser Arbeit. Alle weiteren benutzten Quellenangaben zitierter Werke sind wie üblich mit einer Fußnote versehen.

2 Merkmale der Gattung Kriminalliteratur

Wenn man sich genauer mit dem Zufall in Dürrenmatts Kriminalgeschichten befassen will, bedarf es zunächst eines Überblicks über die Gattung und deren spezifische Merkmale. Dabei muß zwischen Verbrechens- und Kriminalliteratur differenziert werden. Friedrich Dürrenmatt hat seine Prosawerke Der Richter und sein Henker (RH), Der Verdacht (VD) und Das Versprechen (VS) jedoch mit dem Begriff ‚Kriminalroman‘ bzw. letzteres mit „Requiem auf den Kriminalroman“ untertitelt, weshalb die Merkmale der Verbrechensliteratur hier nur kurz skizziert werden sollen. Eingehendere Betrachtung erfährt demzufolge die Kriminalliteratur, die sich nochmals nach zwei Typen unterscheiden läßt, nämlich nach dem Detektivroman und dem Thriller. Die verschiedenen formalen und inhaltlichen Aspekte der beiden Typen sollen im folgenden näher beschrieben werden, wobei der Zufall besondere Berücksichtigung findet, da er sich in unterschiedlicher Ausprägung in beiden Typen manifestiert.

2.1 Kriminalliteratur versus Verbrechensliteratur

In der mannigfaltigen Literatur zum Kriminalroman gibt es immer wieder Unklarheiten hinsichtlich der Begriffsbestimmung der verschiedenen Ausformungen dieses Genres, was dazu geführt hat, daß alle Erscheinungsformen unter dem Begriff ‚Kriminalroman‘ subsumiert und Werke unterschiedlichsten Niveaus vorschnell als Trivialliteratur abgetan werden. Hinzu kommt die außerordentliche Popularität dieser Gattung, die maßgeblich dazu beigetragen hat, ihr den Stempel der Unterhaltungsliteratur aufzudrücken, der nach wie vor der Makel anhaftet, von minderer Qualität zu sein. Deshalb ist eine terminologische Klärung für den weiteren Verlauf dieser Arbeit von zentraler Bedeutung.

Das Fischer Lexikon Literatur[2] unterscheidet – übrigens bezeichnenderweise im Kapitel zur Unterhaltungsliteratur – den Verbrechens- und den Kriminalroman. Richard Gerber trifft in seinem Aufsatz zu diesem Thema ebenfalls diese notwendige Unterscheidung, allerdings ungleich ausführlicher:

Die Verbrechensliteratur forscht nach dem Ursprung, der Wirkung und dem Sinn des Verbrechens und damit nach der Tragik der menschlichen Existenz. Der Kriminalroman aber lebt vom Motiv der Jagd.[3]

Die Autoren von Verbrechensgeschichten richten demzufolge ihr Augenmerk auf die sozialen und psychischen Umstände, die zu einem Verbrechen führen können, auf die Konflikte, die Schuld und zum Teil auch auf das Umfeld des Täters sowie auf dessen Bestrafung. Neben der eigentlichen Tat und deren Aufklärung wird meistens also auch die Vorgeschichte komplett und in allen Details erzählt, womit sie oft den größten Raum und zugleich den höchsten Stellenwert einnimmt. Gerber sagt weiter, etwas überspitzt formuliert, daß es sich bei Kriminalliteratur um „kastrierte Verbrechensdichtung“[4] handelt. Er meint damit die inhaltliche Komponente des Kriminalromans, die eben nicht das Verbrechen und die Umstände, die zu diesem geführt haben, in den Mittelpunkt stellt, sondern sich statt dessen auf die Aufklärung eines Verbrechens und die dazu nötigen Maßnahmen konzentriert.

Friedrich Dürrenmatt hat seine in den 50er Jahren entstandenen Romane selbst unter dem Begriff ‚Kriminalroman‘ eingeordnet. Im Grunde wohl deshalb, weil in ihnen die Aufklärung eines Verbrechens sowie die Person und Arbeit des Detektivs im Mittelpunkt stehen. Deshalb ist eine ausführlichere Betrachtung der Verbrechensliteratur für die Einordnung der zu bearbeitenden Werke und für den Fortgang dieser Arbeit nicht von Relevanz. Der Schwerpunkt der folgenden Untersuchung liegt also auf der Kriminalliteratur. An dieser Stelle ergibt sich eine weitere Unterscheidung im Bereich der Kriminalliteratur, und zwar zwischen Detektivroman und Thriller. Beide Typen können durchaus Überschneidungen aufweisen, aber auch mit Hilfe von verschiedenen formalen wie inhaltlichen Kriterien gegeneinander abgegrenzt werden, weshalb sie als jeweilige Endpole eines Spektrums behandelt werden.[5] Im nachstehenden Kapitel soll zunächst der Detektivroman eingehender betrachtet werden, der als der historisch ältere Typus gilt.

2.2 Der Detektivroman

Im April 1841 erschien Edgar Allan Poes Erzählung „The Murders in the Rue Morgue“[6], die in den meisten Abhandlungen zu diesem Genre als die erste Detektivgeschichte und damit als deren Prototyp angesehen wird. Denn hier sind formal wie inhaltlich bereits die charakteristischen Züge dieses Typs der Kriminalerzählung angelegt.[7] Es werden die Bemühungen des Detektivs gezeigt, mittels seines logischen Denkvermögens und seiner analytischen Fähigkeiten ein rätselhaftes Verbrechen aufzuklären.

Der Detektivroman, der aus Poes Erzählung hervorging, hatte seine Blütezeit vor allem in England in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Dieses ‚Golden Age of the Detective Fiction‘ schuf den sogenannten ‚Whodunit‘ (umgangssprachlich abkürzend für: ‚Who has done it?‘), der auch ‚pointierter Rätselroman‘ bzw. ‚crossword puzzle type‘ genannt wird.[8] Während des ‚Golden Age‘ erschien eine beträchtliche Menge verschiedener Abhandlungen zum Detektivroman, woraus ersichtlich wurde, daß dieses Genre sehr strengen Formvorgaben unterlag, sowohl was den Inhalt als auch was den Aufbau betraf. Ebenfalls zu dieser Zeit entstanden verschiedene Regelwerke[9] für das Verfassen von Detektivromanen. Die Umsetzung der Regeln konnte zwar in nicht konstitutiven Elementen durchaus variiert werden, war insgesamt aber doch von recht verbindlichem Charakter. So ist wohl die Regel von Ronald A. Knox: „ No Chinaman must figure in the story[10] eher als Witz denn als ernsthafte Vorgabe für das Gelingen eines Detektivromans zu verstehen, besonders, weil es im Anschluß an diesen Punkt heißt: „Why this should be so I do not know, [...].“[11] Anders verhält es sich allerdings mit Regeln, die sich einerseits auf den Inhalt des Erzählten, andererseits auf die Struktur beziehungsweise äußere Form der Detektivliteratur beziehen, und auf die nun näher eingegangen werden soll.

2.2.1 Inhaltliche Elemente des Detektivromans

Ein wichtiger Aspekt des Inhalts aller Detektivromane ist das sogenannte ‚fair play‘. Dem Leser soll die Möglichkeit gegeben werden, das Rätsel durch eigene intellektuelle Anstrengung zusammen mit dem agierenden Detektiv zu lösen.[12] Um diese ‚Chancengleichheit‘ zu gewährleisten ist es zum einen notwendig, eine fiktive Realität zu schaffen, die vollkommen konsistent ist. Der Leser muß, ebenso wie der Ermittler, vollkommene Kausalität vorfinden. Zum anderen dürfen wichtige Fakten und Hinweise, aus denen Schlußfolgerungen für die Lösung des Falles gezogen werden können, dem Leser nicht vorenthalten werden. Damit wird gleichzeitig die Verwendung von Irrationalem, z. B. übersinnlichen Phänomenen, ausgeschlossen. Die Lösung des Rätsels muß möglich sein. Folglich ist natürlich auch das Einwirken eines Zufalls zur Aufklärung des Mordrätsels keinesfalls gestattet, da das blinde Wirken des Zufalls dem Leser und auch der literarischen Figur des Detektivs die Möglichkeit nehmen würde, alle Fakten und Hinweise, die bisher zusammengetragen werden konnten, zu kombinieren und das Rätsel schließlich doch mit Hilfe eigener Denkleistung zur allseitigen Zufriedenheit zu lösen. Dies ist ein Leitsatz, der sich in allen der genannten Regelwerke finden läßt. So zum Beispiel bei S.S.Van Dine, in dessen fünfter seiner zwanzig Regeln zum Verfassen von Detektivromanen es heißt: „5. The culprit must be determined by logical deduction– not by accident or coincidence or unmotivated confession.“[13] Hier wird also generell die Einwirkung jedweden Zufalls untersagt, woran sich die Autoren von Detektivliteratur aber bei genauerer Betrachtung verschiedener Werke der Gattung nicht unbedingt halten. Ein ‚hilfreicher‘ bzw. ‚begünstigender Zufall‘ findet sich ausgesprochen häufig allein schon, um den Detektiv überhaupt an den Ort des Geschehens zu bringen. Ein Beispiel sei an dieser Stelle genannt: In Agatha Christies Roman „Murder on the Orient Express“[14] kommt der Detektiv Hercule Poirot nur durch das zufällige Erscheinen und spätere Einwirken seines Freundes Monsieur Bouc, der mit ihm das Abteil tauscht, in eben jenen Waggon des Orient Express‘, in dem der Mord stattfindet. An einer anderen Stelle wird ebenfalls ein Zufall wirksam, und zwar, als der berühmte belgische Detektiv eine fast verbrannte Notiz findet, die er rekonstruieren kann und deren Inhalt eine Verbindung zwischen dem Mordopfer und einigen Passagieren des Zuges herstellt. Dadurch kann schließlich das Verbrechen auch aufgeklärt werden.

Ira Tschimmel hat in ihrer Untersuchung diesem ‚glücklichen Zufall‘ ein kurzes Kapitel gewidmet und konstatiert folgendes: „Immer wieder eilt ein glücklicher Zufall dem Detektiv zu Hilfe und sichert in nicht-realistischer Weise den Erfolg der Ermittlung.“[15] In einer Literaturform, die sich derart stark auf die Konstruktion eines Rätsels und dessen Entschlüsselung mit Hilfe von Ordnung und Methode und vor allem von Logik und Analyse konzentriert, muß ein Zufall geradezu unrealistisch wirken, da er der Methode des Detektivs widerspricht und überdies dessen überragenden Intellekt in Frage stellt, wenn er scheinbar nicht in der Lage ist, das Rätsel ohne den Beistand des Zufalls zu lösen. Zudem wird allein durch das Chaotische und Unbestimmte, das dem Zufall anhaftet, die Erklärbarkeit und Ordnung der fiktiven Welt kontrastiert, wenn nicht sogar gänzlich aufgehoben. Doch eben diese grundsätzliche Erklärbarkeit alles Faktischen ist für den Detektivroman unerläßlich, da ja gerade hiermit dem Leser die Möglichkeit gegeben werden soll, mitzurätseln. Das ‚fair play‘ hat also strenge Wissenschaftlichkeit und den Glauben an die prinzipielle Lösbarkeit jedes Rätsels mit Hilfe des Intellekts zur Voraussetzung, einhergehend mit der Überzeugung, daß menschliches Handeln vernunftbestimmt ist. Diese Weltsicht geht zurück auf Poes Detektivgeschichte und auf deren ‚Nachfolger‘, wie zum Beispiel die Abenteuer des berühmten Detektivs Sherlock Holmes. Arthur Conan Doyle schrieb diese Detektivgeschichten im ausgehenden 19. Jahrhundert, das von Positivismus und Wissenschaftsgläubigkeit bestimmt war.[16] Viktor Žmegač bemerkt, daß sich das ‚technische‘ Interesse an der Lösung kniffliger Rätsel anhand von Logik und Analyse bis heute gehalten zu haben scheint und die Beliebtheit des Detektivromans mit der Befriedigung des Lesers zu erklären ist, eine in sich stimmige und erklärbare Welt vorzufinden:

Dennoch ist der Detektivroman in seiner am meisten verbreiteten Ausprägung zugleich ein echtes Zeugnis des technischen Zeitalters. Wissenschaftsgläubig wie er ist, kommt der Roman dem Bedürfnis des Lesers entgegen, die Realität als eine lückenlose Kette von Ursache und Wirkung zu begreifen. Die Befriedigung, die er spendet, ist die Befriedigung über die Rechnung, die stets aufgeht. Der sinnlose, verhängnisvolle Zufall darf zwar zuweilen den Mörder zur Strecke bringen, nicht jedoch der Gerechtigkeit in den Arm fallen.[17]

Interessant ist darüber hinaus seine Bemerkung über den Zufall. Žmegač meint, daß ein Zufall durchaus in einem Detektivroman vorkommen darf, solange er nicht die Auflösung des Rätsels

durch den Detektiv vereitelt, indem er die Ordnung der fiktiven Realität auf den Kopf stellt, so daß die Kette zwischen Ursache und Wirkung durchbrochen wird. Allein die Deduktion in ihrer rational-analytischen Vorgehensweise läßt keine Zufälligkeiten zu, da damit die ‚fair-play-Regel‘, also die Gerechtigkeit, beeinträchtigt würde. Alle Schlußfolgerungen müssen logisch und nachprüfbar sein, das Plan- und Regellose eines Zufalls würde eine solche Konsistenz jedoch eindeutig verhindern. Dennoch sind Zufälligkeiten wie in dem oben beschriebenen Romanbeispiel von Agatha Christie durchaus erlaubt. Oftmals sind solche Koinzidenzen sogar ausgesprochen funktional bezüglich der Gesamtkomposition des Werkes. Sie werden verschiedentlich vom Autor mit Bedacht eingesetzt, um die Handlung voranzubringen. Im Gegensatz zur Meinung Tschimmels wirkt auch der Erfolg der Ermittlung durch diese Zufälle nicht unrealistisch, denn die Schlußfolgerungen, die sowohl der Detektiv als auch der Leser aus diesen zufällig eingestreuten Hinweisen bzw. Hilfsmitteln ziehen, funktionieren durchaus in der romaninternen Kausalität. So mag das Erscheinen eines Zufalls zwar unwahrscheinlich wirken, nicht aber unrealistisch, da der Grundsatz der prinzipiellen Lösbarkeit des Rätsels nicht negiert wird.

Aufgrund der engen Grenzen, die diesem Genre durch die auferlegten Regeln und vor allem durch das erwartete (und vom Leser erhoffte) ‚fair play‘ gesteckt sind, erscheint es nicht verwunderlich, wenn der Mord und dessen Ausführung oftmals hochgradig konstruiert wirken. Der Mord darf unwahrscheinlich, jedoch keinesfalls unmöglich sein. Auch Ulrich Schulz-Buschhaus vertritt diese Ansicht:

Unwahrscheinlichkeit muß als das oberste Ziel des pointierten Rätselromans verstanden werden. Sie erstreckt sich von der Formulierung des Rätsels bis zur Identifikation des Mörders in einer „unlikely person“, [...]. Ihre Schranke findet die Unwahrscheinlichkeit nur in den Bedingungen der Möglichkeit; Rätsel und Rätsellösung sollen unwahrscheinlich wirken, aber sie müssen möglich sein.[18]

Er bezieht seine Äußerung hinsichtlich der Unwahrscheinlichkeit im Detektivroman lediglich auf das Rätsel und dessen Lösung, nicht jedoch auf den generell unwahrscheinlichen Charakter des gesamten Erzählwerks, der sich zum Beispiel in der Darstellung der Figuren oder der Gesellschaft offenbart. Um die Neugier und den Intellekt des Lesers anzuspornen, muß das Verbrechen den Charakter des Sensationellen und Außergewöhnlichen haben. Das funktioniert nur vor der Kulisse einer heilen und geordneten Welt, in der sich das Verbrechen als außerordentlich von seiner Umgebung abhebt. Wäre das Delikt ein alltägliches und wiederholte sich stets, so würde es monoton werden und das Interesse an seiner Aufklärung schwände dahin. Doch im klassischen Detektivroman ereignet sich das Verbrechen in einer ‚heilen Welt‘ mit festgefügter Ordnung, die durch die Tat gleich zweifach aus den Fugen gerät: Der Mord, der als das schwerste aller Verbrechen gilt, bricht in das Idyll ein und erfordert die Wiederherstellung der ‚Weltordnung‘. Der Verbrecher muß gefaßt und für seine abscheuliche Tat zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem wird das Kausalitätsgefüge dieser Welt durch den Mord in Frage gestellt, da seine Ausführung zunächst unmöglich und unlogisch erscheint, d. h. auf den ersten Blick nicht einfach zu erklären ist. Allein der Detektiv ist in der Lage, dieses Kausalitätsgefüge wieder in Ordnung zu bringen, indem er durch genaues Beobachten, methodische Analyse der vorliegenden Fakten und das Ziehen logischer Schlußfolgerungen den ‚verrätselten‘ Mord wieder erklärbar macht, also seine Ursache ergründet und ganz genau darstellt, wie dieses Verbrechen abgelaufen ist.

Der Person des Detektivs kommt damit also eine ganz besondere Bedeutung zu. Er ist in der Lage, das scheinbar Unmögliche rational zu erklären und die aus den Fugen geratene Welt wieder in Ordnung zu bringen. Durch die zentralen Fragen des Romans nach dem Täter (dem ,Who-done-it‘) und nach der Art, wie das Verbrechen begangen wurde (also dem ‚How-done-it‘) sowie durch das Postulat des ‚fair play‘ ist der Leser zunächst einmal ein Außenstehender. Der Leser wird nach dem Einsetzen der Romanhandlung ohne weitere Erklärungen mit dem Geschehen konfrontiert. Damit befindet er sich auf dem selben Wissensstand wie der Detektiv, der ohne große Umschweife am Ort des Geschehens eintrifft und seine Ermittlungsarbeit aufnimmt. Zu diesem Zeitpunkt erhält nun der Detektiv eine seiner wichtigsten Funktionen, wie Alewyn meint:

Der Detektiv ist der Sachwalter des fragenden Lesers innerhalb der Erzählung. [...] Während jede der anderen Personen zwar gewiß nicht alles, aber doch irgend etwas weiß, was zur Aufklärung beiträgt, ist er der einzige, der– wie der Leser– am Anfang nichts weiß, [...]. Und im gleichen Maße, wie für den Detektiv das Dunkel sich langsam lichtet, geschieht dies für den Leser.[19]

Leser und Ermittler haben demnach eine Außenseiterstellung inne. Diejenige des Detektivs manifestiert sich jedoch nicht nur darin, daß er zum Geschehen von außen hinzukommt, sondern auch darin, daß die Verdächtigen und natürlich insbesondere der Täter wichtige Hinweise zur Aufklärung vor ihm verbergen wollen. Die Rolle des Detektivs als Außenseiter wird zusätzlich durch die Beigabe verschiedener Eigenarten, Marotten oder eines skurrilen Erscheinungsbilds betont, so daß sich der Ermittler deutlich von seinem personellen Umfeld abhebt. Solche Eigenheiten finden sich bereits bei Poes Detektiv Auguste Dupin, der nur nachts seine Wohnung verläßt, oder man denke an den Belgier Hercule Poirot von Agatha Christie mit seinem unförmigen kleinen Körper, auf dem ein massiger Eierkopf thront, den ein riesiger Schnurrbart ziert. Es kann ebenfalls vorkommen, daß ein Detektiv seinen überragenden Verstand hinter seinen Eigenheiten und Schrullen verbirgt, um die Verdächtigen zu täuschen und ihnen wichtige Hinweise zu entlocken, da er zunächst einmal nicht ernst genommen wird.

Die Vorgehensweise des Detektivs bei seiner Ermittlung stützt sich auf verschiedene Faktoren. Er beobachtet scharf, analysiert die Fakten und leitet daraus logische Folgerungen ab, oder aber er stellt Hypothesen auf und überprüft diese auf Richtigkeit und Beweisbarkeit. Ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Aufklärungsarbeit ist auch die Vertrautheit mit der Psychologie und allgemeine Menschenkenntnis, die es dem Detektiv ermöglichen, bestimmte Verhaltensweisen zu erahnen oder nachzuvollziehen. Insgesamt ist seine Vorgehensweise bestimmt von Ordnung, Methode und dem unbegrenzten Vertrauen in die Logik und die verstandesmäßige Erklärbarkeit aller vorliegenden Fakten.

In seiner Abhandlung über den Detektivroman findet Žmegač den Ursprung dieser Vorgehensweise wiederum direkt bei Edgar Allan Poe:

Schon Poes Dupin setzt seinen ganzen Ehrgeiz auf seine geradezu mathematische Disziplin des Denkens, gestützt durch exakte Kenntnisse und psychologischen Spürsinn. [...] Den Schlüssel zur Erkenntnis der Welt– die freilich auf den Kriminalfall reduziert erscheint– finden die modernen Helden weder in der Metaphysik noch im Mythos oder der Gefühlsmagie; sondern einzig und allein in der Erfahrung und in der Analyse von Fakten. Der positivistische Wissenschaftsbegriff sowie die logische Kombinatorik bilden den Boden, auf dem sie stehen.[20]

Hier offenbart sich ein Paradoxon des Detektivromans: Er täuscht Realistik vor, beruft sich auf Logik und Empirie, wird jedoch durch seine allein auf den Kriminalfall bezogene Realität und die ihm inhärente Kausalität unrealistisch. Denn die Voraussetzung zur Lösung eines Rätsels im Detektivroman ist eine statische Welt, die ausschließlich nach den Regeln der Vernunft funktioniert und damit berechenbar bleibt. Außerdem müssen die Handlungsweisen aller Verdächtigen einfach und nachvollziehbar sein, da ein zu kompliziertes Netzwerk von Beziehungen und Handlungsmotivationen undurchschaubar wäre. An dieser Stelle hat dann auch der Zufall keinerlei Existenzberechtigung mehr. Es wird also eine rational strukturierte Realität geschaffen, wie es sie außerhalb der Fiktion nicht geben kann. Alles ist funktional auf das Rätsel und dessen Lösung hin ausgerichtet. Dies gibt dem Detektivroman neben seinem unrealistischen Charakter auch eine schablonenhafte, schematische Ausprägung, was schnell zur Einstufung in den Bereich der Trivialliteratur führen kann. Einen weiteren Beitrag zum rigiden Schematismus dieses Genres liefern auch die bereits erwähnten Regelwerke. Eben diesen fehlenden Realitätsanspruch kritisiert auch Bien, wenn er erklärt:

Als Eigenheit der Gattung erweist sich die bis heute nicht veränderte Mittelstellung seiner Methode zwischen Deduktion und Intuition, und für das Verhältnis dieses sich so realistisch gebärdenden Genres ergab sich: Der Detektivroman ist keine direkte Wirklichkeitsbewältigung [was immer man darunter versteht]; alle literarischen Detektive vermögen nur die Fälle zu lösen, die ihre Väter eigens für sie gebosselt haben.[21]

All dies hat dazu geführt, die Figur des Detektivs ausschließlich als einen „Figuranten der ratio“[22] zu betrachten, der nur die Aufgabe hat, das Rätsel zu lösen. Alle Versuche zur Individualisierung durch Exzentrik oder seltsame Marotten vermögen nicht davon abzulenken, daß man es hier mit einem flachen Charakter zu tun hat, der bloß auf die Darstellung seines überlegenen Intellekts hin angelegt ist und dessen Unfehlbarkeit ebenfalls nicht dazu beiträgt, ihn realistischer wirken zu lassen. Durch all diese Merkmale wird dem überlegenen Ermittler seine Außenseiterposition in der sozialen Isolation zugewiesen. Um dem Vorwurf der unrealistischen Darstellung zu entgehen, wird im Detektivroman an anderer Stelle Realismus vorgespiegelt, und zwar in bezug auf den Ort und die Zeit. So finden sich beispielsweise genaue Skizzen der Umgebung des Tatortes, oder es werden Fragmente von Fahrplänen eingebaut. Buchloh und Becker kritisieren gerade diesen überbetonten Scheinrealismus, der die Fiktion um so offensichtlicher macht.[23]

In vielen Werken der Gattung arbeitet der Detektiv nicht allein, sondern hat einen Mitarbeiter, die sogenannte „Watson-Figur“[24], die verschiedene vor allem erzähltechnisch motivierte, Aufgaben hat. So fungiert der Mitarbeiter oftmals als Mittler zwischen Detektiv und Leser, indem er in Gesprächen und Beratungen näheres über den derzeitigen Stand der Ermittlung erfährt oder das Geschehene dem Leser gar selbst in einer Art Bericht vermittelt. Teilweise übernimmt er auch kleinere Handlangerarbeiten zur Entlastung des Detektivs. Ein anderer Zweck dieser Figur liegt darin, den Leser bei Laune zu halten, indem sie falsche Schlußfolgerungen zieht oder hinter dem Wissensstand und Kombinationsvermögen des Lesers zurückliegt. Eine Voraussetzung dafür ist, wie Viktor Žmegač meint, der außerordentliche Unverstand dieser Figur:

Das große Wort führt in jeder Hinsicht der Verfolger; diesem gehört auch das letzte– die Lösung des Rätsels. [...] Die Mitarbeiter der Detektive sind der Reihe nach von beträchtlicher Beschränktheit, in dieser Eigenschaft jedoch dankbare Handlanger des Schemas: naive Fragen stellend, entlocken sie dem Meister die so notwendigen Erläuterungen.[25]

Auf diese Weise wird der Leser also angespornt, das Rätsel selbst und vor allem vor der Watson-Figur zu lösen. Ist der Leser dem Detektiv unterlegen, so verschafft ihm wenigstens die Überlegenheit gegenüber dessen Mitarbeiter eine gewisse Befriedigung.

Der Detektiv sieht sich einer Gruppe von Nicht-Ermittelnden gegenüber, die sich aus dem Opfer, dem Täter und den Verdächtigen zusammensetzt. Das Dominieren des Rätsels im Detektivroman bedingt, daß die Gruppe der Verdächtigen zahlenmäßig begrenzt, also überschaubar sein muß. Wichtige Voraussetzung ist darüber hinaus, daß der Mörder ein Teil dieser Gruppe sein muß und nicht von außen hinzukommen darf.[26] Um einen solchen geschlossenen Kreis von Tatverdächtigen zu bilden, wird diese Figurengruppe häufig sozial oder geographisch isoliert, beispielsweise auf einem Landsitz oder gar einer Insel. Peter Nusser bestimmt die Mindestkriterien für den Aufbau der Verdächtigengruppe folgendermaßen:

In jedem Fall handelt es sich um Menschen, die zur gleichen Zeit an dem Ort oder in der Nähe des Ortes versammelt sind, wo der Mord geschieht, und die sich meist lange und gut kennen (bzw. zu kennen glauben). Nur wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind (Versammlung und Bekanntschaft), können die oben erwähnten Unterhaltungseffekte (Freude am logischen Denken und Reiz der Verunsicherung) wirksam werden.[27]

Der von Nusser angeführte ‚Reiz der Verunsicherung‘ resultiert aus der Tatsache, daß alle der Gruppe der Verdächtigen Angehörenden sich gegenseitig des Verbrechens bezichtigen, da jeder von ihnen etwas zu verbergen hat und zumeist auch jeder einen Grund gehabt hätte, den Mord zu begehen.[28] Im gleichen Maße, wie der Figur des Detektivs ein ausgeformter Charakter verwehrt bleibt und er auf seine Ermittlerfunktion reduziert wird, werden auch die Verdächtigen nur schablonenhaft und ohne nennenswerte Eigenschaften dargestellt. Wenn den Figuren besondere Eigenheiten zugedacht werden, dann nur, um sie noch verdächtiger zu machen. Interessant sind diese Charaktere nur in bezug auf ihre eventuelle Täterschaft. Die Gruppe der Verdächtigen hat also zwei Funktionen: Erstens beherbergt sie den wahren Täter in ihrer Mitte und zweitens lenken ihre Mitglieder wechselseitig den Verdacht auf ein jeweils anderes Mitglied. Das Wechseln des Verdachts beschert dem Ermittelnden und natürlich auch dem Leser eine Fülle von Möglichkeiten, womit der Spaß an der Kombination und Auflösung erhalten bleibt.

Die dem Detektiv intellektuell gesehen gleichwertigste Person im Detektivroman ist zunächst der Täter. Er sollte nach Möglichkeit bis zum Schluß unerkannt bleiben, um dem Detektiv seinen großen Auftritt bei der sensationellen Enthüllung des Rätsels, dem sogenannten ‚dénouement‘, am Ende des Romans zu verschaffen. Damit ist die Stellung des Mörders innerhalb der Romanstruktur relativ eindeutig festgelegt: Er darf nicht zu unscheinbar sein, da der Leser sonst das Interesse an seiner Person und seiner Ergreifung verliert, andererseits sollte nicht allzu früh offensichtlich werden, daß es sich bei dieser Person um den Täter handelt. Willy Haas nennt diese Position in Abgrenzung von Vorder- und Hintergrund treffend den „Mittelgrund“[29]. Auf diese Weise gliedert sich der Täter gewissermaßen nahtlos in den Kreis der Verdächtigen ein. Genau wie diese erscheint er mal mehr oder weniger verdächtig und hat wie fast alle anderen Anwesenden ein Tatmotiv. Daraus ergibt sich eine gewisse Unauffälligkeit, denn er ist nur einer von vielen, die es genausogut hätten gewesen sein können. Um der Aufklärung des von ihm begangenen Kapitalverbrechens vorzubeugen und der Bestrafung zu entgehen ist der Mörder gezwungen, genau zu planen. Er muß möglichst wenige Spuren hinterlassen, die auf ihn deuten könnten und muß daher auch diejenigen Hinweise, die er nicht eliminieren kann, zu verschleiern versuchen. Das alles erfordert sorgfältige Vorbereitung, genaue Planung und den nahezu reibungslosen Ablauf der Tat. In Sachen Ordnung und Methode steht der Täter dem Detektiv in nichts nach. Der Hergang des Mordes kann durchaus unwahrscheinlich sein, nicht aber im Bereich des Unmöglichen liegen, da die spätere lückenlose Rekonstruktion nicht gefährdet werden darf. Demzufolge kommt es im Detektivroman einigermaßen häufig zu sehr konstruiert wirkenden Morden, die aber trotzdem ihre Spuren hinterlassen und damit ihre spätere Auflösung gewährleisten. Haas meint hierzu:

Das Charakteristikum des Verbrechens in den Kriminalschmökern ist: Kompliziertheit. Das Verbrechen vollführt das Einfachste so unglaublich kompliziert, es braucht dazu so unglaublich viele Mitwisser, so viel sichtbare Apparatur, so viel Aufwand [...]: daß das Verbrechen schon deshalb an den Tag kommen muß.[30]

Doch gerade die Kompliziertheit des Deliktes und seine geheimnisvollen Begleitumstände sind es, die die intellektuelle Neugier des Detektivs und auch des Lesers wecken sollen.

Nach der Überführung des Täters bricht die Handlung des Detektivromans meist ab. Das weitere Schicksal des Mörders ist nicht mehr von Interesse, da allein die intellektuelle Befriedigung des Detektivs im Vordergrund steht.

Im Figurenkanon des Detektivromans kommt dem Opfer der wohl geringste Stellenwert zu. Es ist zur ‚Beseitigung‘ nahezu prädestiniert, denn dieser Figur werden, wenn auch nur wieder klischeehaft, vielfach einige unangenehme Eigenschaften zugedacht, unter denen eine beträchtliche Zahl von Menschen leidet, die hinterher zu Verdächtigen werden. Besonders beliebt bei den Autoren von Detektivromanen scheinen Tyrannen zu sein, die ihren engsten Familienkreis und ihr gesamtes soziales Umfeld gängeln und unterjochen. Andere Motive für den Mord sind Habsucht, Eifersucht oder Rache. Manchmal muß auch der Mitwisser einer illegalen Tat zum Schweigen gebracht werden. Zumindest bedeutet aber das Weiterleben des Opfers Schwierigkeiten für andere. Auf die Romanhandlung bezogen hat diese Figur nur eine auslösende Funktion, was in vielen Untersuchungen zum Detektivroman festgestellt worden ist. Franz Hrastnik faßt dies folgendermaßen zusammen:

Denn kaum wurde einwandfrei festgestellt, daß der Tote keines natürlichen Todes gestorben sein kann, weint man ihm keine Träne mehr nach. Dazu ist keine Zeit, weil nun die Jagd nach dem Täter angeht. Das einzig Interessante an dem Toten ist sein Mörder. Gewiß war des Toten Schicksal traurig– aber man kennt es! [...] An Toten herrscht im „Krimi“ bekanntlich kein Mangel. Hier hat der Tote keine andere Funktion, als die Sache ins Rollen gebracht zu haben.[31]

Es bleibt festzuhalten, daß die Rolle des Opfers sich auf das Herbeiführen der Deduktion und die Vergabe von Tatmotiven reduziert.

Durch die dürftige Ausformung der Charaktere in der Detektivliteratur erscheinen die Figuren schablonenhaft, ja sogar stereotyp. Die jeweils schematisch übersteigerten positiven bzw. negativen Eigenschaften werden den Personen nahezu aufgeprägt, nur das erfüllt sie mit ‚Leben‘. Aufgrund dessen kann man eine sehr einseitige Polarisierung zwischen Gut und Böse ausmachen. Das Gute wird von den Ermittelnden verkörpert, also vom Detektiv und seinem jeweiligen Helfer.[32] Der Watson-Figur bleibt auch hier wieder nur eine untergeordnete Rolle, denn den wahren Triumph des Guten zelebriert allein der Detektiv durch die Überführung des Mörders. Das Böse personifiziert sich in der Figur des Täters, der aber immer seine gerechte Strafe erhält. Durch die mangelnde Charakterzeichnung des Täters und des Opfers empfindet der Leser weder für den einen noch den anderen Mitleid und ist letztlich dankbar für die Wiederherstellung der Ordnung und die Rückführung in das Idyll einer heilen Welt.

2.2.2 Strukturelle Elemente des Detektivromans

Der Formalismus der Detektivliteratur beschränkt sich nicht nur auf inhaltliche Elemente, sondern hat zudem eine technische, den Erzählvorgang betreffende Komponente. Auch hier liegt wieder ein Schema zugrunde, das kaum Variationsspielraum zuläßt. Innerhalb des Erzählablaufs der Detektivromane kann man drei chronologisch angeordnete Schritte ausmachen: den Mord, die Ermittlung und die Auflösung.[33] Dieses grobe Schema hat Wystan Hugh Auden in seinem Aufsatz „The Guilty Vicarage“ zusammengefaßt:

The vulgar definition, “a whodunit,” is correct. The basic formula is this: a murder occurs; many are suspected; all but one suspect, who is the murderer, are eliminated; the murder is arrested or dies.[34]

Die Ermittlung nimmt dabei den größten Teil des Erzählens ein und ist geprägt von einer sukzessiven Darstellung der Vorgehensweise des Detektivs. Die Anwesenden werden nacheinander verhört, nach und nach finden sich verschiedene Hinweise und Beweise, die geordnet und bewertet werden. Fehlende Informationen werden auf diese Weise ergänzt und wie bei einem Puzzle schrittweise zu einem Gesamtbild zusammengefügt.

In seiner Abhandlung über die Kriminalerzählung erweitert Edgar Marsch dieses Schema, indem er eine wichtige Unterteilung vornimmt. Er geht davon aus, daß der Mord auch eine Vorgeschichte haben muß, die innerhalb der Deduktion ebenso ans Tageslicht kommen soll wie der eigentliche Tathergang. Er trennt daher den Fall (F), die Vorgeschichte (VG) und die Detektion (D). Dreh- und Angelpunkt ist der Fall, der zwar die kürzeste Erzählphase einnimmt, aber um so wichtiger ist, als daß er „der Detektion nun den unmittelbaren Aktionsimpuls“[35] gibt. Ferner kommt dem Fall eine Doppelbedeutung zu, denn, so sagt Marsch weiter:

Der Fall ist beides: Abschluß der Vorgeschichte, die sich einmal auf die Tat hin entwickelt hat, und vordere Wegmarke eines Prozesses, der auf die Lösung hinzielt. [...] Der Fall ist also nicht absolut isoliertes Ereignis, sondern, genauer, Resultat eines solchen. Der Fall ist angereichert mit unvollständiger Information, die durch Detektion aufzufüllen ist.[36]

Die Ermittlung ist ein Prozeß fortschreitender Informationsgewinnung, der mit der vollständigen Auflösung endet, die keine Fragen mehr offen läßt. Marsch entwickelt aus der jeweils unterschiedlichen chronologischen Verwendung der drei Elemente verschiedene Typen, wobei der Detektiverzählung folgendes Schema zugeordnet werden kann (EE bezeichnet den Erzähleinsatz): „VG/ EE/F+D.“[37] Der Erzähleinsatz beginnt mit der Darstellung des Falles, nämlich mit dem Auffinden der Leiche und den rätselhaften Umständen, unter denen das Opfer getötet wurde. Die Detektion hängt unmittelbar mit dem Fall zusammen, da der Enträtselungsprozeß sofort beginnt. Die Vorgeschichte setzt sich zusammen aus alledem, was zu dem Mord geführt hat und ist somit das, was es restlos aufzuklären gilt. Darunter fallen der Hergang der Tat, also ‚das Wie?‘, die Klärung der Motive, ‚das Warum?‘ und daraus leitet sich entsprechend die Frage nach ‚dem Wer?‘ ab. Eigentlich ist ein Detektivroman also nicht nur ein ‚Whodunit‘, sondern auch ein ‚Why- und Howdunit‘.

Der Erzähleinsatz kann unter Umständen auch inmitten der Vorgeschichte erfolgen. Dies ist ein probates Mittel, das Personal des Romans eingehender vorzustellen und damit auch die jeweiligen Motive für die Tat näher zu beleuchten. Unabdingbare Voraussetzung für die Vorgeschichte bleibt jedoch das Bestehen des Rätselcharakters des Ganzen. Dem Leser können bereits vorab wichtige Hinweise geliefert werden und er hat zu diesem Zeitpunkt einen gewissen Informationsvorsprung vor dem Ermittelnden. Ein Vorsprung, der aber im Laufe der Erzählung wieder abgebaut wird. Dennoch darf auf keinen Fall zu viel offenbar werden. Die Vorgeschichte muß immer, wie Ernst Bloch es ausdrückte, etwas „Unerzähltes“[38] haben. Darunter fallen eben jene Elemente, die das eigentliche Rätsel konstituieren und die es aufzudecken gilt. Ulrich Suerbaum unterscheidet hier zwischen „Zukunftsspannung, die auf den Fortgang und auf den Ausgang einer angelaufenen Ereigniskette gerichtet ist“ [und der] „Geheimnis- oder Rätselspannung, die sich auf bereits geschehene, aber dem Leser in ihren wichtigsten Umständen noch nicht bekannte Ereignisse bezieht“.[39] Der Detektivroman vereint beides, wenn auch der ‚Zukunftsspannung‘ weitaus geringere Bedeutung beigemessen werden kann. Denn der Ausgang des Geschehens dürfte von Beginn an jedem Leser bekannt sein, weil er ein Teil des vorausgesetzten und erwarteten Schemas ist. Das Gute wird die Oberhand behalten, die gestörte Ordnung wiederhergestellt. Demzufolge muß die Betonung auf der ‚Rätselspannung‘ und der damit verbundenen lückenlosen Aufklärung des Vorgefallenen liegen. An dieser Stelle tritt die nahezu paradoxe Erzählsituation des Detektivromans hervor, die Porter anschaulich beschreibt:

Consequently, there is involved one of those displacements of chronological time which for the Russian Formalists distinguished the art of plotting from the raw material of fable. The effect of the crime is revealed before the statement of the causes. This means that detective fiction is preoccupied with the closing of the logico-temporal gap that separates the present of the discovery of the crime from the past that prepared it. It is a genre committed to an act of recovery, moving forward in order to move back.[40]

Dies bedeutet also, daß die Vorgehensweise chronologisch sukzessiv ist. Die Ermittlung schreitet voran, ist aber auf das bereits Vergangene gerichtet, womit deutliche Kennzeichen des analytischen Erzählens vorliegen.

Das ‚dénouement‘ steht am Ende der Erzählung, es ist der große Showdown für alle Beteiligten. Der Detektiv lüftet das Geheimnis und überwindet damit die von Porter angesprochene ‚logisch-zeitliche Diskontinuität‘. Der Ermittler fungiert als der Wiederhersteller der Kausalität und vervollständigt mit den von ihm gesammelten Informationen die Chronologie der Ereignisse des Unerzählten. Gelingt dem Leser das gleiche, so schöpft er daraus intellektuelle Befriedigung. Gelingt es ihm nicht, so bleibt ihm immer noch die Watson-Figur, die ihm deutlich unterlegen ist. Und nicht zu vergessen, es bleibt die Spannung auf die sensationelle Enthüllung, die überraschende Pointe am Schluß. Zur Erzeugung von Spannung ist die Methode des analytischen Erzählens bestens geeignet, wie Dietrich Weber in seinem umfassenden Werk zur Theorie dieser Form des Erzählens bemerkt:

Spannung ist in der Tat eine Grundeigenschaft der analytischen Form, [...]. Während die Spannung der synthetischen Erzählung grundsätzlich vom erzählten Stoff abhängt, ist sie bei der analytischen Erzählung bereits mit der Form gegeben, mit ihrer Form nämlich als Rätsel-Lösungs-Konstruktion. Mit dem Rätsel ist eine Spannung gesetzt, die erst mit der Lösung zur Ruhe kommt.

[...], und das gilt auch für die in der analytischen Erzählung erzeugte Spannung, doch hier ist zu berücksichtigen, daß das in der Folge des Textes Kommende, auf das die gespannte Erwartung sich richtet, nicht künftiges Geschehen ist, das sich auf dem bisher erzählten Geschehen synthetisch aufbaut, sondern vorerst zurückgestelltes vergangenes Geschehen, das analytisch eingeholt wird.[41]

Mit dem analytischen Erzählen findet sich also wiederum ein Schema, das der Detektivroman einzuhalten bemüht ist, um die zentrale Stellung des Rätsels nicht aufgeben zu müssen.

Der rigorose Schematismus, mit dem die Detektivliteratur operiert, und ihr eingeschränkter Realitätsanspruch haben dazu geführt, diese Literaturform als minderwertig und schlichtweg banal zu verurteilen. Es steht wohl fest, daß eine Gattung mit derart vielen Beschränkungen kaum über sich hinauswachsen kann. Dennoch sind die Werke dieses Genres überaus beliebt und auch reizvoll. Diese Anziehungskraft liegt im Unterhaltungseffekt für den ‚miträtselnden‘ Leser und in der Variation. Hierzu hat der bekennende Kriminalromanleser Bertolt Brecht in verteidigender Absicht folgendes angemerkt:

Der Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken. Er steht dem Kreuzworträtsel nahe, was das betrifft.

Dementsprechend hat er ein Schema und zeigt seine Kraft in der Variation.[...] Weder in die Kreierung neuer Charaktere, noch in die Aufstöberung neuer Motive für die Tat investiert der gute Kriminalromanschreiber viel Talent oder Nachdenken. Es kommt nicht darauf an. Wer, zur Kenntnis nehmend, daß ein Zehntel aller Morde in einem Pfarrhof passieren, ausruft: Immer dasselbe!, der hat den Kriminalroman nicht verstanden. [...] Die Originalität liegt in anderem. Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau. Es ist eines der Merkmale eines kultivierten Literaturzweigs.[42]

Sicherlich gibt es innerhalb der Detektivliteratur besonders viele ‚schwarze Schafe‘, das heißt Bücher, die dem Leser einen ausgesprochen geringen Unterhaltungswert verschaffen oder die ein zu einfaches Rätsel konstruieren. Betrachtet man aber die bis heute anhaltende ‚Massenproduktion‘ solcher Werke, so findet sich darunter nichtsdestotrotz eine relativ große Zahl von Romanen, die der Leserschaft ausgesprochen gute Unterhaltung bieten.

2.3 Der Thriller

Unter dem Begriff des ‚Thrillers‘ lassen sich drei Unterarten fassen: der ‚Heftromankrimi‘, der ‚Spionageroman‘ und der ‚Kriminalroman der hard-boiled school‘[43]. Alle drei Arten weisen trotz großer Unterschiede zum Detektivroman noch dessen bekanntes Schema auf: Verbrechen, Ermittlung, Auflösung. Das Schema unterliegt allerdings inhaltlich der Variation, gleichermaßen ist auch die Erzählstruktur von verschiedenen Variationen gekennzeichnet. Deshalb betont Nusser, daß diese Typen der Kriminalliteratur eher einer „kriminalistischen Abenteuererzählung“[44] gleichkommen.

Der Spionageroman läßt sich thematisch am deutlichsten von den beiden anderen Typen abgrenzen. Der wohl populärste Autor dieses Typs ist Ian Fleming, der mit seinen Romanen um den Geheimagenten 007 James Bond Weltruhm erlangte.[45] Der Held des Spionageromans steht als Agent inmitten verwickelter politischer Konflikte und undurchsichtiger Machtverhältnisse. Er hat die Aufgabe, ein geplantes Verbrechen zu verhindern, bevor es zur weltweiten Katastrophe kommt. Dieses Verbrechen ist meist von einem sogenannten „master-criminal“[46] geplant, der Kopf einer mächtigen Verbrecherorganisation ist. Der Held setzt weniger seine analytischen Verstandeskräfte als vielmehr körperliche Gewalt ein. Zur Erfüllung seiner Aufgabe wird dem Agenten vom jeweiligen Geheimdienst ein ganzes Arsenal technischer Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Die Unterstützung durch Helfer, Informationen und Waffen bleibt ihm stets sicher.

Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde in den USA das Prinzip der Romanheftserie eingeführt, das sich wenig später auch in Europa etablierte. Zumeist wurden die Geschichten um den jeweiligen Helden von verschiedenen Autoren verfaßt. Der Zusammenhalt der Serie wurde durchweg über die Figur des Helden geleistet. Das ist eine Eigenschaft der Heftromankrimis, die sich bis heute gehalten hat. Ein weiteres Charakteristikum besteht darin, daß die Hefte damals wie heute aus kurzen, leicht verständlich geschriebenen Texten mit einer abgeschlossenen Handlung bestehen. Sie lassen sich besonders schnell und ohne viel Nachdenken lesen, werden aber deswegen auch besonders schnell wieder vergessen. Um den Absatz der doch oft recht eintönig gestalteten Hefte zu sichern, orientierte man sich an der Sensationspresse und legte erhöhten Wert auf das Unterhaltungsmoment. Daraus ergab sich eine Anhäufung gewalt- und spannungsgeladener Szenen. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich Westernromane. Mit der zunehmenden Verstädterung wurde die Identifikation mit dem Helden gesichert, indem man ihn quasi modernisierte und ihn als Detektiv in den Großstadtdschungel schickte. Neben diesen inhaltlichen Veränderungen gegenüber dem Detektivroman wurde auch die Handlungsstruktur des Thrillers deutlichen Veränderungen unterzogen. Es dominieren spannende kurze Szenen mit häufigem Schauplatzwechsel.[47]

Für die in Kapitel 3 vorzunehmende Einordnung der Romane Dürrenmatts in den Gattungskontext spielen weder der Spionageroman noch der Heftromankrimi eine Rolle. Zum einen fehlt bei Dürrenmatt das Motiv der Spionage, zum anderen hat er die lange Form des Romans gewählt. Vor allem ist die literarische Qualität seiner Werke schlichtweg nicht mit den höchst einfach strukturierten Heftromankrimis zu vergleichen. Im Kontext dieser Arbeit ist jedoch eine Betrachtung der Kriminalromane der ‚hard-boiled school‘[48] relevant, die im folgenden Kapitel geleistet werden soll.

2.3.1 Inhaltliche Elemente des Thrillers

Die Geschichte des Kriminalromans der ‚hard-boiled school‘ beginnt mit dem „Black Mask Magazine“[49]. In diesem Magazin veröffentlichten die beiden bekanntesten Autoren dieses Genres, Dashiell Hammet und Raymond Chandler, ihre ersten Geschichten. Sowohl in ihren Kurzgeschichten als auch in den später veröffentlichten und weltweit populär gewordenen Romanen erteilen beide Autoren dem klassischen Detektivroman eine Absage. Besonders Raymond Chandler kritisiert in seinem Essay „The simple art of murder“ den fehlenden Realitätsanspruch des Detektivromans:

But fundamentally it is the same careful grouping of suspects, the same utterly incomprehensible trick of how somebody stabbed Mrs. Pottington-Postlethwaite III with the solid platinum poignard just as she flatted on the top note of the Bell Song from Lakmé in the presence of fifteen ill-assorted guests; […]. There is a very simple statement to be made about all these stories: they do not really come off intellectually as problems, and they do not come off artistically as fiction. They are too contrived, and too little aware of what goes on in the world.[…] But if the writers of this fiction wrote about the kind of murders that happen, they would also have to write about the authentic flavor of life as it is lived.[50]

Chandlers Kritik richtet sich sowohl gegen die Darstellung der Gesellschaft als auch gegen die zu logisch konstruierte Handlung des klassischen Detektivromans, die nichts mit der Realität gemein haben. Die geforderte Wirklichkeitsnähe erreichen die Autoren Hammett und Chandler unter anderem durch die Veränderung des Schauplatzes, dessen soziale wie räumliche Isolation aufgehoben wird. Der Handlungsort wird vom abgesonderten, zumeist ländlichen Idyll der britischen Oberschicht in die Anonymität einer US-Großstadt transponiert. Die Handlung spielt sich meist in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ab, der Zeit der Weltwirtschaftskrise, der Prohibition und der Hochphase des organisierten Verbrechens. Im Gegensatz zum klassischen Detektivroman ist das Verbrechen nun nichts Außergewöhnliches mehr, das in eine heile Welt hineinbricht. Das organisierte Verbrechen, das große Teile der Gesellschaft korrumpiert, kann sich vor allem in den Städten rasant ausbreiten. Suerbaum charakterisiert den Schauplatz des Thrillers folgendermaßen: „Die Großstadt als Tatort ist ein offener Raum ohne feste Grenzen.“[51] Durch den nicht fest umrissenen Bereich der Großstadt sind die Figuren weder an eine bestimmte soziale Schicht noch an einen Ort gebunden. Die Aufhebung der Sozialbindung gestattet dem Thriller die Darstellung eines komplexen Gesellschaftsbildes in Verbindung mit der Kritik an einer korrupten und in sich gespaltenen Gesellschaft, in der das Verbrechen zum Normalfall und jeder einzelne schuldig werden kann. Die Ausweitung des Raumes ermöglicht den Verbrechern einen größeren Handlungsspielraum, da sie die sofortige Entdeckung nicht zu fürchten brauchen. Das Verbrechen wird allgegenwärtig, womit das Rätsel gegenüber dem Detektivroman merklich an Bedeutung einbüßt.

In einer Welt, in der die Regionen von organisiertem Verbrechen, Geschäft und Politik beinahe ununterscheidbar zusammengewachsen sind, in der das organisierte Verbrechen den Gang des normalen Lebens eher bewahrt als gefährdet, ist es nun nicht mehr möglich, ein einzelnes Verbrechen solcherart in den Mittelpunkt des Romans zu stellen, daß es zum Inbegriff des Unerhörten und Rätselhaften wird.[52]

Durch den Verlust der Zentralstellung des Rätsels im Thriller verändert sich auch die Ermittlungsmethode des Detektivs. An die Stelle der Analyse und Kombination von Fakten tritt die aktive Suche nach dem Kriminellen. Zur Abgrenzung vom Detektivroman können hierbei vor allem die von Ulrich Schulz-Buschhaus entwickelten Kategorien ‚action‘‚ ‚analysis‘ und ‚mystery‘ herangezogen werden. Der Begriff ‚action‘ „bezeichnet die eigentlichen Handlungselemente des Kriminalromans, seine narrativen Partien, in denen Verbrechen, Kampf, Flucht, Verfolgung und ähnliches erzählt werden.“[53] Der Begriff ‚analysis‘ „umfaßt alle jene Elemente des Kriminalromans, die ihm den vielgepriesenen Charakter einer Denksportaufgabe geben, [...]“[54] und unter ‚mystery‘ versteht Schulz-Buschhaus „jene planmäßige Verdunkelung des Rätsels, die am Schluß einer sensationellen Erhellung Platz macht. Dies Geheimnis-Element ist zunächst Grundlage und Anlaß des „analysis“-Elements.“[55] Der Detektivroman ist gekennzeichnet durch das Vorherrschen des ‚analysis‘-Elements, was eine starke Verdunkelung der Tatumstände zur Voraussetzung hat. Der Thriller hingegen stellt die ‚action‘ in den Vordergrund. Durch das Zurückstellen des Rätselelements präsentiert sich das Verbrechen im Thriller nicht mehr solchermaßen konstruiert und unwahrscheinlich wie im Detektivroman, weshalb die Verbrechensdarstellung deutlich realistischer wirkt.

Durch den erweiterten Aktionsradius erhält der Thriller eine beachtliche Vielfalt von Schauplätzen. Rasche Szenenwechsel sind nicht ungewöhnlich, da sich die Verdächtigen im offenen Raum der Großstadt frei bewegen, um der Verfolgung zu entgehen, und der Detektiv ihnen nachsetzt. Aufgrund der Dynamik der Handlung gewinnt der Zufall größeren Einfluß als er ihn im statisch wirkenden Detektivroman hatte. Während der Ausführung seines Auftrags trifft der Ermittler immer wieder auf neue Personen, deren Handlungsweisen sein weiteres Vorgehen bestimmen. Der Detektiv reagiert direkt auf die Aktionen seiner Gegenspieler und muß spontan Entscheidungen treffen. Diese Entscheidungen können sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben. Der Ermittler kann Hinweise finden, die zur Überführung des Verbrechers nötig sind, es ist aber auch durchaus möglich, daß durch eine Verkettung unglücklicher Umstände eine bedrohliche Situation entsteht. Befindet sich der Held in einer Gefahrensituation, so kommt ihm der begünstigende Zufall vielfach zu Hilfe. Dazu bemerkt Peter Nusser:

Verliert der Held einen Kampf, so wird er dennoch nie getötet. Der Sadismus seines Gegenspielers, der ihm einen qualvollen Tod bereiten will und das Ende deswegen hinausschiebt, ermöglicht die Rettung. Während der Zeit des Wartens kann der Held seine Kräfte reaktivieren und sich befreien, oder die ersehnte Hilfe kommt von außen.[56]

Die Trennung zwischen Gut und Böse bleibt im Thriller nach wie vor erhalten, wenn auch nicht mehr so scharf wie im Detektivroman. Die geringere Trennschärfe resultiert aus dem im Thriller gezeichneten Gesellschaftsbild. Er zeigt eine Gesellschaft, die zutiefst gestört ist und sich ohne tiefgreifende Einschnitte nicht wieder in eine harmonische und funktionierende Gesellschaftsordnung überführen läßt. Dennoch steht am Ende immer die Überwältigung und Bestrafung des Kriminellen. Der Ermittler geht, wenn auch zum Teil körperlich geschwächt, siegreich aus dem Kampf hervor. Der Zufall hat grundsätzlich auch im Thriller, zumindest was das ‚happy-ending‘ für den aktuellen Fall des Ermittlers angeht, begünstigende Wirkung. Im großen und ganzen ändert sich jedoch nichts an der bedrückenden Grundsituation. Der Detektiv bewegt sich während seiner Fahndung, die sich nunmehr zur aktiven Verfolgung der Verdächtigen entfaltet hat, ebenfalls frei. Auf diese Weise können die Handlungen des Detektivs und die unterschiedlichsten Milieuschilderungen vom Leser mitverfolgt werden. Der Verlauf der Erzählung erhält durch den häufigen Szenenwechsel, bei dem sich der Ermittler von einer Gefahrensituation in die nächste begibt, einen episodenhaften Charakter. Aktionsgeladene Momente voller Spannung wechseln sich mit handlungsärmeren Passagen der Beruhigung ab.[57]

Peter Nusser untersucht die Verbindung von Unterhaltung und Sozialkritik am Beispiel Da­­shiell Hammetts und stellt dabei fest, daß, auch wenn der Thriller am hergebrachten dreischrittigen Schema (Rätsel– Fahndung– Aufklärung) festhält, doch wesentliche Unterschiede zum Detektivroman bestehen. So erklärt er beispielsweise:

Wer den korrumpierenden politischen Machtkampf einfangen und den Detektiv Teilhaber daran sein lassen will, kann dies nur tun, indem er Aktionen schildert, in denen Korruption sich äußern kann. Die Figuren (also auch die Verdächtigen) werden bei Hammett nicht autoritär zum Verhör gerufen, sie sind in Bewegung und verraten sich durch ihre Handlungen. Der Detektiv aber ist gezwungen, sich mitzubewegen, wenn er Handelnde erkennen will. Was dem Leser Vergnügen bereitet [...] ist zugleich die Bedingung für seine Aufklärung (über den moralischen Verfall einer gesellschaftlichen Gruppe).[58]

Nusser zeigt hier die Person des Detektivs nicht mehr als eine Inkarnation der Ratio, sondern als einen Handelnden, der sich den gegebenen Situationen anpassen muß. Er übt seine Tätigkeit nicht aus intellektueller Neugierde, sondern als Broterwerb aus. Er ist Polizist, selbständiger Detektiv oder Angestellter einer Agentur, der Auftragsarbeiten ausführt. Er bewegt sich in einer zutiefst gestörten und gefährlichen Welt, die mit dem Idyll des Detektivromans schon lange nichts mehr zu tun hat. Suerbaum stellt für den Detektiv des Thrillers folgendes fest: „Der Detektiv erlebt Gewalt nicht nur als Beobachter, er ist selber ein ‚tough guy‘, der mit Gewalt umgehen kann, einsteckend und oft auch ausübend.“[59] Die Distanz zur kognitiv-kontemplativen Tätigkeit des Ermittelnden im Detektivroman wird zusätzlich durch den Sprachgebrauch der Figuren des Thrillers vergrößert. Die aktionsgeladene Atmosphäre der Erzählung wird beherrscht vom Moment der „radikalisierten verbalen Aggressivität“[60], das sich in langen Rededuellen manifestiert. Zweck dieser Form der Kommunikation ist zum einen die Unterhaltung des Lesers und die größere Authentizität der Handlung, zum anderen auf seiten der Figuren die Selbstbehauptung der eigenen Person sowie die Einschüchterung der jeweils anderen Partei.

Die für den Ermittler des Detektivromans noch so typische Isolation ist im Thriller teilweise aufgehoben. Der ‚tough guy‘ ist Mitglied der Gesellschaft und ‚funktioniert‘ auch in dieser. Isolation erfährt er lediglich in den Gefahrensituationen, in denen er auf sich gestellt ist und in seinem einsamen und letztlich doch sinnlosen Kampf gegen die übermächtige Kriminalität und Korruption.

Die Art des Verbrechens ist im Thriller nicht auf Mord festgelegt, so kann sie „vom Raubüberfall bis zum Massenmord“[61] reichen. Die Zahl der Verbrecher ist, bedingt durch die Omnipräsenz des Verbrechens in der Gesellschaft, nicht mehr nur auf eine Person reduziert. Aus dem gleichen Grund ist auch die Figur des Opfers nicht mehr eindeutig in ihrer Funktion determiniert, wie dies im Detektivroman der Fall war.

2.3.2 Strukturelle Elemente des Thrillers

Eine Besonderheit des Thrillers ist das multiperspektivische Erzählen, von dem in einer Vielzahl von Werken Gebrauch gemacht wird. Dabei wird das vermittelte Geschehen aus der Perspektive unterschiedlicher Figuren erzählt. Die jeweils beschränkten Einzelperspektiven geben dem Leser nur ein Teilwissen, welches das Verlangen nach vollständiger Information weckt. Die verschiedenen Sichtweisen können sich dabei ergänzen oder sich widersprechen, so daß für den Lesenden eine höhere Authentizität gegeben ist. Ein Beispiel ist das Verbrechen im Thriller, das häufig als noch nicht Begangenes dargestellt wird, wodurch der Leser unmittelbar an dessen Planung bzw. Ausführung teilhaben kann. Die Elemente ‚mystery‘ und ‚analysis‘ weichen der Handlungsdarstellung bzw. ‚action‘, der Leser hat einen Informationsvorsprung vor dem Ermittelnden, der aber schnell ‚zusammenschrumpft‘, sobald das Verbrechen geschehen ist und die Perspektive in diejenige des Detektivs verlegt wird. Nicht selten wird das Verbrechen aus Sicht des Opfers geschildert, was neben der realistischeren Verbrechensdarstellung auch den Anstieg der Spannung zur Folge hat, da das Delikt durch seine unmittelbare Präsentation umso bedrohlicher erscheint. Manfred Smuda erkennt als Voraussetzung für den Thriller das Fehlen des analytischen Erzählens:

[...], daß nicht das Verbrechen als Gegebenheit „im Rücken der Geschichte“ liegt, an der sich die detection entzündet, sondern die Motivation, die das Verbrechen auslöst, wird zum Gegenstand der Geschichte. Nicht mehr durch logische Deduktion entsteht die Handlung des Romans, sondern die Motive des Verbrechers werden in actu entwickelt.[62]

Nach dem Wechsel der Erzählperspektive zum fahndenden Detektiv kann der Leser nun dessen Maßnahmen direkt mitverfolgen. Der Leser nimmt, gleich aus wessen Perspektive, die Mitsicht ein. Martínez und Scheffel fassen eine solche Mitsicht generell unter dem Begriff der „Internen Fokalisierung“[63]. Das heißt, daß der Erzähler nicht mehr preisgibt, als die jeweilige Figur weiß. Der Leser kann also mitverfolgen, wie sich die Handlung ‚vor seinen Augen‘ entfaltet und entwickelt. Der Detektivroman bedient sich einer anderen Vorgehensweise. In Anlehnung an Tzvetan Todorov identifiziert Elisabeth Schulze-Witzenrath für den Detektivroman die Anwesenheit gleich zweier Geschichten:

Bis jetzt können wir den Detektivroman als einen Roman mit zwei Geschichten bestimmen, einer Geschichte der Aufklärung und einer Geschichte des Verbrechens, deren Verhältnis zueinander dadurch gekennzeichnet ist, daß erstere dank ihrer besonderen Handlung eine Metageschichte, letztere eine in diese eingebettete ‚einfache‘ Geschichte mit einer ‚einfachen‘ Handlung ist.[64]

Um die ‚Rätselspannung‘ zu erzeugen, wird die Verbrechensgeschichte im Detektivroman nicht oder nur bruchstückhaft vermittelt. Der Detektivroman arbeitet daher mit „ der Permutation und der Ellipse“[65]. Das bedeutet also, daß die Abfolge der Ereignisse sowohl in ihrer Kausalität als auch in ihrer Chronologie vertauscht ist und zusätzlich wichtige Informationen über Personen und Ereignisse ausgelassen werden (‚mystery‘). Im Detektivroman sagt der Erzähler also weniger, als die Figur des Detektivs weiß, man spricht dann von einer „Externen Fokalisierung“[66]. Der Thriller operiert gänzlich anders. Alle Ereignisse werden, ihrer Chronologie und ihrem jeweiligen Kausalzusammenhang entsprechend, sukzessiv erzählt.

Die Verbrechensgeschichte wird entweder in die Aufklärungsgeschichte integriert, wenn der Detektiv zum Beispiel im Laufe seiner Ermittlungen auf neue Untaten der Verbrecher stößt, oder aber die Verbrechensgeschichte wird vor Beginn der Aufklärungsgeschichte, sozusagen vor den Augen des Lesers, entwickelt. In jedem Falle ist das Verbrechen sehr viel gegenwärtiger als im Detektivroman. „Der Blick nach vorn ersetzt die Retrospektive“[67], bemerkt Todorov. Dietrich Weber nennt diese Form der Handlungsdarstellung in Opposition zum analytischen das synthetische Erzählen.[68] Daraus leitet sich ab, daß im Thriller die bereits erwähnte ‚Zukunftsspannung‘ wirksam wird, da der Leser ungeduldig auf den Ausgang der Ereignisse wartet. Die ‚Rätselspannung‘ wird durch die Kenntnis des Verbrechens gänzlich aufgehoben.

Durch die Aneinanderreihung aktions- und spannungsvoller Szenen gleicht der Thriller eher einer „kriminalistischen Abenteuererzählung“[69], die den hergebrachten Detektivroman mit viel Realistik und Tempo anreichert und der Leserschaft Abwechslung vom immer wieder kopierten Schema bietet.

3 Einordnung der Kriminalgeschichten Friedrich Dürrenmatts

Der erste Kriminalroman Friedrich Dürrenmatts, Der Richter und sein Henker, erschien in der Wochenzeitschrift „Der Schweizerische Beobachter“ vom 15. Dezember 1950 bis zum 31.März 1951 in acht Fortsetzungen. Sein zweiter, unmittelbar an den ersten anschließender Roman Der Verdacht erschien ebenfalls in dieser Zeitschrift, und zwar wiederum alle zwei Wochen, vom 15. September 1951 bis zum 29. Februar 1952.[70] Beide Romane entstanden als Auftragsarbeiten, die Dürrenmatt gern annahm, da er sich und seine Familie mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert sah. Elisabeth Brock-Sulzer meint dazu, daß es Dürrenmatt in erster Linie auf die Verdienstmöglichkeit ankam und er von Termin zu Termin geschrieben hat: „Denn die Romane wuchsen ihm vorweg unter den Händen, von einem Termin zum anderen.“[71] Betrachtet man jedoch die ebenso schematische wie durchdachte Konstruktion eines Kriminalromans genauer, so erscheint es nahezu unmöglich, ein solches Werk einfach „ins Blaue hinein“[72] zu schreiben. Davon gehen auch Pierre Boileau und Thomas Narcejac aus:

Ermittlung und Geheimnis werden zugleich geschaffen, derart, daß die Ermittlung stets von dem Geheimnis eine unerhörte und fabelhafte Wirksamkeit bezieht, während das Geheimnis der Ermittlung eine besonders beklemmende Undurchschaubarkeit entgegensetzt. Geheimnis und Ermittlung entwickeln sich aneinander, bringen sich gegenseitig Geltung, sind im Grunde nur die zwei sich ergänzenden und dialektisch verbundenen Aspekte derselben Fiktion.[73]

In seiner 1954 entstandenen theoretischen Schrift Theaterprobleme findet sich die Begründung für Friedrich Dürrenmatts Hinwendung zur Gattung des Kriminalromans. Er kritisiert darin eine Literaturauffassung, die sich seiner Meinung nach zu stark an den Klassikern und deren angeblicher Unfehlbarkeit bezüglich des ästhetischen Wertes orientiert:

Die Forderungen, welche die Ästhetik an den Künstler stellt, steigern sich von Tag zu Tag, alles ist nur noch auf das Vollkommene aus, die Perfektion wird von ihm verlangt, die man in die Klassiker hinein interpretiert, ein vermeintlicher Rückschritt, und schon lässt man ihn fallen, und so wird ein Klima erzeugt, in welchem sich nur noch Literatur studieren, aber nicht mehr machen lässt. Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung, der Alphabeten? [...] Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet. Die Literatur muss so leicht werden, dass sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig. (TP, S.59f.)

Mit der Hinwendung zum Kriminalroman, der allgemein als bedeutungslos und zu leicht für die Literaturkritik empfunden wird, kann es dem Schriftsteller gelingen, ein großes Publikum zu erreichen und dieses somit zur gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Stoff anzuhalten. Innerhalb des Genres findet er auch die Möglichkeit, die starre Form gleichsam von innen heraus zu durchbrechen. Das Schema dient bei Dürrenmatt als Vehikel für „die von ihm vorgenommene interessensmäßige Schwerpunktverlagerung vom Rätsel auf Weltanschauung und Ethik.“[74] Doch um das Genre und dessen Illusion, daß die Welt sich durch Logik erklären ließe, zu dekonstruieren, muß die Gattung erkennbar bleiben. Das heißt, bestimmte Züge, die parodiert oder gar gänzlich ad absurdum geführt werden sollen, müssen zunächst etabliert werden, damit sich der Kontrast überhaupt ergeben kann. Dem vermeintlich Leichten wird somit Gewicht gegeben, das überholte traditionelle Schema wieder mit Leben gefüllt. An dieser Stelle vermag sich die Gattung über die ihr stets attestierte, Trivialität zu erheben.

3.1 Der Richter und sein Henker – Die Erweiterung des Schemas

Friedrich Dürrenmatts erster Kriminalroman bietet auf den ersten Blick die Exposition eines klassischen Detektivromans. Der Dorfpolizist Alphons Clenin findet die Leiche des jungen Polizeioffiziers Ulrich Schmied. Mit der Ermittlung in der Mordsache werden der Berner Polizeikommissär Hans Bärlach und sein junger Kollege Tschanz betraut. Die Entdeckung des Opfers wird, wie im Detektivroman üblich, äußerst knapp und sachlich geschildert:

Er bemerkte jedoch im gleichen Augenblick, daß der Mann tot war. Die Schläfen waren durchschossen. Auch sah Clenin jetzt, daß die rechte Wagentüre offen stand. Im Wagen war nicht viel Blut, und der dunkelgraue Mantel, den die Leiche trug, schien nicht einmal beschmutzt. (RH, S.11f.)

Doch gleich zu Beginn der Geschichte parodiert Dürrenmatt das Genre des Detektivromans. Der Dorfpolizist beläßt den Tatort nicht, wie er ihn vorgefunden hat, sondern schafft die Leiche im Auto fort und verwischt damit gründlich alle Spuren. Das Opfer wird wie gewohnt kaum näher charakterisiert. Der Leser erfährt kurz darauf, daß Schmied in Bärlachs Auftrag Ermittlungen gegen dessen langjährigen Kontrahenten Gastmann führte. Insgesamt reduziert sich die Funktion des ermordeten Polizeileutnants darauf, als Auslöser für die Ermittlungsarbeit zu dienen.

[...]


[1] “The Detection Club Oath”. In: Haycraft, Howard (Hrsg.): The Art of the Mystery Story: A collection of critical essays. New York: Biblo and Tannen, 1976, S.197-199, S.198.

[2] Vgl. Fischer Lexikon Literatur, Bd. 3. Herausgegeben von Ulfert Ricklefs. Frankfurt a. M.: Fischer, 1996 , S.1916ff.

[3] Gerber, Richard: „Verbrechensdichtung und Kriminalroman“. In: Neue deutsche Hefte 13 (1966) Heft 3, S.101-117, S.111.

[4] Ebd., S.104.

[5] Vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler, 1992, S.2.

[6] Poe, Edgar Allan: „The Murders in the Rue Morgue“. In: Ders.: The Works of Edgar Allan Poe. With an introduction and a memoir by Richard Henry Stoddard. Vol. II. London: Routledge & Sons, 1896, S.261-313.

[7] Vgl. Sayers, Dorothy L.: „Einleitung zu ‚Great Stories of Detection, Mystery and Horror‘“. In: Buchloh, Paul G.; Becker, Jens P. (Hrsg.): Der Detektiverzählung auf der Spur: Essays zur Form und Wertung der englischen Detektivliteratur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977, S.142-190.

[8] Vgl. Buchloh, Paul G.; Becker, Jens P.: Der Detektivroman: Studien zur Geschichte und Form der englischen und amerikanischen Detektivliteratur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973, S.69.

[9] Vgl. Van Dine, S.S.: „Twenty Rules for Writing Detective Stories“; Knox, Ronald A.: „Detective Story Decalogue“, „The Detection Club Oath“. Alle in: Haycraft, Howard (Hrsg.): The Art of the Mystery Story: A collection of critical essays. New York: Biblo and Tannen, 1976, S.189-199.

[10] Knox, Ronald A.: Ebd., S.195.

[11] Ebd., S.195.

[12] Meistens ist der Leser allerdings dem überragenden analytischen Verstand sowie der Kombinations- und Beobachtungsgabe des Detektivs hoffnungslos unterlegen und erfährt des Rätsels Lösung erst, wenn der Detektiv diese am Ende preisgibt.

[13] Van Dine, a.a.O., S.190.

[14] Christie, Agatha: Murder on the Orient Express. London: Harper & Collins, 1994.

[15] Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung: Eine vergleichende Untersuchung zu Werken von Christie, Simenon, Dürrenmatt und Capote. Bonn: Bouvier, 1979, S.29.

[16] Vgl. Buchloh/Becker: Der Detektivroman, a.a.O., S.18 und 35.

[17] Žmegač, Viktor: „Aspekte des Detektivromans“. In: Ders. (Hrsg.): Der wohltemperierte Mord: Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1971, S.9-34, S.32.

[18] Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans: Ein gattungsgeschichtlicher Essays [sic]. Frankfurt a. M.: Athenaion, 1975, S.99.

[19] Alewyn, Richard: „Anatomie des Detektivromans“. In: Vogt, Jochen (Hrsg.): Der Kriminalroman: Poetik- Theorie– Geschichte. München: Fink, 1998, S.52-72, S.60.

[20] Žmegač, a.a.O., S.13.

[21] Bien, Günter: „Abenteuer und verborgene Wahrheit– Gibt es den literarischen Detektivroman?“ In: Hochland 57 (1964/65), S.456-466, S.458.

[22] Kracauer, Siegfried: „Der Detektivroman: Ein philosophischer Traktat“. In: Ders.: Schriften. Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971, S.103-204, S.140.

[23] Vgl. Buchloh/Becker: Der Detektivroman, a.a.O., S.72.

[24] Nusser: Der Kriminalroman, a.a.O., S.46.

[25] Žmegač, a.a.O., S.12.

[26] Vgl. Alewyn, a.a.O., S.63.

[27] Nusser: Der Kriminalroman, a.a.O., S.38.

[28] Diesem Umstand widmet Alewyn in seinem bereits erwähnten Aufsatz „Anatomie des Detektivromans“ einen Unterpunkt mit dem Titel „Sekundäre Geheimnisse“ (S.63-67). Er geht davon aus, daß alle verdächtig sind, so lange der wirkliche Täter nicht gefunden ist.

[29] Haas, Willy: „Die Theologie im Kriminalroman“. In: Ders.: Gestalten: Essays zur Literatur und Gesellschaft. Berlin, Frankfurt a. M., Wien: Propyläen, 1962, S.163-169, S.163.

[30] Ebd., S.167f.

[31] Hrastnik, Franz: „Das Verbrechen macht sich doch bezahlt“. In: Der Monat 8 (1961) Heft 155, S.76-83, S.78.

[32] Agatha Christie hat in ihrem Roman „The Murder of Roger Ackroyd“ einen eklatanten Regelbruch begangen, indem sie die Watson-Figur, die gleichzeitig der Erzähler ist, zum Mörder machte. Dennoch hielt sie sich an die ‚fair-play-Regel‘, da dem aufmerksamen Leser Hinweise zur Ermittlung des Täters durchaus zur Verfügung standen.

[33] Vgl. dazu: Suerbaum, Ulrich: Krimi: Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam, 1984, S.14.

[34] Auden, Wystan Hugh: „The Guilty Vicarage“. In: Winks, Robin (Hrsg.): Detective Fiction: a collection of critical essays. Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice Hall, 1980, S.15-24, S.15.

[35] Marsch, Edgar: Die Kriminalerzählung: Theorie– Geschichte– Analyse. München: Winkler, 1983, S.96.

[36] Ebd., S.101f.

[37] Ebd., S.98.

[38] Bloch, Ernst: „Philosophische Ansicht des Detektivromans“. In: Ders.: Literarische Aufsätze. Gesamtausgabe, Bd. 9. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1965, S.242-263, S.247.

[39] Suerbaum, Ulrich: „Der gefesselte Detektivroman: Ein gattungstheoretischer Versuch“. In: Poetica 1 (1967), S.360-374, S.367.

[40] Porter, Dennis: The Pursuit of the Crime: Art and Ideology in Detective Fiction. New Haven, London: Yale University Press, 1981, S.29.

[41] Weber, Dietrich: Theorie der analytischen Erzählung. München: Beck, 1975, S.96f.

[42] Brecht, Bertolt: „Über die Popularität des Kriminalromans“. In: Ders.: Werke. Schriften 2, Teil 1. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22, Berlin, Weimar: Aufbau/ Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S.504-510, S.504.

[43] Vgl. zu allen genannten Begriffen: Nusser: Der Kriminalroman, a.a.O., S.114.

[44] Nusser: Der Kriminalroman, a.a.O., S.3.

[45] Vgl. Buchloh/Becker: Der Detektivroman, a.a.O., S.115.

[46] Nusser: Der Kriminalroman, a.a.O., S.120.

[47] Vgl. dazu vor allem: Nusser: Der Kriminalroman, a.a.O., S.78ff und S.115ff.

[48] Der Einfachheit halber soll für die Romane der ‚hard-boiled school‘ des weiteren auch der Oberbegriff ‚Thriller’ Verwendung finden, da bestimmte inhaltliche wie strukturelle Elemente sich in allen drei genannten Typen finden.

[49] Buchloh/Becker: Der Detektivroman, a.a.O., S.96.

[50] Chandler, Raymond: „The simple art of murder“. In: Haycraft, Howard (Hrsg.): The art of the mystery story: A collection of critical essays. New York: Biblo and Tannen, 1976, S.223-237, S.231.

[51] Suerbaum: Krimi, a.a.O., S.127.

[52] Schulz-Buschhaus, a.a.O., S.131.

[53] Ebd., S.3.

[54] Ebd., S.3.

[55] Schulz-Buschhaus, a.a.O., S.4.

[56] Nusser : Der Kriminalroman, a.a.O., S.53f.

[57] Vgl. Nusser: Der Kriminalroman, a.a.O., S.57f.

[58] Nusser, Peter: „Aufklärung durch den Kriminalroman“. In: Neue deutsche Hefte 18 (1971), Heft 131, S.70-90, S.75.

[59] Suerbaum: Krimi, a.a.O., S.127.

[60] Schulz-Buschhaus, a.a.O., S.139.

[61] Nusser: Der Kriminalroman, a.a.O., S.53.

[62] Smuda, Manfred: „Variation und Innovation“. In : Poetica 3 (1970), S.165-187, S.178.

[63] Martínez, Matías; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2., durchgesehene Auflage. München: Beck, 2000, S.64.

[64] Schulze-Witzenrath, Elisabeth: „Die Geschichten des Detektivromans: Zu Struktur und Rezeptionsweise seiner klassischen Form“. In: Poetica 11 (1971), S.233-258, S.239.

[65] Ebd., S.240.

[66] Martínez/Scheffel , a.a.O., S.64.

[67] Todorov, Tzvetan: „Typologie des Kriminalromans“. In: Vogt, Jochen (Hrsg.): Der Kriminalroman: Poetik– Theorie– Geschichte. München: Fink, 1998, S., 208-215, S.211.

[68] Vgl. Weber, a.a.O., S.27f.

[69] Nusser: Der Kriminalroman, a.a.O., S.3.

[70] Vgl. Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Frankfurt a. M., Berlin, München: Diesterweg, 1983, S.16.

[71] Brock-Sulzer, Elisabeth: Friedrich Dürrenmatt: Stationen seines Werkes. Zürich: Diogenes, 1986, S.261.

[72] Ebd., S.261.

[73] Boileau, Pierre; Narcejac, Thomas: „Der Detektivroman (Auszüge)“. In: Buchloh, Paul G.; Becker, Jens P.: Der Detektiverzählung auf der Spur, a.a.O., S.356-370, S.357.

[74] Tschimmel, Ira: „Kritik am Kriminalroman“. In Knapp, Gerhard P.; Labroisse, Gerd (Hrsg.): Facetten: Studien zum 60. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas: Peter Lang. 1981, S.175-190, S.181.

Ende der Leseprobe aus 135 Seiten

Details

Titel
Der Zufall in den Kriminalgeschichten Friedrich Dürrenmatts
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
135
Katalognummer
V28913
ISBN (eBook)
9783638305631
Dateigröße
1056 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zufall, Kriminalgeschichten, Friedrich, Dürrenmatts
Arbeit zitieren
Stefanie Jansen (Autor:in), 2003, Der Zufall in den Kriminalgeschichten Friedrich Dürrenmatts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28913

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