Entgrenzungen zwischen Natur und Kultur. Gibt es eine gesellschaftliche Tendenz zur Medikalisierung?

Das Beispiel „ADHS“


Forschungsarbeit, 2014

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 1

2. Entgrenzungen zwischen Natur/Kultur und Gesundheit/Krankheit 2

3. Politische Medizin - Fremd- und Selbststeuerung 3

4. Ökonomische Medizin - Gesundheit als Kapital 5

5. ADHS-Inflation - Aspekte der Definition pathologischen Verhaltens 6

6. Die Norm als Richtwert für Gesundheit - Störfaktor ADHS 8

7. Fazit 10

Literatur 11

1. Einleitung

Beinahe alltäglich begegnet man dem Begriff der „Natürlichkeit“, der im Allgemeinen als etwas Ursprüngliches und Unmanipuliertes aufgefasst wird. Ist in Folge des technischen Fortschritts aber noch exakt zu trennen, was als natürlich und was als künstlich gilt – und war es das je zuvor? Vor allem im Zuge der gentechnologischen Entwicklung scheint die Grenze zwischen dem ursprünglich Natürlichen und dem artifiziell „Natürlichen“ mehr und mehr zu verschwimmen. Dadurch wird auch die Natürlichkeit von Verhaltensweisen hinterfragt, welche so unter Umständen in den Bereich der Therapiebedürftigkeit geraten. Als Beispiel hierfür nennen Kritiker das Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsdefizitsyndrom, kurz ADHS1, dessen Diagnosen sich in den letzten Jahren vor allem in der westlichen Welt rasant erhöht haben. Doch ob das hier beobachtete Verhalten tatsächlich pathologisch ist, lässt sich oftmals schwer sagen, zumal der Krankheitsbegriff relativ ist. Hierbei stellt sich folgende Frage: Könnte die Zunahme der ADHS-Diagnosen2 modellhaft stehen für eine gesellschaftliche Tendenz, sozial bedingtes Verhaltens medizinischen Ursachen zuzuordnen?

Die Soziologie beschäftigte sich bereits eingehend mit diesem Sachverhalt, der Medikalisierung genannt wird; allen voran zu nennen sei Peter Conrad, zu dem auch in dieser Arbeit Bezüge hergestellt werden. Aber auch anhand von Rezeptionen der Werke Michel Foucaults wird eine gegenwartsbezogene Analyse ermöglicht. So ist beispielsweise Thomas Lemke zu nennen, der sich eingehend mit dem „Biopolitik“-Konzept Foucaults beschäftigt, welches das - wenn auch grobe - theoretische Fundament dieser Arbeit bilden soll.

Ausgehend von dessen Interpretationen und Abwandlungen, wie Paul Rabinows „Biosozialität“, werden die Entgrenzungen dargestellt, in deren Zusammenhang Medikalisierung meiner Ansicht nach steht. Etwas tiefer gehend, wird nachfolgend ihre Beziehung zu den beiden Dimensionen der Politik und Wirtschaft hergestellt und inwiefern sie dort zu lokalisieren ist. Anschließend möchte ich einen exemplarischen Exkurs zum Phänomen „ADHS“ machen, dessen diagnostische Gesichtspunkte aufgezeigt und schließlich in den Kontext mit einer gesamtgesellschaftlichen Situation gebracht werden sollen. Da diese „Störung“ in eben jenen medikalisierenden Zusammenhängen vermutet wird, wird anhand der Deduktion und des aufgezeigten Beispiels eine womöglich paradigmatische Rolle der ADHS erörtert.

2. Entgrenzungen zwischen Natur/Gesellschaft und Gesundheit/Krankheit

Zunächst soll geklärt werden, mit welcher grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderung Medikalisierung meiner Ansicht nach einhergeht. Paul Rabinow entwickelt in seinem Essay „Artifizialität und Aufklärung" den Begriff der „Biosozialität" und baut auf folgender Annahme Michel Foucaults auf, die dieser für Bestandteile der so bezeichneten „Biomacht“3 erklärt: „Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat" (1976a: 166). Diese zwei Pole konstituierten sich demnach neu durch die biotechnologische Entwicklung „in Gestalt einer postdisziplinaren Rationalität" (Rabinow 2004: 129):

„Handelte es sich bei der Soziobiologie um eine Form von Kultur, die auf der Grundlage einer biologischen Metapher konstruiert ist, dann wird die Natur in der Biosozialität auf der Grundlage von Kultur modelliert werden, wobei ich Kultur als Praxis verstehe. Natur wird mit Hilfe von Technik erkannt und neu hergestellt werden. Und sie wird schließlich artifiziell werden, genauso wie Kultur natürlich werden wird." (ebd.: 139)

Die konstruierende Einwirkung der Technik auf die Natur, die der Autor prognostiziert, ist demzufolge auf die Neuerung des Humangenomprojekts zurückzuführen, das die Erkennung und Veränderung des menschlichen Genmaterials zur Folge habe (vgl. ebd.: 131). Freilich ist diese Veränderung beim Menschen im Vergleich etwa zur Tomate bis heute so noch nicht geschehen, wozu auch ethische Bedenken beisteuern. Ohne Zweifel ist jedoch durch die Manipulierbarkeit der DNA ein Meilenstein in der Molekularbiologie gelegt worden, der auch weitreichende Folgen in die gesellschaftlichen Diskurse um (scheinbar) Natürliches und Kulturelles bewirkt. Allein durch nicht-genetische Einwirkungen auf den ursprünglichen menschlichen Körper wird das Bild eines naturgegebenen Wesens ein Stück weit konstruiert: So verhilft die Kieferorthopädie mit Zahnspangen zum Ideal eines normalen Kiefers, aber auch das Bild einer reinen Haut und eines schweißlosen Körpers erscheinen als erstrebenswert, da die Störfaktoren als behandlungswürdige Normabweichungen betrachtet werden. Auch gerät Schüchternheit seit den 1970er Jahren mehr und mehr in den Fokus der Medikalisierung, die beispielsweise mithilfe von Ratgeberliteratur verstärkt wird (vgl. Viehöver und Wehling 2010: 92). Die Kategorisierung dieser einst mehr oder minder als natürlich hingenommenen Attribute in medizinische Pathologien geht zu einem bedeutenden Teil einher mit den (bio)technologischen Möglichkeiten zur Veränderung des Körpers.

AAuch nach Hans-Jörg Rheinberger kommt der Molekularbiologie eine revolutionäre Bedeutung zu: Es zähle fortan nicht mehr „die extrazelluläre Repräsentation intrazellulärer Prozesse, d. h. das "Verstehen" des Lebens, sondern vielmehr die intrazelluläre Repräsen-tation eines extrazellulären Projekts, d. h. die "Umschreibung" des Lebens" (1996: 291). Bereits in den 1990er Jahren, aus denen neben Rabinows auch Rheinbergers Text stammt, erwartet dieser die praktische Anwendung der DNA-Technologie in der Medizin (vgl. ebd.: 296 f.). Ähnlich, wie Rabinow schließt er daraus auf folgende Entkoppelung: „Das Natürliche und das Soziale sind der Seinsweise nach nicht länger verschieden. Wir finden uns in einer Welt von hybriden Dingen wieder [...], die weder ganz zu dem einen noch zu dem anderen Bereich gehören" (ebd.: 298).

In Anbetracht etwa der Pränataldiagnostik scheint sich der Einfluss dieser Technik auf die Medizin durchaus weiterentwickelt zu haben. Durch diese Neuerungen flexibilisiert sich der Definitionsrahmen von Natürlichkeit und öffnet der Medikalisierung entscheidende Pforten. Durch das Verschwinden des „integralen Körpers" werden Gestaltungen eines „genormten Körpers" ermöglicht. Allein die Tatsache, dass der Staat von „1998 an […] die Biotechnologie sowie die molekulare Medizin bis über einen Zeitraum von drei Jahren mit einer Milliarde unterstützt[ e]“ (Briken und Kurz 2010: 121), unterstreicht das politische Interesse daran. Donna Haraway sieht in ihm eine mögliche „Konstruktion "des Menschen" als "Subjekt" der Wissenschaft" (Haraway 1996: 328); man könnte es aber gleichermaßen als kontrollierendes Projekt der Politik deuten.


1 Auch: „ADS" (ohne Hyperaktivität)

2 Es gibt zahlreiche Belege für die Zunahme von ADHS-Diagnosen in den letzten Jahren, vgl. z.B. Getahun et al. 2013)

3 „Biomacht" und „Biopolitik" sollen hier zur Vereinfachung äquivalent benutzt werden, da ihre Unterschiedlichkeit auch im Gesamtwerk Foucault nicht eindeutig zu trennen bzw. systematisieren ist.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Entgrenzungen zwischen Natur und Kultur. Gibt es eine gesellschaftliche Tendenz zur Medikalisierung?
Untertitel
Das Beispiel „ADHS“
Hochschule
Universität Kassel  (Fachbereich 05 - Soziologie)
Veranstaltung
Soziologische Theorien - Marx und Foucault
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
14
Katalognummer
V288935
ISBN (eBook)
9783656891826
ISBN (Buch)
9783656891833
Dateigröße
507 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Natur, Kultur, Entgrenzung, Medikalisierung, ADHS, ADS
Arbeit zitieren
Alexander Mayer-Olkin (Autor:in), 2014, Entgrenzungen zwischen Natur und Kultur. Gibt es eine gesellschaftliche Tendenz zur Medikalisierung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288935

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Entgrenzungen zwischen Natur und Kultur. Gibt es eine gesellschaftliche Tendenz zur Medikalisierung?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden