Mikropolitik in organisatorischem Wandel


Diplomarbeit, 2004

99 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Verzeichnis der Abbildungen

Verzeichnis der Tabellen

1 Einleitung
1.1 Problembeschreibung
1.2 Fragestellung der Arbeit
1.3 Methodisches Vorgehen
1.4 Aufbau der Arbeit

2 Theorie der Mikropolitik
2.1 Einleitung und Aufbau: Vom struktur-funktionalistischen Verständnis zum Politikmodell der Organisation
2.2 Einordnung in den Theorierahmen
2.3 Begriffsdefinitionen
2.3.1 Mikro
2.3.2 Politik - polity, policy und politics
2.4 Die Entstehung der mikropolitischen Konzeption
2.5 Die Debatte um Mikropolitik
2.6 Zwei Betrachtungsweisen von Mikropolitik
2.6.1 Akteurszentriertes Verständnis
2.6.2 Strukturelles Verständnis
2.6.3 Eine vereinende Perspektive
2.7 Die strategische Organisationsanalyse nach Crozier/Friedberg
2.7.1 Akteur
2.7.2 Macht
2.7.3 Spiel-(Regeln)
2.8 Zwischenfazit

3 Darstellung und Analyse eines Fallbeispiels
3.1 Einleitung: Organisatorische Veränderungen sind politische Prozesse
3.2 Aufbau Kapitel 3
3.3 Bedingungen für Mikropolitik
3.3.1 Merkmale nach Neuberger
3.3.2 Das Modell der Entscheidungsarenen
3.4 Falldarstellung
3.4.1 Beschreibung des Unternehmens
3.4.2 Die Hauptakteure
3.4.3 Die EDV als Reorganisationsmedium
3.4.4 Der Verlauf des Entscheidungsprozesses
3.4.5 Die Revision der Auswahlentscheidung
3.5 Veränderungen in den Machtbereichen der Akteure
3.6 Zwischenfazit
3.7 Innovation gegen Routine
3.7.1 Routinespiele
3.7.2 Innovationsspiele
3.8 Koalitionsbildungen
3.8.1 Gründe für Koalitionsbildungen
3.8.2 Beeinflussungsziele von Koalitionen
3.9 Auswirkungen von Mikropolitik im organisatorischen Wandel
3.9.1 Begünstigender oder hemmender Faktor?
3.9.2 Positive und negative Effekte von Mikropolitik
3.10 Zwischenfazit

4 Fazit
4.1 Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse und Antwort auf die Fragestellung
4.2 Schlussfolgerungen
4.3 Erklärungsbeitrag und Grenzen der vorliegenden Arbeit
4.4 Weiterführende Fragestellungen
4.5 Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Anhang

Ehrenwörtliche Erklärung

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Verzeichnis der Abbildungen

Abb. 1: Einflussfaktoren der Organisation

Abb. 2: Organisatorischer Wandel und Mikropolitik

Abb. 3: Kapitelübersicht I

Abb. 4: Hierarchische gegenüber mikropolitischer Struktur

Abb. 5: Kapitelübersicht II

Abb. 6: Arbeitsthesen

Abb. 7: Garbage Can-Modell

Abb. 8: Organigramm des Nahrungsmittelunternehmens

Abb. 9: Zeitverlauf des PIS-Projekts im Nahrungsmittelunternehmen

Abb. 10: Kapitelübersicht III

Abb. 11: Verhältnis von Mikropolitik und Organisatorischem Wandel

Verzeichnis der Tabellen

Tab. 1: Ziele von Beeinflussungen

Tab. 2: Einflussfaktoren auf organisationalen Wandel

Tab. 3: Effekte von Mikropolitik bei Reorganisationen

1 Einleitung

1.1 Problembeschreibung

Organisationen befinden sich im Wandel. Einerseits eröffnen Automatisierung und Computerisierung Rationalisierungschancen, andererseits verstärkt zunehmender Wettbewerbsdruck durch Internationalisierung der Märkte den Zwang zu effizienten Organisationsstrukturen. Zudem ist ein Wertewandel innerhalb der Organisationen zu beobachten (Spieß/Winterstein 1999, S. 23ff.): Eine Bewegung von formalisierter Fremdbestimmung des Einzelnen hin zu mehr Selbstverwirklichung des Akteurs und damit der Möglichkeit, steigende Handlungsspielräume zu nutzen. Die Bedeutung dieser Handlungsspielräume erhöht sich, wenn man bedenkt, dass der Optimierung des Arbeitsprozesses inzwischen oftmals eine größere Bedeutung zukommt als dem Wandel durch technische Veränderungen.

Reorganisations– und Anpassungsmaßnahmen lassen sich in allen Bereichen finden. Organisationen, ob privatwirtschaftlicher Art oder im Non-Profit Sektor, befinden sich in einem Spannungsfeld von äußeren Rahmenbedingungen. Sie müssen mehr leisten mit gleich viel oder weniger Ressourcen. Die staatlichen Ausgaben werden in Zeiten knapper Kassen zurückgefahren und doch bewerben sich immer mehr Anbieter um die verbleibenden Quellen. Kostengünstigere Produktionsmöglichkeiten im Ausland erhöhen den Druck zu effizienten Arbeitsstrukturen und lassen Auseinandersetzungen um Lohnfortzahlung, Flächentarifverträge und Arbeitszeitverkürzungen schnell verstummen. Abb. 1 verdeutlicht diese Zusammenhänge:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Einflussfaktoren der Organisation, Steinmann/Schreyögg (2000, S. 171).

Einzelne Prozesse, komplette Arbeitsabläufe, bzw. ganze Abteilungen oder Organisationen werden reorganisiert. Die ständige Veränderung wird zur Strategie der Unternehmensführung erklärt. Doch nur selten kann man von negativen Beispielen lesen. Es finden sich wenig Beschreibungen gescheiterter Veränderungsprozesse. Die Literatur zur Organisationsentwicklung[1] ist voll von gelungenen Beispielen (vgl. exempl. Fatzer 1999), eine „Kultur der schwarzen Zahlen“ (Fischer 1997) scheint vorzuherrschen. Kühl stellt dazu fest:

„Liest man Berichte und Darstellungen über Veränderungsprojekte in Unternehmen, dann zeichnen sich diese durch ein hohes Maß an Konsistenz, Schlüssigkeit und Rationalität aus. [...] Zwar wird von Hindernissen, Widerständen, Unwägbarkeiten und Unvorhergesehenem berichtet, aber diese Probleme werden in der Regel von den Prozessverantwortlichen (die häufig identisch mit den Autoren der Beiträge sind) [...] erfolgreich bewältigt.“ (Kühl 2001a, S. 1).

Vom möglichen Scheitern eines Prozesses ist nicht die Rede. Beschönigende Selbstbeschreibungen der Organisationen über sich selbst (Fischer 1997) bzw. Berichte externer Experten (Nippa/Picot 1995[2] ) über erfolgreich abgeschlossene Reorganisationen sind charakteristisch und stehen doch in auffälliger Diskrepanz zu den Beschreibungen distanzierter Beobachter von Veränderungsprojekten (Kühl 2000, 2001a). Es macht den Anschein, das Treiben in Organisationen ist vielfältiger, als auf den ersten Blick anzunehmen. Das traditionelle Bild der Organisation, in der alles »wie am Schnürchen« läuft, kommt ins Wanken (Sander 1990, S. 64).

„Während die Organisationsgestalter [...] von der Möglichkeit plan- und steuerbaren Wandels ausgingen, waren die konkreten Veränderungsprozesse durch Kämpfe, Widersprüchlichkeiten und Paradoxien geprägt.“ (Kühl 2000, S 12).[3]

Es stellt sich daher die Frage, wie viele Veränderungsmaßnahmen nicht nach Plan verlaufen. Das Zahlenmaterial dazu ist vielschichtig. Die Akademie Bad Harzburg schätzt, dass 70% aller Veränderungsprojekte scheitern (Süddeutsche Zeitung vom 23.03.2002). Freudenberg nennt ebenfalls die hohe Zahl von 70% (1999, S. 1). Nach Aussage von Unternehmensberatern ist die Zahl geringer, demnach erreichen »nur« die Hälfte der Reorganisationsmaßnahmen ihre Ziele nicht (Schirmer 2000, S. 1). Wie hoch die genauen Zahlen sein mögen, aufgrund der Vielschichtigkeit solcher Prozesse und der Tatsache, dass die Ziele und damit auch die Erfolgsbewertung einer Veränderungsmaßnahme oft erst im Nachhinein zugeschrieben werden (Kieser 1998, S. 183), sagen sie Eines doch ganz deutlich: Der Erfolg von Veränderungsprojekten ist nicht gewiss (Buck 2001, S. 369). Es gibt keine conditio sine qua non, die jedem angestoßenen organisatorischen Veränderungsprozess auch ein glückliches Ende beschert. Folgt man der Beobachtung vieler Praktiker, ließe sich formulieren (Dick 1992, S. 4): Während eines organisatorischen Wandels sind Konflikte zwischen den Akteuren nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Eine Umfrage der AFW Wirtschaftsakademie (2001) zum Thema Wissensmanagement ergab, dass 70% des Wissens in Organisationen aufgrund von Konkurrenzdenken zwischen Abteilungen nicht weitergegeben wird. Folgt man einer Untersuchung von Peter Schütz (2003), führen Grabenkriege zwischen Abteilungen zu 50% Produktivitätsverlust.

Häufig fallen Veränderungsmaßnahmen einzelne Stellen oder sogar ganze Hierarchieebenen zum Opfer bzw. haben dies zum Ziel, so dass sich der Konkurrenzkampf untereinander um die verbleibenden Arbeitsplätze erhöht. Neuberger fasst die unterschiedlichen Schätzungen zum Schaden durch Mobbing[4] in Deutschland jährlich mit 30 bis 100 Milliarden DM zusammen (1999, S. 94f.). Es ist schwer, genaue Zahlen und Aussagen zum Phänomen von Politik in Organisationen zu finden (Kieser 1998, S. 199), denn „Fragen nach Macht und Politik widersprechen dem normativen Postulat rationaler und effizienter organisatorischer Entscheidungsprozesse.“ (Hanft 1995, S. 14). Unvorhergesehenes und begrenzte Kalkulierbarkeiten[5] bilden scheinbar die Regel und nicht die Ausnahme[6]. Doch wie stellt sich das Geschehen in den Organisationen in Wirklichkeit dar? Küpper/Ortmann bereichern den Leser mit einer eindrücklichen, bildhaften Beschreibung:

„In Organisationen tobt das Leben. [...] Die Machiavelli der Organisation sind umringt von Bremsern und Treibern, change agents und Agenten des ewig Gestrigen, Märtyrern und Parasiten, grauen Eminenzen, leidenschaftlichen Spielern und gewieften Taktikern: Mikropolitiker allesamt. Sie zahlen Preise und stellen Weichen, errichten Blockaden oder springen auf Züge, geraten aufs Abstellgleis oder fallen die Treppe hinauf, gehen in Deckung oder seilen sich ab, verteilen Schwarze Peter und holen Verstärkung, suchen Rückendeckung und Absicherung, setzen Brückenköpfe und lassen Bomben platzen, schaffen vollendete Tatsachen oder suchen das Gespräch. Daß es ihnen um die Sache nicht ginge, läßt sich nicht behaupten; aber immer läuft mit: der Kampf um Positionen und Besitzstände, Ressourcen und Karrieren, Einfluß und Macht.“ (Küpper/Ortmann 1988, S. 7).

Die Annahme hinter der Beobachtung, dass Organisationsmitglieder informelle Gruppen bilden und Netzwerke der Einflussnahme aufbauen, ist, dass sie gezielt Macht akkumulieren, um Ziele zu verwirklichen. Zwischen den Strategieplänen für eine planbarere organisatorische Rationalität und der Organisationswirklichkeit bestehen nur sehr lockere Verbindungen, denn

„Betriebe sind keine Input-Output Maschinen, die den Strategien des Managements gehorchen, sondern Handlungsfelder, die durch Arbeits-, Kooperations- und Machtbeziehungen geformt werden. Als solche sind sie immer auch Orte des Interessenkampfes und der Konfliktaustragung zwischen den verschiedenen Akteuren.“ (Lausche/Welskopp 1994, S. 285).

So kommen Picot u.a. in einem Leitfaden zur „Neuen Organisation nach Maß geschneidert“ (1999a, S. 46) zu dem an Praktiker gerichteten Schluss, dass es bei Veränderungsprozessen ganz wichtig ist, die Aufmerksamkeit in Richtung der „[...] mit Macht ausgestatteten Individuen, die es von einer kontraproduktiven Mikropolitik abzuhalten gilt“ (ebd., S. 46), zu lenken. Damit rückt die Mikropolitik, die Machtpolitik im Kleinen bei der Veränderung bestehender organisatorischer Ordnung in den Fokus. Wo Argyris/Schön noch eher allgemein formuliert feststellen: „Before an organization can be anything else, it must be in this sense political, because it is as a political entity that the collectivity can take organizational action.“ (Argyris/Schön 1978, S. 13), kommt Dick zu der Aussage, dass Mikropolitik inzwischen als fester Bestandteil der betrieblichen Lebenswirklichkeit anerkannt wird (1993, S. 467). Schirmer fasst diesen Gedanken im Hinblick auf organisatorische Veränderung zusammen:

„Für die Entwicklung eines [...] angemessenen Verständnisses der Dynamik von Reorganisationen [...] ist die Analyse von Politik in Reorganisationsprozessen besonders relevant. Denn: Reorganisationen, mit denen Ressourcenumverteilungen oder –kürzungen und (Neu)Verteilungen von Macht und Einfluss [...] angestrebt werden, stellen i.d.R. wesentliche Interessen von Organisationsmitgliedern substantiell in Frage.“ (Schirmer 2000, S. 5).

Obgleich die Vernachlässigung des politischen Faktors bzw. die Ideologisierung von Macht als etwas »Anrüchiges« ein häufig geäußerter Kritikpunkt an den Methoden der Organisationsentwicklung ist (Gebert 1974, S. 113)[7], ist die Politik in diesen Prozessen ein bislang wenig in der Literatur bearbeiteter Aspekt (Gabele 1992, Sp. 2196f., Felsch 1996, S. 17, Kieser 1998, S. 5, Spieß/Winterstein 1999, S. 93). Schirmer merkt an, dass die politischen Aspekte von Reorganisationen in der Literatur vielfach lediglich als Implementierungsprobleme aufgegriffen werden (Schirmer 2000, S. 117). Der Aspekt der Mikropolitik wurde erst vermehrt mit den Bemühungen um die Erforschung politischer Prozesse im Unternehmen bearbeitet (Dick 1992, S. 6). Trotzdem finden sich bislang nur einzelne Studien, die speziell die Problematik von Mikropolitik bei organisatorischem Wandel untersuchen (Ortmann u.a. 1990, Hanft 1995, Schirmer 2000). Dabei ließe sich die Vermutung aufstellen, dass das Ignorieren von Mikropolitik in der Organisationsentwicklungsliteratur (bspw. Vogel u.a. 1994) zu einem mangelnden Verständnis und damit (auch) zum Scheitern von organisatorischen Veränderungsprozessen führt. Auf der anderen Seite existiert seit langem großes Interesse an meist recht trivialen Ratgebern zum Thema Politik und Macht in Organisationen: „Manipulieren- aber richtig“ (Kirschner 1978), „Machtspiele für kleine Teufel. Mit List und Tücke an die Spitze.“ (Drummond 1993), „Power. Die 48 Gesetze der Macht“ (Greene 1999), „Der Büro-Machiavelli[8] “ (Minor 1999), „Ich mobbe gern“ (Vier 2003). Das große Interesse an dieser Art von Literatur stärkt die Vermutung, dass Menschen, die in Organisationen leben und arbeiten, dem Phänomen des Ringens um Macht ausgesetzt sind und dies auch wahrnehmen. Damit wächst die Relevanz, sich wissenschaftlich damit auseinander zusetzen.

1.2 Fragestellung der Arbeit

Das Interesse der vorliegenden Arbeit richtet sich daher auf die Bedeutung von Mikropolitik in Prozessen des organisatorischen Wandels. Die erkenntnisleitende Fragestellung lautet somit:

Welche Bedeutung hat Mikropolitik für Prozesse des organisatorischen Wandels?

Es ist dabei zu untersuchen, welche wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den beiden Faktoren bestehen, die jede Organisation beeinflussen: Veränderung und Mikropolitik.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Organisatorischer Wandel und Mikropolitik, eigene Darstellung.

Die Grundlagen, auf die sich die Arbeit bezieht, sind die strategische Organisationsanalyse von Crozier und Friedberg (1979) und darauf aufbauend das Konzept der Mikropolitik (Bosetzky/Heinrich 1980, Küpper/Ortmann 1988, Ortmann u.a. 1990, Neuberger 1995). Der mikropolitische Erklärungsansatz widmet sich dem Aspekt der Politik in Organisationen. In dessen Zentrum stehen die, im Laufe der Arbeit genauer herauszuarbeitenden, Begrifflichkeiten »Akteur«, »Macht«[9] und »Spiel«, mit deren Hilfe beschrieben wird, wie die unterschiedlichen Akteure einer Organisation ihr Handeln aufeinander beziehen, Regeln des Umgangs miteinander aufstellen und so die Organisationsstrukturen herausbilden, auf die sie sich in der Anwendung der Regeln wiederum beziehen. Mit der strategischen Organisationsanalyse von Crozier/Friedberg (1979) lassen sich zwei Grundfragen der Sozialwissenschaften näher beleuchten (Elsik 1998, S. 11, Weyer 1993, S. 3): Wie entstehen soziale Strukturen aus der Interaktion strategisch handelnder Akteure und wie prägen soziale Strukturen das individuelle Handeln?

1.3 Methodisches Vorgehen

Beim Untersuchungsgegenstand der Arbeit handelt es sich um interne Organisationsprozesse, also das Verhalten und Handeln von Organisationsmitgliedern sowie deren Machtstrukturen und Entscheidungsprozesse. Es ist unmöglich im Rahmen einer Diplomarbeit einen umfassenden Einblick in die Interna, die „heimliche Spielregeln“ (Scott-Morgan 1994) einer Organisation, zu gewinnen.[10] Einzig adäquat zur Erfassung kleinst-politischer Aspekte sind zeitaufwendige qualitative bzw. teilnehmende Studien (Springer 1999, S. 43f.), wie sie Ortmann u.a. (1990) durchgeführt haben. Die interpersonellen Beziehungen in den Unternehmen über quantitativ orientierte Forschung aufzudecken und zu analysieren, ist nur schwer möglich (Freimann/Walter 2003, S. 8).

„Spiele in Organisationen lassen sich nicht befriedigend mit quantitativ-statistischen Fragebogenerhebungen erfassen, da diese von linearen Ursache-Wirkungs Beziehungen in einer außerhalb der Akteure existierenden sozialen Realität ausgehen.“ (Elsik 1998, S. 298).[11]

Demgegenüber scheinen eine theoretische Argumentation und die intensive Analyse einer Fallstudie, also das Nachzeichnen und Interpretieren von komplexen Handlungsprozessen und mannigfaltigen Sichtweisen der beteiligten Akteure, der geeignete Weg zur Illustration zentraler Aspekte zu sein. Mangelnde Operationalisierbarkeit, generalisierende Aussagen und die Schwierigkeit, Hypothesen über die oft unklaren und verdeckten Spiele zu bilden,[12] haben dazu geführt, dass in dieser Arbeit keine Maßnahme der organisatorischen Veränderung im Rahmen einer empirischen Untersuchung begleitet wird. Daher wird eine Sekundäranalyse anhand eines bereits erhobenen Fallbeispiels durchgeführt (Ortmann u.a. 1990, S. 296ff.), um Antwort auf die Fragestellung zu den Zusammenhängen von Mikropolitik und organisatorischem Wandel zu erhalten. Diese Form der Inhaltsanalyse hat den Vorteil, dass sie sich auf zugängliches, wenn auch nicht verzerrungsfreies Material stützt, aber unabhängig vom guten Willen einzelner Informanten ist (Dick 1992, S. 108).

1.4 Aufbau der Arbeit

Entsprechend der Fragestellung »Welche Bedeutung hat Mikropolitik für Prozesse des organisatorischen Wandels?« ergeben sich folgende Untersuchungsschritte.

Kapitel 2 befasst sich ausführlich mit der für die Analyse notwendigen Theorie der Mikropolitik. Nach der Einordnung in den theoretischen Rahmen (Kap. 2.2) und den begrifflichen Definitionen von »Mikro« und »Politik« in Kapitel 2.3, wird die Entwicklung der mikropolitischen Konzeption dargestellt (Kap. 2.4), da sich aus ihr und der anhaltenden Diskussion um das Thema Mikropolitik (Kap. 2.5) zwei, für die Fragestellung der Arbeit wichtige, unterschiedliche Sichtweisen entwickelt haben (Kap. 2.6). Es wird der Versuch dargestellt, eine beide Richtungen vereinende Definition zu entwickeln. Anschließend folgt mit der kritischen Darstellung der Hauptaspekte der strategischen Organisationsanalyse nach Crozier/Friedberg (1979) die inhaltliche Beschreibung des mikropolitischen Entwurfs anhand der Begriffe »Macht«, »Akteur« und der diese integrierende Mechanismus »Spiel« (Kap. 2.7). In einer kritischen Auseinandersetzung wird der mikropolitische Ansatz zum Abschluss des Theorieteils zusammengefasst (Kap. 2.8).

Kapitel 3 stellt den Kern der Untersuchung dar und dient der Darstellung und Analyse eines Fallbeispiels, anhand dessen die Fragestellung bearbeitet werden soll. Zu diesem Zweck werden zwei Arbeitsthesen gebildet (Kap. 3.2).

Die Beschreibung der oftmals im Verdeckten stattfindenden Mikropolitik erfolgt unter Hinzunahme weiterer Erklärungsmuster, die Bedingungen für mikropolitisches Handeln thematisieren (Kap. 3.3): den Merkmalen für Mikropolitik nach Neuberger (1995, 2000) und dem Modell der Entscheidungsarenen von Cohen/March und Olsen (1972). Die anschließende Falldarstellung (Kap. 3.4) befasst sich mit dem Prozess der Einführung eines Personalabrechnungs- und Informationssystems in einem Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie über einen Zeitraum von 4 Jahren (Ortmann u.a. 1990, S. 296ff.). Die Analyse des Fallbeispiels befasst sich entsprechend der Fragestellung anhand der Kernelemente der strategischen Organisationsanalyse mit den Veränderungen der Machtbereiche einzelner Akteure (Kap. 3.5), den bei Veränderungsprozessen stattfindenden mikropolitischen Innovations- und Routinespielen (Kap. 3.7) und der Bildung von Koalitionen durch die Akteure zur gezielten Einflussnahme (Kap. 3.8). Kapitel 3.9 diskutiert die unterschiedlich bewerteten Auswirkungen von Mikropolitik auf Prozesse des organisatorischen Wandels, um im Zwischenfazit (Kap. 3.10) auf die Arbeitsthesen zurück zu kommen.

Im Fazit (Kap. 4) werden die Arbeitsergebnisse zusammengefasst und Antwort auf die übergeordnete Fragestellung gefunden. Aus den Ergebnissen werden Schlussfolgerungen für die organisatorische Realität und den Umgang mit Mikropolitik in Veränderungsprozessen gezogen (Kap. 4.2). Abschließend werden der Erklärungsbeitrag und die Grenzen der vorliegenden Arbeit (Kap. 4.3) diskutiert. Der Hinweis auf weiterführende Fragestellungen (Kap. 4.4) und ein Schlusswort (Kap. 4.5) beenden die Arbeit.

Abb. 3 stellt den Aufbau graphisch dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Kapitelübersicht I, eigene Darstellung.

2 Theorie der Mikropolitik

2.1 Einleitung und Aufbau: Vom struktur-funktionalistischen Verständnis zum Politikmodell der Organisation

„Die meisten Menschen werden in Organisationen geboren und in Organisationen ausgebildet, sie arbeiten in Organisationen, verbringen einen großen Teil ihrer Freizeit in Organisationen, und schließlich sterben sie in Organisationen und werden von Organisationen zu Grabe getragen. Alle diese Organisationen [...] sind zweckgerichtete soziale Gebilde. Sie verfügen über ein System von Regeln, das das Verhalten der in ihr tätigen und mit ihnen in Berührung kommenden Menschen steuert.“ (Kieser/Kubicek 1992, S. III).

Doch wie werden diese Regeln erbracht und, um es für die Fragestellung der Arbeit zu präzisieren, wie verändern sich diese Regeln in Zeiten des organisatorischen Wandels? Ein theoretischer Ansatz, der sich mit der Herausbildung sozialer Regeln des Zusammenlebens in Organisationen (und deren Rückbezug auf das Handeln) beschäftigt, ist das Konzept der Mikropolitik[13]. Die Mikropolitik ist kein einheitliches, geschlossenes Gebilde, sondern erfährt fortwährend Erweiterungen (Ortmann 1995) und ist weder in ihren Begrifflichkeiten, noch ihrer Ausrichtung unumstritten (Neuberger 1995, 1996, Gebert 1996). Nach einer kurzen theoretischen Einordnung (Kap. 2.2) wird dieses ambivalente Konzept anhand kurzer Begriffsdefinitionen (Kap. 2.3) eingerahmt, die Entwicklung (Kap. 2.4) und die Diskussion um Mikropolitik (Kap. 2.5) mit ihren jeweiligen Standpunkten nachgezeichnet (Kap. 2.6). Anschließend werden die zentralen Überlegungen des mikropolitischen Ansatzes anhand der Kernbegrifflichkeiten »Akteur« (Kap. 2.7.1), »Macht« (Kap. 2.7.2) und »Spiel« (Kap. 2.7.3) kritisch dargestellt.

Organisationen werden üblicherweise als rational konzipierte und steuerbare Systeme beschrieben (Picot u.a. 1999a u. b). Eine Reihe von Autoren richten ihr Augenmerk jedoch auf die Frage, wie Organisationen jenseits von Ablaufplänen und Organigrammen funktionieren können (Crozier/Friedberg 1979, Weick 1985, Kieser 1998).[14] Der (mikro-) politische Ansatz stellt dem funktionalen (hierarchisch plan- und steuerbaren) Organisationsverständnis eine handlungsorientierte Perspektive gegenüber, bei der Macht(kämpfe), Interessen, Konflikte, Aushandlungsprozesse und Intransparenz eine zentrale Rolle spielen.

„Das Politikmodell sieht die Organisation als Netzwerk von individuellen und kollektiven Akteuren, die jeweils subjektive oder bereichsbezogene, nicht notwendigerweise kompatible oder konsensierte Interessen verfolgen.“ (Elsik 1998, S. 27).

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Abb. 4: Hierarchische gegenüber mikropolitischer Struktur, eigene Darstellung.

Mikropolitik ist ein organisationstheoretisches Konzept, welches die Existenz unterschiedlicher Interessengruppen und deren Beziehungen zueinander in ihrer Theorie verankert. Ihren Ursprung und heutige Beachtung hat die Mikropolitik vor allem der strategischen Organisationsanalyse von Michel Crozier und Erich Friedberg 1979 (unveränderte Neuauflage 1993) zu verdanken,[15] auf die sich auch die Analyse des Fallbeispiels (Kap. 3) bezieht. Friedberg fasst den Grundgedanken der strategischen Organisationsanalyse zusammen:

„In seinen Überlegungen geht der Ansatz von der empirischen Feststellung aus, daß den Akteuren Spielräume zur Verfügung stehen, und daß sie ihr Verhalten nach Opportunitätsgesichtpunkten unter einer mehr oder weniger breit gefächerten Skala von möglichen Verhaltensweisen auswählen. [...] Ihre Rationalität und Entscheidungsfähigkeit sind vorstrukturiert durch ihre Zugehörigkeit zu [...] organisatorischen Kulturen. Ihre Handlungsfähigkeit ist andererseits eingeengt durch die materiellen und sozialen Bedingungen, die in ihrem Handlungsfeld herrschen.“ (Friedberg 1995, S. 8).

Damit wird zugleich auf das Spannungsfeld verwiesen innerhalb dessen sich der Ansatz von Crozier/Friedberg bewegt: Akteur und System – L’Acteur et le Système (so der Titel des franz. Originals von 1977)[16]. Das „essayistische, organisationssoziologisch orientierte“ (Freudenberg 1999, S. 11) Konzept der strategischen Organisationsanalyse zielt nicht auf den Entwurf einer allumfassenden Organisationstheorie, sondern auf ein neues Verständnis in der Organisationssoziologie mit Hilfe der Synthese von Akteur und System (Brentel 2000, S. 92). Organisationen sollen nicht länger als spezifisches, rationales Objekt im Sinne Webers Bürokratietheorie, sondern als das Ergebnis kollektiven Handelns verstanden werden. Macht (Kap. 2.7.2) erhält als Tauschbeziehung strategisch handelnder Akteure (Kap. 2.7.1) eine zentrale Bedeutung. Das Spiel (Kap. 2.7.3) als Modell von Handlungsspielraum und Zwangsregeln wird dabei zur Form der Kooperation der Akteure untereinander erklärt.

2.2 Einordnung in den Theorierahmen

Der mikropolitische Ansatz wird in der wissenschaftlichen Literatur sowohl von sozialwissenschaftlicher (bspw. Crozier/Friedberg 1979), als auch von betriebswirtschaftlicher Seite bearbeitet (Ortmann u.a. 1990, Schirmer 2000). Es geht dabei immer um Politik in Organisationen. Damit ist nach Elsik der Ansatz vor allem durch zwei Merkmale gekennzeichnet (1999, S. 76): Der Abwendung vom Rationalmodell der Organisation und der Fokussierung auf die Machtbeziehungen der Akteure untereinander.

„Der mikropolitische Ansatz ist einem handlungstheoretischen Paradigma verpflichtet, wonach Personen versuchen, in ihren Handlungen ihre Interessen und Absichten zu verwirklichen.“ (Spieß/Winterstein 1999, S. 88).

Damit ließe sich Mikropolitik den verhaltenswissenschaftlichen[17] Erklärungsansätzen zuordnen. Bei verhaltenswissenschaftlichen Erklärungsmodellen geht es um die Fragen: Wie verhalten sich Menschen in Organisationen und welchen Einfluss hat die Organisationsstruktur auf das Zustandekommen von Entscheidungen? Die Theorie der Verhaltenswissenschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass „[...] sie die Entscheidungsprozesse nicht als Entscheidungslogik, sondern als menschliches Entscheidungsverhalten begreift.“ (Kieser 2001, S. 133). Zusammenfassend geht es bei verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen um die Frage, wie

„[...] rationale Organisationsentscheidungen von Individuen mit begrenzter Informationsverarbeitungskapazität unter der Bedingung komplexer und veränderlicher Umwelten, d.h. unter Unsicherheit, möglich sind.“ (Kieser 2001, S. 134).

Auch Kühl ordnet die Mikropolitik der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie zu (2001b, S. 201). Hentze beschreibt die Verhaltenswissenschaft selbst als eine sozialwissenschaftliche Theorie (1994, S. 37, ebenso Staehle 1999, S. 149ff.).

Daher lässt sich die Mikropolitik auch aufgrund ihrer starken Fokussierung auf die politischen und soziologischen[18] Aspekte einer Organisation als eine sozialwissenschaftliche Theorie einordnen.[19] Verhaltenswissenschaftlich orientierte Ansätze haben für Mikropolitik insofern Relevanz, dass sie die Besonderheit der Entscheidungen von Einzelakteuren in den Mittelpunkt stellen und das Modell der rationalen Entscheidung durch das Konzept der begrenzten Rationalität (Simon/Barnard 1976) sowie das Modell der Entscheidungsarenen (Cohen/March/Olsen 1972) in Frage gestellt wird (Bogumil/Schmid 2001, S. 31). Durch den Einbezug dieser Modelle verhaltenswissenschaftlicher Ausrichtung bietet sich die Möglichkeit, bisher vernachlässigte Aspekte der Organisationswirklichkeit zu thematisieren (Freudenberg 1999, S. 11). Sie sind von großem Wert bei der Frage nach mikropolitischem Verhalten in organisatorischem Wandel (vgl. Kap. 3.4).

Ein Grundproblem jeder Organisation, mit dem sich Mikropolitik befasst, ist die mögliche Differenz zwischen den Zielen der Person und der der Organisation.

„Wie ist es möglich, daß strategisch handelnde Akteure [...] zu einem partiellen Konsens finden und stabile soziale Strukturen errichten, die zur Etablierung manifester Verhaltensweisen führen? (Emergenzproblem, Anm. d. Verf.)[...] Woraus ergibt sich die Stabilität und Eigendynamik sozialer Strukturen, die durch Interaktion strategisch handelnder Akteure entstanden sind? [...] Wie läßt sich die Bindung der Akteure an soziale Strukturen erklären, deren Zwänge ihren manifesten Interessen zuwiderlaufen?“ (Integrationsproblem, Anm. d. Verf.) (Weyer 1993, S. 3).

Weyer fordert ein Konzept, das sich der Verknüpfung und dem Aufeinanderbeziehen von Mensch und Organisation, von Akteur und System widmet. Damit wird die Relevanz des Themas für die Sozialwissenschaften deutlich.

2.3 Begriffsdefinitionen

2.3.1 Mikro

Im Gegensatz zur theoretischen Verortung herrscht bei der Definition des Begriffs Mikropolitik Einigkeit. Das Präfix Mikro verweist auf die Politik im Unternehmen im Unterschied zur Politik des Unternehmens (bspw. die Personalpolitik) (Freudenberg 1999, S. 14). Ortmann bezeichnet mit Mikro die Blickweise auf die organisatorische Innenpolitik (Ortmann 1988, S. 18.). Damit wird eine Unterscheidung politischen Handelns auf drei Ebenen getroffen: Makro-, Meso-, und Mikropolitik (Türk 1989, S. 125ff.). Diese Differenzierung geht nur zum Teil einher mit einer Dreigliederung in Gesellschaft, Organisation und Individuum, sondern meint auch eine strategische Unterscheidung (zum Folgenden Neuberger 2002, S. 684). Makropolitik ist die langfristige, am strukturellen Rahmen orientierte Gestaltung von Handlungs- und Entscheidungsprämissen durch obere Instanzen. Mesopolitik beschreibt hingegen die daran abgeleiteten Orientierungen in nachgelagerten Instanzen (also z.B. der einzelnen Organisation). Mikropolitik bedeutet dann das Agieren im kleinsten Rahmen.[20] Allerdings geht Neuberger noch einen Schritt weiter und liefert mit einer Auflistung von möglichen Wortbedeutungen für »Mikro« (von klein und unauffällig über unterschwellig, heimlich bis hin zu subversiv) bereits Nuancen für eine Auffassung des mikropolitischen Ansatzes, die letztendlich Ausdruck zweier verschiedener Ausrichtungen ist (1995, S. 14f.), auf die in Kapitel 2.6 eingegangen wird.

2.3.2 Politik - polity, policy und politics

Im angloamerikanischen Sprachgebrauch wird der Begriff Politik in dreierlei Weise benutzt: als polity (Staat, Verfassungsform, Grundordnung), als policy (die inhaltliche Ausrichtung, Treffen von Grundsatzentscheidungen) und schließlich unter dem Begriff politics als Prozess des Zustandekommens von politischen Entscheidungen.[21]

Der Bezug auf die angelsächsischen Termini ist wichtig, weil durch sie die Diskussion über Politik in Organisationen angeregt wurde und sich eine genauere Vorstellung von dem, was Mikropolitik meint, gewinnen lässt (Neuberger 1995, S. 8). Ridder u.a. setzen bspw. policy in der betriebwirtschaftlichen Literatur gleich mit dem Prozess der strategischen Zielsetzung im Unternehmen, wohingegen politics den Prozess der Durchsetzung von Zielen und die dabei auftretenden Macht- und Interessenkonflikte beschreibt (2001, S. 181). Dem entsprechen auch Bogumil/Schmid, wenn sie zur näheren Bestimmung des Begriffs Mikro politik sagen:

„Von der gängigen Dreiteilung des Begriffs der Politik in polity, politics und policy entspricht dies am ehesten dem Aspekt der politics, also dem Prozess der Interessendurchsetzung.“ (Bogumil/Schmid 2001, S. 29).

Eine wichtige Unterscheidung, die hier anhand des angelsächsischen Sprachgebrauchs getroffen wird, ist die Trennung zwischen den Inhalten einer Entscheidung (policy) und dem Zustandekommen, bzw. Durchsetzen (politics) dieser Entscheidung.

2.4 Die Entstehung der mikropolitischen Konzeption

Der erste, der den Begriff Mikropolitik verwendet hat, war 1961 Tom Burns von der Universität Edinburgh in einem Aufsatz des »Administrative Science Quarterly« (Micropolitics. Mechanisms of Institutional Change). Der Verdienst, den Begriff in Deutschland eingeführt zu haben gebührt Horst Bosetzky, der in zahlreichen Publikationen (zuerst 1972) auch mit Peter Heinrich zusammen (1980, 1994) für dessen Verbreitung gesorgt hat. Die entscheidende Entwicklung erfuhr die mikropolitische Konzeption jedoch erst durch die Arbeit zur strategischen Organisationsanalyse (Kap. 2.7) von Michel Crozier und Erhard Friedberg vom »Centre de Sociologie des Organisations« in Paris (1979, unveränderte Neuauflage 1993). Einige amerikanische Lehrbücher nahmen den Aspekt von Macht in Organisationen auf (Pfeffer 1981: Power in Organizations, Mintzberg 1983: Power in and around Organizations), doch die aktuelle Diskussion um eine mikropolitische Konzeption der Organisation begann erst, nachdem Willi Küpper und Günther Ortmann 1988 einen Sammelband herausbrachten, der eine Positionierung aller bislang zu diesem Thema verfassten Arbeiten zuließ (Mikropolitik. Rationalität, Macht u. Spiele in Organisationen). Anschließend sind vor allem die Arbeiten von Ortmann zu erwähnen, der sich kontinuierlich um den Anschluss der Strukturationstheorie von Anthony Giddens (1992) bemühte (Ortmann u.a. 1990, Ortmann 1995). Oswald Neuberger brachte 1995 schließlich ein Lehrbuch zum Thema Mikropolitik auf den Markt (Mikropolitik. Der alltägliche Aufbau und Einsatz von Macht in Organisationen). In den letzten Jahren sind zudem einige Forschungsarbeiten, die in Kap. 3 zur Analyse des Fallbeispiels herangezogen werden, erschienen, die sich in ihrer Untersuchungsfrage und Konzeption eindeutig an dem mikropolitischen Ansatz orientieren (Freudenberg 1999, Schirmer 2000, Strohm 2001). Im Folgenden wird jeweils kurz auf die einzelnen Autoren und ihr Verständnis von Mikropolitik eingegangen.

Burns war einer der ersten, der systematische Überlegungen zum Verhältnis von Politik und organisatorischen Veränderungen anstellte. Der Wandel von Organisationen wird durch politisches Handeln bewirkt (Burns 1961, S. 278). Handeln ist politisch „[…] when others are made use of as resources in competitive situations.“ (ebd., S. 257) . Burns betrachtet politisches Handeln in Organisationen unter zwei Perspektiven: als Verfolgung eigener Interessen und als Überführung sich wandelnder externer und interner Bedingungen in organisatorische Prozesse. Windeler fasst diese Gedanken Burns’ zusammen: „Politisches Handeln ist notwendig, um internen Wandel zu bewerkstelligen [...]“ (Windeler 2000, S. 66). Bosetzky hat in Deutschland den Begriff der Mikropolitik als Verfolgung eigener Interessen aufgenommen. Erst seit Mitte der achtziger Jahre wird aber, angestoßen durch die Arbeit von Küpper/Ortmann (1986, 1988), die von Burns angedachte doppelte Perspektive von politischem Handeln für ein Verständnis von Organisation und organisatorischem Wandel ausgearbeitet (z.B. Ortmann 1995).

Bosetzky definiert Mikropolitik als

„[...] die Bemühungen, die systemeigenen materiellen und menschlichen Ressourcen zur Erreichung persönlicher Ziele, insbesondere des Aufstiegs im System selbst und in anderen Systemen, zu verwenden sowie zur Sicherung und Verbesserung der eigenen Existenzbedingungen“ (Bosetzky 1972, S. 382).

Diese Definition legte den Grundstock des Typus Mikropolitiker und des später von Bosetzky[22] ausgearbeiteten, bekannt gewordenen Don-Corleone-Prinzips in der Verwaltung (1974). Dahinter steht ein mit Vorsicht zu behandelndes, machiavellistisches Menschenbild (nach Bosetzky/Heinrich 1994, S. 212): Der Akteur handelt im Verborgenen, geht Koalitionen ein und wechselt die Seiten. Sein Interesse ist die Machtvermehrung, Menschen werden instrumentalisiert zur eigenen Zielerreichung und politische Inhalte gelten lediglich als Mittel zum Zweck. Er verfügt über »geliehene Autorität«, die ihm Fremdsysteme zur Verfügung stellen (Parteien, Gewerkschaften, Verbände), er kennt die Kunst der Mobilisierung von Ressourcen und Hilfskräften und schreibt die Handlungs- und Wandlungsfähigkeit seiner eigenen Veränderungsmacht zu.

„Das einzelne Organisationsmitglied ist damit nicht mehr das berühmte Rädchen im Getriebe, das dem System wehrlos ausgeliefert ist [...].“ (Bosetzky/Heinrich 1994, S. 212).[23]

Legt man, wie Bosetzky es tut, dieses Verständnis von Mikropolitik zugrunde, tritt ein dysfunktionales Organisationsverständnis zu Tage[24] (nach Bosetzky/Heinrich 1994, 210): Eine Organisation ist eine Summe von Koalitionen mikropolitisch agierender Personen. Der Kampf aller gegen alle um die Ressourcen bestimmt das Geschehen. Rollen-, Autoritäts- und Kommunikationsstrukturen sind das Ergebnis von Machtgewinnung und der Ausübung von Koalitionen. Die Mitglieder der Organisationen und ihre Koalitionen gehen lediglich zur Machtgewinnung Tauschbeziehungen mit Fremdsystemen ein. Denn Macht ist die bedeutsamste Entscheidungsvariable und im Mittelpunkt der Handlungsorientierung steht daher die Besetzung von Schlüsselpositionen, wie z.B. das Recht zur Verteilung von Ressourcen und der Vertretung nach außen.[25] So bemängeln Küpper/Ortmann zu Recht:

„Die eigentliche Problematik [...] liegt auf einer anderen Ebene, wie sehr auch solche »machiavellistischen Charakterisierungen« geeignet sind, uns die praktische Relevanz von Mikropolitik bewußtzumachen. [...] Bosetzky interessiert sich nicht so sehr für den organisatorischen Kontext in dem sich mikropolitische Aktivitäten entfalten sollen, sowie für Rückwirkungen, die sich etwa durch Interaktionen zwischen »Mikropolitikern« für Arbeit und Kooperation ergeben. Mit anderen Worten: Zur Thematisierung des problematischen Verhältnisses »Individuum und Organisation« (bzw. Akteur und System, Anm. d. Verf.) ist seine Typologie nur zum Teil gedacht und geeignet.“ (Küpper/Ortmann 1986, S. 592).

Crozier/Friedberg (1979) liefern selbst keine Definition für Mikropolitik. Mikropolitik ist in ihrer Konzeption eher als ein wertneutral betrachtetes Phänomen einzuordnen, das im Gebrauch von Macht allgegenwärtig enthalten ist. Daher wird ihnen ein etwas „verwässertes Machtkonzept“ (Gebert 1996, S. 73) vorgeworfen. Tatsächlich haben die Gedanken von Crozier/Friedberg zur strategischen Organisationsanalyse seit ihrer Veröffentlichung kaum wesentliche theoretische Weiterentwicklungen (mit Ausnahme von Ortmann 1995) erfahren (Zundorf 1990, S. 166). Dennoch sind ihre Überlegungen vor allem seit den Publikationen von Küpper/Ortmann (1986, 1988) Grundlage für eine Vielzahl von Arbeiten geworden und bilden die Bausteine jeder mikropolitisch orientierten Analyse[26]. Der Kerngedanke in der Auffassung von Crozier/Friedberg ist im Gegensatz zu Bosetzky, dass die Nutzung informeller Praktiken, das Bilden von Koalitionen nicht als Ausnahme betrachtet wird, sondern vielmehr das ganze bestehende System einer Organisation als Ergebnis einer Abfolge informeller Praktiken und Einflussnahmen angesehen wird. Die Kernelemente der strategischen Organisationsanalyse nach Crozier/Friedberg (1979) werden in Kapitel 2.7 ausführlich dargestellt.

Der Begriff der Mikropolitik findet bei Küpper/Ortmann (1986, 1988) zunächst keine neue theoretische Konzeption, sondern wird (und das ist ihr Verdienst) erstmalig als Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Theorien und Forschungslinien verwendet, deren gemeinsames Thema die politische Dimension kollektiven Handelns in Organisationen ist (Zundorf 1990, S. 166).

„Bislang knüpften explizite Bestimmungen des Begriffs Mikropolitik mehr oder weniger am Bosetzkyschen Ansatz an bzw. leisteten diesem Vorschub. Eher mit Burns als mit Bosetzky in Verbindung zu bringen, wird bei Küpper und Ortmann (1986, 1988) mit Mikropolitik ein in Anlehnung an den Forschungsansatz der ‚strategischen Organisationsanalyse’ von Crozier/Friedberg (1979) entfaltetes theoretisches Konzept bzw. organisationstheoretischer Bezugsrahmen angesprochen.“ (Felsch, S. 18).

Außerdem ist Ortmann quasi als Antwort auf Bosetzky darum bemüht, der Verknüpfung von Mikropolitik mit einer „unpopulären Position auf der Egoismus-Altruismus-Skala“ (Ortmann 1998, S. 2) entgegenzuwirken. Dieses Bestreben

„[...] schützt vor dem in Theorie und Praxis allzu häufig anzutreffenden Vorurteil, Widerstand gegen organisatorischen Wandel speise sich aus nichts als der Sorge um jenes selbstsüchtige Interesse der Beteiligten. [...] Eine mikropolitische Organisationsanalyse interpretiert ‚resistance to change’ statt dessen als meist ziemlich rationalen Rekurs der Akteure auf die organisationalen Strukturen, Regeln und Ressourcenverteilungen, unter denen sie handeln müssen.“ (ebd., S. 2).[27]

Damit lässt sich das mikropolitische Verständnis von Küpper/Ortmann noch einmal zusammenfassen:

„Mikropolitik – das meint gerade nicht, daß sich die Perspektive auf einen innerorganisationalen Kleinkrieg von Machiavellisten à la Bosetzky richtet, sondern daß es um eine mikroskopische Analyse der wechselseitigen Konstitution von organisationalem Handeln und (Organisations-) Strukturen geht.“ (Ortmann 1995, S. 48).

Laut Neuberger ist Mikropolitik „[...] der alltägliche Gebrauch von Macht, um organisationale Ordnungen im eigenen Interesse zu gestalten.“ (Neuberger 1996, S. 66). Neuberger versteht unter Mikropolitik eine spezifische Betrachtungsweise politischen Verhaltens in Organisationen, mit dem Ziel der Strukturierung von Handeln. Und doch fällt er in seiner Definition auf eine Begrifflichkeit nach Bosetzky zurück. Denn an anderer Stelle definiert er Mikropolitik als

„[...] das Arsenal jener alltäglichen, kleinen (Mikro-) Techniken [...] mit denen Macht aufgebaut und eingesetzt wird, um den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern und sich fremder Kontrolle zu entziehen.“ (Neuberger 1995, S. 14).

So erfährt auch der politics Begriff bei ihm eine Verschiebung hin zu einer Definition als das

„[...] scheinbare Durcheinander, das die Akteure vorfinden, produzieren und nutzen, um innerhalb der Vor-Bestimmungen von Makro- und Mesopolitik ihre subjektiven Interessen zu verfolgen.“ (Neuberger 2002, S. 685).[28]

An den verschiedenen Definitionen kommt vor allem zum Ausdruck, welche Einstellung der jeweilige Autor zur Mikropolitik hat (Kieser 1998, S. 201). Daraus hat sich eine Debatte entwickelt, deren Wurzeln in den unterschiedlichen Definitionen dieses Kapitels abzulesen sind. Es werden nun die Hauptlinien dieser Diskussion nachvollzogen, weil diese letztendlich in zwei für den Fortgang der Arbeit wichtigen unterschiedlichen Verständnissen und Perspektiven von Mikropolitik münden: dem akteurszentrierten und dem strukturellen Verständnis (Kap. 2.6).

2.5 Die Debatte um Mikropolitik

Der von Burns (1961) verwendete Terminus Mikropolitik erfährt in der Übertragung von Bosetzky (1972, 1974) eine Veränderung, indem dieser eine verhaltenswissenschaftliche Kategorie daraus macht. Mikropolitik wird bei Bosetzky zu einer auf Sozialisation beruhenden Verhaltensdisposition. Einen anderen, auf das Entstehen und Rückwirken von Strukturen konzentrierten Ansatz verfolgen hingegen Crozier/Friedberg (1979), die Organisationen als Ergebnis von ineinander verzahnten Spielen autonom handelnder Akteure sehen. Neuberger (1995) versucht mit einer ausführlichen Typologie mikropolitischer Spiele beide Ansätze zu vereinen, bleibt jedoch inhaltlich einer akteursbezogenen machiavellistischen Perspektive ähnlich der Bosetzkys verhaftet und behandelt lediglich Spiele in Organisationen, nicht aber Organisationen als Spielergebnis (Stapel 2001, S. 16, Elsik 1998, S. 36).

Ortmann thematisiert Mikropolitik hingegen explizit in Anlehnung an Crozier/Friedberg (1979) als Macht-Spiel. Die zentrale Stellung des Begriffs Spiel bringt bzgl. seiner Definition einige Probleme mit sich (Kap. 2.7.3). Daher versucht Ortmann unter Einbezug von Giddens (1992), die Dualität von Struktur und Handeln näher zu erfassen (Ortmann u.a. 1990, Ortmann 1995).[29] Zur Wirkung einer mikropolitischen Variante unter Einschluss strukturationstheoretischer Aspekte lässt sich festhalten: Ortmann versucht die Mikropolitik zu einer Gesellschaftstheorie[30] zu entwickeln. Der mikropolitische Ansatz erfährt nach Stapel durch diesen Anspruch jedoch eine Überhöhung und Mutation (2001, S. 14). Braczyk hingegen sieht in der Aufnahme von Giddens Theoriestrang eine willkommene Weiterführung der Anstöße von Crozier/Friedberg (1979) sowie dem von Weltz und Lullies (1983)[31] und entdeckt darin wichtige Potentiale für die Umsetzung eines Modernisierungsdrucks, dem die Industriesoziologie ausgesetzt ist (Braczyk 1997, S. 530ff.).

In der Zeitschrift für Organisationsentwicklung wurde in den Jahren 1996/1997 eine angeregte Debatte zwischen Neuberger (1996) und Gebert (1996) um den Begriff der Mikropolitik geführt. Letztendlich entfaltete sich eine Wertediskussion auf der akteursspezifischen Ebene (vgl. Kap. 2.6.1). Es lassen sich folgende Grundpositionen ausmachen: die mikropolitisch durchwobene Organisation (Neuberger) contra die Vertrauensorganisation (Gebert). Neuberger sieht Macht als den zentralen Begriff politischen Handelns und weist darauf hin, dass dies zu Missverständnissen in der Akzentuierung führen kann (1996, S. 66ff.). Dunkles Treiben und mafiöse Machenschaften dürfen nicht im Vordergrund einer Betrachtung stehen. Nur weil es den Missbrauch politischen Handelns gibt, ist deswegen nicht jedes auf Macht beruhende Handeln suspekt, denn Macht ist nicht unbedingt negativ, sondern kann genauso gut positiv angesehen und genutzt werden (Neuberger 1996, S. 67). Wenn Gebert die positive Seite der Mikropolitik vermisst, liegt das an seiner Betrachtungsweise. Gebert hingegen fasst Neubergers Arbeiten zum Thema Mikropolitik zusammen mit der Feststellung, dass Mikropolitik unausweichlich und überall vorhanden ist (Gebert 1996, S. 72). Dieses Weltbild gleicht einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung und verhindert eine Vertrauensorganisation im Sinne der Ziele der in der humanistischen Psychologie verwurzelten Organisationsentwicklung (Fittkau 1997, S. 69). Wenn man jedoch, so die Gegenseite, lediglich die durch Trivialliteratur[32] bekannten Phänomene der Mikropolitik betrachtet und dazu nur die These von Crozier/Friedberg, die Macht als Medium des sozialen Handeln sehen, lässt das eine Kombination zu, durch die man sich ständig und überall von Mikropolitik bedroht fühlen muss. Neuberger fasst die Problematik dieses Universalitätsvorwurfes im Jahr 2002 noch einmal zusammen:

„Wenn alles unter Mikropolitikverdacht gestellt wird, fällt der Begriff ’Mikropolitik’ zusammen mit dem Begriff Handeln und es gibt keinen Differenzbegriff mehr.“ (Neuberger 2002, S. 687).

Gebert hingegen wirft Neuberger die Rolle eines Verwirrers vor, in der Annahme, dass wer Neuberger liest, anfängt mikropolitisch-negativ zu handeln, wohingegen Neuberger für eine ethische Analyse[33] politischen Handelns plädiert (1996, S. 70). Damit entfernt sich Neuberger von Bosetzky, der nur machiavellistische Bestrebungen als Politik in Organisationen identifiziert. Doch es ist nicht alles, nicht jedes Handeln in Organisationen Politik.

Blickle schlägt vor, zu trennen zwischen der Politik im Unternehmen (natürliche Prozesse der Interessenverfolgung) und Mikropolitik als den illegitimen Teil dieser Politik (z.B. Mobbing und anderen machiavellistische Taktiken) (1997 S. 64). Denn es finden sich in Organisationen sowohl vertrauensvolle Bereiche, als auch mikropolitische »Minenfelder«. Aber auch dieser Gedanke verfehlt, wie die ganze Diskussion, die Intention von Crozier/Friedberg (1979), die strukturschaffenden Aspekte von Mikropolitik herauszuarbeiten.

2.6 Zwei Betrachtungsweisen von Mikropolitik

„Die aktuelle wissenschaftliche Diskussion zum Thema Mikropolitik spiegelt unterschiedliche Interpretationen des Begriffs wieder, die bereits bei diesen Autoren (Burns, Bosetzky, Anm. d. V.) angelegt sind: daß Organisationsmitglieder eigene Interessen verfolgen – so der gemeinsame Ausgangspunkt – wird von Bosetzky vor allem in Verbindung mit einer spezifischen Persönlichkeits- oder Verhaltensstruktur des Menschen, bei Burns dagegen aus einer organisationstheoretischen Sicht thematisiert und problematisiert.“ (Felsch 1996, S. 17)[34]

Bereits durch die verschiedenen Definitionen und spätestens durch die oben dargestellte Debatte wurden deutlich zwei unterscheidbare Auffassungen von Mikropolitik erkennbar, auf die im Folgenden, da sie eine für die weitere Untersuchung grundlegende Unterscheidung treffen, aufmerksam gemacht wird.

2.6.1 Akteurszentriertes Verständnis

„Trotz mehr oder weniger großer Unterschiede haben alle Definitionen von Mikropolitik eines gemein: Sie gehen [...] von der Existenz individueller Interessen und Ziele aus und stellen deren handlungstreibende Kraft in Rechnung [...].“ (Dick 1992, S. 9).

Auf Grundlage der Betonung eines aktiv handelnden, nach Macht strebenden Akteurs ergibt sich ein akteurszentrierter mikropolitischer Ansatz, in dessen Mittelpunkt der Machiavellist Bosetzkyscher Färbung steht:

„Er läßt sich nicht von seinen Vorgesetzten herumstoßen und wartet nicht ängstlich, was nun wieder auf ihn zukommen wird, sondern er geht Koalitionen mit internen wie externen Machtgruppen ein, arbeitet für sie, zahlt Beiträge und vertritt ihre Standpunkte, um dafür ihre Unterstützung bei der Lösung existenzieller Probleme zu genießen.“ (Bosetzky/Heinrich 1994, S. 169).

Dem Akteur steht zur Durchsetzung seiner Politik gegen andere Akteure ein reiches Arsenal von Taktiken und Manövern zur Verfügung. Neuberger (1999) ordnet auch Mobbing als eine machtpolitische Taktik ein[35] und auch Dick bezeichnet diese unterschwellige politische Feinstruktur als Mikropolitik (1992, S. 6).

Aber damit wird lediglich ein Aspekt der mikropolitischen Konzeption gekennzeichnet, was von Felsch als „aspektuales Verständnis“ (Felsch 1996, S. 18ff.) bezeichnet wird. Zur besseren Unterscheidung vom strukturorientierten Ansatz (Kap. 2.6.2) ließe sich auch der Begriff »akteurszentriert« verwenden. Dick schlägt eine Aufspaltung des akteurszentrierten (sie nennt es »interaktionalen«) Ansatzes vor (1992, S. 116f.). Zum Einen in einen wertfreien Bereich, in dem es lediglich um die richtige Nutzung von Ressourcen geht und zum Anderen in einen Bereich, der die schlechte, unfaire, negativ zu bewertende Mikropolitik, eigennützige Strategien usw. umfasst.[36] Damit nimmt sie bereits einen Aspekt der Diskussion zwischen Neuberger (1996) und Gebert (1996) vorweg, aber auch sie unterlässt es, zur Umsetzung dieser Aufteilung in der Praxis eine Anleitung zu geben.

Eine, im Rahmen einer empirischen Analyse zu klärende Frage wäre daher, wie viel Einfluss dieser »unethischen« Mikropolitik wirklich beikommt und inwiefern durch strukturelle Rahmenbedingungen ein erheblicher Teil davon abgeschwächt wird. Nicht zuletzt kann der Akteur Machtbasen innerhalb einer Organisation nur dann langfristig besetzt halten, wenn seine Ziele mit denen der Organisation überein stimmen.[37]

Die akteurszentrierte Betrachtung von Mikropolitik vermag keine Erklärung zu liefern, wie die Akteure in der Lage sind, ihr Zusammenleben in der Organisation zu gestalten. Diese Sichtweise ist stark handlungsorientiert, verleiht dem einzelnen Akteur viel Bedeutung und vernachlässigt die Bedeutung struktureller Arrangements (Baethge/Oberbeck 1986, S. 423f., Ortmann u.a. 1990, S. 593, Elsik 1998, S. 13). Daher kann auf die sozialwissenschaftliche Frage nach der Interdependenz von Handlung und Struktur in diesem Rahmen keine Antwort gefunden werden. Es braucht eine Betrachtungsweise, die es erlaubt, Mikropolitik als organisationstheoretisches Konzept erfassen zu können, wie dies im strukturellen Verständnis versucht wird.

[...]


[1] Unter Organisationsentwicklung (OE) wird ein geplanter, gelenkter und systematischer Prozess verstanden, der zur Veränderung von Verhaltensweisen und Strukturen einer Organisation beitragen soll, mit dem Ziel erhöhter Produktivität und Lebensqualität (Spieß/Winterstein 1999, S. 157).

[2] Dieses Beispiel von Beschreibungen erfolgreicher Projekte verwundert nicht, wenn man die Koautoren betrachtet: u.a. Andreas Schwilling (Roland Berger & Partner), Stefan Brand (Boston Consulting Group), Friedrich Bock (Arthur D.Little).

[3] Kühl weist darauf hin, dass empirische Studien bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Diskrepanz zwischen den Blaupausen der Organisationen und den realen Arbeitsabläufen angedeutet haben (2001b, S. 210).

[4] In der Definition von Neuberger: „Jemand spielt einem übel mit und man spielt wohl oder übel mit.“ (Neuberger 1999, S. 18), weitere Definitionen finden sich bei Leymann (1993).

[5] Simon (2001) stellt in seiner „Radikalen Marktwirtschaft“ sogar die Theorie auf, dass Organisationen nur über den »inneren Kaufmann« der Akteure funktionieren, der in jeder Situation neu den eigenen Nutzen abwägt und somit die Interaktionen als Geben und Nehmen kalkuliert, was Vorhersehbarkeiten extrem erschwert.

[6] Zur Illusion vom allmächtigen Organisationsgestalter vgl. Dick (1992, S. 17ff.).

[7] Besonders diese Generalisierungstendenz und der Verzicht auf die sorgfältige Analyse des Faktors Macht erschwert einen nüchternen Umgang damit. „Die OE ist [...] ein umfassendes Bündel an Wertevorstellungen und Normen, die offenbar in gewissem Widerspruch zum Machtkonzept stehen. Die Nicht-Thematisierung dieser Variable ist also verständlich; es fragt sich nur, ob diese Nicht-Thematisierung der Realität von OE gerecht wird.“ (Gebert 1974, S. 113). Kritische Auseinandersetzung zum Thema Macht und Organisationsentwicklung finden sich auch bei Glasl (1983) und Preston/DuToit (1992).

[8] Den wahrscheinlich ersten politischen Ratgeber verfasste in der Tat Niccolò Machiavelli 1513 für die Medici. Allerdings nicht unbedingt zu seinem Vorteil, stand doch sein Nachnahme Pate für den Machiavellismus, der eine, sich über alle moralischen und sittlichen Bedenken hinwegsetzende Interessenpolitik bezeichnet.

[9] Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, den Stellenwert des Machtbegriffs und seine Bedeutung, etwa als Äquivalent zum Rationalitätsbegriff im Rahmen der Organisationstheorie zu diskutieren. Vgl. dafür ausführlich Türk (1989, S. 49ff.).

[10] „Diese erschließen sich ihm (dem Untersucher, Anm. d. V.) vollständig erst dann, wenn er selbst miterlebt, nach welchen Regeln in einem sozialen System gehandelt wird, welche Interessen mit diesen Regeln verbunden sind und wie auf Versuche reagiert wird, bestehende Regeln zu verändern“ (Springer 1999, S. 43).

[11] Nach Pfeffer ist es nahezu unmöglich „[...] Machtpotentiale quantitativ zu erfassen, da dafür Voraussetzung wäre, daß die Akteure überhaupt ein Bewusstsein über den Stellenwert von Machtbeziehungen im organisatorischen Entscheidungsprozeß entwickelt haben.“ (Hanft 1995, S. 13 in Anlehnung an Pfeffer 1981, S. 55).

[12] Die Schwierigkeiten im Umgang mit mikropolitisch ausgerichteter Empirie werden beschrieben bei Küpper/Ortmann (1986, S. 597ff.), Ortmann u.a. (1990, S. 57), Neuberger (1995, S. 216, 2002, S. 689), (Dick 1992, S. 5), Hoering/Kühl/Schulze-Fielitz (2001).

[13] Burns (1961), Bosetzky (1972, 1974), Crozier/Friedberg (1979), Küpper/Ortmann (1988), Ortmann u.a. (1990), Neuberger (1995)

[14] Weick, der einen evolutionstheoretischen Ansatz verfolgt, ist insofern anschlussfähig an Crozier/Friedberg (1979), als dass auch er den Fokus auf das Zustandekommen eines Konsens über den Aufbau von Regeln durch soziale Prozesse legt (1985, S. 12, 71).

[15] Für den deutschen Sprachraum sind dies vor allem Bosetzky (1972, 1974), Küpper/Ortmann (1988), Ortmann u.a. (1990).

[16] Ortmann/Sydow/Türk weisen auf eine fundamentale Zweideutigkeit des Organisationsbegriffes hin (1997, S. 315), was Crozier/Friedberg durch ihr Begriffsdoppel Akteur und System bereits andeuten: Gemeint sein kann der Prozess des Organisierens (Weick 1985) oder aber dessen Resultat, die Organisiertheit sozialen Handelns. Stärker hervorgehoben als Crozier/Friedberg hat diese Dualität Giddens (1992) mit dem Begriff »Strukturation« (die Doppeldeutigkeit von Erzeugen und Erzeugnis). Der Ansatz von Giddens wurde von Ortmann in zahlreichen Veröffentlichungen (zusammenfassend 1995), mit der mikropolitischen Konzeption verknüpft. Eine kritische Auseinandersetzung dazu findet sich bei Stapel (2001) im Rahmen einer Dissertation.

[17] Eine prägnante Zusammenfassung einiger der Verhaltenswissenschaft zugrundliegenden Gedanken, die an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden können, findet sich in Bogumil/Schmid (2001, S. 33ff.). Auf einen zentralen Aspekt der Verhaltenswissenschaft, das Modell der Entscheidungsarenen (Garbage Can) von Cohen/March/Olsen (1972) wird in Kap.3.3.2 eingegangen.

[18] Zumal ja gerade in der Industriesoziologie, in die die Mikropolitik nach Lauschke/Welskopp (1994, S. 11) inzwischen Einzug gefunden hat, die Thematisierung von Macht verfolgt wird (Ortmann 1995, S. 47).

[19] Obgleich eine Weiterentwicklung der Mikropolitik unter Einbezug einer psychologischen Komponente, bspw. durch das Spielkonzept der Transaktionsanalyse (Berne 1986), noch aussteht.

[20] Glasl übernimmt diese Dreiteilung für den Bereich der Konfliktforschung und bezeichnet mit Mikropolitik Konflikte, die sich zwischen Einzelpersonen oder kleinen Gruppen abspielen (1999, S. 62ff.).

[21] Eine Synopse verschiedener Übersetzungen findet sich bei Neuberger (1995, S. 8ff.).

[22] Bosetzky ist auch Autor einer Reihe »soziologischer« Kriminalromane: „Das Wandern ist des Mörders Lust“(2004), „Zu einem Mord gehören zwei“ (1971).

[23] „Bosetzky führt Mikropolitik auf eine spezifische Verhaltensdisposition als Folge einer durch Sozialisationsprozesse geprägten Motivationsstruktur von Menschen zurück.“ (Ortmann 1988, S. 19).

[24] In diesem Sinne berichtet die Hannoversche Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 08.04.2004 von einem Forschungsprojekt am Massachusetts Institute for Technology bei dem es darum geht, mit Hilfe informationstechnologischer Medien (in anderen Worten. Überwachung) in einer Organisation herauszubekommen, „wer mit wem gut kann“ (ebd., S. 12), um möglicherweise Umbesetzungen in Teams vorzunehmen.

[25] Der letztgenannte Punkt findet sich stärker ausgearbeitet bei Crozier/Friedberg als Machtquelle wieder (1979, S. 39ff.).

[26] In der 1994er Ausgabe von »Mensch und Organisation« referiert Bosetzky inzwischen auch den Crozier/Friedbergschen Ansatz, weil, so Bosetzky, die Veröffentlichung von Küpper/Ortmann 1988 zeigt, dass „[...] eine Vertiefung bzw. ,theoretische Überhöhung’ durch das Referieren vor allem der Arbeiten von Crozier/Friedberg [...] geboten erscheint.“ (Bosetzky/Heinrich 1994, S. 212). Doch auf die weiterreichenden, strukturellen Funktionen mikropolitischer Spiele geht Bosetzky nicht ein.

[27] Braczyk hält fest, dass bei Ortmann Organisationen Medium und Ergebnis sozialen Handelns sind und er mit seiner Mikropolitik versucht, „die Sonde aufs Innere der Organisation“ anzusetzen (Braczyk 1996, S. 295).

[28] Weitere ausführliche Kritik zu Neuberger findet sich bei Türk (1989, S. 128f.).

[29] Die Beschränkung auf eine Fragestellung im Rahmen einer Diplomarbeit, lässt es nicht zu, diesen Ansatz auch zu referieren. Daher wird an dieser Stelle auf die ausführliche und gut zugängliche Literatur verwiesen. Ein Überblicksartikel dazu findet sich bei Ortmann/Sydow/Türk (1997). Die Zusammenfassung Ortmanns bisheriger Bemühungen stellt das Buch »Formen der Produktion« (Ortmann 1995) dar. Eine sehr kritische Auseinandersetzung im Rahmen einer Dissertation gibt es dazu von Wolfgang Stapel (2001), erschienen in den Soziologischen Schriften.

[30] Letztendlich mit dem Anspruch der „Rückkehr der Gesellschaft in die Organisationstheorie“ (Ortmann/Sydow/Türk 1997).

[31] Weltz und Lullies (1983, 1984) haben, ohne explizit auf die Konzeption von Crozier/Friedberg zurückzugreifen, eine ähnliche, analytische Sichtweise für Organisationen entwickelt: Das Konzept der innerbetrieblichen Handlungskonstellation. Allerdings zielt ihr Entwurf nicht darauf ab, eine Erklärung für kollektives Handeln zu liefern, sondern befasst sich vorrangig mit jenen Größen, die Handlung und Entscheidung beeinflussen.

[32] Kieser weist auf diesen Auswuchs der mikropolitischen Forschung hin: Die hohe Zahl an Anleitungen, Leitfäden und sonstigen Blüten populärwissenschaftlicher Literatur, geschrieben als Hilfen für Menschen, die merken, dass mit Ihnen »gespielt wird« und die nun ebenfalls die kleine, verbotene Politik betreiben wollen (1998, S. 199f.).

[33] Vgl. dazu die Arbeit von Cavanagh u.a., die auf die Frage der Bewertung politischen Handelns eingehen und versuchen auf Basis der Philosophien Ricardos, Smith’, Kants, Lockes und Aristoteles’ einen Entscheidungsbaum aufzustellen, der ein Modell für ethische Analysen von politischem Handeln bilden soll (1981., S. 363ff.).

[34] Vgl. dazu Küpper/Ortmann (1986, S. 591f.), Ortmann (1992, S. 18f.), Ortmann u.a. (1990, S. 54ff.).

[35] „Beim mikropolitischen Ansatz stehen nicht etwa die Realisierung von (gemeinsamen) Sachzielen oder vertrauensvolle Kooperation im Mittelpunkt, sondern Aufbau und Einsatz von Macht, um eigene Interessen durchzusetzen.“ (Neuberger 1999, S. 190).

[36] Freudenberg sieht in der pejorativen (abwertenden) Konnotation des Persönlichkeitstyps Mikropolitiker unerwünschte Konsequenzen: „Zum einen drohen empirische Untersuchungen durch sozial erwünschtes Antwortverhalten stark verzerrt zu werden. [...] Zum anderen werden Bemühungen um das Verstehen mikropolitischer Vorgänge nicht selten verdrängt durch Fragen der moralischen Bewertung ebendieses Verhaltens.“ (Freudenberg 1999, S. 15).

[37] Dazu passt die Feststellung von Regnet, die im Rahmen einer Befragung unter Führungskräften herausfand, dass Macht nicht als Ursache von Konflikten angesehen wird, sondern als deren Voraussetzung (1992, S. 180).

Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
Mikropolitik in organisatorischem Wandel
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
99
Katalognummer
V28882
ISBN (eBook)
9783638305372
ISBN (Buch)
9783640318988
Dateigröße
1055 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Insgesamt liegt hiermit eine weit überdurchschnittliche Arbeit vor, die über die Rekonstruktion der mikropolitischen Erklärungsansätze hinaus Anregungen für deren Anwendung auf organisatorischen Wandel gibt. (Bewertung im Erstgutachten).
Schlagworte
Mikropolitik, Wandel
Arbeit zitieren
Dr. Daniel Wrede (Autor:in), 2004, Mikropolitik in organisatorischem Wandel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28882

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