Vorlesungsmitschrift zu Modellen und Paradigmen der Rehabilitationspädagogik


Skript, 2015

22 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Fragestellungen zur Vorlesung
1.1 Definitionen von Behinderungen und deren Reichweite und Grenzen
1.2 Bildungsoptimistische und ordnungsorientierte Wurzeln der Aufklärung und deren Auswirkungen auf die entstehende Heilpädagogik
1.3 Grundlagen des Sensualismus und Vorgehensweisen am Beispiel Itard´s
1.4 Einfluss der gesellschaftlichen Bedingungen auf die Transformation von Bildungseinrichtungen zu Verwahreinrichtungen im 19. Jahrhundert
1.5 Gesellschaftlichen Funktionen der Hilfsschule
1.6 Einfluss der Anstaltsentwicklungen Ende des 19. Jahrhunderts auf das Euthanasieprogramm im Nationalsozialismus
1.7 (In)direkte Beteiligung der Heilpädagogik an den Sterilisationsmaßnahmen und dem Euthanasieprogramm während der NS-Zeit
1.8 Hürden und Hemmnisse der Inklusion in Deutschland
1.9 Gesellschaftlichen Veränderungen als Grundlage des Paradigmenwechsel im Behindertenbetreuungssystem

Literaturverzeichnis

1. Fragestellungen zur Vorlesung

1.1 Definitionen von Behinderungen, deren Reichweite und Grenzen am Beispiel ICF

Eine einheitliche Definition der Behinderung ist in der Literatur nicht vorhanden. Kon- zepte und Begrifflichkeiten der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen unter- scheiden sich stark voneinander. Unterschiedliche Zielsetzungen der benötigten Kon- zepte der Behinderung führen somit zu einer großen Variation der Begriffe und ihrer Bedeutung.

Die Klassifikation ICF, als eine mögliche Definition der Behinderung nach WHO, orientiert sich an dem Konzept der Funktionalen Gesundheit. Der Mensch wird als biopsycho-soziales Wesen gesehen. Dementsprechend stellt das Konzept ein komplexes Wechselwirkungsmodell dar. Sechs zentrale Elemente und ihrem Zusammenwirken dienen hierfür als Grundlage (WHO, 2010).

- Selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe und Teilnahme einer Person an Gesellschaft und Umwelt (Partizipation)
- Individuelle und kompetente Handlungen eines Menschen (Aktivitäten), die zur Teil- habe und Teilnahme notwendig sind
- Körper einer Person (Körperstrukturen, Körperfunktionen)
- Persönlichkeit (personbezogene Faktoren)
- Alle externen Gegebenheiten (Umweltfaktoren)
- Mögliche Gesundheitsprobleme Quelle: WHO 2001

Die Vorteile dieser Definition liegt aus Sicht des Verfassers in der größeren Reichweite gegenüber anderen Konzepten. Ausgangspunkt ist bei der ICF eine Rechte-Perspektive für Menschen mit Behinderung. Professionsgrenzen werden überwunden und somit eine interdisziplinäre Verständigung ermöglicht. Durch die Abbildung der Wechselwirkungen unterschiedlichster Einflussfaktoren und die Integration aller (derzeitig bekannter) maßgeblicher Einflussfaktoren auf ei Behinderung ermöglicht dieses Konzept eine Operationalisierung und internationale Vergleichbarkeit (Kulig,Theunissen & Wüllenweber, 2006).

Positiv am Konzept der WHO ist hervorzuheben, dass der zentrale Ansatzpunkt das Partizipationskonzept darstellt. Geschuldet ist diese Fokussierung der Tatsache, dass das Behinderungsproblem in Deutschland und anderen Ländern mit einem hoch entwickelten Gesundheitssystem sowie hohen Hygiene- und Ernährungsstandards in erster Linie ein soziales Exklusionsproblem darstellt. (Schuntermann, 1999). Damit wird nachhaltig anerkannt, dass die erschwerte Partizipation am Leben der Gesellschaft die eigentliche Behinderung (Metzler & Wacker, 2001) darstellt und zum zentralen Ansatzpunkt der rehabilitativen Hilfen werden muss.

Bei kritischer Betrachtung der ICF liegen seine Grenzen in der teilweise unklaren Beschreibung der Situation eines Menschen mit Behinderung. Einschränkungen oder Problemen, die aus dem Gesundheitsproblem und seinen Wechselwirkungen mit den Kontextfaktoren herausgeht, werden nicht genauer definiert. In Deutschland ist der Behinderungsbegriff des ICF der Definition des SGB XI nachgestellt. Im SGB XI jedoch werden Umweltfaktoren nicht berücksichtigt. Dadurch wird die große Potenz der ICF, die Bedeutung von Umweltfaktoren und sozialen Beziehungen auf den Behinderungsbegriff, eingeschränkt (Meyer, 2004).

In der praktischen Umsetzung fällt auf, dass Tätigkeiten und Formen der Partizipation nur teilweise in Codes zur funktionalen Diagnostik übersetzt sind, die für die Praxis der Behindertenhilfe nur wenig Relevanz haben. Die Zuordnung der verschiedenen Codie- rungen zu den unterschiedlichen Themenbereichen ist nicht überall nachvollziehbar. Viele der bisher erarbeiteten Codes liefern zu wenig genaue Informationen oder sind zu eng formuliert, was die Codierung erschwert oder zum Teil auch verhindert (Meyer, 2004).

Abschließend lässt sich die ICF als ein Klassifizierungsinstrument beschreiben, dass dazu dient regionale, nationale und international vergleichbare Daten zu Phänomenen Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit zu liefern. Es eignet sich vor allen, um differenzierte Körperstrukturen und -funktionen zu erfassen, gibt aber kaum Möglichkeiten als Prozessgestaltungssystem eingesetzt zu werden. Als Gestaltungsgrundlage zur Entwicklungs-und Förderplanung im Focus der personenbezogenen Faktoren bedarf es aus Sicht des Verfassers noch weiterer Überarbeitungen.

1.2 Bildungsoptimistische und ordnungsorientierte Wurzeln der Aufklärung und deren Auswirkungen auf die entstehende Heilpädagogik

Bis zum 18. Jahrhundert war befand sich die Gesellschaft in der (Vor)Aufklärung. In dieser Zeit herrschte ein stark religiös geprägtes Bildungsverständnis. August Herman Francke beschrieb den Hauptzweck der Erziehung als die Beförderung der Ehre Gottes. Zu erreichen sei dies durch Gemütspflege, die sich auf Verstand und Willen des Kindes richten und vor allem den natürlichen Eigenwillen, das durch die Erbsünde gegebene Böse im Menschen, brechen müsse. (Schmid. 1997)

„ ...das Werk der Erziehung ... (geht) ü ber alle Kr ä fte des nat ü rlichen Menschen “ ... und muss deshalb „ durch den Geist Gottes gef ü hrt wer den “ (Francke. 1702)

Im auslaufenden 17. Jahrhundert, war überwiegend eine Agrargesellschaft zu finden. In Deutschland lebten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vier Fünftel der Bevölkerung auf dem Land, der größte Teil in Armut. Verarmung breiter ländlicher und städtischer Unterschichten und zunehmende Versorgungskrisen infolge von Kriegen, Missernten, Bevölkerungswachstum, Geldentwertung machen diese Epoche zum zentralen gesellschaftspolitischen Problem der Zeit, am augenfälligsten in der Zunahme von Bettlern und Vaganten. (Harney & Krüger. 1997).

Mit beginnender wirtschaftlicher Entwicklung im 18. Jahrhundert wurde der Mensch dazu aufgerufen sich des eigenen Verstandes zu bedienen, um somit seine eigenen Lebensprobleme lösen zu können. Dieser Aufruf war der Beginn eines Aufklärungs- und damit verbundenen Demokratisierungsprozesses, der den Bürger mit Bildung zu gebildeteren und unabhängigeren Menschen zu machen. Hierdurch wurden gesell- schaftliche Veränderungen vorangetrieben, die dazu dienten sich von Kirche und Adel abzugrenzen. Durch die Schaffung von gesellschaftlichen Plattformen, wie Beispiels- weise Lesegesellschaften, Logen und Sozietäten, entstanden Beziehungsgeflechte wurde Bildung immer bedeutsamer.

Der wohl populärste seiner Zeit, Immanuel Kant antwortete auf die Frage, was Aufklä- rung für ihn sei mit den Worten „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1968), womit zugleich revolutionäre Gedan- ken in der Pädagogik assoziiert werden, denn die Erziehung liegt nun in der Hand des Menschen. (Höffe 2007).

Kant, Leibniz und Rousseau hatten sich zur Aufgabe gestellt den Menschen zu sittli- chen Wesen zu machen, die ihre Gesellschaft mitgestalten sollten. Bildung wurde als Recht allen zugänglich sein und als Pflicht die Gesellschaft und sich selbst zu verbes- sern verstanden. Der Mensch sollte sich vom „Wilden“ zum „Zivilisierten“ entwickeln.

Es entstand eine neue Sichtweise des Menschenbildes, was auch als Perfektibilität bezeichnet wurde. Diese Aufgabe machte es notwendig zu untersuchen, was der Mensch von Natur aus ist und was ihn zu einem „normalen“ Menschen macht.[1] Hier war es der Drang nach Einteilung , die erste Klassifizierungen der Menschen aufzeigte. Neben verschiedenen Rassen, wurden auch Behinderungen als Merkmal zur Abgrenzung von normalen Menschen herangezogen. Hier waren es Kataloge von Abartigkeiten, die verschiedene Behinderungen darstellten.

Im damaligen Verständnis war die Pädagogik nur den „Normalen“ vorbehalten. Allerdings entwickelte sich parallel der Anspruch durch Behinderung benachteiligte Menschen zu bilden und zu erziehen. Durch experimentelle Forschung (Vgl. 1.3) an behinderten Bürgern wurde ein Grundstein für die heutige Heilpädagogik gelegt.

Abschließend kann festgestellt werden, dass sowohl der Beginn der Aufklärung als auch das Bedürfnis nach Ordnung der Menschen die Wurzeln der heutigen Heilpädagogik darstellen.

1.3 Grundlagen des Sensualismus und Vorgehensweisen am Beispiel Itard´s der Wilde von Avignon

„Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu“ (John Lockes)

Diese These stellt die Grundannahme des Sensualismus, als eine besondere Form des Empirismus dar. Als eine erkenntnistheoretische Richtung der Philosophie werden alle Erkenntnisse auf Sinneswahrnehmungen und letztendlich auf die Empfindung phy- siologischer Reize zurückgeführt. Somit wird die Frage nach dem Anfang der Erkennt- nis mit ausschließlich sinnlichen Reizen ohne begriffliche Hilfsmittel verabsolutiert (Brockhaus. 1993).

John Locke, als Begründer des theoretischen Sensualismus untersuchte in seinen Werken eine Vielzahl pragmatischer Argumente zur Ablehnung eingeborener Ideen, und später mit dem Zusammenhang der Ideen mit der Erfahrung. Er sah das mensch- liche Bewusstsein bei der Geburt als ein weißes Blatt Papier, auf das die Erfahrung erst schreibt. Ausgangspunkt der Erkenntnis ist die sinnliche Wahrnehmung. Seine finalen Werke unterschieden äußere Wahrnehmungen (sensations) und innerer Wahr- nehmungen (reflections) und die Untersuchung der Rolle der Sprache, ihres Zusam- menhangs mit den Ideen und ihre Bedeutung für das Wissen (Academic. 2014).

Ausgangspunkt war für den Film der „Wilde von Aveyron“. Ein wilder Junge, der im Wald aufgefunden wurde, der vermutlich aufgrund seiner Behinderung von den Eltern in den Wald verschleppt und ausgesetzt wurde. Aufgrund einer Verletzung am Hals wird davon ausgegangen, dass die Eltern versucht haben ihn zu töten. Gefangen durch Dorfbewohner verbringt der Junge seine Zeit in verschiedenen Einrichtungen, wird untersucht und für Schwachsinnig gehalten und schließlich zu Doktor Itard über- stellt. Jean Marc Gaspard Itard war ein französischer Arzt und Taubstummenlehrer, dessen Berichte über den „Wilden von Aveyron“ zu den klassische Texten in der heuti- gen Lernbehindertenpädagogik und den Erziehungswissenschaften zählen. Itard, ori- entiert am Sensualismus, erforschte an dem Jungen die Fragestellung, ob eine Erzie- hung und eine Zivilisation möglich ist.

In dem Film erscheint Itard als Pygmalion, der versucht den Victors[2] Entwicklung nach dem Beispiel des Philosophen und Vertreters des Sensualismus Condillac zu formen und die einzelnen Sinne nacheinander zu erwecken. Beginnend mit dem niedrigsten dem Geruchsinn bis hin zum höchsten, dem Tastsinn, welcher zuerst die Vorstellung einer Außenwelt hervorruft und die übrigen Sinne über sie urteilen lehrt. (Vorländer. 1903)

Anfänglich war Victor wenig sozialisiert, er biss, kratzte und erschien gleichgültig ge- genüber seiner Umwelt. Victor lernt nach anfänglichem Widerwillen nach und nach einige einfache Handlungen, beispielsweise seine Suppe mit dem Löffel zu essen, den Tisch zu decken und sich eigenständig anzuziehen, letzteres erstmalig ohne Beein- flussung von Außen.

Der Versuch Dr. Itard´s Victor spielerisch an Gegenstände und an die Sprache heranzuführen verlaufen anfänglich sehr erfolgreich. Spiele, die mit Nahrungsaufnahme zu tun haben, lernt der Junge schneller, handelt es sich um andere Gegenstände, dann sträubt er sich und wirkt lust- und teilnahmslos.

Itard verwendet Konditionierungsmethode (Belohnung mit Essen und Trinken)n um die Lernfortschritte zu beschleunigen.

Es wird deutlich, dass Victor einen ausgesprochenen Ordnungssinn besitzt. Dinge, die anderswo liegen als am Tag zuvor, legt er wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück. Er lernt Gegenstände, wie Hammer, Buch oder Kamm ihren abstrakten Bildern zuzuordnen, doch er ist nicht dazu in der Lage, die Gegenstände den geschriebenen Begriffen zuzuweisen. Die Fortschritte sind spärlich..

Versuche, durch Spracherwerb ihm Wissen und Fertigkeiten zu vermitteln blieben bis zum Schluss erfolglos, Victor lernt nicht zu sprechen.

Ebenso bleiben Victors kognitive Fähigkeiten und seine Abstraktionsfähigkeit auf einem geringen Niveau. Wohl aber seine, zwar im geringen Ausmaß ausgebildeten Emotionen, seine Einfühlsamkeit und das Gefühl für Gerechtigkeit wurden durch Experimente nachgewiesen. Aus heutiger, therapeutischer Sichtweise würde man Victor als Kind mit Autismus-Spektrum-Störung bezeichnen.

[...]


[1] Vgl. Perfektion und Perfektibilität 4. Internationale Tagung des Zentralinstituts »Anthropologie der Religion(en)« vom 29. September bis 1. Oktober 2014 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

[2] Der Junge reagiert nicht auf Ansprache, zeigt jedoch bei Worten, die den Laut „o“ enthalten, eine gewisse Regung, daraufhin wurde er Victor genannt.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Vorlesungsmitschrift zu Modellen und Paradigmen der Rehabilitationspädagogik
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Rehawissenschaften)
Veranstaltung
Modelle und Paradigmen der Rehabilitationspädagogik
Autor
Jahr
2015
Seiten
22
Katalognummer
V288676
ISBN (eBook)
9783656890218
ISBN (Buch)
9783656890225
Dateigröße
708 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rehabilitationspädagogik
Arbeit zitieren
Bachelor Thomas Bode (Autor:in), 2015, Vorlesungsmitschrift zu Modellen und Paradigmen der Rehabilitationspädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288676

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