Vergleich von Theodor W. Adornos "Negative Dialektik" und Gaston Bachelards "Philosophie des Nein"


Projektarbeit, 2014

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 . Einleitung

2. Die Philosophie des Nein
2.1 Erkenntnishindernisse und epistemologische Brüche
2.2 Philosophische Stadien der wissenschaftlichen Entwicklung
2.3 Verhältnis von Idee und Erfahrung im Surrationalismus
2.4 Kritik der Identitätslogik

3. Negative Dialektik
3.1 Vorbemerkung
3.1 Begriff und Sache
3.2 Widersprüche im Objekt und der Totalität

4. Problemfelder
4.1 Verhältnis von Natur- und Sozialwissenschaften
4.2 Subjekt-Objekt-Verhältnis
4.3 Materialismus
4.4 Weitere Parallelen und Unterschiede

5. Statt eines Fazits

6. Literaturverzeichnis

1 . Einleitung

In der vorliegenden Arbeit soll der Versuch unternommen werden, Theodor W. Adornos Negative Dialektik mit Gaston Bachelards Philosophie des Nein zu vergleichen. Diesem Vorhaben stellen sich jedoch schon vorweg verschiedene tiefgreifende Probleme. Neben bereits verschiedenen philosophischen Traditionen und deren Rezeption in Frankreich und Deutschland ist bei den hier behandelten Autoren vor allem auch die Perspektive eine ungleiche. Auf den ersten Blick scheinen sie zwar mit sehr ähnlichen Konzepten zu operieren, bei genauerer Betrachtung springt jedoch ins Auge, dass sie nicht nur mehr oder weniger zufällig Beispiele aus verschiedenen Bereichen wählen, sondern eben ihre Philosophie aus völlig unterschiedlichen Kontexten entwickeln.

So will Bachelard als Vertreter der französischen Epistemologie eine Philosophie der Wissenschaften entwickeln, die auf Grundlage der mathematischen Physik entwickelt wurde und nicht ohne Grund mit Beispielen ausschließlich aus den Naturwissenschaften oder der Mathematik untermauert wird. Seine epistemologischen Arbeiten sind folglich nicht nur „an den Naturwissenschaften orientiert“, sondern wollen eine „Geschichte […] des Erkennens in den Naturwissenschaften […] beschreiben.“[1] Daraus entfaltet Bachelard jedoch sowohl eine allgemeine Theorie der Wissenschaften, als auch eine eigene kritische Erkenntnistheorie, bzw. eher eine Kritik von Erkenntnistheorien, die selbst nicht die geschlossene Form einer Theorie annimmt. Ebenso geht es auch in der Negativen Dialektik um eine Kritik der klassischen Erkenntnistheorien. Sie soll eine „Methodologie“[2] ausführen, die es dem Denken ermöglichen soll, die Erkenntnisgegenstände selbst so weit wie möglich zu erfassen, indem es sich dabei seiner eigenen Begrenzungen bewusst ist. Auch sie ist allerdings keine reine Erkenntnistheorie, sondern konstitutiv verschränkt mit Sozialphilosophie im weiteren Sinne und Gesellschaftskritik. Auch bei Adorno stammen folglich sowohl die Beispiele – eine Form, die er sowieso aus inhaltlichen Gründen ablehnte – als auch die ausgeführten Modelle der Negativen Dialektik keineswegs zufällig aus dem sozialen Bereich, doch auch er beansprucht mit seiner Erkenntniskritik durchaus Allgemeingültigkeit.

Ob und inwiefern die beiden Ansätze tatsächlich universalisierbar sind, muss folglich eine der Fragen dieser Arbeit sein und tangiert nicht zuletzt auch die Frage ihrer Vergleichbarkeit. Selbst wenn diese jedoch verneint werden sollte, bleiben größere Schnittmengen in ihrer jeweiligen Auseinandersetzung mit Erkenntnistheorie, die in Kontrastierung miteinander einen theoretischen Mehrwert versprechen.

Ein weiteres Spannungsfeld, in dem sich die vorliegende Arbeit bewegt, ist das des Verhältnisses zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus, auf den Bachelard einen nicht geringen Einfluss ausgeübt hat. Die Auseinandersetzung um ihr Verhältnis wird um verschiedene Themenfelder ausgetragen und reicht vom Postulat fundamentaler Gegensätzlichkeit[3] bis zur Umdeutung Adornos zu einem „Vorläufer der Postmoderne“[4]. Hier soll weder dem einen noch dem anderen Vorschub geleistet werden, im Gegenteil sollen aus der vergleichenden Analyse am Material die konkreten Überschneidungen und Widersprüche entwickelt werden. Gerade weil diese Auseinandersetzungen bisweilen hochgradig ideologisch und in Phrasen ausgetragen werden, soll in dieser Arbeit ein Vergleich anhand der konkreten Reflexionen der beiden Autoren geführt werden, anstatt qua postulierter Anhänger_innenschaft zu meinen, damit bereits irgendeine konkrete Position bezogen zu haben.

Dazu werden zunächst einige Grundgedanken der beiden philosophischen Ansätze skizziert, die für einen solchen Vergleich notwendig sind. Es kann dabei nicht der Anspruch dieser Arbeit sein, beide Werke systematisch zusammenzufassen – was letztlich bei beiden schon aus theorieimmanenten Gründen schwierig bis unmöglich wäre – sondern neben den Kerngedanken vor allem solche zu beleuchten, die in Reibung mit dem jeweils anderen fruchtbar gemacht werden können. So soll als Forschungsfrage keineswegs verfolgt werden, ob und inwiefern diese miteinander vermittelbar seien, sondern versucht werden, aus der Darstellung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten Problemfelder zu destillieren und in bester dialektischer Tradition Bewahrenswertes und Unzulänglichkeiten zu entwickeln, die im Idealfall über sie hinausweisen können. Ob ein solches zugegebenermaßen recht ambitioniertes Vorhaben im begrenzten Rahmen dieser Arbeit gelingen kann, ist sicher eine offene Frage – falls es ihr gelingt, Punkte zu markieren, an denen eine tiefere Auseinandersetzung anzusetzen hätte, hätte sich die Mühe jedoch schon gelohnt.

22. Die Philosophie des Nein

2.1 Erkenntnishindernisse und epistemologische Brüche

Gaston Bachelard gilt als einer der Begründer der französischen Epistemologie – ein Teilgebiet der Philosophie, das in Deutschland in dieser Form nicht existiert.[5] Dabei geht es um eine „Geschichte des Denkens im eigentlichen Sinn“[6], es soll eine philosophisch fundierte Geschichte der Wissenschaften geschrieben werden, die nicht einfach deren historische Abfolge darstellen will, sondern die Ablösung verschiedener grundlegender Denksysteme, auf denen die Gewinnung von Erkenntnissen basiert, sowohl für die jeweiligen Einzelwissenschaften, als auch für einzelne Begriffe. Die Epistemologie nimmt positives Wissen folglich nicht einfach als Tatsachen, sondern diese als Ausdruck von Ideen, die in eine bestimmte Form des Denkens und der Erkenntnis eingefügt sind.[7]

Mit der Einführung der Begriffe des Erkenntnishindernisses und des epistemologischen Bruchs ermöglichte Bachelard eine völlig neue Sicht auf die Entwicklung und den Fortschritt der Wissenschaften und des Wissens, an die von Autor_innen unterschiedlichster Richtungen, vor allem auch des späteren Poststrukturalismus, verschiedentlich angeknüpft wurde. Mit den beiden Begriffen soll wissenschaftlicher Fortschritt als diskontinuierlicher begreiflich werden, in dem nicht einfach Nichtwissen durch Wissen ersetzt wird, sondern im Gegenteil falsches Wissen – das auf einer bestimmten Anordnung von Voraussetzungen, Vor-Wissen und Vor-Urteilen beruht – durch neues Wissen korrigiert wird. Dieses neue Wissen ist nur zu erreichen gegen die vorausgesetzten Erkenntnisstrukturen, die die Möglichkeit der Erkenntnis des Neuen verhindern. Wenn neues Wissen gegen ein solches Erkenntnishindernis errungen wurde, führt dies zu einer Umstrukturierung des Denkens und Verstehens, einem epistemologischen Bruch, der – einmal vollzogen – eine grundlegende Erneuerung und Berichtigung des Aufbaus des Wissens zur Folge hat.[8]

Bachelard postuliert folglich eine „Rückwirkung der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die geistige Struktur“[9] der Subjekte. Das vormalige Unwissen besteht aus einer strukturierten Anordnung von Irrtümern, die bei ihrem Bruch auch einen Neuaufbau der Erkenntnisprinzipien selbst im Subjekt bedingt. Die Philosophie des Nein ist also eine Philosophie des wissenschaftlichen Geistes, der am Wirklichen das sucht, was seinen vorherigen Erkenntnissen widerspricht und durch dieses Nein zur alten Erfahrung sowohl die Erkenntnisse wie auch seinen eigenen Geist revolutioniert. Bachelard will damit eine konstitutiv offene Philosophie begründen, die durch den Widerspruch in einen dialektischen Prozess gebracht wird, der keinen Abschluss hat, weil jeder Erkenntnisstufe ein neues Nein entgegengebracht wird.[10]

Er versucht mit seiner Epistemologie demnach das Werden eines Denkens zu begreifen. Durch das Nein erfährt das Denken eine Öffnung und wird in eine neue Form gebracht – eine Form, die es sowohl ermöglicht, die alten Erkenntnisse aufzubewahren, wie auch die neuen zu integrieren. Die Philosophie des Nein charakterisiert er folglich „nicht als eine Haltung der Ablehnung, sondern als eine Haltung der Versöhnung“[11].

Georges Canguilhem schreibt im Anschluss an Bachelard, die Idee der Epistemologie sei, aus der Geschichte der Wissenschaft den latenten, „geordneten Entwicklungsgang zu abstrahieren, dessen vorläufiger Ausdruck die gegenwärtige wissenschaftliche Wahrheit ist.“[12] Wahrheit wird als fortschreitender Prozess betrachtet, ohne jedoch den Wahrheitsanspruch selbst zu opfern. Diese wird zwar diskursiv hergestellt, lässt sich jedoch trotzdem als durch ihre permanente Berichtigung fortschreitend fassen, weder relativistisch noch absolut. Eine wissenschaftliche Aussage wird, „gerade weil sie wissenschaftlich ist, mit Sicherheit überschritten werden“[13], am Ende steht nicht das eine Modell der Erkenntnis, das in Korrektur aller früheren Irrtümer nicht mehr verändert werden wird.

2.2 Philosophische Stadien der wissenschaftlichen Entwicklung

Da sich nach Bachelard der Gang der wissenschaftlichen Erkenntnis rückblickend ordnen lässt, lassen sich auch verschiedene philosophische Stadien dieser identifizieren, die ausdrücklich jede wissenschaftliche Erkenntnis in der beschriebenen Reihenfolge durchläuft. Diese sind im Einzelnen Animismus, Realismus, Positivismus, Rationalismus, komplexer Rationalismus und dialektischer Rationalismus, wobei die letzten beiden auch unter der Bezeichnung Surrationalismus zusammengefasst werden.[14]

Jeder wissenschaftliche Begriff lässt sich auf dieser Achse irgendwo verorten, wobei „der größte Teil des wissenschaftlichen Denkens noch in philosophisch primitiven Stadien stecken geblieben ist.“[15] Nichtsdestotrotz ist ihm zufolge die Richtung der Entwicklung eindeutig in Richtung des Rationalismus: Die Rolle rationaler Faktoren nimmt immer weiter zu, bis schließlich nur noch ein theoriegeleiteter Zugang überhaupt noch unbekannte Merkmale aufdecken kann. Und diese philosophische Entwicklung der wissenschaftlichen Begriffe bestimmt schließlich auch das Denken, die Philosophie selbst. Sie liefert „ein Prinzip zur Klassifizierung der Philosophien und zum Fortschritt der Vernunft.“[16] Mit jeder neuen Stufe gewinnt das Denken an Komplexität.

An der historischen Entwicklung des Massebegriffs veranschaulicht Bachelard diese Stadien.[17] Im animistischen Stadium wird dabei die unterschiedliche Masse von Gegenständen mithilfe von Metaphern erklärt, die jedes wissenschaftliche Verständnis desselben verhindern. Mit dem Gebrauch der Waage bekommt die Masse anschließend eine realistische Fundierung. Das Instrument geht in diesem Stadium allerdings der Theorie voraus, die Massevorstellung bildet sich an der einfachen Erfahrung des Abwiegens, ohne dass hierfür die zugrunde liegenden Hebelgesetze nachvollzogen werden müssen. Interessanterweise überspringt Bachelard an dieser Stelle unkommentiert den Positivismus, um unmittelbar zur rationalen Phase überzugehen.[18] In dieser wird der begriffliche Zusammenhang wichtig, Masse ist nicht mehr ein ursprüngliches Element unmittelbarer Erfahrung, sondern wird in Korrelation zu Kraft und Beschleunigung bestimmt. Die drei Kategorien lassen sich theoretisch auseinander deduzieren und das Wissen verschiebt sich von dem eines bloß quantitativen Seins zu einem des dynamischen Werdens. Die Gegenstände werden in komplexere Zusammenhänge integriert und rational konstruierte Gesetze und Prinzipien treten an die Stelle der vorher isolierten Elemente.[19]

Die ganze mathematische Physik des 19. Jahrhunderts bleibt von diesem Rationalismus bestimmt, dessen Grundlage die drei fundamentalen Elemente absoluter Raum, absolute Zeit und absolute Masse als voneinander getrennte a priori bilden. Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch zwingt die Relativitätstheorie den vorher geschlossenen Rationalismus, sich zu öffnen und zum komplexen Rationalismus weiterzuentwickeln. Während Masse vorher lediglich in externe Verbindungen mit anderen Begriffen gebracht wurde, entdeckte diese neue Theorie, dass Masse selbst eine Funktion der Geschwindigkeit ist. Die Vorstellung einer absoluten Masse, die unabhängig von räumlicher Veränderung ist, stellte sich als falsch heraus. Das Element selbst ist folglich komplex und muss geöffnet werden. Es bleibt als Element bestehen und unter bestimmten Bedingungen lässt es sich auch in der vereinfachten Variante fassen, aber die rationalen Konstruktionen vervielfältigen sich. Das geschlossene System des Rationalismus macht einer Pluralität Platz, verschiedenen Begriffskörpern der theoretischen Annäherung. Da er auf allgemeingültigen Gesetzen basierte, muss er, nachdem diese sich als nur unter bestimmten Voraussetzungen gültig herausstellten, von Grund auf neu zusammengesetzt und damit komplex werden.[20]

Während bereits in dieser Phase die rationale Überlegung wichtiger als die Erfahrung ist, gewinnt sie in der letzten Phase vollends den Vorrang. Der dialektische Surrationalismus beginnt mit einem Ausklammern der Wirklichkeit, um zunächst in ausschließlich theoretischen Berechnungen verschiedene Ausbreitungsfunktionen der Masse eines bereits nicht mehr einheitlich gedachten Objekts zu berechnen. Ohne es zu intendieren ergeben die Berechnungen plötzlich zwei Massen für das dasselbe Objekt. Die eine fasst dabei alle Ergebnisse der vorherigen Stufen der wissenschaftlichen Erkenntnis zusammen, während die andere, ihr dialektisches Pendant, eine negative Masse darstellt. Dieser Begriff ist in die vorherigen Massevorstellungen nicht integrierbar, er widerspricht ihren fundamentalen Prinzipien. Der geöffnete Rationalismus lässt sich von diesem Widerspruch jedoch nicht beirren, auf Kosten grundsätzlicher Modifizierungen der vorherigen Theorie versucht er die neue Kategorie, die keine Wurzeln in der alltäglichen Wirklichkeit hat, zu realisieren. Die Theorie hat den Vorrang errungen, die Realisierung ist wichtiger als die Realität. „Man muss die Natur zwingen, genauso weit zu gehen wie unser Geist.“[21] Zentral ist für Bachelard dabei die Öffnung, die der Rationalismus erfährt und die es dem Surrationalismus erst erlaubt, vorher undenkbare Fragen zu stellen und logische Widersprüche nicht als Irrtümer zu interpretieren, sondern sich auf sie einzulassen.[22]

Diese Entwicklungsrichtung vom vorwissenschaftlichen Geist über den wissenschaftlichen hin zum neuen wissenschaftlichen Geist des Surrationalismus stellt Bachelard in der Folge an verschiedenen wissenschaftlichen Begriffen dar; an dieser Stelle soll die Darstellung des Massebegriffs jedoch genügen, um eine grobe Vorstellung der stufenförmigen Entwicklung zu bekommen. Da die Form der wissenschaftlichen Anschauung unmittelbar auf den Geist zurückwirkt und ein epistemologischer Bruch nie total ist, sondern immer auch vorherige Erkenntnisformen weiter aufbewahrt werden, müssten Bachelard zufolge durch eine spezielle Form der Psychoanalyse die epistemologischen Profile der einzelnen Begriffe bei einzelnen Personen aufgedeckt werden, an denen ablesbar wäre, zu welchen Teilen die Person bezüglich eines Begriffs noch in welcher epistemologischen Phase verortet ist. Vor allem die frühe Erziehung hat hierauf besonderen Einfluss, auch wenn diese Profile durchaus in der persönlichen Entwicklung veränderlich sind. An diesen Profilen ließe sich der Gang des wissenschaftlichen und damit auch des epistemologischen Fortschritts ablesen.[23] Diese Vorstellung der Psychoanalyse des wissenschaftlichen Geistes soll hier jedoch nur der Vollständigkeit halber genannt werden, da sie für den weiteren Verlauf dieser Arbeit keine Relevanz besitzt.[24]

2.3 Verhältnis von Idee und Erfahrung im Surrationalismus

Zentral für die vorliegende Arbeit ist Bachelards Auseinandersetzung mit den Grundbegriffen der klassischen Erkenntnistheorie. Basal kritisiert er zunächst die Polarität zwischen (Einzel-)Wissenschaften und Philosophie. Während für Erstere nur Fakten zählten, beschränke sich Letztere auf reine Prinzipien. Wissenschaftliches Denken müsse sich hingegen immer zwischen a priori und a posteriori hin und her bewegen, zu verstehen sei sie nur mittels einer dialektischen Philosophie, die die Komplementärität von Verstehen und Anwenden, Mathematik und Erfahrung berücksichtige. Das Eine ohne das Andere könne keine Erkenntnis hervorrufen, beide Pole seien konträre epistemologische Hindernisse; eine Sache zu erkennen heiße, sie sowohl als Phänomen als auch als Noumenon zu erkennen.[25]

Wie bereits beschrieben, wird für Bachelard die Seite der Rationalität mit dem Fortschritt der Erkenntnis wichtiger, sie kann die Erfahrung jedoch nie ersetzen. Der prospektive, also vorausschauende Rationalismus nimmt die Lehren aus der Erfahrung auf, ordnet sie und konstruiert seinen Gegenstand auf dieser Basis, um Realisierungsprogramme und Experimente zur Überprüfung seiner Theorien zu entwickeln. Stellen sich dabei die aufgestellten Prinzipien als unzureichend heraus, müssen sie – und damit die ganze Theorie – modifiziert werden. Wegen dieses fortschreitend dialektischen Prozesses bezeichnet Bachelard diese als die einzige offene Philosophie, während alle anderen sich ihrer Geschlossenheit rühmten.[26] So soll überhaupt erst ermöglicht werden, wissenschaftlich vollständige Phänomene zu schaffen, die vorher beiseite gelassenen entstellten oder erstickten Varianten wiederherzustellen und zu integrieren.[27]

In dem Prozess wird ihm zufolge jedoch die ursprüngliche sinnliche Erfahrung transzendiert. Durch die Entwicklung wissenschaftlicher Instrumente beruhe Erkenntnis eben nicht mehr auf sinnlicher Erfahrung, sondern auf Erfahrungen, die nur mittels Theorie zu erklären sind. Das Ablesen beispielsweise der Temperatur auf einem Thermometer ist nur durch Theorie mit der Empfindung der Temperatur zu vermitteln. In der Mikrophysik werden schließlich Objekte postuliert, die mit menschlichen Sinnesorganen in keiner Weise mehr erfahrbar wären, deshalb werden diese vom geöffneten Rationalismus fortschreitend transzendiert und damit auch die Umgrenzungen des Verstehens gelockert und ausgeweitet.[28]

So ergeben sich im Surrationalismus Ausweitungen des Rationalitätsbereichs oder geordneter verschiedener Rationalitätsbereiche nicht mehr aus einer Erfahrung heraus, nicht aus einer Untersuchung des Phänomens selbst, sondern sie sind noumenalen Charakters. Sie sind ursprünglich ausschließlich theoretisch entworfene Noumena, die erst danach an das Phänomen herangetragen werden und sich dort experimentell überprüfen lassen. Die Vernunft hat bei Bachelard eine deutliche Autonomie, die es vermag, sich selbst zu vervollständigen.[29] Bei Kants Noumenon, dem Ding an sich, geht es gerade darum, dass dieses selbst vom Subjekt wegen der Begrenzungen seiner Sinne nicht vollständig erkannt werden kann und es damit auf das Phänomen verwiesen bleibt. Bachelard konstruiert diesem Noumenon gewissermaßen einen Kopf, aus dem Füße wachsen. Es ist vom Subjekt in theoretischer Überlegung entwickelbar und lässt sich in der Folge am materiellen Phänomen realisieren.

Hinzuweisen ist in diesem Kontext auf die wichtige Rolle des anagogischen Träumens. Der surrationalistische Versuch, die Phänomene theoretisch auszulegen sei der Ort, „an dem der wissenschaftliche Geist seinen Träumen nachgeht. […] Träumen, das denkend umherstreift und umherstreifend denkt, das eine Erleuchtung des Denkens durch das Denken sucht, das eine plötzliche Intuition in den Bereichen jenseits des belehrten Denkens findet.“[30] Seine Rolle ist unverzichtbar für den surrationalistischen Fortschritt, für die Entdeckung des Neuen und es ist – wenig überraschend – von der Mathematik bestimmt. Es ist ein Träumen, das nach mehr Mathematik strebt, nach komplexeren mathematischen Funktionen, die dann auch das Phänomen als komplexeres zugänglich machen.[31]

Weiterhin muss an dieser Stelle noch einmal die Abhängigkeit der Denkform von der wissenschaftlichen Entwicklung festgehalten werden. Das Verhältnis von a priori und a posteriori wird von Bachelard dynamisiert. Die Erkenntnisform, die die Erfahrung strukturiert ermöglicht logischerweise nur einen bestimmten Typ von Erfahrung. Wird jedoch ein Erkenntnishindernis überwunden und eine neue wissenschaftliche Erkenntnis errungen, schlägt diese aufs Bewusstsein zurück und bildet es um, macht die erneuerten Erkenntnisvoraussetzungen gewissermaßen zum a posteriori.[32] Das hat auch Auswirkungen auf Bachelards Vorstellungen einer sinnvollen Bildung, die im nächsten Kapitel noch kurz angeschnitten werden. Wodurch genau die Überwindung von Erkenntnishindernissen ermöglicht wird, bleibt jedoch unklar. Die Rolle des Noumenons für die Entdeckung des Neuen klingt zunächst idealistisch, es sind jedoch bei Bachelard Hinweise verstreut, dass die Gegenstände selbst komplex und dialektisch aufgebaut seien, was den Fortschritt des wissenschaftlichen Geists ermögliche, jedoch nur über den Umweg von Konstruktion und Realisierung zugänglich sei. Joachim Kopper bezeichnet Bachelards Philosophie als eine Art von Materialismus, in dem das Denken seine Form aus dem Stoff selbst erhält und der Erkenntnisfortschritt aus der Hingabe an den Stoff erfolgt.[33]

2.4 Kritik der Identitätslogik

Einen Bereich, an dem Bachelard die Auswirkungen der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis darstellt, ist der der nichtaristotelischen Logik. Die Dialektisierungen zentraler wissenschaftlicher Kategorien führen zu einer Erneuerung des menschlichen Geistes, der bis auf das scheinbare a priori der Logik durchschlägt. Die widersprüchliche Bestimmung wissenschaftlicher Objekte führt dazu, dass das Prinzip der Identität, Grundlage der aristotelischen Logik, keine Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen kann. Die nichtaristotelische Logik ermöglicht es, das selbe Objekt in verschiedenen Fällen mit unterschiedlichen Eigenschaften zu bestimmen; es ist sich in verschiedenen Erscheinungsformen nicht identisch. Auch hierbei wird die vorher gültige Logik nicht verworfen, sondern in eine allgemeinere Panlogik integriert, die einen definierten Geltungsbereich der ersteren bestimmt. An acht Kernpostulaten der klassischen Logik stellt Bachelard dar, wie diese außer Kraft gesetzt werden. Kern des Widerspruchs gegen die Identitätslogik ist dabei, Gegenstände in ihrem Werden zu begreifen, was ermöglicht, sie als plurale, mit sich selbst nur unter bestimmten Umständen identische zu erkennen.[34]

Es gibt folglich keine einzelne transzendentale Logik, sondern es müssen so viele verschiedene Logiken aufgestellt werden, wie es Arten von spezifischen Objekten gibt, aus deren Beschaffenheit die für ihre Erkenntnis notwendige Logik hergeleitet werden muss. Die Philosophie muss der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse folgen und auf Grundlage der Dialektisierungen in diesen ihr eigenes Denken umformen. Sie muss ein neues Denken erschaffen, das ihr eine neue Vorstellungswelt eröffnet, mit der sie eine neue Welt erkennen kann. Um diese Umformung erreichen zu können, stellt sich Bachelard eine Pädagogik vor, die es Kindern ermöglicht, sich gedanklich zu öffnen, um in der Erforschung der Gegenstände überhaupt verschiedene gültige Logiken denken zu können. Es geht folglich um eine Übung der Nichtidentität, darum die Fähigkeit zu erlernen, eine Pluralität von richtigen Deutungen annehmen zu können. Hierzu sollen Kinder beispielsweise mithilfe einer Apparatur lernen, den selben Begriff mit verschiedenen Deutungen zu verknüpfen, ihn als Kreuzungspunkt zu begreifen, statt als eindeutigen Tatbestand. So sollen sie in die Lage versetzt werden, Sinnpluralismus und Sinnverschiebungen zu denken und jeweils unterschiedliche begriffliche Verbindungen herstellen zu können. Am Ende soll eine Psyche geformt werden, die dazu in der Lage ist, sich selbst aktiv zu öffnen, um sich dem Erfinden in Auseinandersetzung mit den Objekten zuwenden zu können.[35]

33. Negative Dialektik

3.1 Vorbemerkung

Der Versuch, die Grundgedanken Adornos Negativer Dialektik auf einigen Seiten zusammenzufassen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die nachgereichte „Methodologie der materialen Arbeiten des Autors“[36] ist keine, weil die Form der Erkenntnis von ihrem Inhalt abhängen soll. In Auseinandersetzung mit verschiedenen Philosophen, vor allem Kant, Hegel und Heidegger, versucht Adorno eine Philosophie zu entwickeln, die der Besonderheit der jeweiligen Erkenntnisobjekte gerecht wird, indem sie in Umkehrung Hegels ihnen selbst den Vorrang vorm Subjekt gibt, das sich durch Reflexion auf seine beschränkten Erkenntnismöglichkeiten jenen annähern kann. Dabei werden die Gedanken im Laufe des Werkes im Zusammenspiel miteinander entfaltet und sind auch nur in diesem Gesamtzusammenhang richtig zu erfassen. Adorno versteht Negative Dialektik selbst als Antisystem: Wie die Objekte, denen sie zu ihrem Recht verhelfen will, ist auch sie nicht als einheitliche konzipiert, sondern als eine, die eine Idee davon geben will, wie das Besondere überhaupt erfahrbar wäre, ohne es ständig durch die Identifikation des Subjekts zu verstümmeln. Dabei ist es gerade auch der Zusammenhang von Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik und der damit verbundene Wechsel der Darstellungsebenen, die eigentlich nicht isoliert werden können, der das Vorhaben unmöglich macht. Wenn hier nun trotzdem einige Grundgedanken skizziert werden, ist dabei mitzudenken, dass diese nicht nur notwendig unvollständig dargestellt sind, sondern damit in einem bestimmten Sinn eben auch falsch.

3.1 Begriff und Sache

Negative Dialektik ist grundsätzlich und im Gegensatz zu anderen Dialektikkonzeptionen eine der Nichtidentität. Sie geht in Abgrenzung zu Hegel nicht von einer Identität zwischen Denken und Sein, zwischen Begriff und Sache, Subjekt und Objekt aus, sondern von ihrer Unversöhntheit, die sie zum Ausdruck bringen will. Im Gegensatz zu klassischen Auffassungen von Dialektik ist dieser Widerspruch nicht in einer Synthese aufzuheben. Widersprüche existieren auf zwei Ebenen, die zu trennen für die vorliegende Fragestellung sinnvoll ist. Einmal bestehen sie zwischen Begriff und Sache, einmal als immanente Widersprüche in der Sache selbst.[37] An dieser Stelle soll zunächst Ersteres dargestellt werden, um letzteres im nächsten Kapitel getrennt zu beleuchten.

Denken bedeutet für Adorno konstitutiv begriffliches Denken. Das Subjekt kann die Wirklichkeit nur im Medium des Begriffs begreifen. Der Begriff wird jedoch gebildet durch Abstraktion des Subjekts. Objekte werden nach übereinstimmenden und abweichenden Merkmalen geordnet, sie werden klassifiziert nach Kategorien von Identität und Nichtidentität. Das heißt, die jeweiligen besonderen Gegenstände werden durch Begriffe erfasst als Teil eines Allgemeineren, sie werden notwendig mit Anderem identifiziert. So wird jedoch ein bestimmter Teil des Besonderen – das, was nicht durch den Begriff mit Anderem identifiziert wird – vom erkennenden Subjekt abgeschnitten. Das Nichtidentische des Objekts wird so dem Identitätsprinzip des Subjekts untergeordnet. Der Identitätszwang folgt aus den fundamentalen Regeln der gängigen Logik, die auf dem Postulat der Widerspruchsfreiheit aufgebaut ist und auf der unser gesamtes Denken beruht. Da damit jedoch das Besondere, Nichtidentische des Gegenstandes notwendig dem Allgemeinen, Identischen der Vernunft untergeordnet wird, führt diese Form zu einer Verwechslung zwischen der Selbsterkenntnis des Subjekts bzw. seiner Vernuftsprinzipien mit der Erkenntnis der Wirklichkeit.[38]

Da das Denken jedoch keine andere Wahl hat, als die Wirklichkeit mithilfe von Begriffen zu erkennen, muss es sich die Nichtidentität zwischen Begriff und Sache bewusst machen und sich der Nichtidentität zuwenden, auf das nicht im Begriff Aufgehende zielen. Adorno postuliert den Vorrang des Objekts. Das Mittel, durch das die Identifikation begrifflichen Denkens durchbrochen werden kann und das einzig die tatsächliche Mannigfaltigkeit des Seienden zugänglich machen kann, ist geistige Erfahrung. Indem das Subjekt dem Objekt den Vorrang einräumt und sich tatsächlich in ihm versenkt, soll in ihm das Nichtidentische als Widerspruch zum unterordnenden Begriff erfahren werden. Negative Dialektik hätte ihren Gehalt folglich „in der von keinem Schema zugerichteten Mannigfaltigkeit der Gegenstände, die ihr sich aufdrängen oder die sie sucht; ihnen überließe sie sich wahrhaft, benützte sie nicht als Spiegel, aus dem sie wiederum sich herausliest, ihr Abbild verwechselnd mit der Konkretion. Sie wäre nichts anderes als die volle, unreduzierte Erfahrung im Medium begrifflicher Reflexion“[39]

Der Begriff der Erfahrung ist ein Dreh- und Angelpunkt des Vorrangs des Objekts. Durch sie wird einzig eine offene Philosophie möglich, die nicht glaubt, in einem erschöpfenden System von Kategorien bereits alle Gegenstände vollständig erfasst zu haben. Im Gegenteil bestünde ihre Aufgabe gerade darin, sich ihrem Gegenstand tatsächlich zu überlassen und zwar vorbehaltlos – also ohne ihn durch durch den Begriff bereits beschnitten zu haben. Es geht folglich um ein Sichüberlassen statt eines Deduzierens, das den Gegenstand auf eben diesen Spiegel des Subjekts reduzierte. Eine solche Erfahrung zielt darauf, die Gegenstände nicht als Exempel für Kategorien zu begreifen, sondern durch das Überlassen überhaupt auf das Neue, das nicht im Begriff aufgehende stoßen zu können. So rührt auch Adornos Bruch mit den Regeln der klassischen Logik eben aus diesem Vorrang des Objekts: Die Negative Dialektik respektiert den Gegenstand auch dort, wo er den Regeln jener widerspricht, anstatt die Erkenntnis ihretwegen als falsch zu verwerfen.[40]

Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Erkenntnisobjekte nur durch negative Dialektik richtig erfasst werden können. Am Ende der Denkbewegung steht nicht als Negation der Negation eine erneute Position, die in der Synthese von ursprünglicher Position und deren Negation die Widersprüche aufheben kann. Einerseits kann sie dies nicht wegen der grundlegenden Geschiedenheit von Subjekt und Objekt und der damit verbundenen Unzulänglichkeit eines jeden Begriffs. Es bedarf der ständigen Konfrontation zwischen Gegenstand und Begriff und Begriff und Gegenstand, einer immanenten Kritik also, die über die bestimmte Negation nicht hinauskommen kann. Ein solches unabgeschlossenes Werden des Begriffs braucht es jedoch ebenso, weil auch die Gegenstände nicht statisch sind. In ihnen ist einerseits ihr historisches Werden aufbewahrt, andererseits bleiben sie nicht an einem Punkt stehen – so bedeutet auch eine Stillstellung derselben im Begriff eine Verfälschung. Einerseits muss also die Inadäquanz von Begriff und Sache stets neu an der Sache erfahren werden, andererseits sind auch die Widersprüche in den Objekten selbst nicht begrifflich aufhebbar.[41]

Um das Objekt im Medium des Begriffs trotzdem bestmöglich zu erfassen, ohne es widerspruchsfrei zu identifizieren, muss es in seinen Zusammenhängen mit anderen begriffen werden. Jedes Objekt steht in Konstellation sowohl mit anderen Einzelmomenten als auch mit der der Totalität als Ganzem. Alles was ist, ist mehr, als es ist. Es ist stets Gewordenes, das im Verhältnis zu Anderem geworden ist und damit eingebunden in Verhältnisse. Da Begriffe jedoch den Fehler haben, auf einen Aspekt zu reduzieren, ist es nötig andere zusätzlich zu verwenden. Es geht also darum, ein Objekt zu bestimmen, indem es in Begriffen, die um die Sache kreisen, in seinem Verhältnis zu Anderen und zum Ganzen bestimmt wird. So soll das Gemeinte vollständig ausgedrückt werden, indem der Gedanke den Begriff konstellativ umkreist und diesen damit öffnet.[42]

Um den Begriff in diesem Sinne öffnen zu können, spielt bei Adorno spekulatives Denken eine wichtige Rolle. Dieses soll ermöglichen, über die bloß feststellbaren Tatsachen hinaus zu denken und den Gegenstand im Zusammenhang zu sehen. Es soll folglich am Gegenstand hinter die Fassaden geblickt werden, der spekulative Anteil im Denken steht für das antiideologische und antipositivistische Moment Negativer Dialektik. Gerade um auf das Wesen der Gegenstände zu stoßen und über ihre oberflächlichen Erscheinungen hinaus zu kommen, muss über das bloß unmittelbar Gegebene hinausgedacht werden. Dieses Denken hat etwas Spielerisches, Undiszipliniertes, es muss sich auf unsicheres Terrain begeben, um tatsächlich hinter die Dinge zu blicken. So braucht es zunächst diese Undiszipliniertheit des Gedankens, um ihn selbst zu öffnen und über die einfache und sichere Identifikation hinaus zu kommen, wobei dies trotzdem nicht in Willkürlichkeit aufgehen soll, sondern ein erstes Aufschließen ermöglichen, das dann wieder mit philosophischer Disziplin und Strenge konfrontiert wird.[43]

Die grundsätzliche Geschiedenheit von Begriff und Sache können all die dargestellten Aspekte jedoch nicht versöhnen. Sie stellen den Versuch dar, trotz dieser, gerade im Bewusstsein derselben und in Reflexion auf die Unzulänglichkeit des begrifflichen Denkens über es hinauszugehen, um Wesentliches über Erkenntnisobjekte sagen zu können. Dabei versteht Adorno das erkenntnistheoretische Problem durchaus als Aporie: es ist nicht nur unsicher, wie genau über es hinauszukommen wäre, sondern auch ungewiss, ob das Vorhaben gelingt. Wenn man es allerdings nicht versuche, verliere Philosophie ihren Gehalt.[44]

3.2 Widersprüche im Objekt und der Totalität

Dialektisches Denken ist allerdings nicht nur notwendig, weil Begriff und Sache sich nicht identisch sind, sondern auch – und das ist Adorno zufolge das Entscheidende – weil die Objekte selbst widersprüchlich sind. Wie bereits beschrieben liegt das einerseits an ihrem historischen Werden, und andererseits an ihrem Eingebundensein in Verhältnisse. Adorno führt diesen Gedanken in der Negativen Dialektik jedoch nur exemplarisch aus.

Zunächst hält er fest, dass das Modell des Widerspruchs in der Objektivität die gegenwärtige antagonistische Gesellschaft ist, dass also die bürgerliche Gesellschaft sich nicht nur mit oder trotz ihrer Widersprüche reproduziert, sondern durch sie hindurch – und das auf immer erweiterter Stufenleiter. Dabei postuliert er, dass das Moment, das die Realität als antagonistische prägt, dasselbe ist, das auch den Widerspruch zwischen Begriff und Sache bestimmt: Das Prinzip der Naturbeherrschung, das sich in der Herrschaft von Menschen über Menschen fortsetzt. Dieses herrschaftliche Prinzip reflektiert sich im Geist als Prinzip der Identität: In seinem Bestreben, sein Anderes ihm gleich zu machen, indem er es identifiziert.[45]

Alles Besondere ist vom Allgemeinen affiziert, es gibt kein außerhalb der Totalität. Das Ganze ist sowohl im Subjekt wie in den Gegenständen enthalten. Die Einzelnen sind in der gesellschaftlichen Praxis gezwungen, sich als Identische zu konstruieren und dieses Prinzip zwingen sie als Identitätszwang im Erkenntnisprozess den Objekten auf. Das einzelne Objekt ist aber in der Totalität ebenso nie nur für sich, es ist immer auch Moment derselben; „nichts Partikulares ist wahr, keines ist, wie seine Partikularität beansprucht, es selber.“[46] Richtige Erkenntnis muss also an den Gegenständen dieses Moment suchen, ohne natürlich es ihnen schlicht von außen heranzutragen. Das herrschaftliche Prinzip bringt gleichzeitig den Widerspruch hervor und duldet ihn nicht. Deshalb kann ein Verschiedenes nicht einfach als Anderes gefasst werden, sondern nimmt die Form des Widerspruchs an, eine Verletzung der Logik.[47]

Die Logik wiederum ist konstitutiv verknüpft mit dem Tauschprinzip. Es ist ihr gesellschaftliches Modell, das sie überhaupt erst hervorbringt. Es macht in der gesellschaftlichen Praxis alles Nichtidentische kommensurabel. Durch seine Verallgemeinerung verallgemeinerte sich auch das Prinzip der Identität.[48] Das bürgerliche Bewusstsein spaltete aber gleichzeitig die Wirklichkeit erst in verschiedene getrennte Elemente auf; diese sind nicht einfach im Bewusstsein wieder durch eine Synthese zu vereinigen, denn die Zerstückelung ist gebildet am Modell der rationalisierten Arbeitsteilung für die Warenproduktion.[49] Die grundsätzliche Trennung zwischen Subjekt und Objekt rührt allerdings daher, dass sich das Allgemeine, die Gesellschaft, gegenüber den Individuen verselbstständigt hat. Dies ist für Adorno der Kern des gegenwärtigen Antagonismus. Den Einzelnen werde heute „ihre Existenz buchstäblich von den großen Monopolen und Mächten widerruflich zugeteilt“[50]. Das Wertgesetz realisiert sich im Kapitalismus über den Köpfen der Menschen, das Allgemeine besitzt eine Vormacht, gegen die der Einzelne machtlos ist und dies reflektiert sich in der Trennung zwischen Subjekt und Objekt.[51]

Die Darstellung Adornos Gedanken fällt an dieser Stelle deshalb so eklektisch und unzusammenhängend aus, weil sie in der Negativen Dialektik genau so unkonkret und unvermittelt über das Werk verteilt auftauchen. Die Subjekt-Objekt-Trennung und der Identitätszwang folgen aus einer Mischung von Naturbeherrschung, antagonistischer Gesellschaft, Verselbstständigung und Übermacht der Totalität, Äquivalententausch und Arbeitsteilung. Was darunter jeweils genau zu verstehen sei und wie diese konkret miteinander und mit den Erkenntnisstrukturen zusammenhängen bleibt auffällig unausgeführt. Möglicherweise wäre dies zu erklären mit Adornos Überlegungen, dass die spätkapitalistische Gesellschaft sich in ihrer Irrationalität im Gegensatz zu Marx' Zeiten überhaupt der Entfaltung in einer rationalen Gesellschaftstheorie entziehe.[52]

Klar ist für Adorno, dass seine Erkenntniskritik keine universelle Gültigkeit hat, sondern sich auf Erkenntnisstrukturen bezieht, die gesellschaftlich bedingt sind. Entsprechend geht es ihm darum, seine Philosophie vom „Standpunkt der Erlösung“[53] aus zu entwickeln, eine „Utopie des Besonderen“[54] aufzubewahren, in der Allgemeines und Besonderes nicht mehr als Widerspruch zueinander stünden, sondern Nichtidentisches einfach als Verschiedenes respektiert werden könnte. Er macht folglich Andeutungen, wie eine andere Gesellschaft und damit auch andere Strukturen der Erkenntnis aussehen könnten, bzw. wo eine solche Utopie anzusetzen hätte. Während Negative Dialektik den Bruch zwischen Subjekt und Objekt artikulieren will, zielt sie darauf, diese zu versöhnen. Gegen die Übermacht des Allgemeinen wendet sie sich dem Besonderen zu, um die Idee einer Welt zu retten, in der das nichtidentische Viele nicht mehr dem Zwang zur Identität untergeordnet würde.[55]

Dialektik bezeichnet er folglich als Ontologie des falschen Zustandes, sie drückt einen Zustand aus, in dem die Gesellschaft, obwohl gebildet durch die Einzelnen, diese negiert, in der sie unkenntlich und machtlos sind. Sie will als negative über das Gegebene hinausweisen auf einen Zustand, der weder System, noch Widerspruch wäre, in dem das Besondere also als vom Ganzen Verschiedenes für sich sein könnte.[56]

Es würde also an Marx anschließend darum gehen, die Vormacht der Waren zu brechen, die vermittelt über den Tausch den Menschen ihr eigenes gesellschaftliches Verhältnis als das von Dingen erscheinen lassen. Der Warenfetisch ist aus dem Tauschvorgang als gesellschaftlichem Apriori objektiv deduziert. In der Überwindung dieser Verhältnisse sollen die Menschen gleichzeitig ihre Verhältnisse bewusst herstellen können, wie auch dadurch das ihnen Fremde als Verschiedenes schätzen und nicht beherrschen und ihnen gleichmachen.[57]

An einer Stelle der Negativen Dialektik wird Adorno tatsächlich etwas konkreter. Während an verschiedenen Stellen beim Tauschprinzip beschrieben wird, dass unter ihm generell Ungleiches miteinander identifiziert werde – also im Marxschen Sinne verschiedene konkrete Arbeiten und verschiedene Güter mit qualitativ unterschiedlichen Gebrauchswerten – beschreibt er dort interessanterweise, dass im Namen des Äquivalententauschs „von alters her Ungleiches getauscht, der Mehrwert der Arbeit appropriiert wurde.“ Er postuliert folglich, dass Kritik darauf ziele, „daß das Ideal des freien und gerechten Tauschs […] verwirklicht werde. […] Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus.“[58]

Dies fällt plötzlich zurück in eine orthodox-marxistische Lesart, die nahe legt, das Problem an der bürgerlichen Gesellschaft liege lediglich in der Ausbeutung der Arbeit durchs Kapital, also in der Aneignung des Mehrwerts. Entgegen Adornos durchgängiger Kritik am orthodoxen Marxismus und seiner sonstigen Anklage gegen das Tauschprinzip selbst, legt er hier eine merkwürdige Vorstellung einer versöhnten postkapitalistischen Gesellschaft nah. Diese ist mit der Idee des freien und gerechten Tauschs – Marx zeigte ja gerade, dass dieser in kapitalistischen Gesellschaftsformationen formal verwirklicht ist – so offensichtlich von der gegenwärtigen Gesellschaft affiziert, dass mit Adorno sein selbst ausgesprochenes säkularisiertes Bilderverbot [59] gegen ihn zu wenden und an seiner Äußerung zu begründen wäre. Ebenso zu hinterfragen wäre an dieser Stelle die beinahe vulgärmaterialistische These, dass, wenn Arbeiter_innen ihre Mehrarbeit nicht mehr vorenthalten würde und damit tatsächlich Gleiches mit Gleichem getauscht würde – wenn man also über diese Verdrehung des Marxschen Gedankens hinwegsähe – dies unmittelbar dazu führen würde, die Denkstrukturen so zu verändern, dass die Gesellschaft „über das identifizierende Denken hinaus“ wäre. Die Frage des Materialismus wird weiter unten jedoch in vergleichender Absicht noch einmal auf aufgeworfen und soll dementsprechend hier nicht weiterverfolgt werden.

44. Problemfelder

4.1 Verhältnis von Natur- und Sozialwissenschaften

Für den nachfolgenden Vergleich zwischen Bachelard und Adorno ist jedoch zunächst die Frage nach der Übertragbarkeit ihrer Überlegungen in das jeweils andere Erkenntnisgebiet, bzw. ihrer allgemeinen Universalisierbarkeit zu stellen. Bachelard beansprucht wie bereits dargestellt für seine stufenförmige Abfolge jeder wissenschaftlichen Erkenntnis eindeutig Universalität. Die Soziologie befindet sich in seiner Vorstellung schlicht noch in einem primitiven Stadium, in dem sie nur teilweise bereits positivistisch ist, aber ihr zukünftiger Weg in Richtung Surrationalismus ist ihr mit weiterem Erkenntnisfortschritt vorgegeben.[60] Ob jedoch gesellschaftliche Tatbestände in einer Form erkannt werden können, die Bachelards Vorstellungen von Rationalismus oder Surrationalismus entsprechen, ist zu bezweifeln. Da er „Theorie und Mathematik identifiziert“ und das „Gerüst seines Rationalismus […] ein Mathematismus“[61] ist, ist dieser eben schwierig auf Erkenntnisgebiete zu übertragen, die nicht vollständig mess- und berechenbar sind. Sein „militanter Mathematismus“[62] verhindert eigentlich eine Übertragbarkeit seiner Überlegungen. Nur mit mathematischen Formeln und Funktionen überhaupt eine Wesensaussage über Gesellschaft treffen zu wollen, die über eine positivistische Verdopplung von Oberflächenerscheinungen hinaus ginge und mehr wäre als reine Deskription, bliebe wohl ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Seine Aussage, die eigentliche Zusammensetzung des Wirklichen sei mathematischer Natur,[63] mag für physikalische und chemische Zusammenhänge begründbar sein, für gesellschaftliche Verhältnisse ist sie sicher falsch. Nicht ohne Grund kritisiert Adorno genau diese Quantifizierungstendenz aller Wissenschaft seit Descartes scharf, die entgegen dessen Intention die Qualitäten ausschalte, indem sie sie in messbare Werte verwandle.[64] Er stellt fest, dass Quantifizierungsfähigkeit und Rationalität nicht dasselbe seien und insistiert, dass deren Gleichsetzung eine Folge des Primats der triumphierenden Naturwissenschaften sei.[65] Die Kritik könnte direkt an Bachelards Universalitätsanspruch adressiert sein. Nichtsdestotrotz existieren zahlreiche fruchtbare Anschlüsse an Bachelard auch von gesellschaftstheoretischen Autor_innen.[66] Keine_r von ihnen eignete sich jedoch Bachelards starres Stufenkonzept der philosophischen Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis oder seinen Mathematismus an, sondern sie nahmen z.B. seine Ideen von Erkenntnishindernissen oder des epistemologischen Bruches auf und entwickelten diese auf sozialwissenschaftlichem Gebiet weiter.[67]

Adorno hingegen postuliert nicht eine einfache Übertragbarkeit seiner Überlegungen auf andere wissenschaftliche Gebiete, obwohl seine erkenntnistheoretischen Reflexionen durchaus Allgemeingültigkeit beanspruchen. So hält er beispielsweise fest, dass überschwängliche Synthesen zwischen der philosophischen Entwicklung und der naturwissenschaftlichen anrüchig seien, auch wenn sich durchaus Zusammenhänge und Parallelen ausmachen ließen.[68] Wenn er aber postuliert, dialektische Vernunft sei „geworden und vergänglich, wie die antagonistische Gesellschaft“[69] und damit nicht nur wie die antagonistische Gesellschaft sondern wohl auch mit dieser meint, dann bezieht sich die Erkenntnisform nicht nur auf die Sozialwissenschaften. Er wendet gegen den Primat der Subjektivität sogar unter expliziter Bezugnahme auf Einstein ein, dass diese sich historisch verändere und erklärt in erstaunlicher Parallelität zu Bachelard, wie dieser „das Gefängnis der Anschauung sowohl wie der subjektiven Apriorität von Raum, Zeit und Kausalität gesprengt“[70] habe. Was es für den Vergleich zwischen dem Subjekt-Objekt-Verhältnis bei Bachelard und Adorno impliziert, wenn dieser das Beispiel als Argument für den Vorrang des Objekts gebraucht, wird weiter unten erörtert werden; hier soll die Textstelle lediglich belegen, dass Adorno die Negative Dialektik nicht bloß auf gesellschaftliche Gegenstände beschränkt. Schwierig wird die Übertragbarkeit bei Adorno vor allem dort, wo es um die inneren Widersprüche der Erkenntnisobjekte und deren Begründung geht. Wenn die „Antagonismen des Objekts […] die des Allgemeinen und Besonderen der Gesellschaft sind“[71], wenn sie in ihnen also aus all den oben genannten gesellschaftlichen Tatbeständen folgen, dann geht es eindeutig um gesellschaftliche Erkenntnisobjekte. Denn die innere Beschaffenheit eines Elektrons ist ganz sicher nicht durch die antagonistische Gesellschaft widersprüchlich, wenn auch das Verhältnis des Erkenntnissubjekts zu ihm durch diese affiziert ist. Allerdings kann auch dieses Problem mit Adorno gegen ihn gelöst werden. Da es ein Grundsatz Negativer Dialektik ist, Form und Inhalt nicht trennen zu können und die ausgeführte Methodologie eben keine starre ist, müsste auch in den Naturwissenschaften die Form der Erkenntnis am Material entwickelt werden. Folglich können die gesellschaftstheoretischen Überlegungen selbstverständlich nicht ohne Weiteres übertragen werden. Unter dieser Prämisse ist es jedoch durchaus möglich, Adornos erkenntnistheoretische Reflexionen auf den naturwissenschaftlichen Bereich zu übertragen und mit denen Bachelards zu vergleichen.

4.2 Subjekt-Objekt-Verhältnis

Das Subjekt-Objekt-Verhältnis im Erkenntnisprozess scheint in der Philosophie des Nein und Negativer Dialektik auf den ersten Blick konträr zu sein. Während Adorno eindeutig den Vorrang des Objekts postuliert, klingen Bachelards Ausführungen über das Verhältnis von Noumenon und Phänomen nach einem Vorrang des Subjekts. Bei näherer Betrachtung ergeben sich dabei jedoch durchaus Überschneidungen. Einerseits stellt Bachelard zwar klar, dass Erkenntnisgewinne ab einer gewissen Stufe nicht mehr „das Ergebnis einer Untersuchung des jeweiligen Phänomens im Sinne des Realismus“ seien, sondern „alle noumenalen Charakters“[72], andererseits wird an verschiedenen Stellen deutlich, dass es ihm dabei nicht um einen idealistischen Anspruch geht, sondern darum, durch die theoretische Konstruktion Phänomenbereiche zu erschließen, die bei oberflächlicher Anschauung nicht zugänglich wären. Der Zweck der Konstruktion wäre folglich die Ergründung des Wesens hinter den Erscheinungen. Wenn Bachelard aber beispielsweise fordert, „der Darstellung den Vorrang gegenüber der Realität einzuräumen, dem dargestellten Raum den Vorrang gegenüber dem realen Raum,“ dann will er damit keineswegs einer subjektiven Hypostase das Wort reden, sondern im Gegenteil über subjektive scheinbar unmittelbare Ersterfahrungen hinauskommen: Er will dem Dargestellten den Vorrang einräumen „genauer gesagt gegenüber dem Raum, den man real nennt, weil dieser ursprüngliche Raum eine Organisation von Ersterlebnissen ist.“[73] Es geht also bei seinem Ausklammern der Wirklichkeit nicht darum, diese konstruktivistisch für nachrangig zu erklären, sondern darum, mit unreflektierten Ersterlebnissen der Wirklichkeit zu brechen, um auf Neues am Erkenntnisobjekt stoßen zu können. Folglich hält er auch gleich zu Beginn der Philosophie des Nein fest, dass wissenschaftliches Denken eben in dem Bereich zwischen Theorie und Praxis, Mathematik und Erfahrung, Noumenon und Phänomen liegt, dass es sich immer zwischen beiden Seiten hin- und herbewegen müsse.[74] Die Rolle der Theorie wird nur deshalb mit dem Erkenntnisfortschritt wichtiger, weil sich an den Phänomenen ab einem bestimmten Komplexitätsgrad Neues nicht mehr durch unmittelbare Erfahrung erkennen lässt. Folglich begründet er die Notwendigkeit surrationalistischen Denkens auch nicht idealistisch, sondern gerade mit der Beschaffenheit der Objekte. Da diese komplex sind und widersprüchliche Eigenschaften besitzen, muss sich auch der wissenschaftliche Geist ihnen anpassen. Erst in dieser Perspektive wird verständlich, wie Bachelard durch das ganze Werk hindurch die zentrale Rolle von Deduktion und Theorie unterstreichen kann, um am Ende die für die Philosophie des Nein „typische induktive Denkweise, die zur Neugestaltung der Wissenschaften führt“[75] hervorzuheben. Das ist auch gemeint, wenn Joachim Kopper über Bachelard schreibt, seine Philosophie sei keine der Abstraktion, sondern des angewandten Gedankens, dass für ihn immer das rezeptive Moment bestimmend sei, seine Rationalität eine des stofflichen Seins selbst, aus der heraus sich das Denken auch in der Aktivität des Begreifens zuteil werde; dass das Denken bei Bachelard die rationalen Strukturen aus der Wirklichkeit heraus als eigene Struktur gewinnen müsse.[76] Insofern stellt sich die Frage, ob in diesem Verständnis der oberflächliche Ersteindruck eines Vorrangs des Subjekts in der Philosophie des Nein bei näherer Betrachtung nicht etwas Ähnliches beschreibt, wie die Vorstellung von Erkenntnis in der Negativen Dialektik.

Denn auch Adorno ist sich durchaus bewusst, dass die Beschaffenheit der Erkenntnisobjekte nur durch das reflektierende Subjekt hindurch zu erkennen ist, es geht ihm darum, sich dabei im Erkenntnisprozess der Unzulänglichkeit desselben bewusst zu sein und die Objekte eben nicht auf die Bestimmungen des Subjekts zu reduzieren.[77] Trotzdem spielt das Subjekt selbstverständlich eine zentrale Rolle, denn es entscheidet sich, an bestimmten Stellen nach Wesentlichem zu suchen, was in einem gewissen Maß nur von der vorgreifenden theoretischen Besinnung antizipiert werden könne – „ein Wahrheitsmoment der idealistischen Philosophie.“[78] Das stellt in etwa das dar, was Bachelard mit dem prospektiven, also vorausschauenden Rationalismus bezeichnet, der natürlich ebenso erst in der Anwendung in der Realität wissenschaftliche Erkenntnis hervorbringen kann.[79] So charakterisiert auch Adorno den dialektischen Prozess als ein sich Hin- und Herbewegen zwischen Subjekt und Objekt. Der Gedanke müsse über den Gegenstand hinausschießen, dürfe aber außerhalb des dialektischen Vollzugs eben nichts positiv hypostasieren. Die Versenkung ins Einzelne bedürfe als ihr Moment auch der Freiheit, aus dem Gegenstand herauszutreten. Auch Adorno konstatiert: „Was in ihnen [den Gegenständen] selbst wartet, bedarf des Eingriffs, um zu sprechen, mit der Perspektive, daß die von außen mobilisierten Kräfte, am Ende jede an die Phänomene herangebrachte Theorie in jenen zur Ruhe komme.“[80] Im Prinzip ist das also Bachelards prospektiver angewandter Rationalismus, nur dass Adorno sich mit dem Vorrang des Objekts scharf von idealistischen Philosophien abgrenzen will, während Bachelards Hauptfokus in der Abgrenzung von blindem Empirismus liegt. Bei beiden jedoch ist es nur die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Theorie und Erfahrung, die Erkenntnis von hervorbringen kann.

Ebenso ließe sich diese Parallele am Erfahrungsbegriff zeigen. Bachelard versucht sich von ursprünglich-unmittelbaren Erfahrungen abzugrenzen, weil diese gemäß einer Alltagsepistemologie angeordnet werden und damit oberflächlich verbleiben. Deshalb ist ihm theoriegeleitete Erfahrung wichtig, um Neues, Wesentliches entdecken zu können. Diese scheinbar unmittelbare Erfahrung ist aber genau nicht das, was Adornos Begriff der geistigen Erfahrung meint. Gerade der bereits erwähnte Verweis auf Einstein, der „mit theoretischer Stringenz das Gefängnis der Anschauung […] gesprengt“[81] habe, unterstreicht, dass Adorno dabei keineswegs an die unmittelbare Empfindung beispielsweise der Temperatur im Gegensatz zu der transzendierten Erfahrung beim Ablesen eines Thermometers[82] dachte. Im Gegenteil meint die Versenkung ins Objekt gerade auch ein Sicheinlassen, das es erst ermöglicht über scheinbar unmittelbare Ersterfahrungen hinauszugehen. Insofern also Adornos Vorrang des Objekts durch geistige Erfahrung konstitutiv mit philosophisch-theoretischer Reflexion verknüpft ist und Bachelards Vorrang der Theorie sowohl Erfahrungen der Wirklichkeit aufnimmt, als auch in dieser wieder verwirklicht werden muss, sind sie tatsächlich nicht so weit voneinander entfernt, wie es zunächst scheinen mag.

Auch die Begründungen beider Autoren für den Bruch mit den Regeln der klassischen Logik und der Parteinahme für Nichtidentität veranschaulichen dies. Beide begründen diesen mit den Eigenschaften der Erkenntnisobjekte: Sind diese nicht sich selbst identisch, dann muss der Satz der Widerspruchsfreiheit verworfen werden. Das ist gleichzeitig Adornos Vorrang des Objektes und Bachelards Vorrang der Theorie. Adorno will damit sagen, wenn Erkenntnisregeln des Subjekts eine volle Erkenntnis der Beschaffenheit des Objekts verhindern, sind jene zu verwerfen und diesem der Vorrang zu geben. Bachelard meint damit, wenn sich in der auf Erfahrung beruhenden theoretischen Erfassung des Objekts logische Widersprüche ergeben, dann muss das kein Zeichen für eine falsche Theorie sein: Wenn sich diese Widersprüche auch im Objekt zeigen lassen, dann ist die Logik der Fehler. Letztlich verwerfen sie beide die klassischen Regeln des Denkens, weil sie sich an den konkreten Erkenntnisobjekten als inadäquat erwiesen haben. Beide wollen durch den Bruch mit der Logik die Möglichkeit eröffnen, an den Objekten Neues zu entdecken, was vorher durch die Denkform der Subjekte verhindert wurde.

4.3 Materialismus

Wie bereits klar geworden sein sollte, steht für beide Autoren die Veränderlichkeit der Denk- und Erkenntnisformen der Subjekte außer Frage und ihre Konzeptionen davon sind als verschiedene Formen von Materialismus fassbar. Bachelards Materialismus ist jedoch besonderer Art, jedenfalls steht er in keiner Tradition zu Marx' historischem Materialismus. Klar ist bei ihm, dass Fortschritte des wissenschaftlichen Denkens „Wandlungen direkt in den Prinzipien der Erkenntnis“[83] bedingen. Die scheinbaren a priori der Subjekte sind bereits a posteriori, weil sie an der vorherrschenden wissenschaftlichen Kultur gebildet wurden.[84] Ändert sich diese, müssen sich auch jene umformen: „Die wissenschaftliche Kultur hat tiefgreifende Änderungen des Denkens zur Folge.“[85] Folglich spielt für Bachelard Pädagogik eine nicht geringe Rolle, um den Subjekten neue fortschrittliche Denkformen anzutrainieren. Eine neue Erkenntnisform bedingt automatisch eine Reform des Geistes, die mithilfe einer neuen Pädagogik beschleunigt werden soll.[86] Zunächst klingen diese Formulierungen, als sei die Wissenschaft nun idealistisch aus sich selbst heraus in der Lage, einen Erkenntnisfortschritt zu generieren, der in der Folge jede Form des Denkens automatisch oder durch erzieherische Anstrengung modifiziert. Die Entwicklung folgt bei ihm aber nicht aus sich selbst, sondern aus den Strukturen der materiellen Wirklichkeit. Ihre Ambiguitäten sind es, die laut Bachelard das Denken anregen und es veranlassen, sich selbst im Erkenntnisfortschritt anpassen zu müssen.[87] Weil die Materie selbst komplexer ist, als der klassische Rationalismus es zu denken vermag, muss er über sich hinaus gehen. Joachim Kopper beschreibt folglich, dass Bachelard davon ausgehe, dass das Denken „sich selbst aus seinem Stoffe empfängt.“ Das Denken soll sich durch die „Hingabe an den Stoff“[88] dem Wesen desselben annähern. Völlig unklar bleibt dabei jedoch, warum das Denken zu welchem Zeitpunkt zum Aufstieg in die jeweils nächste epistemologische Stufe in der Lage ist. Warum gerade mit der aufkommenden Moderne beispielsweise Empirismus und Rationalismus denkbar werden, kann mit einer reinen Begründung in der stofflichen Umwelt überhaupt nicht erklärt werden, da eine gesellschaftsanalytische Perspektive vollständig fehlt. So stellt beispielsweise auch Dominique Lecourt fest, dass Bachelard idealistischen Implikationen der Philosophie der Wissenschaften verhaftet bleibe, obwohl seine Schlussfolgerungen in gesellschaftlicher Perspektive auf einen marxistischen Materialismus im Sinne Althussers hinausliefen.[89]

Diesen Schritt ist ihm Adorno definitiv voraus, denn für seine erkenntnistheoretischen Reflexionen im Anschluss an Marx ist das Bewusstsein davon konstitutiv, dass Denkformen ausschließlich gesellschaftlich erklärt werden können. Es sind „die geschichtlichen Bedingungen, denen innere Zusammensetzung und Konstellation von Subjekt und Objekt unterliegen.“[90] Das bedeutet auch, dass Negative Dialektik keine transhistorische Gültigkeit beanspruchen kann, sondern nur die gegenwärtige Gesellschaft betrifft, während Bachelards dialektischer Surrationalismus durchaus die höchstmögliche Stufe der Epistemologie zu beanspruchen scheint.[91] Adorno formuliert folglich gewissermaßen eine historisch-materialistische Epistemologie: Dass die Welt in einer bestimmten Weise apperzipiert wird, „dafür sorgt die präsubjektive Ordnung, welche ihrerseits die für die Erkenntnistheorie konstituierende Subjektivität wesentlich konstituiert.“[92] Wie bereits beschrieben bleibt Adornos Charakterisierung der für die Konstitution von Subjektivität zentralen Aspekte der gegenwärtigen Gesellschaft reichlich unkonkret und wird damit dem Anspruch der Negativen Dialektik auf Versenkung ins Erkenntnisobjekt alles andere als gerecht. Dass beispielsweise der Äquivalententausch eine entscheidende Rolle für die Subjektkonstitution in der bürgerlichen Gesellschaft spielt, ist nicht zu bezweifeln. Um jedoch nicht bei merkwürdigen Scheinlösungen wie dem gerechten Tausch als Gegenbild zu enden, könnte die Analyse beispielsweise tatsächlich an den konkreten epistemologischen Brüchen ansetzen und die gesellschaftlichen Veränderungen und die der Denkform konkret analysieren. Ein Beispiel, wie eine solche Analyse aussehen könnte, stellt Eske Bockelmanns Werk Im Takt des Geldes [93] dar, in dem er ausführlich nachverfolgt, wie mit der Verallgemeinerung des Geldes seit der frühen Neuzeit sich sowohl die Wahrnehmungs- als auch die Denkstrukturen der Subjekte grundlegend veränderten und damit die gesamte moderne Wissenschaft überhaupt erst möglich wurde. Damit werden einerseits alle wissenschaftlichen epistemologischen Stufen Bachelards als zusammengehörige historisiert und andererseits Adornos These der Zentralität des Tauschprinzips für bürgerliche Subjektivität historisch unterfüttert. Ähnliche Analysen wären aber letztlich auch vorstellbar für die Abfolge der binnenwissenschaftlichen Erkenntnisformen Bachelards. Die hierbei jedoch in Relation zur Verallgemeinerung der Geldform wesentlich geringeren gesellschaftlichen und epistemologischen Brüche würden solche wohl erheblich schwieriger machen. Auch Michel Foucaults Arbeiten, in denen er ausdrücklich an Bachelard anknüpft, lassen sich als eine solche gesellschaftlich-historische Rückbindung der Entwicklung des Denkens verstehen.

4.4 Weitere Parallelen und Unterschiede

An einigen weiteren Bereichen ließe sich ein Vergleich Bachelards und Adornos fruchtbar machen, die an dieser Stelle aus Platzgründen nur angedeutet werden sollen. Interessant wäre, dass für beide Konstellationen eine notwendige Form sind, in der die Wirklichkeit beschrieben werden muss, wenn mit der Identitätslogik gebrochen wird.[94] Und beide legen in ihrer Begründung sowohl für diesen Bruch als auch für die Notwendigkeit eines konstellativen Denkens großes Gewicht auf das Werden der Erkenntnisobjekte, auf ihren Prozesscharakter. Bei Bachelard ist dies das Hauptargument, warum es des dialektischen Rationalismus für Erkenntnis bedarf und auch dafür, dass in seiner Vorstellung dialektischen Denkens keine abschließende Synthese möglich ist, die die Widersprüche in den Objekten und ihr Werden stillstellen könnte.[95] Bei Adorno ist die Begündung komplexer, neben dem historischen Werden der Objekte bezieht sie sich vor allem auch darauf, dass diese als Momente sowohl Teil eines Ganzen sind, als auch in Verhältnis zu anderen stehen, wobei sich solch antiisolationistische Motive auch bei Bachelard finden lassen.[96] Die letztliche Begründung liegt in dem allgemeinen Fehler von Begriffen, Gewordenes und Werdendes stillzustellen.[97] Auch die Rolle, die bei beiden Autoren die Begriffe der Öffnung und Offenheit in diesem Zusammenhang spielen, wäre ein interessantes Untersuchungsgebiet. Ebenso bliebe zu fragen, wie das Verhältnis von Bachelards Vorstellungen von Prozessen in lebloser Materie zu denen Adornos von historischem Werden gesellschaftlicher Tatbestände zu bestimmen wäre. Dass sie jedoch bis in die Wortwahl hinein zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommen ist auf jeden Fall bemerkenswert.

Auch ihre jeweiligen Wahrheitsbegriffe wären einen ausführlicheren Vergleich wert. Beide gehen davon aus, dass absolute und endgültige Wahrheit nicht für das Subjekt zu haben ist und für beide spielen folglich Prozesse der Annäherung eine wichtige Rolle. Ohne es explizit zu machen klingt in der Philosophie des Nein die Vorstellung einer objektiven Wahrheit der Gegenstände an, der sich mithilfe der – wiederum nicht absoluten, sondern veränderlichen – Vernunft angenähert werden kann.[98] Auch für Adorno ist dialektisches Denken ein Prozess der Annäherung an eine vorhandene objektive Wahrheit. Bei ihm ist jedoch zusätzlich der Gedanke zentral, dass diese selbst einen Zeitkern hat: Wissen wird nicht nur deshalb überholt, weil es falsch war, sondern auch weil die Gegenstände selbst sich verändern und eine ehemals richtige Erkenntnis zu einem anderen Zeitpunkt falsch werden kann.[99] Für eine produktive Auseinandersetzung auch mit den vorhandenen Unterschieden müsste jedoch auch hier tiefer in die jeweiligen Vorstellungen eingetaucht werden.

Ein weiteres Feld, an dem ein Vergleich ansetzen könnte, wären Funktion und Stellenwert von Bachelards anagogischen Träumen und Adornos spekulativem Denken. Auch wenn hier Bachelards mathematistische Anklänge sicherlich eine wichtige Differenz markieren, wollen beide mit diesen Begriffen die Unverzichtbarkeit eines spielerischen Moments (Adorno), eines umherstreifenden Denkens (Bachelard) markieren, das über das faktisch Gegebene hinausgeht, um tatsächlich Neues erkennen zu können.[100]

Ein in dieser Arbeit bisher kaum diskutierter Aspekt, der sicherlich große Unterschiede, wenn nicht Gegensätze zwischen den beiden Autoren zum Vorschein bringen würde, ist der des Verhältnisses zu Naturbeherrschung und damit verbunden der Bewertung der Geschichte als Fortschritt.[101] Bachelard hat hierzu ein völlig unkritisches Verhältnis: Naturbeherrschung ist der Zweck der Wissenschaft und folglich diese, wenn auch nicht linear, so doch als eindeutig positiv fortschreitend zu fassen. Seine Beschreibung der stufenförmigen Entwicklung des wissenschaftlichen Geistes hat dabei durchaus teleologische Anklänge. Für Adorno steht hingegen – im Übrigen explizit gegen Marx – fest, dass das Prinzip der Naturbeherrschung selbst konstitutiv mit der Herrschaft des Menschen über den Menschen zusammenhängt und sich folglich in einer befreiten Gesellschaft auch das Verhältnis von Mensch und Natur, dessen Teil der Mensch eben auch ist, grundlegend verändern müsse.[102] Die Formulierung Adornos kategorischen Imperativs nach Auschwitz ist gerade auch in diesem Kontext des Verständnisses von Geschichte als fortschreitender Naturbeherrschung zu sehen, die im industrialisierten Massenmord ihren vorläufigen Höhepunkt in der Teleologie des absoluten Leidens fand. Folglich begreift Adorno Geschichte eher als Verfall, wenn auch seine ganze Geschichtsphilosophie wesentlich komplexer ist.[103]

Ein letzter Bereich, der in dieser Arbeit bisher keine Beachtung gefunden hat und für einen umfassenden Vergleich der beiden Autoren notwendig wäre, ist der von Poesie und Ästhetik. Neben dem wissenschaftlichen Geist beleuchtet Bachelard in umfassenden Untersuchungen den poetischen Geist, wo er mit der Einbildungskraft, bzw. imagination, ein zweites, dem Verstand des wissenschaftlichen Geistes komplementär zugeordnetes geistiges Vermögen des Menschen ausmacht, wobei beide auf verschiedenen Ebenen liegen und nicht unmittelbar vergleichbar sind.[104] Ebenso sind in Adornos Auseinandersetzungen mit Ästhetik, Kunst und Musik diese zu verstehen als ein Bereich, dem in seiner Erkenntniskritik als einer, der eine besondere nichtbegriffliche Form von Erfahrung und Erkenntnis ermöglicht, eine zentrale Rolle zukommt, jedoch mit Philosophie gleichzeitig Gemeinsames hat und dieser entgegengesetzt ist.[105] Dass beide Autoren neben der Diskussion philosophisch-wissenschaftlicher Fragen große Teile ihres Schaffens Bereichen widmeten, die gleichzeitig fundamental von Philosophie unterschieden und für Erkenntnis ebenso zentral sind, jedoch beide im Ästhetischen verortet sind, ist mindestens bemerkenswert. Gerade wegen der bei beiden angelegten Verschiedenheit dieser Felder vom philosophischen und ihrer ausführlichen Beschäftigung damit, bedürfte ein sinnvoller Vergleich hier jedoch wohl einer eigenen Arbeit.

55. Statt eines Fazits

„Dialektik [muss], in eins Abdruck des universalen Verblendungszusammenhangs und dessen Kritik, in einer letzten Bewegung sich noch gegen sich selbst kehren. Die Kritik an allem Partikularen, das sich absolut setzt, ist die am Schatten von Absolutheit über ihr selbst, daran, daß auch sie, entgegen ihrem Zug, im Medium des Begriffs verbleiben muß. Sie zerstört den Identitätsanspruch, indem sie ihn prüfend honoriert. Darum reicht sie nur so weit wie dieser. Er prägt ihr als Zauberkreis den Schein absoluten Wissens auf. An ihrer Selbstreflexion ist es, ihn zu tilgen, eben darin Negation der Negation, welche nicht in Position übergeht. Dialektik ist das Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhangs, nicht bereits diesem entronnen. Aus ihm von innen her auszubrechen, ist objektiv ihr Ziel. […] Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik, daß sie sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung.“[106]

Der Anspruch dieser Arbeit war es einerseits, in der Darstellung der Philosophien Bachelards und Adornos Bereiche zu identifizieren, in denen sie immanent zu kritisieren wären, als auch in Gegenüberstellung derselben Problemfelder zu markieren, wo die Beschäftigung mit dem jeweils anderen Autor produktiv gemacht werden könnte. In gewisser Weise wäre das als Versuch zu verstehen, die von Adorno in obenstehendem Zitat geäußerte Forderung zu erfüllen, Negative Dialektik auch gegen sich selbst zu wenden. Selbstverständlich konnte in der Knappheit der vorliegenden Arbeit diese Auseinandersetzung nur andeutungsweise geführt werden und musste sich letztlich mit einer Benennung möglicher Bruchstellen begnügen. Trotzdem konnten gerade bei den Fragen der jeweiligen Universalisierbarkeit, des Materialismus und des Subjekt-Objekt-Verhältnisses einige Aspekte ausgeführt werden, wo Modifizierungen anzusetzen hätten, bzw. in welche Richtung sie zu gehen hätten oder auch, wo erstaunliche Parallelen einen ausführlicheren Vergleich fruchtbar erscheinen lassen. Einige weitere Bereiche mussten leider völlig unausgeführt bleiben.

Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass die Negative Dialektik konzeptionell so selbstkritisch und -reflexiv angelegt ist, dass die identifizierten Probleme mit ihren eigenen Werkzeugen fassbar sind und es so möglich ist diese damit immanent weiterzuentwickeln. In der Philosophie des Nein existieren hingegen beispielsweise mit dem Stufenkonzept der wissenschaftlichen Entwicklung Bereiche, die so formalisiert und starr sind, dass sie in dieser Form tatsächlich zu verwerfen sind. Nichtsdestotrotz sind dort Ideen formuliert, an die anders eingebettet sinnvoll anzuschließen ist und angeschlossen wurde und die auch in der Selbstreflexion der Negativen Dialektik berücksichtigt werden können. Letztendlich sollte es gelungen sein, zumindest einige bewahrenswerte Aspekte, wie auch einige Unzulänglichkeiten bei beiden Autoren kenntlich zu machen, die eine intensivere Befassung mit beiden über die vorliegende Arbeit hinaus als lohnenswert versprechen.

66. Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W. (1972): Soziologische Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (2003a): Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (2003b): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. (2007): Vorlesung über Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bachelard, Gaston (1978): Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Frankfurt am Main. Suhrkamp.

Bachelard, Gaston (1980): Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen Wissenschaftlichen Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre/Chamboredon, Jean-Claude/Passeron, Jean-Claude (1991): Soziologie als Beruf. Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis. Berlin/New York: De Gruyter.

Bockelmann, Eske (2012): Im Takt des Geldes. Zur Genese des modernen Denkens. Hannover: Zu Klampen

Canguilhem, Georges (1979): Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Gruber, Alex/Lenhard, Philipp (Hg.)(2011): Gegenaufklärung. Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft. Freiburg im Breisgau: Ça Ira.

Klaas, Uwe (2013): Französische Epistemologie. Scribt.

Online unter: http://de.scribd.com/doc/139392784/Franzosische-Epistemologie [Stand: 28.08.2014].

Kopper, Joachim (1980): Wissenschaftlicher und poetischer Geist. Zur Philosophie Gaston Bachelards. In: Bachelard, Gaston: Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen Wissenschaftlichen Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 167-188.

Schweppenhäuser, Gerhard (2005): Theodor W. Adorno zur Einführung. Hamburg: Junius.

Tiedemann, Rolf (2007): Nachbemerkung des Herausgebers. In: Adorno, Theodor W. (2007): Vorlesung über Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 335-346.

Tietz, Manfred/Schmidt, Gerhard (1980): Einleitung. In: Bachelard, Gaston: Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen Wissenschaftlichen Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7-16.

[...]


[1] Schmitdt/Tietz (1980): S. 9. Hervorhebung J.A.

[2] Adorno (2003a): S. 9. Der Begriff trifft das Vorhaben nur bedingt, da in Adornos Konzeption das Verfahren nicht unabhängig vom jeweiligen Inhalt zu denken ist. Vgl. hierzu bspw. Tiedemann (2003): S. 337f.

[3] Vgl. als besonders zugespitztes Beispiel Gruber/Lenhard (2011).

[4] Schweppenhäuser (2005): S. 55. Zu fragen wäre grundsätzlich, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, die unterschiedlichen Positionen, die unter dem Begriff der „Postmoderne“ zusammengefasst werden, als Einheit begreifen zu wollen.

[5] Vgl. Klaas (2013).

[6] Canguilhem (1979): S. 10.

[7] Vgl. Bachelard (1978): S. 48.

[8] Vgl. Schmitdt/Tietz (1980): S 9f.

[9] Bachelard (1980): S. 22.

[10] Vgl. ebd.: S. 22ff.

[11] Ebd.: S. 29.

[12] Canguilhem (1979): S. 45.

[13] Ebd.: S 48.

[14] Vgl. Bachelard (1980): S. 31.

[15] Ebd.: S. 32. Die Soziologie befindet sich ihm zufolge beispielsweise nur zum Teil überhaupt schon im positivistischen Stadium.

[16] Ebd.: S. 34.

[17] Die Entwicklung der wissenschaftlichen Vorstellungen des Massebegriffs soll hier nur schlaglichtartig nachgezeichnet werden, um Bachelards Idee der Entwicklung einer Erkenntnis zu veranschaulichen. Die konkreten physikalischen Theorien müssen und können an dieser Stelle folglich nicht umfassend verständlich gemacht werden.

[18] Vgl. ebd.: S. 34ff.

[19] Vgl. ebd.: S. 40ff.

[20] Vgl. ebd.: S. 43ff.

[21] Ebd.: S. 50.

[22] Vgl. ebd.: S. 46ff.

[23] Vgl. ebd.: S. 55ff.

[24] Allgemein lässt sich konstatieren, dass an diesen Teil des Werks Bachelards von späteren Autor_innen nicht angeknüpft wurde.

[25] Vgl. ebd.: S. 17ff.

[26] Vgl. ebd.: S. 21f. Diese konstitutive Offenheit der Philosophie des Nein verweist bereits auf eine Parallele zur Negativen Dialektik; der Anspruch, die einzige offene Philosophie zu beschreiben ist freilich polemisch, auch wenn die Negative Dialektik erst dreißig Jahre später veröffentlicht wurde. Interessant wäre an dieser Stelle auch ein Vergleich mit Poppers Falsifikationismus, den Adorno bekanntlich durchaus leidenschaftlich – wenn vielleicht auch nicht immer fair – bekämpfte. Auch wenn sich auf den ersten Blick Parallelen ergeben, gibt es auch grundlegende Unterschiede, die an dieser Stelle nicht erörtert werden können. Für eine an Bachelard anschließende Kritik an einer Formalisierung des wissenschaftlichen Fortschritts vgl. Bourdieu et al. (1991): S. 9ff.

[27] Vgl. ebd.: S. 29.

[28] Vgl. ebd.: S. 24f.

[29] Vgl. ebd.: S. 46.

[30] Ebd.: S. 52.

[31] Vgl. ebd.: S. 52f.

[32] Vgl. ebd.: S. 55f.

[33] Vgl. Kopper (1980): S. 168ff.

[34] Vgl. Bachelard (1980): S. 130ff.

[35] Vgl. ebd.: S. 145ff.

[36] Adorno (2003a): S. 9.

[37] Vgl. Adorno (2007): S. 15ff. Aus den in der Vorbemerkung dargestellten Gründen gestaltet sich auch die Frage der jeweiligen Belegstellen schwierig. Deshalb wird hier nur auf Textstellen verwiesen, auf die unmittelbar Bezug genommen wird, obwohl meist versucht wird, verschiedene Ausführungen zu synthetisieren.

[38] Vgl. Schweppenhäuser (2005): S. 54ff.

[39] Adorno (2003a): S. 25.

[40] Vgl. Adorno (2007): S. 120ff, sowie Adorno (2003a): S. 144.

[41] Vgl. Adorno (2007): S. 44ff, 62, sowie Adorno (2003a): S. 62, 118, 156ff.

[42] Vgl. Adorno (2003a): S. 35f, 62, sowie v.a. 164ff. Siehe auch Schweppenhäuser (2005): S. 66f und Tiedemann (2007): S. 342f.

[43] Vgl. Adorno (2007): S. 133ff, 140ff, 148. sowie Adorno (2003a): S. 25ff.

[44] Vgl. Adorno (2007): S. 96.

[45] Vgl. ebd.: S. 21.

[46] Adorno (2003a): S. 155.

[47] Vgl. ebd.: S. 56ff.

[48] Vgl. ebd.: S. 149.

[49] Vgl. ebd.: S. 177.

[50] Ebd.: S. 311.

[51] Vgl. ebd.: S. 199f.

[52] Vgl. Adorno (1972): S. 359f.

[53] Adorno (2003b): S. 281.

[54] Adorno (2003a): S. 312.

[55] Vgl. ebd.: S. 18.

[56] Vgl. ebd.: S. 22.

[57] Vgl. ebd.: S. 190ff.

[58] Ebd.: S. 150. Siehe auch S. 291: „In einer richtigen Gesellschaft würde der Tausch nicht nur abgeschafft, sondern erfüllt: Keinem würde der Ertrag seiner Arbeit verkürzt.“

[59] Vgl. ebd.: S. 207.

[60] Vgl. Bachelard (1980): S. 31ff.

[61] Canguilheim (1979): S. 50.

[62] Ebd.: S. 52.

[63] Vgl. Bachelard (1980): S. 105.

[64] Hier drängt sich der Zusammenhang mit der Wertform tatsächlich auf.

[65] Vgl. Adorno (2003a): S. 53f. S.a. Tiedemann (2003): S. 338f.

[66] Vgl. Schmidt/Tietz (1980): S. 7.

[67] Vgl. bspw. Bourdieu et al. (1991).

[68] Adorno (2003a): S. 75.

[69] Ebd.: S. 145.

[70] Ebd.: S. 188.

[71] Ebd.: S. 308f.

[72] Bachelard (1980): S. 46.

[73] Ebd.: S. 89.

[74] Vgl. ebd.: S. 19f.

[75] Ebd.: S. 155.

[76] Vgl. Kopper (1980): S. 168.

[77] Vgl. Schweppenhäuser (2005): S. 62f.

[78] Adorno (2007): S. 104.

[79] Vgl. Bachelard (1980): S. 21.

[80] Adorno (2003a): S. 39. Es ließen sich in der Negativen Dialektik weitere Beispiele hierfür finden. An dieser Stelle seien noch zwei prägnante genannt: S. 41: „Theorie und geistige Erfahrung bedürfen ihrer Wechselwirkung.“ S. 44: „Analog hätte Philosophie nicht sich auf Kategorien zu bringen sondern in gewissem Sinn erst zu komponieren. Sie muß in ihrem Fortgang unablässig sich erneuern, aus der eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit dem, woran sie sich mißt; was in ihr sich zuträgt, entscheidet, nicht These oder Position; das Gewebe, nicht der deduktive oder induktive, eingleisige Gedankengang.“ (Hervorhebung J.A.)

[81] Ebd.: S. 188.

[82] Vgl. Bachelard (1980): S. 24f.

[83] Bachelard (1980): S. 23.

[84] Vgl. ebd.: S. 42, 56, sowie vor allem S. 123: „tiefgreifende Veränderungen müssen ihre Auswirkungen auf alle Apriorismen der Erkenntnis, auf alle Bereiche des geistigen Lebens zeitigen.“

[85] Ebd.: S. 25. Siehe auch ebd., S. 34: „[D]ie Richtung der philosophischen Entwicklung der wissenschaftlichen Begriffe ist so eindeutig, daß man nur schließen kann, daß die wissenschaftliche Erkenntnis das Denken bestimmt. Das wissenschaftliche Denken liefert also ein Prinzip zur Klassifizierung der Philosophien und zum Studium des Fortschritts der Vernunft.“

[86] Vgl. ebd.: S. 145.

[87] Vgl. ebd.: S. 30.

[88] Kopper (1980): S. 173.

[89] Vgl. Canguilhem (1979): S. 53f.

[90] Adorno (2003a): S. 135.

[91] Zumindest äußert er nirgendwo, dass dies nicht der Fall sein könnte.

[92] Ebd.: S. 173.

[93] Bockelmann (2012)

[94] Vgl. Bachelard (1980): S. 146ff, Adorno (2007): S. 61f.

[95] Vgl. Bachelard (1980): S. 82, 87, 155f.

[96] Vgl. ebd.: S. 97f.

[97] Vgl. Adorno (2003a): S. 61f, 111f, v.a. 164ff.

[98] Vgl. Bachelard (1980): S. 44f, 86ff.

[99] Vgl. Adorno (2003a): S. 45ff, Adorno (2007): S. 127f.

[100] Vgl. Bachelard (1980): S. 52f, sowie Adorno (2003a): S. 27ff, Adorno (2007): S. 133ff, 140, 148.

[101] Zum Thema Naturbeherrschung nur ein besonders plastisches Beispiel in Bachelard (1980): S. 50: „Die Theorie ist die mathematische Wahrheit, die noch keine vollständige Realisierung gefunden hat. Der Wissenschaftler muß die Natur zwingen, genauso weit zu gehen wie unser Geist.“

[102] Vgl. v.a. Adorno (2007): S. 89f.

[103] Vgl. zu Adornos kategorischem Imperativ Adorno (2003a): S. 358, zu seiner Geschichtsphilosophie im Allgemeinen ebd.: S. 314ff.

[104] Vgl. Tietz/Schmidt (1980): S. 8f, 12ff.

[105] Vgl. bspw. Adorno (2003a): S. 26f.

[106] Adorno (2003a): S. 397f.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Vergleich von Theodor W. Adornos "Negative Dialektik" und Gaston Bachelards "Philosophie des Nein"
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Poststrukturalismus
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
30
Katalognummer
V288525
ISBN (eBook)
9783656887638
ISBN (Buch)
9783656887645
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
vergleich, theodor, adornos, negative, dialektik, gaston, bachelards, philosophie, nein
Arbeit zitieren
Jan Ackermann (Autor:in), 2014, Vergleich von Theodor W. Adornos "Negative Dialektik" und Gaston Bachelards "Philosophie des Nein", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288525

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