Goethes "Die Natürliche Tochter". Eine ganzheitliche Betrachtung


Magisterarbeit, 2010

81 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung - Forsche(-nde) Ansichten

2. Eine natürliche Tochter - Das Gefäß

3. Die Figuren - künstliche Erscheinungen?
3.1. Die Wohlgeborene - Eugenie
3.2. Der Zerrissene - König
3.3. Der Bemühte - Herzog
3.4. Die Schwankende - Hofmeisterin
3.5. Der Bürgerliche - Gerichtsrat
3.6. Betrügerische Gruppierungen - Sekretär und Weltgeistlicher
3.7. Der Deutende - Mönch

4. Versagen, Zusagen, Entsagen

5. Sprache und Raum
5.1. Das blanke Wort
5.2. Der örtliche Raum

6. Französische Revolution - Dichtung und Wahrheit?
6.1. Absichten, Ansichten, Einsichten

7. Eine einteilige Trilogie - Ursachen und Folgen
7.1. Blinde Motivation?

8. Das tragische, dramatische, klassische, fabelhafte Trauerspiel
8.1. Eine griechische Tochter?

9. Theatralische Betrachtungen

10. Die dramatische Quintessenz

11. Literaturverzeichnis

1. Einleitung - Forsche(-nde) Ansichten

„Bewundert viel und viel gescholten“[1] - dieser Vers, der akteinleitend im Faust II zu lesen ist, kann mühelos auf Goethes Drama Die natürliche Tochter [2] übertragen werden. Denn sowohl Ablehnung und vernichtenden Kritik als auch Bewunderung und kritische Würdigung waren und sind die Antworten auf dieses Werk, damals und heute.

Die Meinungen und Deutungen polarisieren in einer fast schon absurden Weise, die Natürliche Tochter gilt gleichzeitig als der Höhepunkt in Goethes dramatischem Schaffen - und damit ist keineswegs lediglich der höchste Punkt, der Endpunkt gemeint - aber auch als das Schmerzenskind unter seinen theatrali- schen Hervorbringungen.[3]

Bei der Betrachtung des Dramas muss man sich zunächst zwei wichtige Aspekte vor Augen führen. Zum einen ist der historische Kontext für die Deutung des Stücks signifikant, zum anderen sollte beachtet werden, dass dieses Werk zunächst von Goethe als ein Teil einer Trilogie angedacht und auch so entworfen wurde - es kam jedoch nicht zu einer Fertigstellung, es existiert nur der eine Teil. Zu der geplanten Fortsetzung sind lediglich Entwürfe und unvollständige Aufzeichnungen von Goethe erhalten geblieben. Die unterschiedlichen und zum Teil auch widersprüchlichen Meinungen und Aussagen über dieses Drama - so­wohl in der damaligen als auch in der heutigen Zeit - waren und sind durch diese zwei Aspekte bestimmt. Doch gerade diese Gesichtspunkte regen dazu an, das Drama zu lesen und zu deuten.

Eine von Goethe selbst nur indirekt auf das Drama bezogene Aussage, in seinem Drama die Französische Revolution in ihren „Ursachen und Folgen dich­terisch [...] gewältigen“[4] zu wollen, drängte die Forschungsansätze zur Deutung der Natürlichen Tochter in eine Ecke, von der aus sie das Werk zu beurteilen suchten. Tatsächlich kann man das Drama nicht völlig aus diesem Kontext herausgelöst betrachtet, dieser sollte den Versuch einer Deutung jedoch auch nicht vollends bestimmen.

Auch die vorliegende Arbeit unternimmt nicht den Versuch das Drama aus dem historischen Zusammenhang zu lösen. Es soll jedoch untersucht werden, auf welche Art und Weise Goethes Intention von ihm umgesetzt wurde und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden können. Welches Ziel verfolgte Goe­the mit diesem Drama?

Desweiteren wird untersucht, ob sich Hinweise innerhalb des Dramas fin­den lassen, die auf den ursprünglichen Plan einer Trilogie deuten. Denn die Fra­ge, die sich in Hinblick auf diesen Aspekt stellt ist diejenige, ob die Natürliche Tochter als ein autonomes Ganzes betrachtet werden kann oder ob sich formale und/oder inhaltliche Anhaltspunkte finden lassen, die in Bezug auf Kausalität und/oder Verständnis auf die Fortsetzung verweisen.

Um diese Fragen zufriedenstellend beantworten zu können, ist eine ganz­heitliche Betrachtung des Dramas notwendig. Daher werde ich zunächst auf die Entstehungsgeschichte eingehen. Daraufhin wende ich mich einem der zentralen Punkte dieser Arbeit zu, den Figuren. Wie schon der erste Blick in das Drama zeigt, besitzen die Figuren, bis auf Eugenie, keine Eigennamen. Ich werde unter­suchen, inwiefern dieser Umstand im Stück selbst inhaltlich umgesetzt ist. Wei­sen die Figuren neben den fehlenden Namen noch weitere Gemeinsamkeiten auf? Und wie ist dieses Fehlen an sich zu deuten? Bei der Beantwortung dieser Fragen erscheint es ebenfalls sinnvoll, einen besonderen Blick auf Eugenie zu werfen, um festzustellen, ob es zwischen ihr und den übrigen Figuren Unterschiede und/oder Gemeinsamkeiten gibt.

Daraufhin werde ich untersuchen, inwiefern das Thema der Natürlichen Tochter in Bezug auf Sprache und Gestaltung umgesetzt wurde. Kommt der Sprache in diesem Drama eine besondere Bedeutung zu? Wo spielt die Handlung und wie wird sie veranschaulicht? Nach der anschließenden Eingliederung in den historischen Kontext, werde ich prüfen, inwiefern Goethes Vorhaben in dem Drama tatsächlich noch anklingt und ob dies relevant für eine Deutung ist. Da­raufhin bespreche ich noch die Gattung des Stücks und seine Umsetzbarkeit für das Theater. Abschließend und zusammenfassend werde ich versuchen, die Fra­gen, die durch das Drama aufgeworfen werden, zu beantworten.

2. Eine natürliche Tochter - Das Gefäß

Im November 1797 erhielt Goethe von seinem Freund Schiller eine Auto­biographie, die im Jahr zuvor erschienen war.[5] Stéphanie-Louise de Bourbon­Conti schildert darin den Kampf um ihre bedrohte Existenz. Sie ist zwar unehe­lich geboren, jedoch unzweifelhaft von fürstlicher Abstammung. Im Alter von zwölf Jahren soll sie legitimiert und am Hofe aufgenommen werden. Jedoch wird sie kurz vor der geplanten Anerkennung auf Betreiben ihres verruchten Halbbru­ders entführt, wobei sowohl ihre eigene Mutter, als auch die Dienstleute des Va­ters involviert sind. Von einem Geistlichen wird ein falscher Totenschein ausge­stellt und Stéphanie somit aus der realen Welt, der Welt der Lebenden, verbannt. Sie wird zu einer Heirat mit einem Sachverwalter gezwungen, der ihr sowohl in Bezug auf den Stand, als auch in Bezug auf die Moral nicht ebenbürtig ist. Ob­wohl ihr niemand hilft, gelingt ihr die Flucht in ein Kloster, das es ihr erlaubt, sich dem königlichen Hofe wieder anzunähern und eine Scheidung von ihrem Scheingatten durchzusetzen - den sie, wie sie berichtet, abhalten konnte, die Ehe zu vollziehen. Sie steht und kämpft an der Seite von König Ludwig XVI. als das Königshaus bedroht wird und zeigt barmherzige Züge, indem sie auch ihrem Bruder, dem sie ja eigentlich ihr schicksalhaftes Dasein zu verdanken hat, behilf­lich ist. Ihr Ziel ist es, ihren Anspruch auf eine Erhebung in den Adelsstand durchsetzen zu können, doch zu einer nachgeholten Anerkennung kommt es nicht, da geheimnisvolle Mächte die Legitimation weiterhin verhindern. Sie stirbt, ohne ihre Rechte verwirklicht zu haben im März 1825, mittellos und dem Wahnsinn nahe.

Die Natürliche Tochter hat der Leser also sowohl Schiller zu verdanken, der Goethe erst auf diese Autobiographie aufmerksam machte, als auch der Auto­biographin, deren Schicksal unverkennbar als Inspiration, als Vorlage für das auf Goethe machtauf Goethe macht.[6] Ohne dass dieses Buch poetisch war, versetzte es Goethe in eine poetische Stimmung, einige Verse des Dramas deuten daraufhin, welchen Ein­druck das Schicksal auf Goethe machte [7]:

Nicht ist von Recht, noch von Gericht die Rede:

Hier ist Gewalt! entsetzliche Gewalt,

Selbst wenn sie klug, selbst wenn sie weise handelt. (V. 1747ff.)[8] Dass die Schriftstellerin dabei einige Fakten nicht immer wahrheitsgetreu wie­dergab oder dass sein Freund Schiller diese Autobiographie als ein „Märchen“[9] bezeichnete, hatte keinerlei Relevanz. Denn für Goethe zählte nur, dass er sich, nach vielen Versuchen die Französische Revolution auf eine befriedigende Art zu verarbeiten, in der Lage sah, aus diesem individuellen Einzelschicksal ein Drama zu schaffen, das die Konsequenzen der politischen Umbrüche dieser Zeit zu tra­gen fähig war, wie Eduard Castle richtig bemerkte: „In ihrer Geschichte hatte er das Urphänomen, den einen Fall gefunden, der tausende wert ist, weil er alle ins sich schließt, an dem ,das schrecklichste aller Ereignisse, die Französische Revo­lution, in seinen Ursachen und Folgen - nach seiner Intuition - sich dichterisch gewältigen‘[10] ließ.“[11]

3. Die Figuren - künstliche Erscheinungen?

Die Eigenarten der Figuren in der Natürlichen Tochter sind schon direkt zu Anfang zu bemerken. Sie werden nicht namentlich, sondern nach Funktion und Rang - hierarchisch abgestuft - aufgeführt, nur die Protagonistin erhält einen Namen - Eugenie. Sie ist nach ihrem Wesen benannt, die Wohlgeborene, wobei die übrigen Figuren nach ihrer Rolle in der Gesellschaft betitelt werden. Daraus entsteht schon von Beginn an eine Spannung zwischen Wesen und Schein, zwi­schen Sein und Rolle.

Typen und Symbole ersetzen die Persönlichkeit der übrigen Handelnden, wo­bei Typus nicht als Idee oder Urbild gemeint ist, denn bis auf wenige Ausnahmen entsprechen die Figuren keineswegs den idealbildlichen Vorstellungen von Kö­nig, Weltgeistlicher, etc.[12]. Sofern man von einer individuellen Art der Figuren sprechen kann, ist diese Individualität abhängig und geprägt vom Kontext des Dramas, insbesondere von den historischen, politischen und gesellschaftlichen

Umbrüchen der Zeit. Die Figuren treten weitestgehend ohne Vergangenheit in die Handlung ein, was aber auch irrelevant für den Verlauf oder das Verständnis des Geschehens erscheint.

Innerhalb der Handlung erfüllen die Figuren lediglich die ihnen zugedach­ten Funktionen. Dementsprechend bezeichnete Schiller die Art der Ausformung dieser Figuren als „idealische Masken“. Mit dieser eher abstrakten und reduzier­ten Art, Protagonisten in einem Drama zu verankern, übernimmt Goethe eine Stilvariante, die schon für die klassische Form der griechischen Tragödie als ei­ner ihrer Vorzüge galt:

Man kommt mit solchen Charakteren in der Tragödie offenbar viel besser aus, sie exponieren sich geschwinder, und ihre Züge sind permanenter und fester. Die Wahrheit leidet dadurch nichts, weil sie bloßen logischen Wesen ebenso entgegengesetzt sind als bloßen Individuen.[13]

Der Leser erhält keinen tiefsinnigen Einblick in das Seelenleben der Figuren, es

kommt in diesem Stück nicht auf die Psychologie, sondern auf die Rolle und

Handlungen, den moralischen Standpunkt im erzählerischen Kontext an.[14]

Innerhalb dieser erzählerischen und darstellerischen Grenzen jedoch ent­falten die Figuren einen bemerkenswerten Variantenreichtum, der über den star­ren Duktus ihres angestammten Rollenbildes hinausreicht, bis hin zu regelrechten Doppelrollen, verbunden mit entsprechenden, kompletten Veränderungen ihrer Handlungsweisen und Handlungsintentionen.

Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine Entwicklung der Charakte­re, denn es kommt nicht zu einer Entfaltung des Wesens; es ist vielmehr eine eher plötzliche und oft unbegründet erscheinende Anpassung an die ständig wechselnden Anforderungen des jeweiligen Handlungskontextes.

Die sich plötzlich verändernden Handlungsmuster, beziehungsweise die Doppelrollen einzelner Figuren sind, direkt oder indirekt, stets auf die Figur der Eugenie bezogen, in einem positiven wie in einem negativen Sinn.

So schlägt das zunächst vorhandene Wohlwollen des Königs aus scheinba­rer Willkür in eine Weisung zur Verbannung um, die Sorge der Hofmeisterin um Eugenie schlägt um in Verrat, der Weltgeistliche, ein Mann Gottes, wird durch den Sekretär zum Intriganten. Die verschiedenen, konträren Handlungsmuster

treten jedoch nicht getrennt voneinander auf. Immer schwingt im Unterton mit, dass die Figuren das Gute und das Böse zu gleichen Teilen repräsentieren können.

Aufgrund der Plötzlichkeit und der scheinbaren Willkür der verschiede­nen, auftretenden Handlungsmuster lassen sich klare Absichten und Motive dabei kaum erfassen. Empathie ist aufgrund der fehlenden persönlichen Merkmale der Figuren schwierig. Der Leser wird dadurch stets auf Abstand zu den Figuren und insbesondere zu deren Handlungsmotiven gehalten. Die Figuren sind nicht greif­bar, sind nicht plastisch, in ihnen ist keine Leidenschaft. Die Einordnung in das soziale und staatliche Gefüge bestimmt Charakter, Denken und Handeln. Das Individuum tritt hinter die Funktion einer Figur zurück.[15]

Nur Eugenie - die einzige, die einen Namen erhält - wird es verwehrt, sich einzuordnen in dieses Gefüge und die Rolle, die sie anstrebt, auch zu erfüllen.

3.1. Die Wohlgeborene - Eugenie

Eugenie, von Goethe liebevoll als das „natürliche Töchterchen“[16] bezeich­net, hat ganz im Gegensatz zu allen anderen Figuren stark individuell ausgebilde­te Züge. Dadurch vermittelt sie individuelle Lebensweise und Persönlichkeit, was tiefere und genauere Blicke auf ihre Handlungsmotive zulässt, als dies bei den anderen Figuren dieses Stücks der Fall ist. Dadurch erscheinen dem Leser im Vergleich zu den anderen Figuren die Handlungsmuster von Eugenie weniger plötzlich und willkürlich.

Als weibliche Protagonistin scheint Eugenie zudem wesentlich willens­stärker, autonomer und geradliniger zu sein, als Iphigenie, eine andere berühmte weibliche Figur Goethes. Dies wird besonders deutlich, da Eugenie zu keiner Zeit eine dienende Funktion einnimmt, sie den Mann nicht komplementiert, indem sie ihm hilfreich zur Seite steht oder ihm den richtigen Weg weist. Des Weiteren belehrt sie ihn nicht oder regiert gutmütig. Eugenie wird zwar von Männern ge­lehrt, sie stellt sich trotzdem nicht unter den Mann, sondern neben ihn und möchte gleichwertig mit ihm sein:

Mit hocherhabnen, hochbeglückten Männern Gewalt’ges Ansehn, würd’gen Einfluß teilen:

Für edle Seelen reizender Gewinn! (V. 502ff.) Auf ähnliche Weise wird sie auch vom Herzog, ihrem Vater, im Gespräch mit dem König eingeführt. „Im wilden Drang der Jagd (V. 126) und „hoch zu Ross“ wird sie beschrieben, mutig und robust, kein zerbrechliches, mit blasser

Schönheit gesegnetes Frauenzimmer, sondern ein wildes Geschöpf, eine „Amazonentochter“ (V.127), und doch mit einem beseelten Geist gesegnet:

Dieser Geist,

Der mutvoll sie beseelt, ererbte Kraft Begleiten sie, wohin sie geht [...] (V. 819ff.)

So erscheint sie dem Betrachter, mutig und voller Tatendrang. Ihr Vater, der Herzog beschreibt sie dann auch folgerichtig mit einer Lichtmetapher als leuch­tenden Karfunkelstein, der als lichterfülltes Gestirn mit herrlich mildem Schein seinen trüben Sinn erheitert (siehe Vv. 63-72). Eugenie scheint ihren Namen, die Wohlgeborene, also zu Recht zu tragen, was auch eine andere, wichtige Figur, die Hofmeisterin, bestätigt:

Aus edlem Blut entsproß die Treffliche;

Von jeder Gabe, jeder Tugend schenkt’

Ihr die Natur den allerschönsten Teil, [...]. (V. 1760ff.)

Eugenie ist somit zwar von alleredelster, nämlich fürstlicher Abstammung, zu­dem behütet, da aufgewachsen in einem geschützten, als paradiesähnlich be­schriebenen Bereich, einem „Bollwerk der Natur“ (V. 22), das sie umgibt und vor den herrschenden, politischen Wirrungen beschützt, jedoch versehen mit dem schweren Makel einer unehelichen Geburt.

Der Herzog möchte diesen einzigen Makel beseitigen, indem er darauf aus ist, dass ihr das Recht einer fürstlichen Geburt zuerkannt und sie in den Adels­stand erhoben wird. So arbeitet er im Zwiegespräch mit dem König darauf hin, dass dieser Eugenies Adelsstatus legitimiert.

Noch während er seine Tochter in den wohlklingendsten Tönen beschreibt und ihrer Erhebung entgegen spricht, stürzt Eugenie. Ihr wilder Übermut - ihre Natürlichkeit - ließ sie eine steile Felswand hinunterreiten: „Dort oben hielt ich, dort vermaß ich mich / Herab zu reiten, grad herab.“ (V. 235f.).

Hier zeigt sich deutlich Goethes Intention bei der Konzeption seines ,Töchterchens‘. Er wollte eine in sich widersprüchliche, von den höchsten Höhen

und tiefsten Tiefen des Schicksals gleichermaßen betroffene, doch stets kämpfe­rische und leidenschaftliche Figur zeigen:

So viel kann ich nur sagen, dass sie sehr jung supponiert ist und dass ich versucht habe, das weibliche, in die Welt aufblickende Wesen, von kindli­cher, ja kindischer Naivität an bis zum Heroismus durch hunderterlei Motive hin und wieder zu führen.[17]

Ihr kindlicher Übermut und ihre Naivität stürzen Eugenie - zunächst. Denn kurz darauf erwacht die Totgeglaubte und setzt ihren Weg fort.

Ihr Erwachen aus der Ohnmacht ist quasi ihre Wiedergeburt, sie erwacht und findet sich in Gesellschaft des Königs wieder, in eben dem Bereich, den sie und ihr Vater bestrebt sind zu erreichen. Sie erscheint dem König nun zum ersten Mal, da zuvor lediglich von ihr gesprochen und sie anschließend gemeldet wurde, ihr Scheintod jedoch zunächst ein Auftreten verhinderte. Die ihr nun plötzlich gewidmete, ungewohnte Aufmerksamkeit des Königs irritiert sie zunächst, sie findet sich nicht wieder in ihre natürliche Rolle ein, sondern steht nun erst mal frei im Raum:

O verzeihe mir

Die Majestät! wenn aus geheimnisvollem,

Verborgnem Zustand ich, ans Licht auf einmal Hervorgerissen und geblendet, mich,

Unsicher, schwankend, nicht zu fassen weiß. (Vv.265-269)

Aus dem verborgenen Bereich, in dem sie aufgewachsen ist, erscheint sie nun im Licht, geblendet von dem unbekannten und daher ungewohnten, fürstlichen Glanz, der sie nun umgibt. Eugenie, die Amazone, wird ein weiteres Mal als zwiespältige Figur gezeigt, diesmal nicht stürzend und wieder aufstehend, aber schwankend, im Übergang von dem einen in den anderen Zustand begriffen, mit- ten im Prozess der Rollenfindung[18].

Nun erfährt man auch zum ersten Mal von Eugenies Motiven, nämlich, dass es ihr tiefster Wunsch ist, erhoben und dadurch erlöst zu werden, denn sie erhofft sich „sichre Würde mit Zufriedenheit“ (V. 327) zu erhalten, um dem Schwankenden und Zwiespältigen ihrer Existenz, das sie als Bürde und Last emp­findet, endlich ein Ende zu geben.

Doch hier wird ihr zum ersten Mal auch gezeigt, dass die Welt und ihre Gesellschaft, die von Eugenie angestrebt wird, nicht mehr der glänzende Ort ist, der dazu angetan ist, dem Status einer Person Sicherheit und Klarheit zu spenden.

Politische Umbrüche stehen bevor, der König ist zwar bereit, Eugenie zu legitimieren und sie in den Adelsstand zu erheben, gleichzeitig warnt er sie je­doch davor, dass dies nicht zwangsläufig ihre Rettung bedeutet, indem er von den „fürchterliche[n] Zeichen“ (V. 361) dieser Zeit spricht:

Das Niedre schwillt, das Hohe senkt sich nieder,

Als könnte jeder nur am Platz des andern Befriedigung verworrner Wünsche finden,

Nur dann sich glücklich fühlen, wenn nichts mehr Zu unterscheiden wäre [...]. (Vv. 362-366)

Doch Eugenie hört diese Warnung nicht, sie kann sie noch nicht hören, da sie die Welt des Politischen noch nicht kennt. Gier, Neid und Machtkämpfe sind für sie noch Vokabeln einer Sprache, die sie erst erlernen muss. Daher deutet sie die Worte in ihrer natürlichen Naivität falsch und ruft begeistert aus: „Welch frisch wohltät’ger Glanz umleuchtet mich / Und regt mich auf, anstatt mich zu verblen­den!“ (V. 376f.). Doch ist es gerade der angesichts der drohenden Verwerfungen wenig Sicherheit bietende Adelsstatus, der sie verblendet.

Ausgerechnet ihr Vater, der Herzog, äußert in diesem Moment erste Zwei­fel. Während sie die ihr zuteilgewordene Milde des Königs noch lobt, gibt ihr Vater zu bedenken, dass gerade diese Milde von „Verwegenheit“ (V. 434) zeugt. Der Herzog kann die ,Zeichen der Zeit‘ also im Gegensatz zu seiner Tochter richtig deuten, er äußert seine Zweifel über den König, dem er jedoch weiterhin gewillt ist, sein viel geliebtes Kind zu überlassen:

EUGENIE. Wie edel hat ihn die Natur gebildet.

HERZOG. Doch auf zu hohen Platz hinaufgestellt.

EUGENIE. Und ihn mit so viel Tugend ausgestattet.

HERZOG. Zur Häuslichkeit, zum Regimente nicht. (Vv. 435-438)

Der Dialog zwischen Eugenie und ihrem Vater ähnelt dabei zunehmend einem verbalen Schlagabtausch und zeigt das Ausmaß von Eugenies Verblendung, da er sich zum einen über 23 Verse spannt und zum anderen deutlich macht, wie sehr Eugenie von ihrer Erhebung überzeugt und aus Sicht ihres Vaters verblendet ist, indem sie gewillt ist, die ,Zeichen der Zeit‘ zu ignorieren, um ihr kindliches Be­gehren nach Glanz und Anerkennung durchzusetzen.

Doch schließlich bremst der König selbst Eugenie in ihrer Euphorie. Von den beiden erwartet dieser nämlich nun aufgrund von politischer Berechnung, Verschwiegenheit und Geheimnis. Die unmittelbare, und letztlich einzig wirklich legitimierende, öffentliche Anerkennung, das unmittelbare Erscheinen am Hofe

als Teil dessen, wird verhindert[19]:

Was unter uns geschehn,

Erfahre niemand. Mißgunst lauert auf,

Schnell regt sie Wog’ auf Woge, Sturm auf Sturm;

Das Fahrzeug treibt an jähe Klippen hin,

Wo selbst der Steurer nicht zu retten weiß.

Geheimnis nur verbürget unsre Taten;

Ein Vorsatz, mitgeteilt, ist nicht mehr dein;

Der Zufall spielt mit deinem Willen schon;

Selbst wer gebieten kann, muß überraschen. (Vv. 407-414)

Wie schon in der Einführung Eugenies zeigt sich stets wieder das Widersprüchli­che, das Goethe anhaltend in Eugenies Schicksal als Hauptbestimmungsmuster eingeflochten hat: Aus dem dauernden Wechsel von Erhebung und Fall, von Licht und Schatten, von Höhe und Tiefe entwickelt Goethe die dramatische Spannung, die charakteristisch sowohl für Eugenie als auch für das gesamte Drama ist.

Eugenies von Wechselhaftigkeit und Gegensätzlichkeit geprägtes Schick­sal definiert Goethe als das grundlegende Wesensmerkmal seiner Natürlichen Tochter. Als natürlich erscheint ihm also insbesondere die Wechselhaftigkeit und Gegensätzlichkeit des lebendigen, leidenschaftlichen, menschlichen Daseins [20].

So kommt es auch im weiteren Handlungsverlauf erneut zu einem Wende­punkt, der Eugenie abermals in die entgegengesetzte Richtung leitet. Dabei stellt ein vom König gesandter Schmuckschrank den Impuls dar, der Eugenies Schick­salswippe wieder zu Boden stürzen lässt.

Dieser glänzende Schatzkasten ist ein Geschenk für Eugenie, gefüllt mit Kleidern und Schmuck, den sie jedoch erst am Tag ihrer Legitimation öffnen darf. Doch so eine große Selbstbeherrschung besitzt dieses natürliche Kind nicht, sie scheitert wieder an ihrem eigenen Naturell und öffnet den verbotenen Kasten. Wie schon bei ihrem ersten Sturz im Wald vergaloppiert sie sich hier, sie möchte ihr Ziel erreichen, ohne vorher einen, vielleicht mühsamen, zumindest aber Zeit und daher auch Geduld kostenden, Weg zu beschreiten.

Die Protagonistin begegnet damit dem Problem der Individualisierung, wie es auch schon im Torquato Tasso oder im Egmont zu erkennen ist, der Mensch ist gerade dadurch gefährdet, weil er eigensinnig seinem Ich folgt und somit ohne Rücksicht auf die gegebenen Umstände und Gesetze handelt.[21]

Eugenie ist geblendet von dem Schein des Kastens, der einem Schrein gleicht, einer Ansammlung von materiellen Dingen, die Zeichen sind für ein Hö­heres. Sie ist gebannt von dem Glanz und kann auch die warnenden Worte der Hofmeisterin nicht hören, die die Kleider als „Kreusas tödliches Gewand“ (V. 1042) bezeichnet. Sie begreift nicht, dass der Schein der Gewänder erst dann seinen vollen Sinn entfaltet, wenn sie an ihrem Ziel, der Legitimation, angelangt ist.

Hier ist ein weiteres dramatisches Motiv erkennbar, dessen sich Goethe gerne bedient - der moralische Zwiespalt. Er bietet seinen Hauptfiguren gerne moralisch kritische Situationen an, legt dabei aber gleichzeitig klar fest, welche Entscheidung die moralisch verwerfliche Rolle definiert. So bedeutet der Schein ohne Sein im besten Fall nichts und im schlimmsten Fall Unglück.

In Eugenies Fall bedeutet die Hingabe an den schönen Schein gar tödliche Gefahr. Der Kasten hat einen tieferen Sinn als Kleidung und Schmuck, er reprä­sentiert gleichzeitig Erhöhung und Gefahr, ist für den Träger doppeldeutig im Sinne verschiedener moralischer Optionen, die der handelnden Figur gebote werden, und die schließlich über das weitere Schicksal mitentscheiden.[22]

Doch zunächst arbeitet Goethe weiter daran, Eugenies edles Wesen erneu­ten Schwankungen des Schicksals und damit zusätzlichen Prüfungen auszusetzen.

So wird Eugenie wiederum genau an dem Punkt, an dem sie der Erfüllung ihrer Träume so nah ist wie nie zuvor, einem guten Ende entzogen, indem sie auf Geheiß einer ominösen Partei entführt wird, denn ihre Legitimierung stellt für die Gruppierung, der auch ihr eigener Bruder angehört, eine Bedrohung dar. Eugenies Erhebung in den Adelsstand soll durch die Entführung und anschlie­ßende Verbannung auf ferne Inseln verhindert werden.

Die Entführung Eugenies an sich wird nicht gezeigt, nur die Reaktionen der Figuren und Folgen dieser Tat kann der Zuschauer sehen. Passend zu Eugenies gesellschaftlichen Ambitionen, die aufgrund der Umbrüche zu politi-sehen Ambitionen werden, spielt die Handlung nach der Entführung in einem symbolisch aufgeladenen, quasi politischen Raum, dem Vorzimmer des Herzogs.

Die Wahl dieses (Bühnen-)Raums symbolisiert die Gefahr und Bedrohung für die Existenz der Protagonistin durch den Eintritt in die politische Sphäre des Hofes. Ein vom Hofe instrumentalisierter Weltgeistlicher berichtet Eugenies Va­ter, dass seine Tochter abermals vom Pferd gestürzt sei, diesmal sei der Unfall jedoch tödlich gewesen.

Der Herzog ist außer sich über den Verlust seiner Tochter. Währenddessen erscheint Eugenie wieder an einem fernen Hafenplatz. Während in der politischen Sphäre Eugenies Schicksal besiegelt wird, befindet sie sich wieder an einem un­politischen Platz und soll nun endgültig aus dem politischen Bereich entfernt werden.

In der Regieanweisung ist zu lesen, dass Eugenie auf einer Bank sitzt und mit einem Schleier umhüllt auf die See blickt. Sie ist also wieder in die Verbor­genheit zurückgetreten, aus der sie erschienen ist. Hinter dem Hafen warten die fernen Inseln, auf dem Hafenplatz erscheint der Gerichtsrat, der ihr die Ehe und die Geborgenheit des Bürgertums bietet. Doch sie hat noch nicht vollends aufge­geben und wendet sich hilfesuchend an das Volk - das im gesamten Drama je­doch keine weitere Rolle spielt und auch hier tatenlos und stumm bleibt: „Und riefst du nicht das Volk zur Hilfe schon? / Es staunte nur dich an und schwieg und ging.“ (V. 2396).

Zudem haben Eugenies Widersacher mit ihrem Aufbegehren gerechnet, ein angeblich vom König verfasster Brief - es wird im Drama nicht deutlich, ob der Monarch tatsächlich diesen ,lettre de cachet‘ unterzeichnet hat oder ob die Partei dessen Unterschrift fälschte - verhindert eine Rettung Eugenies. Die Echtheit dieses Dekrets ist jedoch auch nicht weiter relevant, denn Eugenie wird von allen Anlaufstellen abgewiesen. Die Wirkung des Edikts ähnelt dem Instrument eines Schreibtischmörders, der schreibend Gewalt und Untergang befiehlt, ohne per- sönlich an der grausamen Ausführung teilzunehmen [23].

So wird die Hilfesuchende sowohl vom „Ersten dieser Stadt“ (V. 2402), dem Gouverneur und in der Folge auch von der Äbtissin, in deren Kloster Eugenie Schutz zu finden hofft, abgewiesen. Beide entschuldigen ihre Machtlo­sigkeit mit dem Dekret, das ihnen die Hände bindet. Dass sich Eugenie an einen

Mann des Staates, den Gouverneur, wendet, erscheint im ersten Augenblick naiv, hat ihr doch gerade der Staat den Glanz geraubt. Anscheinend ist ihr Glaube an Recht und Ordnung jedoch noch nicht ganz verschwunden, so dass rechtlicher Beistand für sie noch eine Rettung in Aussicht stellt.

Doch dieses Hilfegesuch zeigt auch, dass die Situation, in der die Protago­nistin sich befindet, zunehmend undurchschaubar ist. Eugenie wird keine Linie, keine Verlässlichkeit mehr geboten, sie steht schwankend im Raum und wendet sich mal in diese, mal in jene Richtung ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Die Lebensgrundlage wurde ihr geraubt und damit auch ihr Lebensentwurf zunichte gemacht. Dadurch kann sie aber im Moment auch nicht mehr beurteilen, wo das Gute zu finden ist und wo das Böse lauernd wartet.

Sie ist nun auf sich selbst angewiesen, da weder die Fürsorge des Vaters noch der Staat ihr Schutz bieten können. Die Situation wirft sie sozusagen auf ihr eigenes Wesen zurück, wobei dieses noch zu sehr von dem Schein verblendet ist und Eugenie noch keinen wahren Ausweg bieten kann. So schwankt sie zwischen Staat und Kirche auf der Suche nach Hilfe hin und her ohne sich bewusst über ihr Wesen zu sein, das ihr den richtigen Weg und somit den Ausweg aus dieser scheinbar ausweglosen Situation bieten könnte.

Der Gang zur Äbtissin scheint zunächst zu demonstrieren, wie sie sich in ihrem Handeln schließlich ganz von ihrem edlen Charakter leiten lässt, da das Leben in einem Kloster zu Goethes Zeit eine gängige Alternative für ein ausge­stoßenes, edles Fräulein und damit eine auch in Goethes Sinne richtige, weil mo­ralisch passende Entscheidung war, um den Makel der unehelichen Geburt zu tilgen. Doch ihr Eintrittsgesuch ist scheinheilig und zeugt nicht von Frömmigkeit oder Glauben an religiösen Schutz, sondern ist weiterhin vor allem vom Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung getrieben:

Vergönne mir,

Der Kirche mich zu nähern, die begierig

So manch unschuldig Opfer schon verschlang. (V. 2509ff.)

Eugenies Bitte um Hilfe bei der letztmöglichen Instanz, die es ihr noch ermögli­chen würden, ihren feudalen Stand zu erreichen, wird nicht erfüllt.

Die Protagonistin ist nun auf ganzer Linie gescheitert und so weit entfernt von ihrem Ziel, wie nur möglich. Lediglich die „Liebe zum unwürd’gen Leben!“ (V. 2661) hält sie noch von einem Freitod ab. In ihrer Hoffnungslosigkeit wendet

sie sich an einen Mönch. Nachdem nun alle menschlichen Möglichkeiten er-

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schöpft scheinen, erhofft sie sich von ihm geistige und göttliche Hilfe. Doch auch das Mythische, die geforderte Prophezeiung scheint ihr die Hoffnung auf Rettung nicht wirklich zurückzubringen.

So wie schon der Gang ins Kloster nicht vom Wunsch spiritueller Erlösung geprägt war, versucht sie auch den Mönch auf ganz weltliche Weise für das ei­gentliche Ziel ihrer gesellschaftlichen Anerkennung zu instrumentalisieren, denn sie versucht bigott die orakelhaften Deutungen des Geistesbruders schon vorab zu beeinflussen, indem sie auf ihren hohen Stand verweist, die ihr gegebene Möglichkeit der bürgerlichen Ehe in einem negativen Licht erscheinen lässt und klagt, dass eben diese sie „Zu niedren Sphären [...]“ (V. 2723) zwänge. Der Mönch rät ihr:

Und wähle, was dir noch den meisten Raum Zu heil’ gem Tun und Wirken übrigläßt,

Was deinen Geist am wenigsten begrenzt,

Am wenigsten die frommen Taten fesselt. (Vv. 2731-2734)

Diese Aussage wird von Eugenies Wunschdenken interpretiert, denn sie antwor­tet prompt und ausdrücklich: „Die Ehe, merk’ ich, rätst du mir nicht an.“ (V. 2735), man kann die Erleichterung beinahe greifen in diesem Vers. Doch der Mönch orakelt weiter:

Der feste Boden wankt, die Türme schwanken,

Gefugte Steine lösen sich herab,

Und so zerfällt in ungeformten Schutt Die Prachterscheinung. (Vv. 2799-2802)

Auch der Mönch erfasst, trotz Beeinflussung, genau auch das Wesen ihres wah­ren Status, der ungeklärt und unsicher ist und der exakt auch dem Status des gan­zen Landes entspricht. Ihre Heimat ist bedroht, ihr Vaterland braucht sie, auf den Inseln wäre sie keine Hilfe, sie muss bleiben, zwar nicht adlig, jedoch edel, um hilfreich beiseite zu stehen, wenn dunkle, politische Mächte ihr Land stürzen wollen.

Ihr individuelles Schicksal wird von Goethe nun zu einer Metapher auf den gesellschaftlich-politischen Zustand des ganzen Landes hin entwickelt. Diese Ähnlichkeit zwischen sich, dem einzelnen Individuum, und dem großen Ganzen erkennend, verkündet sie heroisch ihren folgerichtig erscheinenden Entschluss:

Nun bist du, Boden meines Vaterlands,

Mir erst ein Heiligtum, nun fühl’ ich erst Den dringenden Beruf, mich anzuklammern.

Ich lasse dich nicht los, und welches Band

Mich dir erhalten kann, es ist nun heilig. (Vv. 2845-2849)

Eugenie hat nun wieder ein Ziel gefunden, eine Berufung, die sie zu etwas Be­sonderem erhebt, die ihr eine Aufgabe zuteilt, die sie edel und heldenhaft er­scheinen lässt und gleichzeitig ihrem Status angemessen erscheint: „Denn wenn ein Wunder auf der Welt geschieht, / Geschieht’s durch liebevolle, treue Her­zen.“ (2854f.)

Vor dem Hintergrund dieses hohen Zieles kann sie nun auch die Heirat mit einem aus einem niederen Stand stammenden Gerichtsrat zusagen und damit auf eine Erfüllung ihres Selbstentwurfs verzichten, da ihre Entsagung nicht nur Ver­derben bringt, sondern auch Früchte tragen kann. Sie reicht dem Gerichtsrat ihre Hand und schreitet zum Altar.

Wie ist das Ende des Dramas zu deuten in Bezug auf das Motivgewebe von Leben und Tod, zwischen Erscheinen und Verschwinden, das im gesamten Drama gegenwärtig ist? Eugenie kann aus einer ausweglosen Situation Kraft schöpfen, indem sie ihren Lebensentwurf dem ambivalenten Status ihres Daseins anpasst.

Sie bestimmt erstmalig ihr Handeln selbst, erscheint also aus einer Fremd­bestimmung heraus in einer autonomen Rolle, die ihr ermöglicht, ein ihrem We­sen angemessenes und damit entsprechend zwiespältiges Leben zu finden.

So dient sie einerseits einem edlen, adelsgerechtem Ziel, indem sie ihrem Vaterland hilfreich zur Seite steht, andererseits ist die vorher als unwürdig abge­lehnte Ehe mit dem Gerichtsrat wieder eine Option, da sie ihr das edle Handeln erst ermöglicht.

Doch ein glückliches Ende ist ihr damit dennoch nicht beschieden. Wenn sie da­von spricht, sich als „als reinen Talisman“ (V. 2852) zu bewahren und „in Hoff­nung einer künft’gen / Beglückten Auferstehung, [...] begraben“ (V. 2913f.) zu werden, wertet sie diese Lebensweise letztlich doch als nicht wirklich optimal.

Am Ende bleibt ihr nur noch ein endgültiger Abschied aus der Adligkeit und ein Verschwinden in die geschlossenen Kreise des Bürgertums, statt des ge­wünschten Erscheinens in den Sphären des Hofes.

Der Zerrissene - König

Im Zentrum der Umbrüche, steht neben Eugenie, der König, das Ober­haupt des Staates und der Gesellschaft. Er stellt den Mittelpunkt des Hofes dar, die Kraftströme des staatlichen Lebens gehen von ihm aus und fließen wieder zu ihm zurück.[24]

Solch eine Position erfordert einen beherrschten, undurchdringlichen Cha­rakter, der entscheidungs- und willensstark ist. Doch die Beschaffenheit der Fi­gur des Königs ist nur schwerlich einer solchen Wesensart zuzuordnen, er ent­spricht somit nicht dem idealtypischen Bild eines Herrschers.

Grundsätzlich sind seine Züge schwer zu bestimmen, der Charakter ist für den Betrachter nicht greifbar. Das Verhalten des Monarchen ist zwiespältig und widersprüchlich und lassen ihn in einem unguten Licht erscheinen. Schon im ers­ten Akt ist daher sichtbar, dass dieser König nicht der Souverän ist, der seinen Staat beherrscht, sondern vielmehr ein wankelmütiger Herrscher und ein Getrie­bener des Schicksals, das ihn, wie es die Eigenart des Schicksals ist, mal in diese und mal in jene Richtung wirft, in seinen Handlungen und Entscheidungen stets von anderen Figuren beherrscht[25].

Orientierungslos erscheint schon sein erster Auftritt, wenn er fragt: „Wo sind wir, Oheim?“ (V. 6), Eugenie komplettiert später diese Frage, die von tiefer Bodenlosigkeit zeugt, indem sie weiter fragt: „Was ist aus uns geworden?“ (V. 226). Was ist dieser Souverän und was wird aus ihm, wenn das politische Schicksal endgültig über sein Leben waltet? Es wird klar, dass diese Berufung des Königs nicht gleichzeitig seine Überzeugung darstellt, denn im Grunde ist er überfordert von seiner Rolle, er möchte eigentlich den „Entfernten Weltgetöses Widerhall“ (V. 32) vergessen, das laute Lärmen der Anforderungen, die an ihn als Oberhaupt gestellt werden, will er nicht mehr hören müssen.

Der Ort, an den der Herzog ihn zum Gespräch führt, das „Bollwerk der Natur“ (V. 22), entspricht daher viel eher seinem Gemütszustand und seiner Per­sönlichkeit, die vor den Pflichten eines Oberhauptes flüchten möchte.

So hat er auch die Regierungsgeschäfte dem Adel, den „wenigen, geschaf­fen, dieser Menge / Durch Wirken, Bilden, Herrschen vorzustehn“ (V. 304f.),

[...]


[1] V. 8487, zitiert nach der Hamburger Ausgabe, Band 5.

[2] Der Titel des Dramas lautet Die Natürliche Tochter, ich werde in der vorliegenden Arbeit jedoch einige Male den verkürzten Titel Natürliche Tochter (o.ä.) verwenden, um eine flüssige Lesbarkeit zu gewähren.

[3] Vgl. Vaget, „Die Natürliche Tochter“, S. 210.

[4] So in der Schrift „Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort“

[5] Gräf, Goethe über seine Dichtungen, 2. Teil, Bd. 3, folgend angegeben als Gräf mit Seitenzahl und ohne Bandangabe, da nur aus einem der Bände zitiert wird. Hier: S.516

[6] Welche Einzelheiten Goethe aus dieser Biographie in seinem Drama verarbeitete, ist unter anderem nachzulesen in Böschenstein, Bedeutung der Quelle, S. 71-87.

[7] Vgl. Castle, Goethes Geist, S. 241.

[8] Die Zitate aus der Natürlichen Tochter folgen dem Wortlaut der Hamburger Ausgabe, Band V.

[9] Schiller an Körner, 28. März 1803, S. 328.

[10] Gräf, S.552.

[11] Vgl. Castle, Goethes Geist, S. 243.

[12] Vgl. Vgl. Stammen, Goethe und die Französische Revolution, S. 112.

[13] Schiller an Goethe, 04. April 1797, S. 76.

[14] Vgl. Boyle, Goethe, S. 943.

[15] Vgl. Staiger, Goethe, S. 378.

[16] Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe, Bd. 2, S. 448.

[17] Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe, Bd. 2, S. 448f.

[18] Vgl. Rogge, Die weibliche Gestalt, S. 216.

[19] Vgl. Bahr, Goethes „Natürliche Tochter“, S. 232.

[20] Vgl. Boyle, Goethe,, S. 951.

[21] Vgl. Voser, Individualität und Tragik, S. 141.

[22] Vgl. Staroste, Raum und Realität, S. 110.

[23] Vgl. Bänninger, Bühnenstil und Gehalt, S. 21.

[24] Vgl. Bänninger, Bühnenstil und Gehalt, S. 27.

[25] Aufgrund der Charakterisierung der Figur wurde vielfach vermutet, es handle sich dabei um ein Abbild Ludwigs XVI., was in Bezug auf einige Wesenszüge durchaus plausibel ist, jedoch bestimmt nicht Goe­thes Intention widerspiegelt.

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Goethes "Die Natürliche Tochter". Eine ganzheitliche Betrachtung
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Germanistisches Institut)
Note
2,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
81
Katalognummer
V288297
ISBN (eBook)
9783656885542
ISBN (Buch)
9783656885559
Dateigröße
772 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Drama, Goethe, Trilogie, Französische Revolution
Arbeit zitieren
Anna Olga Podsiadly (Autor:in), 2010, Goethes "Die Natürliche Tochter". Eine ganzheitliche Betrachtung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288297

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