Husserl und die "Lebenswelt" in der Sonderpädagogik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

21 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung: "Lebenswelt" - bloß ein Allerweltsbegriff?

2. HUSSERLs Phänomenologie: Ursprung des Begriffs "Lebenswelt"
2.1. Fundierung der Dingwelt
2.2. Intersubjektivität
2.3. Lebenswelt

3. "Lebenswelt" in der Sonderpädagogik: Konturierung und Kritik exemplarischer Konzepte
3.1. "Lebenswelt" als ökologisches Konzept (SPECK)
3.1.1. Lebenswelt als subjektrelative Welt
3.1.2. Lebenswelt als objektive Umwelt
3.1.3. Lebenswelt als normatives Konzept
3.1.4. Lebenswelt versus System
3.2. "Lebenswelt" als evolutionär-konstruktivistisches Konzept(WAGNER)

4. Gegenüberstellung und Kritik der Konzepte Differenzen, Isomorphien, Metamorphosen und der Ursprungsentwurf

5. Schluss: Pädagogik und Lebenswelt

6. Literatur

1. Einleitung: "Lebenswelt" - ein bloßer Allerweltsbegriff?

Ist die Lebenswelt als solche nicht das Allerbekannteste, das in allem menschlichen Leben immer schon Selbstverständliche, in ihrer Typik immer schon durch Erfahrung uns vertraut? Sind alle ihre Unbekanntheitshorizonte nicht Horizonte bloß unvollkommener Bekanntheiten [...]? (HUSSERL 1986, 279).

"Lebenswelt" - eigentlich ein klarer Begriff - logisch: einfach die Welt, in der wir leben, oder? "Lebenswelt" - die ökologische Nische des Menschen, seine ganz persönliche Umwelt. Umwelt - wohl ein Begriff aus der Ökologie, aus der Biologie. Sind wir Tiere?

Die verschiedenen "Lebenswelten" der Schüler, der Behinderten, der Lehrer, der Arbeiter, der Alten, der Kinder und so weiter - na klar, da weiß man doch, was gemeint ist: jeder lebt nun mal irgendwie in seiner eigenen Welt, nicht wahr?

Stimmt das? Was ist denn mit "Welt" überhaupt gemeint? Leben wir alle in einer einzigen Welt? Gibt es nur eine einzige? Oder gibt es Nebenwelten, Unterwelten, Überwelten, Sonderwelten, unsere Welt und die der Anderen? Lebt ein Blinder oder ein Tauber, ein alter Mensch oder ein Kind in der selben Welt wie ich?

Behinderte sollen "in die Lebenswelt integriert werden" liest man allenthalben - in welche Welt? Und wer in wessen? Sind sie denn sonst in keiner "Lebenswelt"?

Die "Lebenswelt wird mediatisiert" und die "Systemrationalität kolonisiert die Lebenswelt" (HABERMAS 1981, 293). Und: "Lebensweltorientierung" gehört zum guten Ton unter Pädagogen und Sonderpädagogen. Also: "Lebenswelt" - alles klar?

Ich glaube nicht. Nach Lektüre einschlägiger pädagogischer Literatur wurde mir recht deutlich, dass dieser Begriff mit vielen verschiedenen, teils trivialen, teils willkürlichen und oft auch diffusen Bedeutungen belegt wird, aber kaum irgendwo eine zu seiner Verwendung konsistente Explikation zu finden ist. WIELAND (1993, 34) meint,

daß Lebenswelt hier ganz schlicht und pragmatisch als die Welt aufgefaßt wird, in der wir leben, in ihren überschaubaren, alltäglichen Beziehungen. Der komplizierte phänomenologische Hintergrund ist verblaßt. Ebenso ist bisher HABERMAS´ System-Lebenswelt-Konflikt für die Sonderpädagogik kaum fruchtbar gemacht worden.

Will man deutlichere Konturen um diesen manchmal recht beliebig scheinenden Begriff der "Lebenswelt" ziehen, will man sich ein Bild machen vom Nutzen und Besonderen des Lebensweltkonzeptes, muss man zurück zu seinen Wurzeln gehen. Nach breitem Konsens findet man diese im phänomenologischen Werk Edmund HUSSERLs:

Die meisten Beiträge zu diesem Thema stünden freilich auf einem weniger schwankenden Boden, würde man sich wieder mehr auf die gedanklichen Zusammenhänge zurückbesinnen, innerhalb deren HUSSERL das Wort "Lebenswelt" zu einem philosophischen Zentralbegriff erhoben hat HELD (1986, 5).

Dies ist auch die Stoßrichtung der vorliegenden Arbeit, die, wegen ihrer Kürze nur skizzierte und exemplarische, aber - so hoffe ich - deutliche Konturen des Lebensweltbegriffes und seiner soziologischen, sonderpädagogischen und evolutionär-konstruktivistischen Assimilation zu zeichnen versucht. Ich gebe aber, wegen seiner Funktion als historische und theoretische Basis des Lebensweltbegriffs, der Darstellung der HUSSERLschen Gedankengänge einen angemessen breiten Raum.

2. Husserls Phänomenologie: Ursprung des Begriffs "Lebenswelt"

In Wirklichkeit ist die Sache gerade umgekehrt: nicht ist das Bewusstsein in uns, sondern wir sind 'im' Bewusstsein [...] (PLESSNER 1975, 67).

Mit diesem Zitat PLESSNERs ist bereits der Wesenskern von HUSSERLSs Phänomenologie elegant beschrieben, ohne die man den Hintergrund der Einführung des Begriffes "Lebenswelt" nicht verstehen kann. HUSSERLs Absicht war es, mit seiner Philosophie noch einmal wie bereits KANT die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt festzustellen. Er versucht dabei, voraussetzungslos die Welt auf ihre Erscheinungsweisen zu reduzieren, so, wie sie sich dem Bewusstsein zeigt - als Phänomen, nicht als "materielle Realität" (HELD 1986, 7). Sein spezifischer Ansatz, die Phänomenologie, ist also als Transzendentalphilosophie konzipiert, mit dem Zweck, die Grundlagen des Erkennens und des Seins überhaupt aufzuklären. Phänomenologie ist genauer die Wissenschaft vom Bewusstsein und seinen Erscheinungen.

2.1. Fundierung der Dingwelt

Die bedeutendste Operation, die HUSSERL für die Erforschung des Seins im Bewusstsein vollzieht, ist die Einklammerung der sogenannten Generalthesis der natürlichen Anschauung, nämlich die Einklammerung des Seinsglaubens der Welt - übrig bleibt die Welt als Phänomen im eigenen Bewusstseinsraum. Man tritt quasi hinter sich selbst und den eigenen Weltvollzug zurück. HUSSERL nennt diesen gewichtigen Schritt phänomenologische Epoché:

Ihr vollbewußter Vollzug wird sich als die notwendige Operation herausstellen, welche uns das 'reine' Bewußtsein und in weiterer Folge die ganze phänomenologische Region zugänglich macht. [...] . Somit bleibt es als 'phänomenologisches Residuum' zurück, als eine prinzipiell eigenartige Seinsregion, die in der Tat das Feld einer neuen Wissenschaft werden kann - der Phänomenologie (HUSSERL 1985, 145).

In diesem so gewonnenen Residuum aus reinen Erlebnissen wird dennoch eine qualitativ zu differenzierende Phänomenwelt erfahren.

Hier wird auch deutlich, worauf das obige Zitat von PLESSNER, der in seiner philosophischen Anthropologie die belebte Natur phänomenologisch untersucht hat, hinaus läuft: nicht das Bewusstsein ist im Körper, vielmehr ist der Körper im Bewusstsein. HUSSERL stülpt also gewissermaßen den Handschuh des naiven Realitätsglaubens von außen nach innen um und zeigt, dass die ganze Welt in uns stattfindet. HUSSERL nennt dieses absolute Bewusstsein, welches eine Welt erzeugt, ein Transzendentales Bewusstsein, die Ebene des nicht mehr weiter reflexiv hinter sich selbst zurücktreten könnenden Ur-Ich oder auch: das Transzendentale Subjekt.

In seiner Analyse des Weltvollzugs entdeckt HUSSERL eine Zwischendimension des Erscheinens der Welt in Gegebenheitsweisen, d.h. er stellt fest, dass uns ein Ding z.B. niemals als Ganzes gegeben ist, sondern zu je einem Zeitpunkt nur perspektivisch in Fragmenten, sogenannten Abschattungen. HUSSERL folgert so, dass "das Ding" bereits eine induktive Synthese unseres Bewusstseins ist, indem es die möglichen weiteren Perspektiven, die in einem nächsten Zeitmoment potentiell erfahrbar sind, (z.B. die Rückseite eines Gegenstands) jeweils mitdenkt, also mögliche Verweisungshorizonte antizipierend zusammenfasst und diese Synthesen induktiv zu "Dingen" verallgemeinert. Die Appräsentation (Mit-Gegenwärtigmachen) von Abgeschattetem als Deutung der Empfindungen konstituiert also erst die Dinge und ihre Identität. Solche Prozesse laufen - konstituieren sie nicht in einer "Urstiftung" etwas zum ersten Mal - unbewusst, habitualisiert oder bereits sedimentiert ab. HUSSERL bezeichnet den Syntheseprozess auch als noetische Formung der Hyle: zunächst ungegenständliche Empfindungen werden zum Material für Welterscheinen. Letztlich entsteht über eine komplexe Schichtung solcher Wahrnehmungs-, Appräsentations- und Induktionsprozesse eine ganze Welt aus prinzipiell unendlichen Horizonten, immer mit dem je eigenen Leib als Nullpunkt und Zentrum. Die Welt ist also für jedes Subjekt notwendig perspektivisch oder subjekt-relativ (HELD 1986, 45).

Im Kern der gesamten HUSSERLschen Reflexionen findet man also - und dies kann man nicht deutlich genug herausstellen - den Aufweis und die Analyse der Konstitution der Welt durch das Bewusstsein. Selbst Empfindungen werden nicht einfach passiv "wahrgenommen", es verhält sich in HUSSERLS Lehre von den Kinästhesen gerade umgekehrt:

Alle sinnlichen Eindrücke kann ich nur gewinnen, indem ich mich leiblich betätige
(HELD 1986, 20).

Auch hier ist der Leib nicht ein materiell-realer Körper im Gegensatz zu einer bloß geistigen Innensphäre, nein - es ist der phänomenale Leib, wie er im zugehörigen Bewußtseinsraum selbst gegeben ist.

Eine weitere wesentliche Erkenntnis HUSSERLs besteht darin, dass er dem Bewusstsein eine universale intentionale Struktur attestiert. Intentionalität bedeutet, dass Bewusstsein immer das Bewusstsein-von-Etwas ist, d.h. dass ein Subjekt sich immer Gegenstände ins Gegenüber setzt, als "einen Pol, worauf sich bestimmte Bewusstseinsvollzüge jeweils beziehen" (HELD 1985, 23). Dieses Bezugsgegenüber, HUSSERL bezeichnete es auch als Noema - seinerseits im Bewusstsein konstituiert - bedarf der sogenannten Originarität oder der anschaulichen Selbstgegebenheit, um mit einer gewissen Evidenz überhaupt als Etwas erfahren zu werden. Das Bewusstsein ist also intentional gerichtet, teleologisch auf Ziele hin, z.B. auf Originarität oder Erfüllung:

Alles, wovon sich sinnvoll reden läßt, muß mir in irgendwelchen spezifischen Weisen originärer Gegebenheit zugänglich sein. Nicht nur beim theoretischen Erkennen, sondern bei allen 'Akten', beim Wahrnehmen, Fühlen, Begehren, Erstreben, Lieben, Glauben, praktischen Bewerten usw. kann dasjenige, worauf wir uns mit dem betreffenden Bewußtseinsvollzug beziehen, für uns entweder 'leibhaft anschaulich', in der Weise der 'Selbstgebung' erscheinen oder so, daß sich das Bewußtsein nur auf eine derartige 'Erfüllung' oder 'Bewährung' angewiesen und verwiesen weiß, ohne sie aktuell zu realisieren (HELD 1985, 23).

Durch intuitive Schau und die sogenannte eidetische Variation, d.i. das vorstellungsmäßige Herauspräparieren des Wesens (Eidos) eines Bewusstseinsgegenstandes durch probeweise Variation, lassen sich nach HUSSERL "die Sachen selbst", ihre invarianten Wesenskerne identifizieren und gegen Unwesentliches differenzieren (HUSSERL 1985, 255ff.):

HUSSERL wollte 'zu den Sachen selbst'. Doch, was 'die Sachen selbst' sind, kommt originär nur in subjektiven Vollzügen anschaulicher Selbstgebung zum Vorschein. Diese Vollzüge aber sind beheimatet im menschlichen Bewußtsein" (HELD 1985, 22),

also gerade nicht in einer irgendwie gearteten "objektiven Welt".

Die Welt des Alltags erscheint bewusstseinstranszendent, weil die Generalthesis des Seinsglaubens quasi ein Betrug des Bewusstseins ist, die Konstitution der Welt im Hintergrund verschwinden zu lassen und eine Dingwelt als Objektivation in ein "Außen" der Bewusstseinssphäre zu projizieren (HUSSERL 1985, 156). Es gilt aber, was auch später PLESSNER (1975, 49) konstatiert:

Über sich und seine Sphäre greift das Subjekt nicht hinaus. Was ihm gegeben ist, ist in ihm gegeben.

HUSSERL verwendet für dieses eigentümliche Verhältnis des Bewusstseins zu seiner Welt den Terminus immanente Transzendenz. Der DESCARTESsche Dualismus der Welt zwischen res cogitans und res extensa ist damit aufgehoben.

2.2. Intersubjektivität

In den bisher angestellten Betrachtungen haben wir es noch mit einem einzelnen Ich zu tun, das in sich seine Welt konstituiert. Da sie die ureigenste Welt dieses Subjektes, seine Eigenheitssphäre ist, nennt HUSSERL sie auch primordiale Welt oder Primordialsphäre und die hypothetische Reduktion des Seins auf ein einzelnes Wesen (einen "transzendentalen Robinson"; SOMMER 1988) primordiale Reduktion (HELD 1986, 33). Die Primordialsphäre eines Wesens ist prinzipiell nicht zugänglich oder erfahrbar (außer von ihm selbst natürlich), es handelt sich beim "transzendentalen Robinson" also um eine geschlossene Monade.

Die bis zu diesem Punkt schichtweise von dieser Monade konstituierte Welt ist noch keine intersubjektive oder gar "objektive" Welt - es fehlt noch die Konstitution der Erfahrung eines Anderen in seiner Primordialsphäre. HUSSERL nimmt hier zunächst die Erfahrung des Körpers eines Anderen als phänomenal gegeben an. Die Überschreitung der Eigenheitssphäre hin zu einer Konstitution von Intersubjektivität erklärt er mit der paarenden Assoziation (Etwas-erinnert-an-Etwas), die die Ähnlichkeit des Fremdkörpers mit der eigenen Leiberfahrung im Sinne einer Analogie nahelegt:

Wenn es nun möglich sein soll, daß ich in meiner primordialen Welt zur Transzendierung dieser Welt motiviert werde, so kann dies nur so geschehen, daß ich in etwas primordial Präsentem etwas nicht Präsentes appräsentiere. [...]. So wird ein Körper in meiner primordialen Welt als der Leib eines Anderen aufgefaßt (HELD 1986, 34f.).

Diese Apperzeption bzw. Appräsentation ist also der basale Schritt zur Intersubjektivität. In einem weiteren Schritt entsteht aus dieser Fremderfahrung dann Reziprozität:

Von mir aus, konstitutiv der Urmonade, gewinne ich die für mich anderen Monaden bzw. die Anderen als psychophysische Subjekte. Darin liegt, ich gewinne sie nicht bloß als mir leiblich gegenüber [...]. Vielmehr im Sinne einer Menschengemeinschaft und des Menschen [...] liegt ein Wechselseitig-füreinander-sein, das eine objektivierende Gleichstellung meines Daseins und des aller Anderen mit sich bringt; [...]. Dringe ich, mich in ihn einverstehend, in seinen Eigenheitshorizont tiefer ein, so werde ich bald darauf stoßen, daß, wie sein Körperleib sich in meinem, so mein Leib sich in seinem Wahrnehmungsfeld befindet und daß er im allgemeinen mich ohne weiteres so als für ihn Anderen erfährt, wie ich ihn als meinen Anderen erfahre
(HUSSERL 1986, 209).

All dies vollzieht sich selbstverständlich immer in der Bewusstseinssphäre des betrachteten Subjekts, das appräsentierte andere Ich wird von HUSSERL (1986, 194) als Modifikat des Eigenen, als alter ego aufgefaßt. Das Subjekt erzeugt also die Transzendierung seiner Originalsphäre quasi durch Selbstauslegung seines Universums des Selbsteigenen, durch Appräsentation und projizierende Objektivation, denn es bleibt natürlich immer die prinzipielle Fremdheit der Primordialsphäre des Anderen (HUSSERL 1986, 217f.; 182; 187). Nach dieser Analyse

[...] ist es kein Rätsel mehr, wie ich in meiner Monade eine andere Monade konstituieren, und das in mir Konstituierte eben doch als Anderes erfahren kann; und damit auch, was ja davon unabtrennbar ist, wie ich eine in mir konstituierte Natur mit einer vom Anderen konstituierten identifizieren kann (oder in notwendiger Genauigkeit gesprochen: mit einer in mir als vom Anderen konstituiert konstituierten) (HUSSERL 1986, 205).

Hier beginnt die Urstiftung einer gemeinsamen Welt, die erst durch eine gemeinsame Zeit als Weltzeit überhaupt möglich ist. Der Schlüssel zur Identifizierung sowohl von Dingen, Handlungen, aber erst recht von Anderen ist die erinnernde Vergegenwärtigung:

Dadurch urgestiftet ist die Koexistenz meines Ich [...] und des fremden Ich, meines und seines intentionalen Lebens, meiner und seiner Realitäten, kurzum eine gemeinsame Zeitform [...] (HUSSERL 1986, 207).

Nun setzt sich in dieser Weise - ähnlich wie bereits bezüglich der Dingwelt skizziert - die Konstitution intersubjektiver Strukturen fort, bis hin zu höheren Stufen der Intersubjektivität, einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft, einer Kulturwelt mit spezifischen Prädikaten - all dies über die Erfahrung intentionaler Gemeinschaft, gemeinsamer Urstiftungen, wie z.B. Dingverwendungen, Nahrungszubereitung, Zeichen, Rituale und deren Habitualisierung und Sedimentierung im Verlaufe von individuellen Leben und Generationen. Über die Erfahrung der Anderen bildet sich also ein intersubjektiver Welthorizont: die Lebenswelt.

2.3. Lebenswelt

Lassen wir nun die phänomenologische Epoché wieder los und betrachten genauer die Qualitäten von HUSSERLs Lebenswelt - mit dem Wissen um ihre transzendentale Konstitution im Rücken und zurückgekehrt zur natürlichen Einstellung, in der "die Welt" als etwas immer schon Vorgefundenes erlebt wird:

In der natürlichen Einstellung ist die Welt als Horizont der Horizonte das schlechthin Unthematische; der Universalhorizont entzieht sich jeder objektiven Thematisierung.[...]. Diesen umfassenden Horizont [von Subjektrelativität, M.W.] nennt HUSSERL in Abgrenzung gegen die Welt als wissenschaftlichen Forschungsgegenstand überhaupt und gegen die neuzeitlich verwissenschaftlichte Welt insbesondere die Lebenswelt. (HELD 1986, 48)

HUSSERL (1986, 268) verdeutlicht die Selbstverständlichkeit und den Gemeinschaftscharakter dieser Welt:

Das betrifft also die alltägliche Gemeinwelt, in welcher unser normales praktisches Leben sich ganz abspielt. Alles, was uns da als wirklich seiend gilt, ist immer schon als für alle seiend verstanden, eben aus gemeinsamer Erfahrung.

In aller Selbstverständlichkeit, Übereinkunft und Festigkeit der konstituierten Welt bleibt dennoch ein offener und unbestimmter Horizont:

Das aus wiederholter Erfahrung Wohlbekannte ist doch unweigerlich in allem von ihm Bekannten nur relativ bekannt und hat also in allem einen eigenartigen Horizont offener Unbekanntheit." (HUSSERL 1986, 268).

Es ist immer ein anderer, neuer oder weiterreichender Horizont von Verweisungen möglich. Prinzipiell kann man also nie sicher sein, dass ein Gegenstand im nächsten Moment sich nicht als etwas völlig Unbekanntes oder Anderes herausstellt, die Sonne morgen auch wieder aufgeht oder die Institutionen in der nächsten Woche immer noch stabil sind. HUSSERL (1986, 269) stellt aber fest:

Dieser Stil der Erfahrungswelt als Seinsweise in der Schwebe zu mehr oder minder vollkommener Bestimmtheit in offen unbestimmten Horizonten stört nicht den Gang des normalen praktischen Lebens, etwa die Alltagswelt [...].

Im Sinne der offenen Unbestimmtheiten, je unterschiedliche Gewichtung auf spezifische Verweisungshorizonte zu legen und je verschiedene Relativitäten und Perspektiven zu konstituieren, gehört zum Wesen der Lebenswelt, dass es von ihr kulturelle und individuelle Subtypen geben kann und sogar geben muss:

Aber das schließt ja nicht aus, wie a priori so faktisch, daß die Menschen einer und derselben Welt in loser oder gar keiner kulturellen Gemeinschaft leben und danach verschiedene kulturelle Umwelten konstituieren, als konkrete Lebenswelten [...]. Das betrifft mit alle umweltlichen Sondergestalten, in denen sie sich für uns je nach unserer persönlichen Erziehung und Entwicklung oder nach unserer Mitgliedschaft dieser oder jener Nation, dieses oder jenes Kulturkreises darstellt (HUSSERL 1986, 212 f., 216).

Nun gilt nach HUSSERL für die Menschheit und jeden Menschen, dass sie immer schon je in eine konkrete Umwelt hinein leben, "daß all das schon konstituiert ist" und der Veränderung unterliegt und die Ursprünge mit der Zeit zusehends vergessen werden und als passiver Wissensbestand in den Hintergrund absinken:

In diesem beständigen Wandel der menschlichen Lebenswelt wandeln sich offenbar auch die Menschen selbst als Personen, sofern sie korrelativ immer neue habituelle Eigenheiten annehmen müssen (HUSSERL 1986, 215).

[...] [D]ann ergibt sich das Korrelat unserer faktischen Erfahrung, genannt 'die wirkliche Welt', als Spezialfall mannigfaltiger möglicher Welten und Unwelten [...] (HUSSERL 1985, 183).

Dies würde der eingangs erwähnten Alltagsannahme entsprechen, dass "jeder irgendwie in seiner eigenen Welt lebt". Dieses sogenannte universale Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand und Gegebenheitsweisen war letztlich auch Ausgangspunkt und Motivation des ganzen HUSSERLschen Projektes:

Nie erregte die Korrelation von Welt (der Welt, von der wir je sprechen) und subjektiven Gegebenheitsweisen von ihr das philosophische Staunen. [...]. Man blieb in der Selbstverständlichkeit verhaftet, daß jedes Ding für jedermann jeweils verschiedentlich aussieht. [...] Der erste Durchbruch dieses [...] Korrelationsapriori [...] erschütterte mich so tief, daß seitdem meine gesamte Lebensarbeit von dieser Aufgabe [...] beherrscht war
(HUSSERL 1936 in HELD 1986, 16f.).

Die Lebenswelt als ursprüngliche Erfahrungswelt ist aber trotz ihrer perspektivisch-subjektiven Eigenschaften auch durch Invarianz ausgezeichnet. In HUSSERLS weiteren Untersuchungen

[...] kommen auch die allgemeinsten und invarianten Züge der Welt als Welt ursprünglicher Erfahrung und korrelativ die invarianten Eigenheiten ihrer Erfahrung selbst zur Beachtung; so insbesondere der universale Kausalstil dieser Welt, wie andererseits die universale Struktur der immerzu vage-unbestimmten Erkenntnisweise der Erfahrungsdinge (HUSSERL 1986, 270).

Lebenswelt - nun klingt dieses Wort schon nicht mehr nach einem diffusen Alltagsbegriff, oder? Aber deshalb der ganze phänomenologische Aufwand? Auch hier ist wieder eine Warnung vor dem Rückfall in Alltagspositivismus angebracht. Ich stelle mit HUSSERL (1985, 189) noch einmal deutlich heraus, dass

[...] die ganze räumlich-zeitliche Welt, der sich Mensch und menschliches Ich als untergeordnete Einzelrealitäten zurechnen, ihrem Sinne nach bloßes intentionales Sein [ist], also ein solches, das den bloßen, sekundären, relativen Sinn eines Seins für ein Bewusstsein hat. Es ist ein Sein, daß das Bewußtsein in seinen Erfahrungen setzt [...] - darüber hinaus [ist] es aber ein Nichts.

Diesen Charakter der Lebenswelt darf man nicht unterschlagen, sonst verfälscht man das Gemeinte oder verwechselt die Lebenswelt mit einer irgendwie gearteten "objektiven Umwelt". Genau davon will HUSSERL aber gerade die subjekt-relative Lebenswelt geschieden wissen - als Kontrastbegriff zur sogenannten objektiven Welt eines abstrahierenden naturwissenschaftlichen Weltverständnisses, das als Ideal der modernen Wissenschaft schlechthin gilt . Dabei ist HUSSERL nicht etwa antiwissenschaftlich, sondern versucht gerade über die Lebenswelttheorie einen natürlichen Weltbegriff zu schaffen, der tragfähig ist als neues und verlässliches Fundament aller Wissenschaften (HELD 1986, 6), da er die modernen Naturwissenschaften für überprüfungsbedürftig hält. Weil diese ihre ureigenste Aufgabe der Welterkenntnis aus den Augen verloren haben und zu reinen Techniken degeneriert sind und dabei gleichzeitig ihre unabdingbare Verwurzelung in der Lebenswelt vergessen haben, bedarf es der Philosophie, genauer der Phänomenologie als einer das ganze Sein umfassenden Wissenschaft, um die Verantwortung des Subjekts für sein Tun, seine Welt und seine Wissenschaft wieder zu finden und zu bewahren, denn

[...]

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Husserl und die "Lebenswelt" in der Sonderpädagogik
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung)
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V28811
ISBN (eBook)
9783638304917
ISBN (Buch)
9783640828784
Dateigröße
637 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine grundlegende Einführung in Husserls Phänomenologie und seinen Lebensweltbegriff. Vergleiche verschiedener sonderpädagogischer Autoren und ihrer Verwendung des Lebensweltbegriffes, Kritik und Gegenüberstellung mit Husserls Konzept.
Schlagworte
Husserl, Lebenswelt, Sonderpädagogik, Heilpädagogik, Phänomenologie
Arbeit zitieren
Matthias Wenke (Autor:in), 2004, Husserl und die "Lebenswelt" in der Sonderpädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28811

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