Aufklärung und Dialektik

Voltaire und Kant, Hegel und Mao über den Widerspruch


Fachbuch, 2015

163 Seiten


Leseprobe


Die Aufklärung als ideologische Strömung läßt sich geografisch auf Europa, historisch auf die Übergangszeit von der Epoche des Feudalismus zum Kapitalismus eingrenzen. Wenn lateinamerikanische Philosophen im Geiste der Aufklärung Gedanken entwickelten, so war das eine Folge der Ausstrahlung der spanischen. Als ideologische Waffe der aufstrebenden Bourgeoisie gegen den Feudalabsolutismus wurde in ihr deutlich, dass diese sowohl weltlich (konstitutionelle Monarchie) als auch religiös (Deismus) Kompromissen zugeneigt war. John Locke tischte eine Lehre der doppelten Wahrheit auf, es gäbe eine mit der menschlichen Vernunft zu erfassende und eine der göttlichen Offenbarung. Montesquieu, hundert Jahre vor dem Ausbruch der französischen Revolution geboren, versuchte wie auch Holbach die Lösung der gesellschaftlichen Widersprüche des Feudalabsolutismus durch eine Stärkung der Parlamente zu erreichen. Voltaire, im Frühjahr 1726 zum zweieinhalbjähriges Exil in England gezwungen, wird zeitlebens das Kompromisstalent der englischen Bourgeoisie bewundern, das eine „weise Regierungsform zustande gebracht hat, in welcher der Regent mächtig ist, Gutes zu tun, und im Gegenteil gebundene Hände hat, wenn er Böses tun wollte“. 1. In sozialer Hinsicht stellt er den englischen Bauern als Vorbild für den französischen hin, der englische „ißt Weißbrot, ist sauber gekleidet“. 2. Einen Klassenkonflikt in Genf will er bei einem Abendessen mit den Hauptrepräsentanten der Konfliktgegner durch überzeugende Argumente lösen. „Voltaire glaubte an die lange Wirkung der kleinen Taten“. 3. Der katholische Klerus, den Voltaire innig hasst, er spricht von „Orden heiliger Nichtstuer“ 4., muss herhalten, um vom entscheidenden antagonistischen Widerspruch zwischen dem leibeigenen Bauernknecht und dem Feudalherren abzulenken. Der Antagonismus war bekannt, 1774 forderte Condorcet die Aufhebung der schwersten Frondienste, damit der versteckte Krieg zwischen diesen beiden Klassen aufhöre, ein subkutaner Krieg, der sich jederzeit zu einem offenen Bürgerkrieg entzünden könne. 5. Voltaire, dem im Alter klar war, dass eine Revolution unvermeidlich sei, er sie aber nicht mehr miterleben werde, unterbreitete den Vorschlag, dass alle Franzosen gute Bücher lesen sollten zum Wohle eines konfliktfreien Fortschritts der ganzen Nation und dass man Klöster in Krankenhäuser und Schulen umzubauen hätte. Besserung der Menschen durch sehr gute Aufklärungsbücher, das war die Erwartung, die er Diderot mitteilte: „Sehr gute Bücher erscheinen Schlag auf Schlag. Das Licht breitet sich sichtlich allenthalben aus“. 6. Wird der Widerspruch bei Voltaire minimalisiert, so wird er in Hegels Geistbegriff radikalisiert: „ … weil der Geist um so größer ist, aus je grösserem Gegensatze er in sich zurück kehrt“. 7. Schon beim jungen Hegel finden wir um 1799 / 1800 die Formulierung „Der immer sich vergrößernde Widerspruch“. Und Hegel sollte Recht behalten, der Widerspruch mildert sich nicht, er wird radikaler. Wenn Marx und Engels im Manifest schrieben, dass vor dem Jahrhundert der Bourgeoisie kein früheres ahnen konnte, welche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten, so konnten sie noch nicht ahnen, dass als Gegenreflex zur immer stärker werdenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung eine nationale, sozialistische und deutsche Arbeiter partei ebenfalls eine Frucht aus diesem Schoße sein wird und die die Verfolgung zumindest der reichen Juden als ein Fertigwerden mit der eigenen Bourgeoisie ausgeben konnte. Der Faschismus offenbarte, wie falsch eine ungebrochene Fortschrittsannahme der Aufklärung war und dass selbst im Land der klassischen bürgerlichen Revolution die Bourgeoisie ihm die Hand reichte. Ganz überraschend konnte das nicht kommen, wenn man sich an die Pariser Kommune erinnert. Die heutige Wirklichkeit nur im Licht der bürgerlichen Aufklärung und des technischen Fortschritts zu sehen verzerrt diese. Insbesondere weist die heutige spätbürgerliche Gesellschaft einen unterschwelligen Faschismus auf, der die ganze Gesellschaft in eine Inhumanität stürzen könnte, die in der Weltgeschichte beispiellos wäre. Das Verbot der KPD im Jahr 1956 durch das Bundesverfassungsgericht hat die Inhumanität in der Bundesrepublik einen Schritt nach vorn gebracht. Die Sonne der Aufklärung ist verdunkelt und von ihrem Ideal weit entfernt. Obwohl bereits in der bürgerlichen Aufklärung volksfeindliche Tendenzen leicht zu eruieren sind, die verhinderten, dass die in der Aufklärung keimende Intention einer anarchistischen Gesellschaft von Atheisten, die Bayle für möglich hielt, nicht konsequent zu Ende gedacht wurde, ist sie nach ihrer inhaltlichen Intention unabgeschlossen im Sinne einer lebenslangen Lernbereitschaft, so dass der Vorwurf Hegels, die Aufklärung sei über sich selbst nicht aufgeklärt, zu relativieren ist, die Aufklärung kann über sich selbst nie ganz aufgeklärt sein, da sie ihre Grenze nicht erreicht, um sich an ihr aufzuopfern. In ihrem Begriff schon liegt die ständige Erhellung der Finsternis der Unwissenheit, sie selbst schloß eine Art sokratischer Weisheit in sich ein, die in der Philosophie ein finales Denken für dogmatisch hielt. Gerade in Deutschland ließ im philosophischen Denken vor der Berliner Diktatur Hegels der kantische Kritizismus die fundamentalen Fragen über Gott und die Welt völlig offen und hatte für Hegel dem Nichtwissen nur ein gutes Gewissen gemacht. Es bleibt nach Kant, nach seinem Studium, nach seinem Tod nur ein subjektives Dafürhalten, die Fragen nach dem Ich und nach Gott sind der wissenschaftlichen Forschung entzogen. Die Vernunft des Menschen als einem intellektuellen Bewohner der Sinnenwelt ist für Kant so, dass sie Gott nicht als existenten zu demonstrieren vermag, der Glaube ist zugelassen, aus ihm wird aber durch keine Vernunftanstrengung Wissen. Das Programm der kritischen theoretischen Philosophie hat im Prospekt, alle Schwärmerei mit der Wurzel auszurotten und die Dialektik auf immer zu vertilgen. Man kann sich also von Gott nur einen negativen, die Erkenntnis nicht erweiternden Begriff machen, mit dem positiven beginnt das Vernünfteln ins Blaue hinein. Nur der radikale Flügel der französischen Aufklärung strebte zu ihrer Zeit „schwärmerisch“ eine gerechte Gesellschaft der Égalité an und gab durch deren Anvisierung der Weltgeschichte einen finalen Sinn. Gerade er schöpfte aus der offenen Kampfstellung gegen den Katholizismus kreative Denkkraft, unterlag aber durch diese militante Stellung zugleich einer unterschwelligen Gefahr, in Erstarrung zu geraten. Die Kunst des ideologischen Klassenkämpfers besteht darin, diese zu vermeiden. Lange vor Adorno, lange vor Horkheimer ließ Lessing Minna von Barnhelm fragen, wie vernünftig die Vernunft der Aufklärung sei ? Lange vor Adorno, lange vor Horkheimer klagte Schiller: „Das Zeitalter ist aufgeklärt … Woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind ?“ 8. Hatte nicht Rousseau schon 1758 in einem Brief an d' Alembert geklagt, dass vor lauter Wissenschaftsgläubigkeit die Tugend unter die Räder gekommen sei? Aber trotz aller Wissenschaftsgläubigkeit bekämpfte die Aufklärung bis auf wenige Ausnahmen (zum Beispiel Holbach) den Atheismus, indem sie das Universum als Gotteswerk deutete. „Staunend bewunderte ich die Weite des Raumes, die Bahnen der Sterne und das wunderbare Zusammenwirken im Weltgefüge, Dinge, für die das Volk kein Auge hat. Noch tiefer war meine Bewunderung für den Geist, der über diesen ungeheuren Kräften waltet“. 9. Aber nicht nur im Universum, auch in der Gattungsgeschichte sahen sie noch einen übergeordneten Gedanken (Gott war im Exil, aber es gab ihn noch), obwohl diese ausschließlich das Werk des Aufeinanderwirkens der Menschen selbst war, was man seit Vico wusste, ganz nüchtern basiert für d' Alembert die Gesellschaft auf die reziproke Nützlichkeit der Menschen untereinander. Durch die Verbannung Gottes aus der Geschichte war diese nun kein Heilsgeschehen mehr, das zu machende Glück fiel in die Hände jedes einzelnen. Der junge Friedrich Engels bemerkte einmal, dass die Revolutionen des 18. Jahrhunderts im Gegensatz steckengebliebene waren 10., dass die Aufklärung nicht der letzte, nur der vorletzte Schritt zur Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung der Menschheit war. 11. Bei aller Kritik an der Tradition lag in der Aufklärung eine durch die Renaissance vermittelte positive Rückbesinnung auf den antiken Republikanismus vor. Die römische Republik war für Rousseau „le meilleur gouvernement qui ait jamais existé“. Auch bereits Machiavelli hatte sich in seiner politischen Theorie an römischen Vorbildern orientiert. Für Voltaire hatte die griechischen Klassiker auf den Gebieten der Metaphysik und der Moral bereits alles gesagt. In der Geschichte des dialektischen Denkens nimmt die Renaissance, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf faszinierende Weise verbinden, insofern eine Schlüsselstellung ein, als durch sie das dialektische Denken der antiken Philosophie, insbesondere das zur Zeit des Perikles, entmarginalisiert wird, sie sich aber nicht nur in der Rückbesinnung erschöpft, sondern auf Neues, auf ein neues Menschen- und Weltbild hinweist, ohne die es keine europäische Aufklärung in dem uns heute bekannten klassischen Sinn gegeben hätte. Die Zukunft rückte immer mehr in den Mittelpunkt. In ihrer Favorisierung des in der Tradition Bacons stehenden experimentellen und analytischen Denkens, dieses Stabes, „den die Natur den Blinden gegeben hat“ (Voltaire), gegenüber dem spekulativen und synthetischen wendete sie sich zugleich gegen die in der Tradition des Mittelalters stehenden religiös fundierten Dogmatik. Diese galt es aus den Wissenschaften zu vertreiben. Die raumübergreifenden, globale Dimensionen annehmenden Entdeckungen der „christlichen“ Seefahrt, die eine Horizonterweiterung in wahrsten Sinne des Wortes brachten, die Kenntnis von überseeischen Völkern mit anderen Mentalitäten, technische Erfindungen, die unsere Einsichten in die Materie vertieften, zugleich eine auf einen Erfahrungsbeleg geeichte Philosophie, eine als autonom begriffene, von Gott unabhängige Natur und eine Kritik der Vorurteile, mit der Gassendi begonnen hatte, wurden zu Elementarien, aus denen sich der neuzeitliche Fortschrittsbegriff zusammensetzte. Autoritäten konnten sich nicht länger allein auf ihr Alter berufen. Des Weiteren hatte die Aufklärung wie schon die Renaissance einen lebens- ja lustbejahenden Grundzug, der sich gegen den christlichen Asketismus richtete. Es war ein Zeitalter, in dem der autonome und kreative Mensch die Sinnlichkeit gegen die platonisch-christliche Leibfeindlichkeit rehabilitierte. Wir können in der Geschichte der Aufklärung schon in allen wissenschaftlichen Disziplinen Mikrorevolutionen verfolgen, etwa im Verhältnis von Theorie und Praxis, Trieb und Vernunft, Glauben und Wissen … in denen alles auf den Kopf gestellt wurde und die in alle Disziplinen hineinwirkten, so dass sich die große soziale Umwälzung in den Eigentumsverhältnissen zwar nicht, wie man zunächst annehmen könnte, als Summe theoretischer Mikrorevolutionen ergab, im Gegenteil, dass sie anzeigt, dass das Bewußtsein der Menschen hinter der Objektivität ihrer Lebensproduktion in Ausbeutergesellschaften vielmehr zurückbleibt. Es war nicht im Bewußtsein der Jakobiner, dass Klassen aus dem Bestreben heraus, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, in ihre Revolution hineingejagt worden waren. Soweit waren die Sozialwissenschaften im 18. Jahrhundert nocht nicht, erst Saint-Simon stellte in seinen „Genfer Briefen“ 1802, also drei Jahre nach dem Machtantritt Napoleons fest, dass die französische Revolution ein Klassenkampf zwischen Adel, Bürgertum und Besitzlosen gewesen war. Jede seriöse Philosophie enthielt durch die Geschichte hindurch sowohl Elemente der Aufklärung als auch Konturen dialektischen Denkens. Aber durch das Krisenbewußtsein des 18. Jahrhunderts, das Rousseau 1762 im „Emile“ prägnant erfasste, kam es zur Ballung dieser Elemente und ab dem 19. Jahrhundert stehen wir ganz im Banne der Dialektik. In der französischen Revolution wird die bis in unsere Tage und darüber hinaus wirkende Widerspruchsdialektik der Aufklärung virulent. Der Artikel aus der „Enzyklopädie“ über die „Politische Autorität“ bleibt bis heute tagein tagaus aktuell: „Kein Mensch hat von der Natur das Recht erhalten, über andere zu gebieten“. Macht gleich welcher Art im zwischenmenschlichen Lebens- und Kommunikationsraum kann nur Mißbrauch der Macht sein. In den Worten St. Justs, einem Schüler Rousseaus wie Robespierre: Niemand kann regieren und unschuldig bleiben. Ihr Lehrer hatte geschrieben, dass ein Mensch, der anderen Menschen Befehle geben will, krank sein muss. „Macht ist für den hypokritischen Aufklärer immer Mißbrauch der Macht“. 12. Bezeichnend für die deutsche Misere ist, dass Kant noch 1795 im philosophischen Entwurf zum ewigen Frieden der gesetzgebenden Autorität eines Staates „natürlicherweise“ die größte Weisheit beilegt.

Voltaire war ein Repräsentant der gemäßigten Aufklärung, der den bewaffneten Aufstand der Volksmassen fürchtete. Er war kein Atheist, sondern ein Deist, der 1768 die unter englischem Freidenkereinfluß stehende "Profession de foi des théistes". (Glaubensbekenntnis der Deisten) publizierte. Einen wichtigen Einfluss auf die Freidenkerbewegung hatte John Toland mit seiner 1696 erschienen Schrift „Christianity not Mysterious“ ausgeübt. Voltaires Credo lautete: Man brauche einen Gott, müsse ihn notfalls sogar erfinden („Si Dieu n' existait pas, il faudrait l' inventer“), um den Pöbel im Zaum zu halten. „Kein noch so kleines Nest läßt sich ohne Religion regieren“. 13. Der Pöbel bestand für ihn aus "Ochsen", nicht diese, monarchistische Kreise müsse man aufklären. Er vertrat eine widerwärtige Aufklärung für die "Oberen Zehntausend", und nur diese konnten damals lesen und schreiben, und er fühlte sich zeitlebens zur verfaulten Aristokratie hingezogen. "Ce n' est pas pour les tailleurs et les bottiers". ( Das ist nichts für Schneider und Schuster, die für ihn Pack waren, die Formulierung „ ... wie der Pack sich ausdrückt …“ läßt sich bei ihm finden). Dieses Pack verstehe ohnehin nichts von Philosophie. 14. Deshalb können die Herrschenden die Philosophen auch ruhig in ihrer Religionskritik gewähren lassen, das Volk wird immer im Glauben dahindämmern, die Aufklärung wird nicht in die dumpfe Masse einsickern. 15. Alexis de Tocqueville erkannte diesen Irrtum der Aufklärer, sie hatten etwas losgerissen, was sie nicht mehr steuern konnten. 16. Wieland hatte sich immerhin noch gegen Voltaire gewandt und Schneider und Schuster für berechtigt erklärt, die Menschheit aufzuklären 17., für den großen Jakobiner Marat bildeten die Arbeiter den gesündesten Teil des Volkes, obwohl selbst dieser große Jakobiner und radikale Feind der Aristokratie sehr oft noch von einer steten unabänderlichen politischen Unwissenheit des Volkes ausging. Von der Tafel Friedrichs des Großen weiß Voltaire in einer autobiografischen Skizze zu berichten: "Gott selbst wurde nicht angetastet. Aber allen denjenigen, die in seinem Namen die Menschen betrogen hatten, ließ man keine Schonung widerfahren". 18. Gott selbst wurde nicht angetastet, aber Gott war an dieser Tafel nur noch ein leerer Name, ein Gott der Vergangenheit, ohne Gegenwart und Zukunft. Gott war entrückt, er durchflutete nicht mehr wie für Spinoza das All, war nicht mehr allpräsent-allwissend. Aber reaktionär war der Pantheismus Spinozas keineswegs, ein entrückter Gott entfernt Herr und Knecht voneinander und läßt sie bestehen, was Voltaire erkannte, in einer Allgottheit erweist sich eine Herr-Knecht-Konstellation zwischen Menschen als Sünde per se. Gott mißhandelt sich nicht selbst. Kant begründet einen Gegengott zum spinozistischen, also im Bereich des Intelligiblen angesiedelten, aus der Moral. Für den Rechtsgelehrten Hugo Grotius galt das Recht zwischen Menschen auch ohne Gott. Mögen der deistische und der pantheistische Gottesbegriff auch diametral entgegengesetzt sein, der Deismus und der Pantheismus treffen sich auch wieder. Der Deismus macht den Raum frei für eine eigenständige Aktivität des Menschen, der aber unter der Ägide der Religion kein Prometheus werden kann, im Pantheismus liegt die Aufforderung, die unfertige Welt gottgemäß, zu seinem Ebenbild zu gestalten. Für die Deisten, konsequente Fortführer der Sozianer, war die Religion nicht die Schlange, die der Kopf zertreten werden musste, für Voltaire war in der Tradition Bayles der Aberglaube die Schlange. „Man muß ihr den Kopf zertreten, ohne die Religion, die von ihr vergiftet und zerfleischt wird, zu verletzen“. 19. Die Philosophie wurde mit dem Licht assoziiert, der Aberglaube, nicht die Religion, mit der Dunkelheit. In der religiösen Tradition war das Licht durch Christus in die Welt gekommen, die Aufklärung enteignete diese. Unser Jahrhundert wird von Tag zu Tag lichter, dachten die Aufklärer, und, so Bayle, vor ihm werden alle anderen Jahrhunderte Finsternis. Die Unwissenheit galt als Mutter des Aberglaubens. Insbesondere der Jude, nach Voltaire der Überträger des Aberglaubens, wird für ihn peripher, gleichwohl die Aufklärung seine Gleichstellung im Prospekt hatte. Wenn die Wissen verbreitende Vernunft den Aberglauben bezwingt, öffnet sich das Tor zum Glück der Menschheit. Der alte Fritz war da skeptischer, für ihn gab es immer Aberglauben und wird es ihn immer geben. Nach der Aufklärung wuchs die Güte des Menschen mit seiner Bildung. So dachte Voltaire, aber nicht Rousseau, nicht Hegel, der gegen den Begriff „Bildung“ eine regelrechte Aversion hatte. Bildung macht nicht besser, zwischen gutem Wissen und gutem Willen besteht leider kein Automatismus. Von den Teilnehmern an der Wannseekonferenz zur Endlösung der Judenfrage hatten alle Teilnehmer bis auf den Konferenzvorsitzenden SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich den Doktorgrad einer deutschen Universität, wobei man sich über die Notwendigkeit der Liquidierung der Juden schnell einig wurde, die Konferenz zog sich wegen der „Behandlung“ der Halb- und Vierteljuden in die Länge. Nietzsche sollte auf perverse Art Recht bekommen: er sah in der übermässigen Wissensgier und im ständigen Bildungseifer eine Frucht der Aufklärung, dass die Menschen heute nur noch als Enzyklopädien, als „historische Bildungsgebilde“ durch die Gegend laufen. Überall werde Halbwissen aufgeschnappt und der intellektuell kreative Mensch verkomme zum Kompilator, der nichts sein eigen nennen kann. Die Frucht der Aufklärung ist gewiss nicht nur eine süsse: der Mensch hat ein Bedürfnis nach einer Weltanschauung aus einem Guss, gerade die Zeit, die der Aufklärung und der Revolution, die den Zerfall mittelalterlicher Fundamentalismen bewirkten, folgte, war eine Zeit des hastigen Suchens und Findens neuer pluraler Fundamentalismen. Die Zeit der Ismen war angebrochen. Seit 1789 ist fast alle intellektuelle Produktion lediglich Reaktion auf die Atomisierung, die dem Sturm auf die Bastille explosionsartig folgte. Auch die Explosionen und gesellschaftlichen Eruptionen nach der Oktoberrevolution warfen Fragen über eine sinnvolle Gestaltung des Lebens der Individuen auf, Stalins Studie „Über dialektischen und historischen Materialismus“ lieferte dafür eine Weltanschauung aus einem Guss.

Die Aufklärer begingen durch John Lockes 1695 publizierten Schrift „The Reasonableness of Christianity“ eine Absurdität: sie nannten ihre Religion eine natürliche, als ob es eine Religion geben könnte, die nicht übernatürlich ist. Alle Religionen sind Erfindungen der Menschen und dürfen es doch nicht sein … (und dienen dem Despotismus, hätte Marat hinzugefügt). Auch die natürliche Religion ist ein Fetisch. Aber „Natur“ war nun mal durch das Newton' sche Gravitationsgesetz, das in Frankreich besonders von Maupertuis und dann auch von Voltaire populär gemacht wurde, ein großes Modewort der Aufklärung geworden, Kant sprach von der großen „Künstlerin Natur (natura daedala rerum)“, man wähnte sich in der Helligkeit eines Durchbruchs seit Heraklit der Dunkle das Okkulte in der Natur beschwor, sie liebe es, sich zu verbergen. Newton, dessen Philosophie für Voltaire ein Meisterwerk sei, neben der die von Descartes sich nur wie ein Versuch ausnehme, wird von ihm über alle Staatsmänner gestellt, unsere Achtung müsse dem gelten, der das Weltgebäude kennt, und nicht denen, die es verunstalten. Marat kritisierte in seinem Werk „Die Ketten der Sklaverei“ die grosse Masse der Historiker, dass sie nur Fürsten mit Lobreden überschütteten, die nichts weiter verstanden, als die Erde zu verwüsten. Man sah das Heil der Menschheit in der Selbstverwirklichung der Natur. Rousseau war essentiell kein Naturapostel, zu dem die Romantik ihn verkürzte; gesellschaftliche Herr-Knecht-Konstellationen sind kein natürlicher Zustand, ergo widernatürlich. Immer feiert die Romantik die Natur als Befreiung vom Klassenkampf. Diderot diente die Natur als Vorbild für den Dramatiker und den Schauspieler, ein Gedanke, der Lessing zu seiner „Hamburger Dramaturgie“ inspirierte. Man könne gar nicht gegen die Natur handeln, so Diderot, alles was ist, kann weder gegen die Natur noch außerhalb derselben sein. „Was nicht in der Natur liegt, ist niemals wahr“, dozierte Voltaire in seinem Essay über die Sitten. Die Scholastik hatte sich in der Physik noch mit okkulten Mächten beholfen, seit der Entdeckung Newtons wurde Gott als okkulte Supermacht nicht mehr benötigt, ja sein Begriff störe die Moral (Holbach) und trübe die Erkenntnis (Condillac). In der Erkenntnislehre von Malebranche musste Gott noch permanent anwesend sein, um überhaupt die Welt zu erkennen, die in Gott war und mit diesem Metaphysiker musste sich Voltaire intensiv und immer sehr kritisch auseinandersetzen, er wirft ihm „hohe Betrügereien“ vor. Voltaire würdigte das, was in der Metaphysik das Sicherste des Sicheren war, zur Pseudolösung herab. So läßt er einen Bauern, dessen Frau schwanger ist, einen Wissenschaftler fragen, wo sich sein Kind befinde. In einem kleinen Beutel zwischen Blase und Mastdarm … Himmlischer Vater, rief der Bauer aus, „die unsterbliche Seele meines Sohnes wohnt zwischen Urin und noch etwas Schlimmeren !“ Ganz recht, sagte der Wissenschaftler, „selbst die Seele eines Kardinals hat keine andere Wiege ...“. 20. Es wird gesagt, dass die Jungfrau Maria im Beischlaf mit dem Heiligen Geist Samen ausgestoßen habe. 21. Immer lauter wurde nun auch der Ruf nach einem „Newton der menschlichen Geschichte“. Es ist für die Wissenschaftsgeschichte von erstrangiger Bedeutung, dass die Lehre von der Natur durch Galilei und Newton eher als Wissenschaft feststand als die Lehre von der Geschichte (Marx und Engels). Im Verhältnis der Naturwissenschaften zu den Gesellschaftswissenschaften war man auch eher bereit, atheistische Konsequenzen auf dem Gebiet der ersteren als anarchistische in den letzteren zu ziehen. Hier geht es um den Menschen selbst und hier haben wir es im Vergleich mit der immer gleichen fehlerfreien Winkelsumme jedes Dreiecks mit Unzulänglichkeiten jedes Menschen zu tun, haben die ständige Gefahr der Abweichung vom Gesetz. Allein die Naturwissenschaft gibt uns die objektive Wahrheit wieder und wissenschaftsgeschichtlich ist diese Monopolisierung, die bis Marx Bestand hatte, eine Frucht der Renaissance, in der die Hinwendung der Wissenschaften zur allein weltimmanenten Begründung ihrer Aussagen erfolgte. Den Naturwissenschaften ist seitdem ein Atheismus und Materialismus immanent wie dem Idealismus Religion. Wir wären nach Diderot göttlich, würden wir uns auf dem Boden der Gesellschaftswissenschaften genauso sicher bewegen wie auf dem der exakten Wissenschaften. Die „Enzyklopädie“ wurde nicht wegen ihren naturwissenschaftlichen, sondern wegen ihren politischen und philosophischen Texte verboten, die bewußt parteiisch waren und nicht neutral hätten sein können, wie es denn keine überparteilichen gesellschaftswissenschaftlichen Texte geben kann. Die sittliche Welt ist denn auch das essentielle Wirkfeld der Aufklärung, diese ist der Stern, der durch eine sich immer mehr vertiefende Einsicht zur Fehlervermeidung und damit zu einer besseren Welt führen soll. Auf dem Gebiet der Naturwissenschaft brauchte Voltaire Newton in Frankreich nur noch populär zu machen, auf dem Gebiet der Geschichte musste er selbst u. a. durch den Bruch mit der annalistischen Geschichtsbetrachtung den Weg zur Wissenschaft bereiten. In seinem Artikel für die Enzyklopädie „Histoire“ definiert er diese als Suche nach einem Maßstab, „der dazu dienen könne, mit Sicherheit die Form eines vernünftigen und ausgewogenen sozialen Zustandes zu finden“. 22. Vor dem cartesianischen Zweifel war die Geschichte als strenge Wissenschaft durchgefallen, es gab in ihr keine Axiome, die menschliche Irrtümer für immer ausschlossen und das galt auch noch im System von Wolff, das in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts die wichtigsten deutschen Universitäten eroberte und auch die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin erreichte. Die Wissenschaft der Geschichte musste etwas darbieten, das zu jeder Zeit und in jedem geschichtlichen Raum Gültigkeit besaß. Zur Zeit der Aufklärung war diese Prämisse richtig und auch notwendig, sollte die Geschichte von der Theologie, deren Prämisse das Wort Gottes war, entkoppelt werden, sie wurde falsch durch die Entdeckung der Dialektik, dass diese selbst es als ihr Bewegungsgesetz war. Die Bibel, für Pascal noch das Buch, ohne das wir nichts erkennen, wurde vom wichtigsten Buch der Wissenschaften zum unbrauchbarsten. Das Adjektiv „kritisch“ war wichtiger geworden als das Adjektiv „christlich“, mit dem funktionierenden Naturgesetz trat die Menschheit an die Stelle des göttlichen Durchwaltens des Universums, ein Lob von den Philosophen war wichtiger als die Gunst der Fürsten. Aber die Aufklärung war auf andere Art als die Bibelgläubigen bequem, wenn man nachvollzieht, wie sie dachte. Sie dachte zum Beispiel den Menschen als eine Uhr (La Mettrie) und die Welt als eine Uhr. Die Uhr war nun mal da, sie hatte einen inneren Mechanismus, den man in seiner Verzahnung präsent haben musste und laut Diderot fragte nur ein dummer Bauer noch nach einem in ihr tätigen Geist. Es gab keine Metaphysik der Uhr und auch keine andere. Der beste Arzt war ein Ingenieur. Es hatte eine Entinnerlichung des Menschen stattgefunden, die Quelle für unsere menschliche Substanz wurde nach außen in dortige Tatsachenzusammenhänge verlegt, die allein durch die Sinne vermittelt in uns wiedergekäut werden. Helvétius, ein Landwirt, prägte den Ausdruck „Humanphysik“ 23. Für Voltaire hatte Bacon Newtons Gesetz der Erdanziehung schon mit seinem Uhrenexperiment vorausgeahnt. Man müsse prüfen, ob eine Uhr mit Gewichten auf der Höhe eines Berges und in der Tiefe einer Erzgrube gleichgeschwind liefe. Benjamin Franklin entzauberte den Blitz als Quelle von Furcht und Aberglauben und Robespierre wurde in Frankreich durch den „Blitzableiterprozess“ als Advokat bekannt. Ein Advokat hatte in der Provinzstadt St. Omer einen Blitzableiter an seinem Haus montieren lassen, was die Dunkelmänner auf den Plan rief, die seine Entfernung durchsetzten. Robespierre war der Anwalt des Hausbesitzers und ging als Sieger in diesem politischen „Prozess der Aufklärung gegen den Aberglauben“ hervor. Das war ein wichtiger Sieg der Aufklärung, die in ihrer Naivität der Wissensakkumulation die Katastrophe verdrängte. Durch das Erdbeben von Lissabon etwa und durch die Sintflut lernte man schneller und mehr. Rousseau sah sich durch das Erdbeben in seiner Abneigung gegen urbane Konzentration bestätigt wie ja auch die Regierung von einer Stadt zur anderen ziehen sollte. In der christlichen Religion war die Sintflut Schicksal und der Mensch ein schwaches Wesen, diese sollte sich nicht wiederholen und am Ende der Aufklärung Prometheus als Prototyp der Naturbeherrschung stehen. Es war das philosophie- und wissenschafts-geschichtliche Schicksal Descartes, mit seiner Frage nach den Grenzen des menschlichen Geistes wider Willen den Todeskeim der Metaphysik gelegt zu haben, (schon er sagte: Gebt mir Materie und ich werde euch eine Welt bauen), den Endkampf führte in Frankreich Condillac, der noch das letzte Zugeständnis, das Locke dem Apriorismus mit der inneren Erfahrung gemacht hatte, angriff. In England hatte bereits Hobbes Bacons Lehre von der doppelten Seele, es gäbe eine fühlende sterbliche und eine rationale unsterbliche, vernichtet. Die Ideologen der Bourgeoisie als aufstrebende, sich gegen den Feudalismus emanzipierende Klasse musste die Metaphysik generell angreifen, weil diese mit ihrem Implikat von Ewigkeit Bestehendes mit einem Heiligenschein umgab. Dass diese Ideologen in ihrer Kampfstellung historisches und dialektisches Denken befruchten mussten, lag auf der Hand. Bei Rousseau finden wir die Denkfigur der Negation der Negation, die aufs Haar der von Marx im „Kapital“ zur Darstellung der ursprünglichen Akkumulation angewandten gleicht. Rousseau, der die Aristokratie hasste, wurde zum Gegenspieler Voltaires, in den „Gefühlen der Bürger“ denunziert er Rousseau irrtümlich als einen Atheisten, der die Todesstrafe verdient hätte. Robespierre, der Schüler der Aufklärung, wird dann in der Revolution gegen die Atheisten mit der Guillotine kämpfen. Sie sprachen sich im Interesse der nationalen Einheit für eine Religion mit wenig Dogmen aus. 24. Das war kein Wunder, im Deismus spiegelt sich in religiöser Form das Aufkommen der kapitalistischen Warenproduktion wider, die den Produzenten und das Produkt auseinanderreißt. Der Deismus vertritt die These, dass Gott zwar der Produzent der Welt sei, aber nach dem Akt der Schöpfung, der nicht als bestimmte Negation gedeutet wird, keinerlei Einfluß mehr auf diese habe. Man bemühte, wie gesagt, die Bilder des Uhrmachers und der Welt als Uhrwerk (auch das ein Signum des aufkommenden Kapitalismus lange vor Taylor), dessen Uhr nach ihrer Herstellung unabhängig vom Produzenten, der sie nur einmal aufzuziehen brauchte, ihren eigenen Gang ticke. 25. Hat der Produzent in der kapitalistischen Warenproduktion sein Produkt veräußert, so muß es ihm auch juristisch gleichgültig sein, was mit seinem Produkt geschieht, ja der Käufer hat sogar das Recht, es nach dem Kauf sofort zu vernichten, das heißt, in der kapitalistischen Warenproduktion ist das Wort "Volkseigentum" ein Fremdwort. Im Sozialismus zöge dessen Verletzung Strafsanktionen nach sich. Politisch agitierte Voltaire gegen die Jesuiten, die für ihn eine Sekte von Fanatikern, ja von religiösen Terroristen waren. Der christliche Gott hatte für Voltaire unsere Herzen schuldig gemacht, um uns zu terrorisieren. Die Ideologen des historisch aufkommenden Bürgertums mussten sich durch die praktische Notwendigkeit des Klassenkampfes gegen den Katholizismus richten, der die ideologische Hauptstütze der absoluten Monarchie war. Ihn galt es zu zerstören, und in diesem Kampf stand Voltaire sechzig Jahre (von 1718 bis 1778) an vorderster Front. Das Infame zu zerdrücken sei der grösste Dienst, den die Philosophen der Menschheit erweisen könnten. „Ich besitze zweihundert Bände über dieses Thema (die christliche Lehre / H.A.) und, was schlimmer ist, ich habe sie gelesen. Man kommt sich wie im Irrenhaus vor“. 26. Alles Unrecht, das in der Feudalgesellschaft anfällt, lastete er bei Schonung des weltlichen Feudaladels und bei gleichzeitiger Polemik gegen die Physiokraten dem katholischen Klerus an. Umgekehrt Sieyès, er, Politiker durch und durch, konzentrierte sich in seinen polemischen Attacken gegen das Ancien Régime ganz auf den Feudaladel. In Frankreich wurde der Kampf gegen den Katholizismus am radikalsten geführt, milder in England, obwohl aus England die lautesten Stimmen gegen Descartes Lehre von den eingeborenen Ideen (idea innata) ertönten und Hume recht tief auf einen möglichen Grund der Religion kam (der sich fürchtende Mensch), noch milder in Deutschland, wo es sowohl bei Kant als auch bei Hegel um die Versöhnung von Wissen und Glauben ging. Die Aufklärung vernichtet nicht das Christentum, im Gegenteil, ihr Licht erhellt es. 27. Aufklärung und Christentum haben ihre gemeinsame Wurzel in der Welt der Bildung. Hegel hatte sein Leben nach eigener Auskunft der Wissenschaft --- geweiht ! Voltaire, Kant und Hegel können hier in einem Atemzug genannt werden. In den Theaterstücken Voltaires stand auch immer ein unsichtbarer Lehrpult der Aufklärung. Als Voltaire 1778 starb, erklärte der katholische Klerus Paris zum Sperrbezirk für die Beerdigung. Erst 13 Jahre später, nach der Revolution, am 11. Juni 1791 wurde sein Sarkophag feierlich ins Pantheon, der umgestalteten Kirche der heiligen Genoveva, überführt. Trauben junger Mädchen, ganz in Weiss gekleidet, streuten Blumen in den Farben der Nation: Jasmin, Veilchen und Rosen. In seinem in der Tradition Bayles (Dictionnaire historique et critique 1695 bis 1697, von Gottsched ins Deutsche übersetzt) stehenden und doch sich auch gegen ihn wendenden Dictionnaire philosophique portatif (1764), dem sogenannten "Philosophischen Wörterbuch", kommt er unter dem Stichwort "Widersprüche" mehrmals spöttisch auf die Päpste zu sprechen. Wenn Gott nicht mehr in das Weltgeschehen eingreifen kann, was können die Päpste dann noch bewirken ? Na ja, 1759 wurde die Diderotsche Enzyklopädie auf den vatikanischen Index gesetzt. Und auch in Voltaires autobiographischen Skizze wird der Widerspruch spezifisch aufklärerisch kontextiert. "Man bewundere die Widersprüche dieser Welt. Da gibt es Leute, die fast offene Anhänger Servets sind und mich beleidigen, weil ich es schlecht gefunden habe, daß ihn Calvin bei langsamen Feuer grüner Reisigbündel verbrennen ließ". 28. Voltaire biss sich sein Leben lang an einer historischen Tatsache fest: dass ein Kreis religiöser Menschen zu einer kriminellen, genozid-terroristischen Vereinigung mutieren konnte. Theologische Fragestellungen „beschäftigten andauernd seinen Geist, wie sie vielleicht keinen anderen weltlichen Schriftsteller in diesem Ausmaß beschäftigt haben“. 29. Der junge Hegel wird sich mit der Frage auseinandersetzen, wie die Lehre Jesu zu einer Staatsreligion werden konnte ? Auch Montesquieu sieht das Reich Christi als Reich der meisten Bürgerkriege. In einer nächtlichen Vision erscheint Voltaire ein ätherisches Wesen, das ihn einst gelehrt hatte, dass Gott anders urteile als die Menschen und dass eine gute Tat mehr wert ist als Glaubensstreitigkeiten, und führt ihn in eine Wüste, in der ein riesiger Berg von Totengebein neben dem anderen steht. Hier, sagte das Wesen, „sind die zwölf Millionen Amerikaner, die man in ihrer Heimat ermordet hat, weil sie nicht getauft waren“. 30. Ganz charakteristisch für Voltaire ist die Überschrift einer seiner Schriften: „Die Rechte der Menschen und die Anmaßungen der Päpste“, es sei zitiert: „Diese Größe der Päpste und ihre noch unzähligemal weitergetriebenen Ansprüche sind der Politik und der Vernunft eben so wenig gemäß als dem Worte Gottes, weil sie Europa zerrüttet und binnen siebenhundert Jahren ganze Ströme Blut haben fließen lassen“. 31. Hier haben wir Voltaire in einer treffenden Physiognomie vor uns. Er wusste sich eins mit Newton, der in seinem Kommentar zur Apokalypse den Papst als Anti-Christen bezeichnet hatte. Eng mit der Kampfposition gegen die Jesuiten und den Klerus, der 0,8 Prozent der französischen Bevölkerung ausmachte, verbunden ist sein Eintreten für die Opfer der absolutistischen Willkürjustiz, man denke nur an den "Fall Calas" (1762), in dem ein protestantischer Vater zum Mörder seines Sohnes manipuliert wurde, der Selbstmord begangen hatte, an den "Fall Sirven" in Mazamet (1764), in dem es um die unterstellte Ermordung der hugenottischen Tochter Elisabeth durch den Vater ging, weil das Kind angeblich, wie schon im "Fall Calas" unterstellt, zum Katholizismus konvertieren wollte, an den Fall Claude Chaumont (1764), den Voltaire von der Galeere holte, an den "Fall de la Barre" (1766) und an den "Fall Lally-Tolendal" (1766). Nach der Lehre Calvins hatte der Vater das Recht, ein ungehorsames Kind umzubringen. Diese in Calvins „Christianae religionis institutio“ niedergelegte Auffassung bildete den Hintergrund der ersten beiden Prozesse. Der Vater Calas wurde vom Parlament von Toulouse zum Tode durch das Rad verurteilt und wurde am 10. März 1762 qualvoll ermordet: der 64jährige wurde mit gespreizten Armen und Beinen auf ein Holzkreuz gefesselt, und der Henker brach ihm mit einer Eisenstange die Glieder und schlug dazu noch den Brustkorb ein. Lally-Tolendal war ein General, der wegen Sieglosigkeit in Pondicherry hingerichtet worden war, sein Sohn sucht Voltaire auf, der die Nachricht von der Rehabilitierung erhielt, als er im Sterben lag. In seiner Kampfposition gegen den christlichen Fanatismus legte der Historiker Voltaire den Beginn der Weltzivilisation bewußt in das alte China, um die um die christlich-jüdische Schöpfung kreisende Augustinische Geschichtstheologie, deren letzter Vertreter Bossuet war, zu erschüttern. Lange brodelte die europäische Kultur in ihrem eigenen Saft, bis die bürgerliche maritime Expansion die Türen zu anderen Kulturen aufstieß und eine immense Reiseliteratur sie uns vermittelte. 1736 erschien in London die erste grosse „Universal History“. Die Errichtung des chinesischen Reiches war für Voltaire das Vorzüglichste, was die Welt je gesehen habe. Und nur in der Religion der Gebildeten Chinas habe es keine Auswüchse des Fanatismus gegeben, in China führe die Philosophie zur Ataraxie. Wolfgang Bauer beendet sein umfangreiches Buch über „China und die Hoffnung auf Glück“ mit einem Vergleich: Während Alexander der Grosse 333 v.u.Z. in Gordion an der Schwelle zu Asien den Knoten mit einem Schwerthieb einfach zerschlug, um Herr über Asien zu werden, denn das war das Versprechen für die Auflösung des Knotens, stand etwa zur gleichen Zeit ein Schüler des Redemeisters Erh Shuo vor einem ähnlich vertrackten Knoten, dessen Auflösung kein Versprechen kontinentaler Herrschaft enthielt. Der Schüler konnte ihn zur Hälfte lösen und erklärte die andere Hälfte für unauflösbar. Der Mann aus Lu, der den Knoten gemacht hatte, bestätigte das: Der Schüler hatte das Problem gelöst, indem er es nicht gelöst hatte. 32. Aus dieser Tradition heraus gibt es eher eine weiße denn eine gelbe Gefahr für die Welt. Bossuet zog in seinem "Discours sur l' Histoire Universelle" noch keinen deistischen Trennungsstrich zwischen sakraler und profaner Geschichte, den Voltaire mit China zog. Gerade nach der Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 suchten chinesische Historiker nach revolutionären Tendenzen, nach Jacquerien, die die konfuzianistische Tradition zugedeckt hatte. Man entdeckte auch den brutalen Kaiser Tjin Schi-huang (246 – 221 v.u.Z.), der China einigte, und konfuzianistische Gelehrte als Repräsentanten der Sklaverei enthaupten ließ. Mao steuerte dagegen, denn er wollte einen neuen roten Menschen schaffen und brauchte dazu keine Anleihen, schon gar nicht bei den Kaisern der Vergangenheit, mit dem Ausbruch der Kulturrevolution knickte die revolutionäre Ahnenforschung ein. 33. Sah Montesquieu sein zeitgenössisches Frankreich polemisch von außen mit persischen, so Voltaire das seinige polemisch mit englischen und chinesischen Augen. Hegel folgt in der Genesis der Zivilisation Voltaire, aber nur in der Genesis, für ihn haben nur die Christen den Schlüssel zur Weltgeschichte in der Hand, China stellt Hegel als ein Reich der Sklaverei dar, dem Chinesen mache es nichts aus, als Sklave verkauft zu werden und das saure Brot der Knechtschaft zu essen.

Wir haben somit etwas Widersprüchliches vernommen: Voltaire will die ideologische Stütze des Feudalabsolutismus vernichten, hetzt gegen den Klerus, fühlt sich aber zum weltlichen feudalabsolutistischen Adel hingezogen, tastet dessen Großgrundbesitz nicht an, obwohl dieser Adel ihn demütigte, er war ein geborener Arouet, ein Bürgerlicher, den die Lakaien des Chevaliers de Rohan vor dem Palast des Herzogs von Sully verprügeln durften. Kaum hatte Monsieur Arouet Bühnenerfolg, wechselte er den Namen und nannte sich fortan nur noch Voltaire. Der Widerspruchsbegriff Voltaires ist kein klassenkämpferischer, er bekämpft nicht das Feudalrecht, nur seinen Mißbrauch. Er teilt diese Halbstrategie mit fast allen Aufklärern. Fast alle wollen den Katholizismus durch einen Deismus ersetzen, der als eine Art "Religion der Erziehung des Menschengeschlechts" wirken soll. Denn über die Dekadenz des Ancien Régime waren die Aufklärer sich einig, man lese nur die Satire über Rameaus Neffen, bereits 1739 beschrieb d' Argenson Frankreich als ein „übertünchtes Grab“. In der Strömung der Aufklärung ist das pädagogische Motiv wirkmächtig. Und in der Tat, mit der Auffasung, dass Gott nicht mehr in das Weltgeschehen eingreife, öffnet sich ein unendliches Feld pädagogischer Experimente, auf dem ständig das katholische Erziehungsmonopol angegriffen wurde. Helvétius war überzeugt, das die Erziehung alles ändern kann. Auf Grund der obrigkeitsstaatlichen Ausrichtung der gemäßigten Aufklärer wurde die Prinzenerziehung favorisiert. In Italien war zum Beispiel Condillac als Erzieher des "Prinzen von Parma" tätig, man versprach sich einiges von der Unterrichtung eines Enkels des französischen Königs. Der pädagogische Sog war so obsessiv, dass Rousseau und seine Leser nicht einmal über den Anfangssatz seines "Émile" stolperten: Alles sei gut, solange es aus den Händen des Schöpfers komme, allein unter den Händen des Menschen verderbe es. So beginnt ein Text, in dem ein Autor darlegen will, wie sinnlos Kindererziehung ist, so dürfte nicht ein Buch über Kindererziehung beginnen, das zum wirkungsmächtigsten der Aufklärung wurde. Das neugeborene Kind ist noch ganz unschuldig, erst durch die Vergesellschaftung wird es pervers. Der katholische Klerus erkannte sofort den Angriff auf die Erbsünde und ließ durch den Pariser Bischof Beaumont das Buch verbrennen. Rousseau sah im Kind das Kind, keinen kleinen Erwachsenen. Herder sah es als ein Prinzip der Geschichte der Menschheit an, „daß unser Geschlecht nur durch unser Geschlecht gebildet würde“. 34. Das Erziehungskonzept der Aufklärung war auf die gesellschaftliche Nützlichkeit des Wissens ausgerichtet und statt Latein zu pauken wurde der Unterricht immer mehr im Kontext handwerklicher Tätigkeiten gesehen. „Ich merkte bald, daß man mich in einen Abgrund stürzte, aus dem ich nie wieder herausfinden würde. Ich erkannte, daß man mir eine Erziehung gegeben hatte, die völlig ungeeignet war, mir in der Welt den Weg zu weisen“ 35., lässt Voltaire einen Schüler der Jesuiten äußern. In der „Enzyklopädie“ erfolgte ein Tabubruch insofern, als in diesem Universallexikon zum ersten Mal neben den schönen Künsten, Metaphysik und Philosophie auch Texte und Abbildungen über und aus dem handwerklichen Berufsleben auftauchten, die in der englischen „Cyclopaedia or a Universal Dictionary of Sciences and Arts“ von Chambers, die das Enzyklopädieprojekt initiierte, noch nicht thematisiert worden waren. Diderot sprach von „nützlichen Künsten“ und wandte sich an die Arbeiter selbst, einige Artikel wurden von den Handwerkern selbst verfasst. Dem französischen Adel war es traditionell untersagt, überhaupt handwerklich tätig zu werden. Hier vollzieht sich der Bruch mit der aristotelischen Tradition ganz offensichtlich, denn Aristoteles hatte einen dicken Trennungsstrich zwischen Handwerkern (Banausen) und Philosophen gezogen. Bereits Descartes hatte durch das Heraufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaften eine Zukunft gesehen, in der die Bauern bessere Wissenschaftler und Philosophen abgeben werden, als die Scholastiker der Akademie. Bei aller Kopftätigkeit darf man die Hand, dieses Produkt und Organ der Arbeit, nicht vernachlässigen, besonders nach dem Darwinschen Gesetz der Korrelation des Wachstums. „Um aber ein Reich zur Blüte zu bringen, bedarf es einer möglichst geringen Zahl von Priestern und möglichst vieler Handwerker“. 36. Der Garten und der Schulgarten, heute fast ein Fremdwort, nahmen im Erziehungskonzept Emiles und der Jakobiner einen wichtigen Platz ein. In ihren sozialpädagogischen Konzepten finden sich recht reife Keime einer polytechnischen Ausbildung. In Maos Rotchina wird die Erziehung des Neuen Menschen an die permanente Revolution gebunden, die Volksrepublik ist eine permanente Erziehungsdiktatur. Aus einer Erziehungsbewegung steigerte sich die Kulturrevolution heraus. Auch die Philosophie befreite sich von theologischer Bevormundung und baute sich ein Reich der endlichen Wahrheit. Auf fast alle Aufklärer trifft auch die Disposition zu, die Kant ihnen zuweist. Der Aufklärer bringt seine Argumentationen gegen gesellschaftliche Mißstände nach Dienstschluß, also in seiner Freizeit, in Artikeln zu Papier, die er bei (philosophischen) Zeitschriften einreicht, um auf die Welt theoretisch einzuwirken zwecks einer allmählichen Verbesserung der Gesellschaft, also auf dem Weg einer wahren „Reform der Denkungsart“. Die Freiheit der Feder ist für Kant das wahre Palladium der Volksrechte. Die "Lesewelt" war damals aber noch recht klein, angesichts der besonders in katholischen Gegenden hohen Analphabetenquote in der Bevölkerung konnte Aufklärung zunächst, wie Moses Mendelssohn bemerkte, nur eine Gelehrtensache sein. "Der gemeine Haufe verstehet sie kaum". 37. Dieser kantische Rahmen aufklärerischer Tätigkeit schreibt zugleich das Verhältnis der Aufklärung zum Widerspruch fest. Die Aufklärer waren keine Revolutionäre, die auf den revolutionären Sprung durch bewaffnete Massen setzten, aber als Vertreter einer fortschrittlichen ideologischen Strömung mussten sie sich mit dem Widerspruch zwischen Himmel und Erde sowohl vorrangig inhaltlich-religiös als auch mit dem innerweltlichen Widerspruch zwischen Erde und Himmel, also im rein gesellschaftlich-soziologischen Kontext auseinandersetzen. Auf dem Schlachtfeld der Religion, im Kampf der Aufklärer gegen die Priester äussert sich Raynal 1780 in seiner „Histoire philosophique et politique“ ganz konkret über den von den Philosophen angestrebten Herrschaftsanspruch: „La philosophie doit tenir lieu de divinité sur la terre“. Auch in diesem Kampf sollte es in seiner Einheit zu einem Umschlag der Gegensätze kommen. Worauf Voltaire und Kant dann im gesellschaftlichen Kontext reagierten, war die Tatsache, dass es im Feudalismus gerade die schlechten Eigenschaften der Menschen waren, Habgier und Herrschsucht, die den geschichtlichen Fortschritt bewirkten. Mandeville gibt das 1714 in seiner „Bienenfabel“ offen zu, bezeichnenderweise lautet der Untertitel seiner „Fable of the Bees“: „Or Private Vices, Public Benefits“. Voltaire, einer der reichsten Finanzspekulanten Frankreichs, reagierte darauf lediglich polemisch, Kant immerhin mit dem kategorischen Imperativ. Einen Gott für die Massen und Abstellung gesellschaftlicher Übel ohne sie, auf diese Kürzel widersprüchlicher Fundamentalismen läßt sich die intellektuelle politische Tätigkeit Voltaires in Übersicht bringen. Voltaire wollte keineswegs die Widersprüche zwischen der feudalen und der bürgerlichen Klasse verschärfen, er arbeitete auf deren Kompromiss hin. Der Name „Voltaire“ stand in der Revolution für Klassenausgleich, „Rousseau“ für den „guerre des classes“. Die Bücher Voltaires wurden zur Lieblingslektüre der Geldsäcke, zwischen 1815 und 1830 wurden zwölf Voltaire-Ausgabe gedruckt, die insgesamt 1. 589. 000 Einzelbände umfassten. Rousseau kommt im Vergleich auf 480. 000. 38. Die Stereotype, Voltaire sei ein arroganter Repräsentant des Adels, Rousseau ein Repräsentant der besitzlosen Massen, die mit dem Volk gehen, ist so ganz stimmig nicht: Das Volk ist auch für Rousseau keines fortgesetzten Denkens, noch langsamer und sicherer Beobachtung fähig, „sondern ist in allen Dingen Sklave seiner Sinne“. 39. Natürlich bemerkte auch Voltaire den krassen Unterschied zwischen reich und arm („Wir sind auf geschmackvolle Weise arm“.), aber während für Voltaire der Reiche den Armen leben läßt, liegt für Rousseau die Ausbeutung der Mehrheit durch die Reichen vor. Denn Frankreich war keineswegs mehr ein ruhiges Hinterland des Feudalismus, immer wieder flammten Bauernaufstände, besonders in der Normandie (erhebliche 1764 bis 1768) auf. Die Aufklärer wollten dem Widerspruch den Giftstachel der Revolution ziehen. Sie schrieben, um gebildete bürgerliche und aristokratische Kreise zu mobilisieren, keineswegs die „Ochsen“, die Analphabeten waren. Auch für Kant war der Mensch ein „Thier“, das keine absolute Erkenntnis hat, weil für es die absolute Grenze nicht erfahrbar sei. Also schon nach Untersuchung seiner Erkenntnisfähigkeit, richtiger: Erkenntnisunfähigkeit ist der Mensch ein beschränktes Wesen. Und die Masse war stumm, kopfhängerisch und gehorchte dem Magen, sie war faul und feig. Geschäftige Torheit sei der Charakter unserer Gattung. 40. Die Animalisierungen sind noch ein Nachhall aus der Periode der Sklaverei, in der der Mensch tatsächlich nur ein Stück Vieh war, das der Sklavenhalter straffrei töten konnte. Im Denkhorizont der Aufklärer waren noch keine revolutionären Massen vorhanden, für Voltaire waren fünf bis sechs Philosophen ausreichend, den Koloss der Jesuiten zu stürzen, wenn diese Philosophen sich nur gegenseitig gut verstünden. Es war schon viel, wenn er davon sprach, dass man in „Sachen der Geschichte“ Könige und Kammerdiener zu Rate ziehen müsse. 41. Der Marsch der Markthallenweiber nach Versailles fand erst am 5. Oktober 1789 statt. Die Bedeutung dieser heroischen Weiber für die französische Revolution wird ähnlich unterschätzt wie die Bedeutung der Stachanowbewegung für die Geschichte der Sowjetunion. Dagegen gilt es nach Brecht, die Dialektik als Lehre der Massenmobilität zu begreifen, denn so begreife man sie am besten. Erst die Konzentration des Proletariats in den grossen Industriestädten hat überhaupt den heutigen Begriff der Massen, den Gott Maos, entstehen lassen. Die Aufklärer legten den Schwerpunkt auf die Bekämpfung religiöser Dunkelmänner, was damals aber sehr wohl brisanten Sprengstoff enthalten konnte, man denke nur an das Wöllnersche Religionsedikt von 1788. Die ersten sieben von vierundzwanzig Briefen über England behandeln religiöse Themen, erst im achten Brief schreibt Voltaire über das Parlament. Obwohl Voltaire in seinem "Philosophischen Wörterbuch" den Atheismus ständig widerlegte bzw. zu widerlegen versuchte, wurde ihm, der in eine streng katholische Juristenfamilie hineingeboren wurde, aus der Aussage, dass er lieber unter einer Gesellschaft von Atheisten als unter einer von Fanatikern leben würde, der atheistische Strick gedreht. Ihm widerfuhr das gleiche Schicksal wie Epikur durch Clemens von Alexandrien, der ihn als „Bahnbrecher des Atheismus“ denunzierte - erst Gassendi rehabilitierte Epikur - und Descartes, dessen Schicksal Voltaire in den philosophischen Briefen bedauert hatte. Die Bauern lasen die Bibel und von daher hatte Kant ganz Recht, wenn er die Unwissenheit in „Religionssachen“ am schädlichsten hielt. Aber auch für Hegel ist der Deismus im Grunde Atheismus. Die Aufklärung sollte nicht zu gewaltsamen Exzessen führen, die Obrigkeit wurde und wird heute von Aufklärern abgesichert durch die Versicherung, die Geschichte entwickle sich allmählich, aber bei aller Glättung des Widerspruchs blieb dieser allgegenwärtig, am Ende seiner Aufklärungsschrift gesteht Kant den Widerspruch in der Weltgeschichte, in der "fast alles paradox ist". 42. Seine Beurteilung der französischen Revolution kann daher nicht nur rein negativ ausfallen, im Gegenteil, im Gegensatz zum resignierenden Schiller ist sie überwiegend positiv. Trotz des Terrors, schreibt er 1798 typisch preußisch im "Streit der Fakultäten", war in ihr eine "moralische Anlage im Menschengeschlecht" ursächlich am Werk. In der "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" bedient sich die Zwietracht säende Natur des Widerspruchs (Antagonism / ungesellige Geselligkeit zwischen Bürgern und zwischen Staaten) zum Zwecke gesellschaftlichen Fortschritts im Finalsinn einer weltbürgerlichen Zivilisation, die durch ihn nach wahrer Sisyphusarbeit endlich erfolgreich hindurchgegangen sein muß. Kultur sei eine Frucht des Widerspruchs der Natur. Gesellschaft als ein moralisch Ganzes bleibt ohne Ungeselligkeit eine Utopie. Es ist der Widerspruch zwischen dem im Individuum lokalisierten Bösen, das als Glied der Gattung letztendlich damit Gutes hervorbringt, der uns aus dem Schafsdasein zum höchsten Zweck, der Geselligkeit heraustreibt. Bis in die Wortwahl wird Kant von diesem Widerspruch verfolgt: die Aufklärung sei allmählich, mit unterlaufendem Wahne und Grillen, als ein großes Gut entsprungen. 43. Die Aufklärung entspringt allmählich --- korrekt muß es natürlich heißen: die Aufklärung entsteht allmählich. Der Sprung folgt dem plötzlichen Abbruch einer allmählichen Entwicklung. Es darf nicht übersehen werden, dass Kant den rousseauschen Grundwiderspruch zwischen Natur und Kultur durch eine doppelte Negation löst, Natur und Kultur tun sich gegenseitig Abbruch, „bis vollkommene Kunst wieder Natur wird“. 44. Das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschheit ergibt sich aus abgebrochenem Abbruch, ergibt sich daraus, dass Natur und Kultur sich gegenseitig (ab)brechen. Das ist dialektisch gehaltvoll und enthält die Negativität der Zwietracht als einen hohen Wert, die er zudem mit der Arbeit verknüpft. Um die Denkfigur „Eintracht durch Zwietracht“, dass sich eins in zwei teile, kommt auch Kant nicht herum. Das philosophische Denken kann dem dialektischen nicht entkommen, nur dass das Abbrechen des Endlichen für Kant nicht wie für Hegel das Absolute hervorbringt. Im kantischen Geschichtsbild ist Negativität negativ gegen sich selbst am Werk, das Böse zerstört sich selbst, so dass sich dann das Gute erhalten kann. Aus der Schäferidylle der Gemächlichkeit musste der Mensch heraustreten in die Sphäre der Arbeit und des Krieges. Kant ordnet die Arbeit nicht der Eintracht zu, der kantische Begriff der Arbeit und auch der der Philosophie ist ein militanter zum Sinne des Fortschritts der Menschheit. „ … daß der Mensch aus dem Zeitabschnitte der Gemächlichkeit und des Friedens in den der Arbeit und der Zwietracht, als das Vorspiel der Vereinigung in Gesellschaft, überging“. 45. Ohne Arbeit und Krieg würde die Fäulnis der Gesellschaft schon vor ihrem Tod eintreten, was pervers ist. Der Krieg zerstört alles Stationäre, er sorgte für die globale Erschließung und Bevölkerung der Kontinente. Und doch gilt es heute, ihn aus der Weltgeschichte durch Moralphilosophie zu entfernen. Kants kritische Philosophie sei ein bewaffneter Zustand gegen die theoretische Metaphysik, folgt er aber, indem er die Arbeit und den Krieg gattungsgeschichtlich auf den Weltfrieden hin wirken lässt, nicht als Geschichtsphilosoph einer in der menschlichen Geschichte angelegten subkutanen Teleologie ? Er nennt die Natur deshalb die „große Künstlerin“, weil aus ihrem mechanischen Lauf „sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet“. 46. Diese mechanisch-zweckmäßige Natur leistet die Garantie für den ewigen Frieden in der Weltgeschichte. Die hegelsche „List der Vernunft“ ist in der kantischen „List der Natur“, dass der Weltfriede kein Weltoberhaupt haben darf, vorgebildet. Folgt nicht jede Geschichtsphilosophie, die Koselleck als konstitutiv für die Neuzeit ansieht, einem Telos ? Am Ende wird für Kant unsere Gattung eine „liebenswürdige“ sein, so dass von einem Verlust des Bösen in der Geschichte, die Bedingung der Philanthropie, ausgegangen werden muss. Verbaute nicht die Philosophie, auf die die Aufklärung so stolz war, den Einblick in die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft ? Für den Marxismus liegt der Schlüssel zu diesem Einblick nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie. Marat war noch der Auffassung, die Philosophie sei die Urkraft der Revolution gewesen, für ihn lag die Ursache der Knechtschaft noch darin, dass noch keine richtigen Vorstellungen über die Freiheit bestanden, ein Idealismus, den Marx und Engels bis in den Linkshegelianismus hinein am Werk sahen. Die erste Zeile der „Deutschen Ideologie“ beginnt gerade mit der Kritik an der falschen idealistischen Gewichtung der menschlichen Vorstellungen. Die Aufklärung war eine progressive Strömung im Widerspruch zu den ideologischen Grundlagen des Feudalabsolutismus, sie war keineswegs eine revolutionäre Strömung im Widerspruch des Feudalabsolutismus zu den aus Analphabeten bestehenden Volksmassen. Den Gegensatz zwischen Hand- und Kopfarbeit konnte sie daher noch nicht antasten und musste zuerst den Schwerpunkt auf die Volksbildung der „Ochsen“ legen. Eben sowenig wurde der Gegensatz zwischen Stadt und Land angetastet, gerade in der bürgerlichen Emanzipation wird ja letzteres der Stadt mehr und mehr unaufhaltsam unterworfen. Voltaire klagt, dass es auf dem Lande kaum Ärzte gibt, da es sie zu den Reichen in den Städten zieht. Aber in den Städten lebten nur 16 Prozent aller Franzosen. Kant verbindet Urbanität und ihre enge Kommunikationsvernetzung mit der Kunst vornehmlich des weiblichen Geschlechts, zu gefallen, „wodurch die städtischen Weiber die schmutzigen Dirnen der Wüsten verdunkelten ...“. 47. Die Bauern, die die Masse des Volkes bildeten, spielten überhaupt in der Aufklärung und dann auch in der klassischen deutschen Philosophie eine periphere Rolle insofern, dass es nicht ihre, sondern die historische Aufgabe der Aufklärer sei, sie aus der Leibeigenschaft zu befreien. Voltaire rechnet vor, dass es volkswirtschaftlich für die ganze Nation von Nutzen ist, die Bauern zu befreien, einen Schulunterricht für Bauernkinder hielt der Aufklärer jedoch nicht für notwendig, er brauche Handarbeiter und keine Literaten. Er sprach sich gegen Damilavilles Plan einer Volksschule aus. Dagegen hob sich Diderot mit seiner Forderung nach kostenfreien Mahlzeiten und Bücher für arme Kinder positiv ab. In der „Enzyklopädie“ wurde das Los der Bauern drastisch beschrieben. Zwar gab es gebildete und verzärtelte Frauen, die literarische Salons leiteten, aber es war unvorstellbar, dass in diesen Salons robuste Bäuerinnen verkehrten. 1725 hatte Gottsched die erste Frauenzeitschrift im deutschen Sprachraum gegründet, der er den vielsagenden Namen „Die vernünftigen Tadlerinnen“ gab. Kant streift in seiner Aufklärungsschrift gleich am Anfang im zweiten Absatz kurz einmal „das ganze schöne Geschlecht“, dem er im übrigen das Wahlrecht abspricht, um in seinem Aufklärungsaufsatz auf das Thema der Frauenemanzipation nicht mehr zurückzukommen. Die Frau hat dem Mann untertan zu sein, darüber läßt Kant keinen Zweifel, bei der Frage des politischen Stimmrechts wird die Frau dem Kind gleichgesetzt. Die französische Revolution setzte dann auch nicht einmal das Wahlrecht für Frauen durch. (Zwei Jahre vor ihrem Ausbruch gelang Dorothea Schlözer, Tochter des Göttinger Professors Schlözer, als erste Frau in Deutschland die Promotion im Fach Philosophie). Und während der chinesischen Kulturrevolution waren lediglich 22 Prozent der Parteimitglieder Frauen. Gewichtiger ist für Kant der private und öffentliche Gebrauch der Vernunft, wobei er den Bedeutungsgehalt von „öffentlich“ und „privat“ gegen landläufiger Auffassung in skurriler Weise vertauscht. So denkt nur Kant. „Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf“. 48. Ganz abwegig ist das nicht, das Amt ernährt und das hat einen objektiven Gehalt, der öffentliche Gebrauch seiner eigenen Vernunft als Gelehrter vor dem Publikum der Leserwelt ernährt eher nicht. Kant operiert mit zwei Öffentlichkeiten, die theoretische ist frei, der praktisch-politischen müssen Zügel angelegt werden. Aber wenigstens in der Idee ist formuliert, dass die Aufklärung nur möglich ist im Medium der Weltöffentlichkeit. Die Aufklärung suche die Bedeutung, verwandele das Besondere ins Allgemeine und leite aus dem Provinzialen etwas der Menschheit überhaupt Zuständiges heraus. 49. Das aber beinhaltet eine Perspektive auf die Menschheit, eine sich selbst befreiende ist das Ideal der Aufklärung. Schon in der „Kritik der reinen Vernunft“ war aufgestellt, dass die Vernunft nur demjenigen unverstellte Achtung entgegenbringe, der ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können und im „Ewigen Frieden“ wird für suspekt erklärt, was das Licht der Öffentlichkeit scheut. In der „Kritik der reinen Vernunft“, also spätestens 1781, scheint für Kant die Aufklärung in Deutschland gesiegt zu haben, denn wenn er in ihr formuliert, dass sich die Religion durch ihre Heiligkeit und die Gesetzgebung durch ihre Majestät der Kritik entziehen wollen, so steht das Subordinationsverhältnis fest. Religion und Gesetzgebung gehen bereits in Deckung und ziehen so erst Recht gerechten Verdacht auf sich. Aber gegenüber der Souveränitätsanmaßung der Aufklärung bleibt Kant skeptisch, drei Jahre später philosophiert er in seinem Aufklärungsaufsatz, dass der Einzelne mit seinem aufrechten Gang eher scheitern wird, nur wenige können sich „durch eigene Bearbeitung ihres Geistes“ 50. aus eigener Kraft aufklären. Kant ist das Original der Aufklärung. Für Hegel ist die kantische Philosophie „theoretisch die methodisch gemachte Aufklärung“. 51. Warum ist Kant das Original der Aufklärung ? Nicht nur, weil der Titel seines Hauptwerkes doppeldeutig ist. Linear gelesen kritisiert die reine Vernunft, reflexiv gelesen wird die reine Vernunft kritisiert, die vertritt, ohne Erfahrungsbelege „ins Blaue hinein“ philodoxieren zu dürfen, sondern auch, weil eine Zwittergestalt interessanter ist als der mit seinem Geschlecht Identische. „Der Grundzug der Kantschen Philosophie ist die Aussöhnung des Materialismus mit dem Idealismus, ein Kompromiß zwischen beiden, eine Verknüpfung verschiedenartiger, einander widersprechender philosophischer Richtungen zu einem System. Wenn Kant zugibt, daß unseren Vorstellungen etwas außer uns, irgendein Ding an sich, entspreche, so ist er hierin Materialist. Wenn er dieses Ding an sich für unerkennbar, transzendent, jenseitig erklärt, tritt er als Idealist auf. ... Die Materialisten machten Kant seinen Idealismus zum Vorwurf, sie widerlegten die idealistischen Züge seines Systems, sie wiesen nach, daß das Ding an sich erkennbar, diesseitig ist, daß kein prinzipieller Unterschied zwischen ihm und der Erscheinung besteht ... Die Agnostiker und Idealisten machten Kant seine Annahme des Dinges an sich als Zugeständnis an den Materialismus, den ›Realismus‹ oder ›naiven Realismus‹ zum Vorwurf … während die Idealisten die konsequente Ableitung der ganzen Welt überhaupt aus dem reinen Denken verlangten“. 52. Das ist der rote Faden des Kantischen Philosophierens, nicht etwa nur in den Kritiken, also in seinen Kernschriften, sondern er ist es in fast seinem gesamten Werk. Gegen die Empiristen und gegen die mechanischen Materialisten behauptet Kant synthetische Prinzipien a priori. Im idealistisch-materialistischem Philosophieren Kants liegt die Aufklärung in ihrer zwitterhaften Gestalt vor: Aufklärung philosophiert über Aufklärung. Zugleich kreuzen sich in diesem Philosophieren das Zwitterhafte und das Fundamentale, das Risiko einer selbstreflexiven Aufklärung, an sich dialektisch zu werden und damit an sich zu brechen, wird abgewehrt durch eine Fundamentalisierung der Aufklärung in einem „Plane der Natur“, in dem sie wurzelt und der sie zur Blüte treibt. Kant gefiel es nach eigener Aussage, Sätze zu bilden und ihr Gegenteil, ließ aber den Widerspruch in der reinen Philosophie nicht statt haben. Es gäbe eigentlich gar keine Antithetik der reinen Vernunft. „Die Widersprüche der Antinomien fallen weg, wenn man zeigt, daß das gänzlich Unbedingte unter Erscheinungen nicht statthat“. (Kant an den Breslauer Popularphilosophen Garve). Daran entzündete sich der objektive Idealismus als den Widerspruch organisierendes Denken und der Neukantianismus, der widersprüchliches Denken mied. Es ist leicht, Sätze aufzustellen und ihr Gegenteil, aber es kann gleichwohl nicht als nur müßige Spielerei, obwohl Kant selbst vom „dialektischen Spiel der kosmologischen Ideen“ spricht, abgetan werden, im Gegenteil: Die Ursache des Fundamentalwerkes von Immanuel Kant, die „Kritik der reinen Vernunft“, zugleich eines der wichtigsten Fundamentalwerke der Weltphilosophie, ist eine doppelgründige, ineinanderzusammenhängend: In England hatte Hume die Behauptung aufgestellt, dass wir nur aus Gewohnheit behaupten können, dass am morgigen Tag die Sonne aufgehen wird, dass wir also kein sicheres Wissen über die Kausalabfolge hätten, dass dem Aufgang die Helligkeit folge. Der morgige „Tag“ kann eine völlige Dunkelheit sein. Für die unbedingte Fortexistenz des bisherigen Weltlaufs und für die Existenz einer strengen, auf Kausalität beruhenden Wissenschaft gab es daher keine sichere Grundlage mehr, zudem kam zu Kants diesbezüglichen Grübeln der Gedanke hinzu, dass die menschliche Vernunft in ihrem unhintertreiblichen Streben nach Erkenntnis absoluter Wahrheiten auf Antinomien stößt. Diese hätten ihn, so in seinem Brief an Garve vom 21. September 1798, aus dem dogmatischen Schlummer gerissen. In der „Kritik der reinen Vernunft“ werden dann die Antinomien, der Widerstreit der Gesetze, durch die für den kritischen Idealismus prototypische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich als Widerspruchsproblem nichtig. Die reale Welt ist ein Organismus, in dem jedes Teil Bezug zum Ganzen hat und sich wechselseitig zu den anderen Teilen als Mittel und Zweck zugleich verhält. Für den französischen Sozialkritiker und Anarchisten Proudhon waren Kants Antinomien der reinen Vernunft „Gesetze der Natur und des Denkens“ und er versuchte in seiner „Philosophie des Elends“ ein vergleichbares System der Antinomien der Gesellschaft zu entwerfen, wobei der Hegelsche Widerspruch als Entwicklungsmittel diente. Marx hatte mit Proudhon nächtelang in Paris diskutiert und ihn, wie er später bedauerte, zu seinem großen Schaden mit Hegelianismus infiziert. Marxens Kritik „Das Elend der Philosophie“ war dann auch der Grund für den Zusammenbruch der Freundschaft zwischen den Revolutionären.

Die zunächst wissenschaftliche Vernichtung des ideologischen Klassenfeindes beginnt der immanenten Kritik gemäß mit dem Aufzeigen von eklatanten Widersprüchen in seinen Argumentationsfeldern. Die Vertiefung der philosophischen Kategorie des Widerspruchs hängt dabei auch von der Gehaltstiefe der Widersprüche ab, die der fortschrittliche Wissenschaftler an überholten ideologischen Konstrukten aufzudecken gedenkt. Hier muss nun gesagt werden, dass es das philosophiegeschichtliche Schicksal Voltaires war, in der katholischen Ideologie des Absolutismus in Frankreich einen recht oberflächlichen ideologischen Feind gehabt zu haben, so dass er mit seinem "Philosophischen Wörterbuch" nicht als ein essentieller und tiefer "Denker des Widerspruchs" in die Geschichte der Philosophie einging. Hegel widmet ihm, der in seinem philosophischen Wörterbuch Leibniz unter die Scharlatane einreihte, kein Kapitel in seiner Geschichte der Philosophie, wohl aber Rousseau und Robinet. Es ist deshalb kaum nachvollziehbar, dass Constantino Avanzi in Voltaire einen Vorläufer Hegels als Widerspruchstheoretiker sieht. (Google: Constantino Avanzi Der objektive Widerspruch bei Hegel). In Robinets Gedanken, dass einer Befriedigung ein Mangel vorausgehen müsse, sieht Hegel das Tiefere, dass alle Tätigkeit nur durch Widerspruch ist. Schon Heraklit gefiel der Satz: „Das Feuer ist Darben und Sattheit“. 53. Hinzu kam eine bei fast allen französischen Aufklärern seit Condillacs „Traité des systèmes“ gemeinsame Abneigung gegen philosophische Systeme, Shaftesbury sah in ihnen Narrenwerk. 54. "Voltaire versagt sich der 'Arbeit des Begriffes' ", schreibt Karlheinz Stierle im Vorwort zur Ausgabe des "Wörterbuches" im Insel Verlag. 55. Auf die erstmals 1669 erschienenen abgründigen „Pensées“ Pascals kommt Voltaire immer wieder zu sprechen, sie ziehen ihn an, er wagt es aber nicht, in das Zentrum seines Denkens einzugehen. „Denn Voltaire vermeidet es sorgsam, Pascal bis in das eigentliche religiöse Zentrum seines Gedankens und bis in die letzte Tiefe seines Grundproblems (die intellektuellen Mittel des Menschen reichen nicht hin, sich in seiner einmaligen unendlichen Widersprüchlichkeit zu ergründen / H.A.) zu folgen. Er sucht ihn an der Oberfläche des menschlichen Daseins festzuhalten; er will zeigen, daß und wie diese Oberfläche sich selbst genügt und sich selbst erklärt“. 56. An Pascal ist Voltaire gescheitert. Philosophische Arbeit verwandelt er in Spiel und sein Rettungsanker ist der gemeine Menschenverstand. Es gäbe Dinge, die zu ernst sind, um ernst über sie zu sprechen - eine Aussage, in der ein Schlüssel zum Verständnis des philosophischen Charakters Voltaires liegt. Die Marter, dass es nicht nur eine subjektive Unzulänglichkeit der Erkenntnis gibt, sondern dass das Erkenntnisobjekt selbst irrational ist und sich auf Grund seiner unendlichen Widersprüche uns ganz entzieht, unsere Vernunft betrügt, verwandelt Voltaire in einen Beleg für die Vielfalt der Natur, das heißt, hier, wo es um die Widersprüchlichkeit der Welt in einer tiefen philosophischen Sicht geht, wo betont wird, dass die naturwissenschaftliche Forschung uns in die „Sackgasse“ der Unendlichkeit führt, versagt er. Für Pascal ist der Mensch ein Paradox, ein unbegreifliches Ungeheuer und ein leicht zerbrechliches „denkendes Schilfrohr“. Die „Pensées“ enthalten eine niederschmetternde Bestimmung des menschlichen Daseins: der Mensch flieht sein Leben lang vor sich selbst, er zerstreut sich, so dass er beim Tod ankommt, ohne sein Anschleichen bemerkt zu haben. Bei der Lektüre der „Pensées“ schauen wir in einen Abgrund: „ … wir hassen die Wahrheit, man verbirgt sie uns; wir wollen geschmeichelt sein, man schmeichelt uns; wir lieben es, getäuscht zu werden, man täuscht uns … Der Mensch ist also nur Verstellung, Lüge und Heuchelei, sowohl sich selber als auch den andern gegenüber … Wir sind Lüge, Doppelzüngigkeit, Widerspruch ...“. 57. „Die Menschen sind so notwendig verrückt, daß es, auf eine andere Art von Verrücktheit, verrückt sein hieße, nicht verrückt zu sein“. 58. Und die Wirklichkeit ist das Schrecklichste. Die Erkenntnislehre von Pascal hat Ähnlichkeit mit der von Kant: für beide gilt, dass wir das Ende aller Dinge mit unserer Vernunft nicht erreichen. Was bei Kant Erscheinung heißt, ist für Pascal die unbeständige Erscheinung, ist für ihn der Schein von der Mitte der Dinge, nur dieses Scheines können wir uns vergegenwärtigen. Das wahre Wissen entflieht uns in einer ewigen Flucht und wir streben nur danach, unser Nichts zu erkennen. Beide Philosophen rufen zur Mäßigung auf, „ … das Wenige an Sein, das wir haben, verdeckt uns den Anblick des Unendlichen“. 59. „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern“. 60. Pascal wird durch seinen Agnostizismus zur Anerkennung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse angehalten und aus der Tatsache, dass die Wissenschaft das Unglück des Menschen nur vermehrt, zu der Einsicht getrieben, dass nur noch der christliche Glaube als Ausweg aus der Sackgasse des irdischen Daseins bleibt. Der Agnostizismus macht bescheiden. Man verhält sich ruhig, „ … jeder in dem Stand, in den ihn die Natur gestellt hat“. 61. Das Maß führt zur Mäßigung, in Hegels Anmaßung des totalen Wissens steckt schon per se das revolutionäre Durchbrechen der Schranken. Das Geheimnis des Universums muss sich uns zum Genuss zu Füssen legen, während Pascal über das Elend des Menschen jammert, der nie ein Prometheus werden kann. Diese Ausführungen über Pascal mögen genügen, um zu verdeutlichen, warum Voltaire als Philosoph immer wieder auf ihn zurückgeworfen wurde. Aber seine Auseinandersetzung mit ihm bleibt an der Oberfläche, meidet die schrecklichen Abgründe der „Pensées“. Überliefert ist die Aussage Diderots, Voltaire sei auf jedem Gebiet der Zweite, ein „touche à tout“. Und noch etwas kam hinzu: der Feudalismus gab das Milieu vor, in dem philosophiert wurde, und dieser basierte im Kern auf Kleinproduktion, für die die Kirchenväter Augustinus und Thomas über Jahrhunderte, dann auch als absolute Monarchie von Gottes Gnaden die ideologische Makroorientierung vorgegeben hatten, was noch Auguste Comte als äußerst positiv bewertete. Das Abweisen philosophischer Systeme in dieser kulturgeschichtlichen Phase kann somit auch als kontraproduktiv gewertet werden. Jede Emanzipationsbewegung, auch die proletarische, wird in ihren Anfängen mit einer ideologischen Traditionsmacht konfrontiert, die wesentlich älter ist als sie und sich schützend um das Bestehende legt. Noch Napoleon wird in Spanien mit einem verbissenen Feind konfrontiert, dessen buntscheckigen Guerillagruppen aus bäuerlichen Kleinproduzenten und ihrem Leibeigenschaftsanhang bestehen, die durch die Ideologie des Katholizismus zusammengehalten und borniert werden. Das Musterbeispiel für die Voltairsche Bestimmung des Widerspruchs entwickelte er nicht an den tiefsinnigeren „Pensées“ von Pascal, sondern bezeichnenderweise an den "Pensées" von Montesquieu, in denen dieser die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften beleidigt hatte. Für Voltaire war es der "Gipfel aller Widersprüche", dass gerade diese Beleidigungen nun der Grund gewesen sein sollen, dass die Mitglieder der Akademie Montesquieu nicht nur in ihre Reihen aufnahmen, sondern bei der Aufnahme Montesquieus sein Talent hervorhoben, treffende Charakterbilder zu zeichnen. 62. In seiner autobiographischen Skizze wird der Widerspruch anläßlich der Verfolgung der Enzyklopädisten ausgewickelt. Die "Enzyklopädie" wurde verboten von Würdenträgern, die im Zeitalter der Aufklärung nicht ein Wort von ihr gelesen hatten. "Die Menschen sind recht dumm..." 63., schlußfolgerte Voltaire. Kant sah die Menschen aus krummen Holz gemacht, so dass aus ihm nichts ganz Gerades gezimmert werden kann. 64. Auf die Frage: "Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter ?" lautete die Antwort Kants: „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung". 65. Und dieses Vorkommnis der Aufklärung mit ihrer zunehmenden Toleranz in religiösen Dingen ist für Kant neben der zunehmenden Verflechtung und Abhängigkeit der Bürger und Staaten untereinander ein Anhaltspunkt, ein Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognostikon), ein Zeichen Gottes, dass der letztendlich verborgen bleibende Plan der Natur doch eine friedliche bürgerliche Weltgesellschaft für die Gattung „in Petto“ habe. Für den Agnostiker muss der Plan verborgen bleiben und er macht sich auf die Suche nach Fingerzeigen in der empirischen Geschichte, wie dürftig sie auch immer seien. Wir hätten nicht viel, sagt Kant in seinem Aufsatz: "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (die erste Schrift, die Schiller von Kant gelesen hatte, siehe sein Brief vom 29. August 1787 an den Vater Theodor Körners), aber es sei ausreichend für eine optimistische Geschichtsauffassung. Eine terroristische, dass es immer ärger werde, würde flach widerlegt allein durch die Nochexistenz der Gattung. Allein, es ist Kants Coup, dass das Böse selbst auf einen guten Abschluss der Geschichte hinwirke, die Unmündigkeit ist ja auch nur beinahe zur Natur des menschlichen Wesens geworden und die Staaten kommen in ihren Kriegshändeln, in denen die Bösartigkeit des Menschen deutlich zu Tage tritt, nicht ganz ohne Rechtsbegriff aus. Die Ungleichheit unter den Menschen wertet Kant zudem als die Quelle vieles Bösen und alles Guten. Damit ist angezeigt, dass Kant keineswegs der „Alleszermalmer“ der Metaphysik war, als den ihn der katholische Philosoph Benedict Sattler 1788 in seinem dreibändigen „Anti-Kant“ denunzierte. Hamann wandte gegen Kant das bissige Wort vom „transzendentalen Aberglauben“ an. Geschichte erschöpft sich für Kant nicht im Nacherzählen von bloßen Ereignistatsachen. Wollte man in der Arbeiterbewegung für diese nach einem „Zeichen Gottes“ fragen, so wären dieses m.E. die Subbotniks, die Lenin als den faktischen Beginn des Kommunismus bezeichnete. 66. Die Subbotniks verdeutlichen, was Kant intendierte. Im Gegensatz zu Schiller hält Kant tapfer durch, dass der Terror der französischen Revolution nicht hinreiche, die „moralische Anlage im Menschengeschlecht“ zu guillotinieren. Es ist die Teilnehmung der passiven Zuschauer dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, „und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war“ 67. und es ist das uneigennützige „Zujauchzen“, die eine moralische Anlage im Menschengeschlecht beweisen. Es ist bemerkenswert, dass der Terror der französischen Revolution für Kant nicht etwa eine unmoralische Anlage im Menschengeschlecht belegt. Wir erinnern uns an Heinrich Heines Hinweis auf die robespierrschen Züge Kants. Gleichwohl wäre es völlig verfehlt, Kant darob in einen Befürworter der Revolution oder gar des Terrors umzumünzen. Die Geldbelohnungen der Revolutionsfeinde erweisen sich als nicht mächtig genug, gegen die Selbstlosigkeit und den Enthusiasmus der Jakobiner zu bestehen. 68. Ein Argument weiß Kant immer wieder anzuführen: die aus nichtrepublikanischen Verfassungen herrührende Kriegssüchtigkeit. Fortschritt und Ausschaltung des Krieges, dem Zerstörer alles Guten, aus dem zwischenmenschlichen Verkehr gehen einher. Ohne seine Ausschaltung kann es kein beständiges Fortschreiten zum Besseren geben. Kant hatte die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ fünf Jahre vor dem Ausbruch der französischen Revolution geschrieben, man versteht nun, warum er so begierig nach Zeitungen mit Artikeln über die erschütternden Begebenheiten in Paris war. Die französische Revolution, genauer: was sie in den Gemütern der Zuschauer bewirkt, nämlich an ihr teilnehmen zu wollen, ist für ihn ein weiterer, von der Natur freigegebener Puzzlestein im Plan der Weltgeschichte. Die Vision am Ende seines kleinen Aufsatzes über die Aufklärung von 1784, dass der Mensch durch die Aufklärung am Ende „mehr als Maschine“ sein wird, oder wie er es in einem anderen kleinen Aufsatz „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ sagt, dass der Mensch aus dem „Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft“ 69. kommen werde - sollte sie von der französischen Revolution eingelöst werden ? 1784 war Kant noch der Auffassung, eine Revolution bringe nur neue Vorurteile an Stelle der alten „zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens“. 70. Diese Auffassung ist durch das Revolutionsereignis etwas revidiert worden. Auch wenn die Revolution scheitern sollte, so kann keine Macht der Welt mehr die Erinnerung an sie löschen, ein solches Ereignisse vergesse sich nicht. Kant sollte Recht bekommen. 1789 ist in der Tat verinnerlicht im Gattungsbewußtsein. Inhaltlich pflichtet Kant der bürgerlichen Revolution bei, nicht ihrer Form, ihrem Hang zum „Ungestüm“. Es darf nicht übersehen werden, dass im Mittelpunkt des politischen Denkens der Krieg als Antipode jeglicher Moral und dessen allmählich heranreifende republikanische Überwindung steht. Diese verspricht er sich von einer Revolution von oben, niemals von einer von unten. Es müsse statt Revolution Evolution versucht werden. Kant führt in seinen „republikanischen“ Schriften einen wahren Eiertanz auf, um zu begründen, dass der Monarch im Sinn eines Volkes mit reifer Vernunft handeln soll, nur damit das unberechenbare Volk, das dem Buchstaben nach nicht um Einwilligung gefragt zu werden braucht, es nicht selbst tun muss. Kant verhält sich zur französischen Revolution wie krummes Holz. Der ewige Friede wird in Aussicht gestellt, aber nicht definitiv, die Annäherung an ihn sei möglich, in einem Brief an Kiesewetter schreibt er von „reveries“, der Friede schwebt in einer merkwürdigen Ambivalenz in einem Dreieck zwischen Moral, Recht und Utopie.

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Ende der Leseprobe aus 163 Seiten

Details

Titel
Aufklärung und Dialektik
Untertitel
Voltaire und Kant, Hegel und Mao über den Widerspruch
Autor
Jahr
2015
Seiten
163
Katalognummer
V287784
ISBN (eBook)
9783656880417
ISBN (Buch)
9783656880424
Dateigröße
952 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
aufklärung, dialektik, voltaire, kant, hegel, widerspruch
Arbeit zitieren
Heinz Ahlreip (Autor:in), 2015, Aufklärung und Dialektik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/287784

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