Straßenobdachlosigkeit

Sozialstrukturell bedingtes Risiko oder schichtunabhängiges Einzelschicksal?


Bachelorarbeit, 2014

73 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Prolog

Methodik

Erster Teil

Einführung in die Thematik der Obdachlosigkeit

1. Definition der Obdachlosigkeit

2. Soziologische Grundlagen des Wohnens Obdachloser
2.1 Wohnen als Grundlage des Lebens und Erlebens
2.2 Wohnen und Macht
2.3 Wohnen und Straßenobdachlosigkeit
2.3.1 Die Wohnwirklichkeit Obdachloser
2.3.2 Auswirkungen des obdachlosen Wohnens' auf die Gesundheit
2.3.3 Widrigkeiten und Gewalt im öffentlichen Raum

3. Geschichte der Obdachlosigkeit
3.1 Obdachlosigkeit im Mittelalter
3.2 Erste Entwicklung von staatlich geregelten Hilfesystemen im späten Mittelalter
3.3 Repression sowie Arbeits- und Zuchthäuser im Absolutismus
3.4 Armenfürsorge in der Industrialisierung

4. Psychologische und sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze
4.1 Entwicklung von Psychopathie-Konzepten im 19. und 20. Jahrhundert
4.2 Konzept der pathologischen Wanderpersönlichkeit im Nationalsozialismus
4.3 Beibehaltung der pathologischen Erklärungsmodelle auch nach 1945
4.4 Innovationen in der Obdachlosenhilfe in den 1970erJahren
4.5 Entwicklung eines multikausalen Begründungsmodells
4.6 Theoretischer Ansatz dieser Ausarbeitung

5. Im Abwärtsstrudel der Gesellschaft
5.1 Wohnungserhaltende Präventionsmaßnahmen
5.2 Mögliche Ursachen eines Wohnungsverlusts
5.3 Rechtliche Hilfen nach Eintritt der Wohnungslosigkeit

6. Straßenobdachlosigkeit
6.1 Ursachen der Straßenobdachlosigkeit
6.2 Hilfen für Obdachlose
6.3 Probleme im Hilfesystem

Zweiter Teil

Vertiefung der Forschungsfrage

1. Obdachlosigkeit und Sozialstruktur
1.1 Der soziale Raum
1.2 Präzisierung der Forschungsfrage

2. Wohnungslosigkeit in Zahlen: Die Sozialstruktur der Wohnungslosen

3. Sozialstruktur der Obdachlosigkeit
3.1 Erster Überblick über das Ausmaß der Obdachlosigkeit
3.2 Straßenobdachlosigkeit in der Presse
3.3 Studien über Straßenobdachlosigkeit
3.3.1 Eine qualitative Untersuchung
3.3.2 Eine weitere Auswertung qualitativer Daten
3.3.3 Studie über Obdachlose in Niedersachsen
3.3.4 Bundesweite Untersuchung der Caritas
3.3.5 Auf der Straße lebende Menschen in Hamburg
3.4 Weitere Erkenntnisse aus den Experteninterviews

4. Fazit

I. Literatur-Quellen
1.1 Online-Quellen
1.11 Abbildungsverzeichnis

II Danksagung

Prolog

Ein ,eigenes Dach‘ über dem Kopf zu haben gilt in Deutschland für die meisten Menschen als selbstverständlich. Eine Wohnung bietet Schutz, fungiert als persönlicher Rückzugsort und sichert die Privatsphäre. Außerdem geht das Individuum hier weitgehend seinen existenziell notwendigen Tätigkeiten zur eigenen Erhaltung nach, wie z.B. Schlaf, Nahrungsaufnahme und Hygiene. Dennoch: Ein Recht auf Wohnung ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. In der 1996 revidierten Charta der sozialen Rechte des Europarates wurde das Recht auf Wohnung zwar aufgenommen1, dieses ist in der Praxis allerdings kaum einklagbar (vgl. Paegelow 2012: S.8).

Am 10.12.2007 wurde von einer überparteilichen Initiative dem Europäischen Parlament eine „Schriftliche Erklärung zur Beendigung der (Straßen-)Obdachlosigkeit“ (McDonald 2007: S.2) eingereicht: Es fordert die Europäische Union dazu auf, diese äußerste Ausprägung der Armut bis zum Jahr 2015 zu beenden. Ein solches Ziel wirkt jedoch, in Anbetracht der aktuellen Situation, utopisch: Selbst in einer hochtechnologisierten Gesellschaft wie Deutschland gehören Obdachlose, die insbesondere in den Fußgängerzonen der Großstädte betteln, Straßenzeitungen verkaufen oder sich einfach nur die Zeit vertreiben, zum allgemeinakzeptierten Alltag. Viele Bürger versuchen einer direkten Konfrontation mit den Betroffenen aus dem Weg zu gehen und machen einen großen Bogen, andere wiederum leisten, sei es als Hilfeleistung oder zur Beruhigung des eigenen Gewissens, eine kleine Geld- oder Naturalspende. Anwohner oder Geschäftstreibende hingegen, können diese auch als persönlichen Störfaktor wahrnehmen oder die Attraktivität des Stadtviertels gefährdet sehen und versuchen sie zu vertreiben. Begründen lassen sich solche Maßnahmen auf der Basis von Vorurteilen über arbeitsfaule, selbstverschuldete Obdachlose. Dabei gilt jedoch zu bedenken: Wer auf der Straße lebt ist auf die unterste Stufe der sozialen Hierarchie abgerutscht und die Vermutung liegt nahe, dass sich wohl kaum ein Mensch gerne in einer solch unangenehmen Lebenslage befindet.

Ziel dieser wissenschaftlichen Ausarbeitung ist es somit, dem Phänomen der Obdachlosigkeit genauer nachzugehen und herauszufinden, warum selbst in einem hoch entwickelten Industrieland wie Deutschland manche Menschen auf der Straße leben. Dabei gliedert sich diese Ausarbeitung in zwei Teile: Der erste ist eher theoretisch orientiert. In ihm werden zunächst die zentralen Begrifflichkeiten voneinander abgegrenzt und die große Bedeutung eines festen Wohnsitzes in einem modernen Industrieland aufgezeigt. Danach wird der Obdachlosigkeit in Deutschland im Laufe der Geschichte nachgegangen. Schließlich werden verschiedene Erklärungsansätze betrachtet, die in der Vergangenheit zur Erforschung des Phänomens verwendet wurden, um letztendlich auch einen zentralen Untersuchungsansatz für diese wissenschaftliche Abhandlung festzulegen. Im zweiten, praxisorientierten Teil steht hingegen die Frage nach der sozialen Herkunft Obdachloser im Vordergrund. So soll schließlich herausgefunden werden, ob speziell Menschen aus den unteren Schichten gefährdet sind obdachlos zu werden, oder jeder, unabhängig von seiner Bildung und sozialen Schichtzugehörigkeit, in eine solch missliche Lage geraten kann. Die zentrale Fragestellung dieser Ausarbeitung lautet somit: Ist die Gefahr in die Obdachlosigkeit zu rutschen ein sozialstrukturell bedingtes Risiko der unteren Schichten oder handelt es sich bei den Betroffenen um schichtunabhängige Einzelschicksale?

Methodik

Die Recherche zur Beantwortung der zentralen Fragestellung erfolgt in erster Linie auf Basis von bestehenden Studien und anhand von zwei leitfadengeführten Experteninterviews.23 Dazu wurden für die Befragung zwei Akteure aus zentralen Einrichtungen im Bereich des Hilfesystems ausgewählt. Befragt wurde einerseits Herr Dr. Rolf Jordan, vom Fachreferat III: (Dokumentation und Statistik, Entwicklung sozialer Dienste und Sozialplanung, Partizipation) der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG-W). Die BAG-W „ein bundesweiter Dachverband; eine Interessenorganisation der Einrichtungen, Dienste und Träger der Wohnungslosenhilfe in Deutschland.“ (Jordan 2014: Anhang 1) Ihr gehören um die 200 Mitglieder mit circa 800 Angeboten an, die von Fachberatungsstellen über Tagestreffs bis hin zu stationären Einrichtungen für Wohnungslose und Obdachlose reichen. Das „Kerngeschäft der BAG-W ist vor allem [...] die Entwicklung, Weiterentwicklung der Hilfen für Menschen in Wohnungsnot und besonderer sozialer Schwierigkeit“ (ebd.). Das zweite Interview fand mit Herrn Christian Linde, Gründungsmitglied und Redaktionsleiter der Motz-Straßenzeitung sowie des motz und Consorten randständig abwegig unbedacht e.V. in Berlin statt. „Die Motz ist gegründet worden 1995 und startete mit der immer noch existierenden Straßenzeitung Motz und einem sozialen Angebot, nämlich einer Notunterkunft“ (Linde 2014, Anhang 2) überwiegend für Straßenobdachlose. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie „ganztägig und ganzjährig geöffnet“ (ebd.) ist und die Versorgung mit Übernachtungsplatz, Verpflegung, Kleidung etc. „unter einem Dach stattfindet“ (ebd.). Gleichzeitig finanziert sie sich, im Gegensatz zu vielen anderen Einrichtungen in diesem Bereich komplett selbst durch weitere Projekte, wie z.B. einer Umzugshilfe und einem Secondhandladen. Im Rahmen der Angebote ist die Motz direkt in das Feld der Straßenobdachlosigkeit eingebunden (vgl.: ebd.). Für das Experteninterview wurde gezielt eine Hilfeeinrichtung in Berlin kontaktiert. Oft auch als „Hauptstadt der Obdachlosen“ (Markowsky 2010) bezeichnet, spielt die Stadt eine besondere Rolle im Obdachlosenhilfesystem. So wird sie zum einen von vielen Obdachlosen aufgesucht und zum anderen steht hier ein für deutsche Verhältnisse überdurchschnittlich ausgeprägtes Hilfesystem bereit (vgl. Neupert 2010: S.13f.).

Erster Teil

Einführung in die Thematik der Obdachlosigkeit

„Jeder Akteur ist charakterisiert durch den Ort, an dem er mehr oder minder dauerhaft situiert ist, sein Domizil

(wer ,ohne Herz oder Heim‘ ist, ohne festen Wohnsitz4, besitzt nahezu keine Existenz - Beispiel: der Obdachlose)“.

(Bourdieu 1991: S.26)

1. Definition der Obdachlosigkeit

Das in der Gesellschaft vorherrschende Bild von Obdachlosigkeit orientiert sich stark an ihrer sichtbarsten Ausprägung: An den Menschen, die ohne eigene Wohnung im Freien leben und übernachten. Dabei werden die Begriffe Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit im Alltagsgebrauch oft als Synonym verwendet. Tatsächlich erfasst dieses Verständnis jedoch nur einen kleinen Teilaspekt der Problematik, die weitaus differenzierter zu betrachten ist.

Daher sollen zu Beginn dieser wissenschaftlichen Ausarbeitung die zentralen Begrifflichkeiten voneinander abgegrenzt werden. Dies erweist sich zunächst als schwierig, da die Termini sogar in wissenschaftlichen Diskursen gegensätzlich eingesetzt werden (vgl.: Häußermann 2000: S.189), sodass sogar Reiner Geißler von einer „heillose(n)

Begriffsverwirrung“ spricht (Geißler 2008: S.210). Zur Vereinfachung verwendet diese Ausarbeitung die im Jahre 20054 veröffentlichte Auslegung des europäischen Dachverbandes der Wohnungslosenhilfe (FEANTSA), die inzwischen auch von deutschen Hilfsorganisationen so übernommen wurde (vgl. ETHOS 2005).

Die ETHOS-Typologie klassifiziert wohnungslose Menschen entsprechend ihrer Wohnsituation und baut auf einem konzeptionellen Grundverständnis von drei Grundpfeilern des Wohnens: (1) Das Vorhandensein einer Wohnung wird erstens definiert als der Besitz eines Gebäudes oder Räumlichkeiten, „über das die Person und ihre Familie die ausschließlichen Besitzrechte ausüben kann (physischer Bereich)“ (vgl. ETHOS 2005), (2) in dem sie außerdem ihre „Privatheit aufrecht erhalten und Beziehungen pflegen kann (sozialer Bereich)“ (vgl. ebd.) und über die es letztlich „einen legalen Rechtstitel gibt (rechtlicher Bereich)“ (vgl. ebd.). Die ETHOS-Kategorisierungen leiten sich allesamt von Einschränkungen der genannten Grundpfeiler ab und geben somit einen Mangel an Wohnung an.

ETHOS unterscheidet in die konzeptionellen Hauptkategorien Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit, Ungesichertes Wohnen und Ungenügendes Wohnen, die wiederum in insgesamt 13 operationale Kategorien unterschieden werden. Im Folgenden werden die vier Hauptkategorien vorgestellt:

Die vom größten Mangel geprägte Wohnsituation stellt die Obdachlosigkeit dar, der in der neueren Fachliteratur auch mit dem Terminus „Straßenobdachlosigkeit“ (Paegelow 2012: S.34) Nachdruck verliehen wird. Sie bezeichnet eine besonders prekäre Lebenssituation, in der die Betroffenen kein dauerhaftes Dach über dem Kopf haben, also im Freien, auf der Straße oder an öffentlichen Plätzen und in Parks leben müssen. Anstelle einer Übergangswohnung haben sie nur kurzzeitig (zumeist nur für einzelne Nächte) die Möglichkeit in Notschlafstellen, Wärmestuben oder niederschwelligen Einrichtungen zu übernachten (vgl. ETHOS 2005). Sie „verfügen über keinen privaten Rückzugsraum“ (Neupert 2010: S.4), sondern sind selbst hinsichtlich ihrer existenziellen Grundbedürfnisse (Schlafplatz, Hygieneeinrichtungen, Nahrungsaufnahme) auf eine Versorgung durch den öffentlichen Raum angewiesen (vgl. Neupert 2010: S.8/ S.72). In Sozialwissenschaften oder der Behördensprache wird teils noch der Begriff der ,Nichtsesshaften’ auf diese soziale Gruppe angewendet. Dieser wird jedoch in der vorliegenden wissenschaftlichen Abhandlung aufgrund seiner NS-Vergangenheit bewusst vermieden, bzw. explizit nur in seinem geschichtlichen Kontext verwendet.

Zur Gruppe der Wohnungslosen zählen alle Menschen, die vorübergehend in Notunterkünften oder Einrichtungen mit begrenzter Aufenthaltsmöglichkeit wohnen, da sie nicht in der Lage sind, sich eine eigene Wohnung zu finanzieren. Dazu gehören provisorische Übergangswohnheime bzw. -wohnungen, Asyle, Herbergen aber auch Frauenhäuser und Gastarbeiterquartiere. Auch Menschen, die aus einer Institution (z.B. Gefängnis, Spital, Heilanstalt, Jugendheim) entlassen wurden, gelten, insofern noch keine Vorkehrung für eine zukünftige Behausung getroffen wurde, als wohnungslos und bleiben teilweise länger in der Einrichtung (vgl. ETHOS 2005). Die oftmals provisorischen Übergangswohnungen (zumeist Schlichtwohnungen) werden von den staatlichen Behörden vorübergehend bereitgestellt. Die Betroffenen leben aufgrund ihrer prekären Lage mietfrei, allerdings auch ohne eigenen Mietvertrag und unter eingeschränkter Privatsphäre. Die zuständige Behörde hat jederzeit ein Recht auf Zutritt und Kontrolle. Letzten Endes fallen auch Bewohner von Dauereinrichtungen für Wohnungslose (z.B. ältere Wohnungslose) in diese Kategorie (vgl. ETHOS 2005/ Geißler 2008: S.210).

In einem Ungesicherten Wohnverhältnis befinden sich diejenigen, die zwar über Wohnraum verfügen, deren Wohnsituation jedoch nicht oder nur unzureichend rechtlich abgesichert ist. Dazu gehören das Wohnen bei Freunden oder Bekannten, sowie das Wohnen ohne Rechtstitel oder unter Verletzung der Eigentumsrechte anderer durch Besetzung. Außerdem zählen Räumlichkeiten, für die eine Räumungsklage bzw. eine Enteignungsklage angeordnet bzw. bereits beschlossen ist, hinzu. Ebenso auch Wohnungen, in denen die Betroffenen Gewalt ausgeliefert sind, insofern diese bereits zur Anzeige gebracht wurde (vgl. ETHOS 2005).

Das Ungenügende Wohnen betrifft Menschen, welche in Wohnprovisorien leben, die für dauerhaftes Wohnen nicht gedacht sind wie z.B. Wohnwägen, Garagen, Keller, Dachböden, Zelte aber auch in für Wohnzwecke ungeeignete oder gesperrte Behausungen wie z.B. Abbruchgebäude. Weiterhin zählen noch überfüllte Wohnungen hinzu, in denen durch Überbelegung die zulässigen Mindestquadratmeter pro Person unterschritten werden (vgl. ETHOS 2005).

Die vorliegende wissenschaftliche Auseinandersetzung widmet sich in ihren folgenden Ausführungen der Obdachlosigkeit, bzw. Straßenobdachlosigkeit und hat das Ziel die einleitende Fragestellung speziell auf diese Ausprägung hin zu beantworten

2. Soziologische Grundlagen des Wohnens Obdachloser

Um die besonders prekäre soziale Lage Obdachloser auf der Straße nochmal zu verdeutlichen, bedarf es an dieser Stelle weiterer Ausführungen. Die Widrigkeiten ihrer Wohn- und Lebenswirklichkeit werden erst im Kontrast zu dem, was allgemeingesellschaftlich als ^normales Wohnen’ anerkannt wird, deutlich.

2.1 Wohnen als Grundlage des Lebens und Erlebens

Wohnen leitet sich aus dem althochdeutschen ,wonen’5 ab, dass in etwa dem „sich aufhalten, bleiben, leben, verweilen, ruhen, gewohnt sein“ (Köbler 1995: S. 471) entspricht und heute im Zusammenhang mit ,einen Wohnsitz’ haben verwendet wird. Dabei handelt es sich bei dem Wohnsitz bzw. der Wohnung um den örtlichen „Schwerpunkt der Lebensbeziehung eines Menschen“ (Birken 1684 nach Köbler 1995: S.471); also ein Besitztum, das dem Akteur für über längere Dauer zum Aufenthalt dient (vgl. Köbler 1995: S. 471).

Im Wohnen selbst „kommt ein anthropologischer Zug des menschlichen Lebens zur Geltung“ (Hasse 2009: S.21). Der Wohnraum steht in direkter Beziehung zur Welt und zum Erleben des Bewohners und drückt daher vor allem die spezifische Situation des persönlichen Lebens aus. Die Wohnung stellt den persönlichen Raum des Rückzugs, der Geborgenheit und der Privatsphäre dar; in ihm sind viele persönliche Gegenstände, die symbolisch eng mit dem eigenen Leben vernetzt sind, zentriert. Außerdem befinden sich hier die Dinge des täglichen Bedarfs und einem Großteil der Privatsphäre wird in diesem geschützten Raum nachgegangen (vgl. Hasse 2009 S.21-22).

Das Wohnen ist somit „ein biographisch und kulturell geprägtes Geschehen, in dem sich das Leben (individuell, gruppenspezifisch und ethnologisch reich differenziert) verräumlicht“ (Hasse 2009: S.26). Somit sind sowohl das Wohnen, als auch das persönliche Leben und Erleben eines Menschen untrennbar miteinander verbunden.

2.2 Wohnen und Macht

Gleichzeitig steht das individuelle Wohnen in starker Wechselwirkung mit den allgemeinen gesellschaftlichen und persönlichen (kulturellen, ökonomischen u.a.) Rahmenbedingungen. Die „Verräumlichung individuellen Lebens (folgt) den in einer Gesellschaft geltenden Regeln und Ordnungsstrukturen, d.h. der gesellschaftliche Rahmen strukturiert die Spielräume, innerhalb derer sich Individuen und Gruppen wohnend finden können“ (vgl. Hasse 2009: S.222). Im Rückschluss wird wiederum das Individuum durch seinen dauerhaften Wohnort und seine Wohnsituation charakterisiert.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sieht den „von einem Akteur eingenommene(n) Ort und sein(en) Platz im angeeigneten physischen Raum (als) hervorragende Indikatoren für seine Stellung im sozialen Raum“ (Bourdieu 1991: S.26)6. Dabei versteht er unter dem sozialen Raum ein abstraktes Gebilde, das die Gesellschaft und die Positionen der einzelnen Individuen im Verhältnis zueinander abbildet. Die Unterschiede zwischen den sozialen Akteuren sind einer ungleichen Verteilung der nach Bourdieu zentralen Kapitalformen geschuldet: Das ökonomische, das kulturelle, das soziale und das symbolische Kapital verleihen den Besitzern Macht und werden in gesellschaftlichen Kämpfen als Waffen gegeneinander eingesetzt (vgl.: Bourdieu 1997: S.6-7).

Die daraus resultierenden Strukturen, Hierarchien und sozialen Kämpfe innerhalb des sozialen Raumes manifestieren sich unter anderem im individuellen Wohnen: Sowohl als mentale Strukturen zur Wahrnehmung und Bewertung von Wohnformen und der Bestimmung legitimen Wohnens als auch in der Morphologie des Wohnbaus, die die gesellschaftlichen Unterschiede und Gegensätze zum Ausdruck bringt. Die Zurschaustellung des eigenen Wohnens korrespondiert mit einer Zurschaustellung der Macht und dem damit verbundenen symbolischen Kapital (vgl. Bourdieu 1997: S.26-27). „Die Fähigkeit den angeeigneten Raum zu dominieren, ermöglicht gleichermaßen, sich die unerwünschten Personen und Dinge vom Leib zu halten“ (Bourdieu 1991: S.30). Es entsteht eine „im physischen Raum objektivierte^] soziale Teilung“ (Bourdieu 1991: S.27). Besonders in Großstädten manifestieren sich so ökonomische und wirtschaftliche Unterschiede in der räumlichen Verteilung ihrer Viertel und dem Gegensatz von Zentrum und Peripherie (vgl. ebd.: S.27). Letztendlich ist der „soziale Raum [...] somit zugleich in die Objektivität der räumlichen Strukturen eingeschrieben und in die subjektiven Strukturen, die zum Teil aus der Inkorporation dieser objektivierten Strukturen hervorgehen“ (Bourdieu 1991: S.28).

2.3 Wohnen und Straßenobdachlosigkeit

Daraus folgt, dass der „von einem Akteur eingenommene Ort und sein Platz im angeeigneten physischen Raum hervorragende Indikatoren für seine Stellung im sozialen Raum abgeben“ (Bourdieu 1991: S.26). Im Nichtvorhandensein eines eigenen Wohnraums spiegelt sich somit die besonders prekäre Lage Obdachloser wieder: Sie sind sowohl im abstrakten Gefüge des sozialen Raums7, als auch im manifesten, städtischen Raum an den äußersten Rand gedrängt. Bourdieu geht an dieser Stelle sogar noch einen Schritt weiter und zieht den Schluss: Wer allerdings „ohne „festen Wohnsitz“ (ist), besitzt nahezu keine Existenz“ (Bourdieu 1991: S.26) und nennt als Beispiel explizit die Obdachlosen.

2.3.1 Die Wohnwirklichkeit Obdachloser

In Hinbezug auf die Wohnwirklichkeit der Betroffenen bedeutet dies, dass Straßenobdachlose auf keinen privaten Rückzugsraum zur Bewahrung der Intimsphäre zurückgreifen können. Für jegliche Handlungen, inklusive der täglichen Hygienemaßnahmen, sind diese auf die Existenz des öffentlichen Raums8 angewiesen.

Am weitesten verbreitet ist das Bild derjenigen Obdachlosen, die im Freien schlafen; im Fachjargon auch ,Platte machen’ genannt. Die Betroffenen wohnen und schlafen dauerhaft an Plätzen des öffentlichen Lebens, wie an Straßen, Plätzen und Parkanlagen, aber auch in Baracken oder Wäldern (vgl. Neupert 2010: S.20). Im Winter hingegen haben sie mit widrigen Umständen zu kämpfen. Zum Schutz gegen die Kälte ziehen sie sich an wärmere Orte, wie z.B. öffentliche Toiletten, Bankvorräume oder Hausflure, zurück (vgl. Neupert 2010: S.20). Wer keine ausreichend geschützte Übernachtungsmöglichkeit findet, begibt sich in Lebensgefahr; allein im Zeitraum von 1991 bis 2004 sind mindestens 189 Obdachlose in Deutschland erfroren (vgl. Linde 2004: S.82).

Eine andere Möglichkeit unterzukommen sind niedrigschwellige Einrichtungen, die primär der Übernachtung dienen, wie Nachtcafés und Notunterkünfte. Diese werden im Winter verstärkt zur Verfügung gestellt, sie bieten den Betroffenen teils Matten, Decken und eine Mahlzeit an und müssen nach dem Frühstück wieder verlassen werden. Allerdings schwankt die Qualität zwischen den Unterkünften stark und eine Garantie unterzukommen gibt es hier nicht (vgl. Neupert 2010: S.17-20). Für viele eine letzte Möglichkeit, um im Warmen zu nächtigen, stellt das ,Rutsche machen’ dar: das Schlafen in öffentlichen Verkehrsmitteln, was jedoch mit vielen Störungen und dem Risiko des Verweises verbunden ist (vgl. Neupert 2010: S.20).

Das Fehlen eines gesicherten, konstanten Schlafplatzes stellt hohe Anforderungen an den Alltag. So ist die Infrastruktur des täglichen Bedarfes sehr dezentral gestreut. Obdachlose müssen oft viele verschiedene Orte zu Fuß ansteuern, um sich zu waschen, zu essen oder sich neu einzukleiden. Auch tragen sie meist aus Schutz vor Diebstahl oder Zerstörung ihre wenigen Habseligkeiten bei sich, was sie leicht als Obdachlose identifiziert (vgl. Neupert 2010: S.17).

2.3.2. Auswirkung des .obdachlosen Wohnens’ auf die Gesundheit

Aufgrund der widrigen Umstände auf der Straße bleibt den Betroffenen wenig Spielraum zur Regeneration. Der Zugang zu Hygieneeinrichtungen und einer ärztlichen Versorgung ist begrenzt und die psychische Beeinträchtigung durch Isolation und fehlende Lebensperspektiven ist enorm. Längerfristige Obdachlosigkeit steht daher nicht selten mit Krankheit in Verbindung, die sich im Laufe der Dauer noch weiter ausbreiten kann (vgl. Jetter 2004: S.144/ Schaak 2009: S.50f.). Eine Studie der GOE9 bestätigt, dass der körperliche Zustand derjenigen die ,Platte machen‘ im Durchschnitt bedenklicher ist als der anderer Wohnungsloser (Nothbaum et. al. 2004: S.60). Viele haben Verletzungen oder leiden unter Diabetes, Zahnproblemen oder Haut-, Leber-, Herz-/Kreislauf- und sonstigen Erkrankungen (vgl. Fichtner et. al. 2005: S.122f./ Herms 2013: S.24f.), in Einzelfällen gar unter Hepatitis B, C oder Tuberkulose (B.Z.: 2014). Laut einer Hamburger Untersuchung kämpfen 56% der dortigen Obdachlosen sogar mit mindestens vier Erkrankungen gleichzeitig (vgl. Hasse 2014). Auch Suchtprobleme sind weit verbreitet und manifestieren sich im Verlauf der Obdachlosigkeit noch weiter. Der Rausch stellt für viele eine persönliche Bewältigungsstrategie der Lebenslage dar (vgl. Herms 2013: S.24), ist neben Erfrierungen im Winter aber auch eine häufige Todesursache (vgl. Kronenberger 2006). Einer empirischen Studie aus England zu Folge sterben Obdachlose schon im Durchschnittsalter von 46 Jahren (vgl. Jetter 2004: S.76); auch die neuere Studie aus der Hansestatt nennt als Lebenserwartung 46,5 Jahre (vgl. Hasse 2014). Gleichzeitig ist die Suizidrate unter ihnen sehr hoch (vgl. Jetter 2004: S.76).

2.3.3 Widrigkeiten und Gewalt im öffentlichen Raum

Ferner sind Obdachlose durch ihre Abhängigkeit von den Plätzen des öffentlichen Lebens den gesellschaftlichen Kämpfen täglich schutzlos ausgeliefert (Neupert 2010: S.4). Diese finden auf vielerlei Ebenen statt:

1) Die allgemeingesellschaftliche „Inkorporation der herrschende(n) Normen (verlangt) die Einhaltung der Grenzen normalen Wohnens“ (Hasse 2009 S.224f.). Die Straßenobdachlosigkeit entspricht einem extremen Anders-Wohnen außerhalb der gesellschaftlichen Akzeptabilität. Derartige Wohnformen können statt Mitleid auch Angst und Missmut schüren und Distinktion sowie Stigmatisierung hervorrufen.

2) Die Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld geht im Zuge der wachsenden Kontrolle des Kapitals von einer „Ökonomisierung des Sozialen“ (vgl. Heitmeyer/ Endrikat 2008: S.55) in Deutschland aus, die einen Wandel der Marktwirtschaft’ zur ,Marktgesellschaft’ bedingt. Die Konsequenz sei, dass immer mehr Menschen die Imperative des Marktes (Nützlichkeit, Effizienz etc.) internalisieren und zur Bewertung ihrer Mitmenschen anwenden. Die Forscher konnten empirisch nachweisen, dass eine starke ökonomistische Orientierung der Befragten mit einer direkten Abwertung von Obdachlosen als überflüssige und nutzlose Teile der Gesellschaft einhergeht (vgl. ebd. S.57-70).

3) Gleichzeitig treibt die Logik des globalen, kapitalistischen Systems mit einem Zwang zur Kapitalakkumulation auch eine Kommodifízierung10 des öffentlichen Raumes voran. Auch Städte stehen in zunehmender Konkurrenz zueinander. Öffentlichen Flächen müssen ökonomisch besser verwertet werden und im Vordergrund steht eine Ästhetisierung der Stadt mit hohen konformen Verhaltensstandards. Obdachlose und Bettler entsprechen nicht den Wertevorstellungen und gelten bei den Gewerbetreibenden als umsatzschädigend. Mittels architektonischer Gestaltungsmaßnahmen in Innenstädten wird daher eine gezielte Verdrängungspolitik vorangetrieben: Dazu gehören der Einsatz edler Baumaterialien, das Versperren unübersichtlicher Ecken und Nischen sowie der Rückbau der für Obdachlose wichtigen Infrastruktur (z.B. Brunnen, Wasserhähne, Toiletten etc.). (vgl. Neupert 2010: S.4f.).

Die gesellschaftliche Ablehnung gegenüber Obdachloser spiegelt sich in Umfragen wieder. So empfanden laut einer 2003 veröffentlichten Langzeitstudie 47% der Befragten Obdachlose als unangenehm (vgl. Linde 2004: S.83). In einer Umfrage des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung zur gruppenbezogenen Menschenfeind­lichkeit im Jahr 2010 gaben sogar 34,2% der Befragten an: „Die Obdachlosen in den Städten sind unangenehm“; 28% stimmten der Angabe zu: „Die meisten Obdachlosen sind Arbeitsscheu“ und 31,2% meinten: „Bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden“ (vgl. IKG 2011).

In der Politik kann es gar zu populistischen Äußerungen kommen, wie die vom ehemaligen Berliner CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus-Rüdiger Landowsky im Jahr 1997: „Es ist nun einmal so, dass dort, wo Müll ist, Ratten sind. Und dass dort, wo Verwahrlosung herrscht, Gesindel ist. Das muss in der Stadt beseitigt werden!“ (Plenarprotokoll 13/24 vom 27.2.1997, AH v. B zitiert nach Linde 2004: S. 83).

All dies liefert den Nährboden für passive und auch aktive Demütigung und Gewalt gegen Obdachlose: Körperliche Übergriffe, die sogar bis zum Tode der Opfer führen können sind in Deutschland keine Seltenheit. Zwischen 1989 bis 2009 wurden 169 Morddelikte an Wohnungslosen und 366 schwere Gewaltdelikte gezählt. Das vollständige Ausmaß der Straftaten ist dabei nicht quantifizierbar, da viele Opfer keine Anzeige aufgeben oder diese statistisch nicht erfasst werden (vgl. Paegelow 2012: S.78). Die Täter stammen teils aus dem rechten Spektrum (vgl. Linde 2004: S.82, Ludwig 2012, Radke 2013), manche handeln aber auch ohne direkten politischen Bezug (vgl. Neupert 2010: S.21; Römer 2011).

So befinden sich Obdachlose in einer misslichen Lage. Sie sind auf den öffentlichen Raum angewiesen doch hier gleichzeitig bei vielen unerwünscht. Ihr dauerhafter Aufenthalt im Freien ist teils mit starken Risiken verbunden.

3. Geschichte der Obdachlosigkeit

Der oben aufgezeigten Konstruktion und Definition der Begriffe geht ein jahrhundertelanger gesellschaftlicher und sozialer Entwicklungsprozess voraus. Obdachlosigkeit, und die damit zumeist einhergehende Bettelei, ist ein Phänomen, dessen Ausgangspunkt schon in der Zeit der Sesshaftwerdung der Nomadenvölker liegt und sich hartnäckig bis in unsere modernen Gesellschaften hinein hält. Nicht über einen eigenen, festen Wohnraum zu verfügen, konnte erst ab dem Zeitpunkt als ein soziales Problem wahrgenommen werden, als sich das Leben und Wohnen in einer beständigen Behausung zum gesellschaftlichen Standard entwickelte. Dabei waren die gesellschaftlichen Reaktionen auf die Betroffenen stets unterschiedlich und stark mit den Vorraussetzungen und Werten der jeweiligen historischen Epochen verknüpft; liberale und restriktive Umgangsweisen mit Obdachlosen wechselten sich teils ab (vgl. Paegelow 2012: S.13; Lutz/ Simon 2007: S.12). Doch auch die heute bestehende Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten kam nur allmählich zu Stande, weshalb es sinnvoll ist, die Thematik zunächst mit einem ausführlichen, geschichtlichen Überblick zu beleuchten.

3.1 Obdachlosigkeit im Mittelalter

Während Armut in der Antike noch als anstößig verurteilt und Reichtum als notwendig und gut verherrlicht wurde, kam es mit dem Neuen Testament zu einem Bruch: Dieses idealisierte insbesondere religiös motivierte, freiwillige Armut; Bettelorden entstanden und stellten somit auch die unfreiwillige Obdachlosigkeit in ein besseres Licht (vgl. Sachße/ Tennstedt 1998: S.38). So übernahmen ab dem 6. Jahrhundert die Bischöfe und Klöster mit einem zunehmenden Ausbau von Spitälern, Herbergen und Speisestätten die Versorgung der Armen und Obdachlosen, um diese „wie Christus aufzunehmen“ (Sachße/ Tennstedt 1998: S.41).

Allerdings setzte mit dem 11. Jahrhundert ein starkes Bevölkerungswachstum ein: Zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert stieg die Einwohnerzahl auf dem Gebiet des späteren Deutschlands von 5 auf 13 Millionen Einwohner an. Dies ging gleichzeitig mit einer Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte einher, die zunehmend „als Zentren des Handels und der gewerblichen Produktion [...] eine relevante und eigenständige Bedeutung für die mittelalterliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in Deutschland erhielten“ (Sachße/ Tennstedt 1998: S.39).

Ihre hohe Anziehungskraft auf die Landbevölkerung begünstigte einerseits den Aufschwung der Städte, brachte jedoch auch zunehmende Probleme mit sich. Die Zuwanderung war vor allem von großen Unsicherheitspotentialen geprägt: Abgeschieden von ihrer ursprünglichen Heimat waren sie aus dem stützenden Familienverband herausgelöst, was eine „bis dahin unbekannte soziale Unsicherheit“ (Sachße/ Tennstedt 1998: S.40) darstellte. Besonders hart traf es dabei die Gering- oder Unqualifizierten, die die städtische Armutsbevölkerung herausbildeten. In wirtschaftlich günstigen Zeiten mochten sie zwar ein Auskommen finden, doch Konjunkturschwankungen führten schnell zur Mittellosigkeit: Es entstand eine neue Dimension der Bedürftigkeit, die die Kapazitäten der kirchlichen Hilfseinrichtungen bei Weitem überschritt (Sachße/ Tennstedt 1998: S.40-41).

3.2 Erste Entwicklung von staatlich geregelten Hilfssystemen im späten Mittelalter

Mit dem ausgehenden Mittelalter im 14. und 15. Jahrhundert setzte ein neuer Umgang mit Massenarmut und Obdachlosigkeit ein. Die Versorgung wurde zunehmend in die bürgerliche und kommunale Zuständigkeit übertragen um durch gesetzliche und bürokratische Regelungen eine regelrechte „Bettlerplage“ (Korff 1998: S.19) unter Kontrolle zu bekommen. Der Rationalisierungsprozess der Armenfürsorge wird von Sachße und Tennstedt in zwei Phasen unterteilt: Die erste hatte eine stärkere Regulierung der Bettelei zur Folge. So wurde Mitte des 14. Jahrhunderts in vielen Städten das Betteln zunächst auf bestimmte Zeiten und an bestimmten Orten beschränkt. Weiterhin mussten die Bedürftigen ein bestimmtes Zeichen tragen, das nur unter bestimmten Voraussetzungen in der Kommune beantragt werden konnte und ihre Bedürftigkeit bestätigen sollte; zumeist konnten nur einheimische Bettler ein solches erhalten (Sachße/ Tennstedt 1998: S.42).

In der Zweiten Phase stand ab Anfang des 16. Jahrhunderts das Betteln schließlich ganz unter Verbot (Sachße/ Tennstedt 1998: S.42-43). Stattdessen wurde eine Unterstützungspflicht für die Armen unter strengen Kriterien eingeführt. Die Rationalisierung des Armenwesens sah eine „Herausbildung feststehender Kriterien, die zum Empfang von Unterstützungsleistungen berechtigen“ (Sachße/ Tennstedt 1998: S.43) vor; unter anderem wurden die Arbeitsfähigkeit, Familiensituation und Einkommen der Betreffenden berücksichtigt. Leistungen konnten nur noch von Einheimischen mit einem Bettelzeichen empfangen werden, welches nach strengen Kriterien vergeben wurde. Der steigende Verwaltungsaufwand hatte eine Bürokratisierung zur Folge. Institutionen wurden zur Überprüfung der Bedürftigkeit und Verteilung der Gelder gegründet (Sachße/ Tennstedt 1998: S.43-44). Überdies setzte eine „Pädagogisierung der Armenfürsorge“ (vgl.: Lutz/ Simon 2007: S.16) ein, die eine drastische Verhaltensveränderung nach Vorbild der strengen Werte- und Moralvorstellungen der städtisch-handwerklichen Mittelschicht für die Unterstützungsempfänger vorsah: Fleiß, Disziplin und Ordnung. Müßiggang hingegen wurde verachtet und unter anderem der Besuch von Stätten des Lasters (z.B. Wirtshäuser) mit dem Entzug der Almosen bestraft (vgl. Sachße/ Tennstedt 1998: S.43-46).

Diese systematischen Reformen und die damit einhergehende Kommunalisierung, Regulierung, Rationalisierung, Bürokratisierung und Pädagogisierung weisen zwar „erste Ansätze einer Sozialpolitik im modernen Sinne“ (Lutz/ Simon 2007: S.16) auf, die geschaffene Infrastruktur zur Verwaltung der Armut wurde jedoch auch in Form einer Ausgrenzungspolitik stark als repressives Instrument gegen die Zielgruppe eingesetzt (vgl.: Lutz/ Simon 2007: S.16).

Insgesamt bleibt an dieser Stelle festzuhalten: Erst diese Entwicklung feststehender Kriterien zur Beurteilung von Bedürftigkeit und die Einführung einer kontrollierenden Instanz brachten Armut als offenkundiges, soziales Problem in das Bewusstsein.

[...]


1 Vgl. Charta der sozialen Rechte, revidierte Fassung von 1996, Artikel 31: Artikel 31 - Das Recht auf Wohnung: Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Wohnung zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien, Maßnahmen zu ergreifen, die darauf gerichtet sind:
1 den Zugang zu Wohnraum mit ausreichendem Standard zu fördern;
2 der Obdachlosigkeit vorzubeugen und sie mit dem Ziel der schrittweisen Beseitigung abzubauen;
3 die Wohnkosten für Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, so zu gestalten, daß sie tragbar sind.

2 Die zitierten Aussagen der Interviewpartner sind in Kursiv abgedruckt.

3 Als Experten gelten Menschen, die in Hinblick auf den „interessierenden Sachverhalt als <Sachverständige> in besonderer Weise kompetent sind“ (Deeke 1995: S.7f.) Im Rahmen des Experteninterviews soll ihr spezielles Prozess- und Deutungswissen in Erfahrung gebracht werden. (vgl. Flick 2011: S.214f.)

4 Im Jahr 2005 wurde die von der FEANTSA entwickelte ETHOS-Typologie veröffentlicht (European Typology of Homelessness and Housing Exclusion). Die vor allem für die statische Erhebung festgehaltene Definition wird unter anderem von der bawo (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe) und dem BAG Wohnungslosenhilfe e.V. standardmäßig verwendet. Sie dienen der Feststellung von Wohnungslosigkeit, sowie der Entwicklung, Begleitung und Auswertung von Wohnungslosenpolitik.

5 Begriff stammt ca. aus dem 8. Jahrhundert

6 Das Konstrukt des sozialen Raums wird im Zweiten Teil/ Kapitel 1 weiter erläutert.

7 Ob sich jedoch tatsächlich eine gemeinsame Position auf der Straße lebender Obdachloser im sozialen Raum festmachen lässt, wird in der Fragestellung im Zweiten Teil der Ausarbeitung behandelt.

8 Der öffentliche Raum umfasst an dieser Stelle Gebiete im staatlichen bzw. kommunalen Eigentum, die von der öffentlichen Hand verwaltet werden. Er umfasst alle, für jede frei zugängliche Orte der Öffentlichkeit. Für den Mensch als soziales Wesen spielt er eine herausragende Rolle: Als Ort der Kommunikation, des Handelns, der politischen Willensbildung etc. (vgl. Neupert 2010: S.4)

9 Gesellschaft für Organisation und Entscheidung/ Bielefeld

10 Der Begriff der Kommodifizierung stammt ursprünglich aus der marxistischen Literatur und beschreibt den Prozess des Zur-Ware-Werdens in der kapitalistischen Gesellschaft: „In ihr wird letztlich alles zur Ware, auch Menschen (als Arbeiter, Patienten etc.), soziale Beziehungen oder etwa die Zeit“ (Rosa et. al: 2007: S.40)

Ende der Leseprobe aus 73 Seiten

Details

Titel
Straßenobdachlosigkeit
Untertitel
Sozialstrukturell bedingtes Risiko oder schichtunabhängiges Einzelschicksal?
Hochschule
Technische Universität Darmstadt  (FB2 Soziolgie)
Veranstaltung
Bachelorthesis
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
73
Katalognummer
V287739
ISBN (eBook)
9783656879596
ISBN (Buch)
9783656879602
Dateigröße
722 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Obdachlosigkeit, Straßenobdachlosigkeit, Sozialstruktur, Wohnungslosigkeit, Wohnungslose, Straßenzeitung, Kältetote, Hilfesystem, Armenfürsorge, Obdachlosenheim, Notunterkunft, Wohnungsverlust, Wohnverhältnis, Zuchthaus, Bettler, Wanderschaft, Unsesshaft, Nichtsesshaftigkeit, Wanderarme, Vagabunden, Wohnungslosenhilfe, Wohnraum, Wohnungserhalt, Mietschuldenübernahme, Deklassierung
Arbeit zitieren
Tobias Schneider (Autor:in), 2014, Straßenobdachlosigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/287739

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Titel: Straßenobdachlosigkeit



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