Don Juan. Künstlertum und Musikästhetik in E. T. A. Hoffmanns Erzählungen


Bachelorarbeit, 2014

52 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Körper-Geist Dualismus und Künstlertum im Werk E. T. A. Hoffmanns

Biographischer Hintergrund

Das serapiontische Prinzip und die Duplizität allen Seins

Wahres Künstlertum am Beispiel des Ritter Gluck

E. T. A. Hoffmanns Ästhetik des Erhabenen

Das „Geisterreich“ der Musik

Die Entstehung der romantischen Musikästhetik

Die Metaphysik der Instrumentalmusik

Instrumentalmusik und Oper

Der Komponist Hoffmann

Don Juan als literarischer Topos

E. T. A. Hoffmanns Don Juan

Literaturverzeichnis

Don Juan.

Künstlertum und Musikästhetik in E. T. A. Hoffmanns Erzählungen.

Einleitung

In einer chinesischen Erzählung versammelt ein alter Maler seine Freunde, um ihnen sein letztes Bild zu zeigen. Ein Park ist darauf abgebildet, durch den sich ein Weg vorbei an Bäumen und Bächen schlängelt, bis zur kleinen roten Tür eines Palastes. Die Freunde betrachten das Bild, doch als sie sich umwenden, ist der Maler verschwunden. Sie blicken ins Bild. Dort geht er den Weg entlang, kommt bis zur Tür und öffnet sie. Dann dreht er sich noch einmal um, winkt und verschwindet im Bild, die Tür hinter sich schließend.[1]

Dieses Verschwinden des Malers kann als Rückkehr gesehen werden, die durch eine Sehnsucht nach Einheit motiviert ist. Verloren wurde diese ursprüngliche Einheit mit der Erlangung des Bewusstseins. Ein >Selbst< kann es nur geben, wenn die Unterscheidung von der Welt vollzogen ist, wenn Sein und Bewusstsein auseinanderklaffen.

Die Erlangung von Bewusstsein ist dabei ambivalent, da sowohl Trennung, als auch Freiheit die Folge sind. Die biblische Geschichte von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies durch das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis handelt von dieser Trennung und dem Freiheitsgewinn als Unterscheidung zwischen gut und böse. Von der verlorenen Einheit handelt auch Heinrich von Kleists Essay Über das Marionettentheater (1810). Ein Schauspieler erkennt hier, dass er seine Kunst im Vergleich zu einer Marionette nur unvollkommen beherrscht. Der Gliedermann besitzt nämlich einen Schwerpunkt, von dem alle organischen Bewegungen ausgehen. Diesen Schwerpunkt, an dem also die Seele sitzen müsste, hat der Mensch längst verloren. Es bleibt also für ihn nur noch die Möglichkeit, durch Technik die ursprüngliche Perfektion zu erreichen. Es muss die Reise um die Welt angetreten werden, um zu sehen, ob das Paradies von der anderen Seite offen steht.

Da am Eingang des Paradieses von Gott jedoch ein Posten aufgestellt wurde, ist die Grenze nicht ohne weiteres zu überqueren. Dabei ist es vor allem die Kunst der Romantik, welche versucht, Grenzen aufzuheben und zu verwischen. Der Versuch einer Rückkehr zur Einheit findet dabei in einem Zustand der Ununterscheidbarkeit statt. Die Grenzen zwischen Künstler und Kunst, Subjekt und Objekt, Selbst und Welt verschwimmen. Im Symbol ereignet sich dabei die Anwesenheit des Bezeichneten im Bezeichnenden. Das Kunstwerk zeigt sich dabei als Ort der utopischen Entgrenzung durch die phantastische Kraft der Kunst.

Im Werk E. T. A. Hoffmanns gibt es ebenfalls Figuren, die in der Welt der Kunst verschwinden. In seiner Künstlernovelle Don Juan ist es die Sängerin und Darstellerin der Donna Anna aus Mozarts Oper Don Giovanni, die sich mit ihrer Rolle so sehr identifiziert, dass sie am Schluss darin verschwindet ohne wiederzukehren.

Für E.T.A. Hoffmann war die Musik die Ahnung des verlorenen Paradieses. In der Kunst konnte es Momente des Eins-Seins geben, den Vorgeschmack der Unendlichkeit. Obwohl diese Einheit auf Erden nicht zu erreichen war, begaben sich viele Romantiker auf die Suche. Heinrich von Ofterdingen ist auf der Suche nach der blauen Blume. Auf die Frage wohin er unterwegs sei, erwidert er stets: immer nach Hause! Die Frühromantik erkannte das Leiden als das principium individuationis.[2] Dieser Drang nach Überwindung der irdischen Unzulänglichkeiten setzt eine starke Empfindung der Trennung voraus. Man muss seine Existenz als sehr gespalten und unvollkommen empfinden, um sich überhaupt auf die Suche nach der blauen Blume zu begeben.

E.T.A. Hoffmann findet dafür den Vergleich mit der Prometheussage. Prometheus stahl himmlisches Feuer, um damit seine toten Geschöpfe zu beleben. Dies blieb von den Göttern jedoch nicht ungestraft. „Die Brust, die das Göttliche geahnt, in der die Sehnsucht nach dem Überirdischen aufgegangen, zerfleischte der Geier, den die Rache geboren und der sich nun nährte von dem eignen Innern des Vermessenen.“[3] Seitdem tragen die Menschen jedoch den göttlichen Funken im Herzen.

In der abendländischen Philosophie findet sich diese Grunderfahrung der Zerrissenheit schon in Platons σῶμα σῆμα. „Der Leib ist das Grab der Seele“[4]. Diese Auffassung begründet den platonischen Dualismus von Wirklichkeit und Erscheinung, Idee und Sinnesobjekt, Vernunft und sinnliche Wahrnehmung und von Seele und Leib. Die Nachwelt interpretierte diese Stelle meist als Aufruf zu Askese und Körperfeindlichkeit. Spuren davon lassen sich auch bei E.T.A. Hoffmann finden, der die Welt als grundsätzlich dualistisch empfand.

Körper-Geist Dualismus und Künstlertum im Werk E. T. A. Hoffmanns

In E. T. A. Hoffmanns Werk zeigt sich die Grunderfahrung der Zerrissenheit. Als „Mißverhältnis des innern Gemüts mit dem äußern Leben“[5], „Duplizität“[6], „chronischer Dualismus“[7] und „Dissonanz der Erscheinungen“[8] wird die Lebensauffassung der Helden in Hoffmanns Werk beschrieben.

An Hoffmanns Person fällt zunächst eine explizite Körperfeindlichkeit auf, eine Verfeindung mit dem eigenen Körper, der als Hindernis und Gefängnis verstanden wird.[9] „Ich habe einen Künstlerkörper“, schreibt er in einem Brief, „er wird bald gar nicht mehr zu brauchen sein und ich werde mich empfehlen ohne ihn mitzunehmen.“[10] Hoffmann war selbst von kleinem Wuchs, hatte einen großen Kopf und wirkte etwas verwachsen. Auch die Charaktere seiner Werke leiden oft unter ihrer Körperlichkeit. Am offensichtlichsten ist dies an der Novelle Berganza zu sehen. Der Hund Berganza liebt die schöne Cäcilie bis zur hündischen Raserei. Doch aufgrund seiner tierischen Gestalt fehlen ihm die Mittel, sich verständlich zu machen. Der Hundekörper schließt jede Annäherung aus und wird so zur Schranke des Begehrens. Die Angebetete wird schließlich das Opfer eines Lüstlings, der statt Berganzas hohem Gefühl nur Sinnlichkeit zu bieten hat.

Hoffmanns literarische Werke können zum großen Teil als Variation der platonischen Dualität bezeichnet werden, die sich in den Themen Imagination versus Verkörperung und Kunst versus bürgerliches Leben manifestiert. Im Roman Die Elexiere des Teufels entdeckt der junge Medardus das körperliche Begehren als fremden Teil seines Ichs. Er schließt sich, oder das, was er für sein wahres Selbst hält, im Kloster ein. Währenddessen bleibt sein abgespaltenes Ich, der Doppelgänger, außerhalb des Klosters und versucht, sich wieder mit Medardus zu vereinigen. Die fragmentarischen Ich-Teile drängen zueinander, Medardus steht vor der Vereinigung mit sich selbst oder gänzlicher Ich-Spaltung. Der Doppelgänger dringt ins Kloster ein und Medardus wird durch den Trank der teuflischen Elexiere vergiftet, sodass sich die Rollen nun vertauschen. Das falsche Selbst von außerhalb des Klosters wird nun zu Medardus‘ wahrem Ich. Am Ende des Romans kehrt Medardus ins Kloster zurück, doch bevor er dieser Existenzform zustimmen kann, muss Aurelie getötet werden. Der Doppelgänger übernimmt die schmutzige Tat und Medardus kann nun seine Geliebte religiös verklären. Der Vorgang der Idolisierung ist hier konsequent zu Ende erzählt. Die Körperverfeindung endet dabei in einer symbolischen Vernichtung der Körperlichkeit.

Welche Bedeutung hat ein Ideal aber für den Künstler? Für Hoffmann stand fest, dass jeder wahre Künstler seine Muse braucht, sein Idol, das als Erscheinung gegenwärtig ist. Dieses Verhältnis von Künstler und Idol erzählt der Dichter anhand der Lebensgeschichte des Malers Berthold in der Novelle Die Jesuiterkirche in G. Der junge Maler Berthold bricht nach Rom auf, um dort die höheren Weihen der Landschafts- und Portraitmalerei zu empfangen. Bei verschiedenen Meistern kann er sich technisch weiterbilden, sodass er bald Landschaften naturalistisch auf die Leinwand bannen kann. Die Werke gelten als gelungen, doch Berthold ist nicht zufrieden. Er wendet sich der Portraitmalerei zu und kopiert alte Meister, doch „alles Leben des Originals fehlte“. Er begegnet schließlich einem alten Mann, der ihm das Geheimnis der Kunst erklärt. Der heilige Zweck der Kunst ist die „Auffassung der Natur in der tiefsten Bedeutung des höheren Sinns, der alle Wesen zum höheren Leben entzündet“[11]. Es ist die Sprache der Natur, die es zu lernen gilt. Berthold versucht nun auf die Hieroglyphenschrift in seinem Inneren zu hören, was ihm auch gelingt. Aber die praktische Umsetzung, das Abzeichnen der Lichtgestalt, die ihm im Innersten erschienen ist, misslingt. Da erscheint ihm in einer Vision eine Frauengestalt die er als die Lichtgestalt, sein Ideal erkennt. Nach der Vision erlebt er eine Schaffensphase. „Wie von göttlicher Kraft beseelt, zauberte er mit der vollen Glut des Lebens das überirdische Weib, wie es ihm erschienen, hervor.“[12] Die Betrachter finden in dem Portrait große Ähnlichkeit mit der Prinzessin Angiola, was Berthold unmöglich erscheint. Durch einen Schicksalsschlag begegnet er schließlich der Prinzessin Angiola und erkennt in ihr sein Ideal. Er rettet sie aus Feindeshand und heiratet sie. Scheint nun das Glück vollkommen, so muss Berthold bald mit Schrecken feststellen, dass seine Kreativität erlahmt. „Starr und leblos blieb, was er malte, und selbst Angiola – Angiola, sein Ideal, wurde, wenn sie ihm saß und er sie malen wollte, auf der Leinwand zum toten Wachsbilde, das ihn mit gläsernen Augen anstierte.“[13] Aus Verzweiflung entledigt sich Berthold am Ende auf unbekannte Weise seiner Frau und bleibt forthin ein gebrochener Mensch. Der Moment, in dem sein Ideal aufhört ein solches zu sein, ist die Heirat. In der Kulturtheorie bedeuten Liebe und Heirat zwei völlig gegensätzliche Begriffe. Die Ehe ist dabei als Repräsentant der symbolischen Ordnung der Liebe entgegengesetzt, die danach strebt, alle Grenzen aufzulösen.

Nach Platon können Ideen nur in der geistigen Schau erblickt werden. Solange wir jedoch im Körper leben, ist dieser Blick der Seele jedoch getrübt und die Sehnsucht nach Wahrheit kann nicht gestillt werden. Die Seele „ist an ihren Körper gefesselt und mit ihm verwachsen, gezwungen die Wirklichkeit durch den Körper zu sehen wie durch Gitterstäbe, anstatt durch ihre eigene ungehinderte Sicht."[14] Es entsteht die Idee der vom Körper gereinigten Seele.

„Und so mögen diejenigen, welche uns die Weihen angeordnet haben, gar nicht schlechte Leute sein, sondern schon seit langer Zeit uns andeuten, wenn einer ungeweiht und ungeheiligt in der Unterwelt anlangt, daß der in den Schlamm zu liegen kommt, der Gereinigte aber und Geweihte, wenn er dort angelangt ist, bei den Göttern wohnt.“[15]

Platon bedient sich hier einer mystischen Sprache und orphischen Vorstellungen, deren Ursprung in den griechischen Mysterien lag. E.T.A. Hoffmann entwickelte ganz ähnliche Gedankengänge. So spricht er auch von einer inneren, wahren Schau, „Schlamm“[16], von dem man gereinigt werden müsse. Im Unterschied zu Platon ist es jedoch der Künstler, der am Göttlichen teilhat. Die Kunst erhält hier die Aufgabe und die Wirkmächtigkeit, den Menschen von seinen irdischen Bindungen loszulösen, sei es auch nur für eine gewisse Zeit.

„Es gibt keinen höheren Zweck der Kunst“, schreibt er im Berganza, „als in dem Menschen diejenige Lust zu entzünden, welche sein ganzes Wesen von aller irdischen Qual, von allem niederbeugenden Druck des Alltagslebens, wie von unsaubern Schlacken befreit, und ihn so erhebt, daß er, sein Haupt stolz und froh emporrichtete, das Göttliche schaut, ja mit ihm in Berührung kommt.“[17]

Im Bereich der Kunst stellt sich der Dualismus als einer von Geist und Materie dar. Obwohl auf den ersten Blick ein unversöhnlicher Gegensatz, zeigen sich Bezüge aufeinander. Nach Platons Ideenlehre ist die Idee reiner Geist, der in der Materie in Erscheinung tritt. Die Idee als reine Form ist zwar nicht auf ihre materielle Existenz angewiesen, doch benötigt die formlose Materie die Idee als formgebendes Prinzip. Das musikalische Material erweist sich dabei als geistfähiges Material (Hanslick), als Ergebnis eines dialektischen Prozesses, das Geistiges und Stoffliches vereint.

Dem Musiker drängt sich dabei der Gedanke auf, dass Musik, um zu erklingen immer eines Instruments oder Körpers bedarf. Dieses Verhältnis von Körper und Musik ist das Thema von Hoffmanns Erzählung Rat Krespel. Der kauzige Rat hat eine einzige Tochter, Antonie, die er mit Argusaugen bewacht. Das Geheimnis um die scheue Tochter wird noch erhöht, als die Tochter eines Abends im Hause zu singen beginnt, wie es die Menschen so noch nicht gehört haben. „Der Klang von Antoniens Stimme war ganz eigentümlich und seltsam oft dem Hauch der Äolsharfe, oft dem Schmettern der Nachtigall gleichend. Die Töne schienen nicht Raum haben zu können in der menschlichen Brust.“[18] Der Gesang bricht jedoch jäh ab und seitdem hat man Antonie nicht mehr singen gehört. Später erfährt der Leser, dass sie an einer tödlichen Krankheit leidet und das Singen früher oder später ihren Tod zur Folge haben würde. Rat Krespel beschäftigt sich jedoch weiterhin mit Musik, indem er alte Geigen immer nur einmal anspielt und sie dann auseinandernimmt, um hinter das Geheimnis ihres Klanges zu kommen. Auf die Frage, warum er eine besonders alte Geige immer noch nicht zerlegt habe, antwortet er, dass er überzeugt sei, in dieser Geige das Geheimnis des Klanges zu finden, da dieses Instrument, das eigentlich nur aus Holz besteht, zu ihm spreche. Der Grund, warum er die Geige schont, ist, dass aus ihr die Stimme Antoniens erklingt. Eines Nachts hört Krespel den Gesang seiner Tochter mit Klavierbegleitung im Traum und sieht sie umschlungen mit ihrem Pianisten und Bräutigam. Die Musik schien jedoch nicht durch sie gespielt und gesungen zu sein. Als der Rat erwacht stürmt er in Antoniens Zimmer. „Sie lag mit geschlossenen Augen, mit holdselig lächelndem Blick, die Hände fromm gefalter, auf dem Sofa, als schliefe sie und träume von Himmelswonne und Freudigkeit. Sie war aber tot.“[19] „Als sie starb“, berichtet der Rat, „zerbrach mit dröhnendem Krachen der Stimmstock jener Geige, und der Resonanzboden riß sich auseinander“[20]. Die Kunst war für Antonie tödlich. Ihr Gesang war für ihren Körper zu groß, schien dort keinen Raum haben zu können und strebte zur Einheit mit dem Kunstwerk. Die Seele wollte ihren Kerker verlassen.

Der Ton als Material der Musik ist nach Hegel sogar die Negation der Körperlichkeit und Räumlichkeit.[21] Dadurch, dass gewisses sinnliches Material seine ruhige Existenz aufgibt, entsteht ein Ton. Er kann über das Gehör aufgenommen werden. Körper können nur aufgrund ihres Erzitterns, ihrer Schwingung als ihrer räumlichen Negation wahrnehmen werden. In dem Verklingen des Tons zeigt sich die Negation der Schwingung. Wegen dieser doppelten Negation der Körperlichkeit ist Musik die metaphysischste Kunst.

Der Gegensatz und Dualismus von Geist und Materie oder Seele und Körper ist jedem Menschen von Natur aus eigen, da ein Mensch immer ein körperliches und geistiges Wesen gleichzeitig ist. Es gibt jedoch verschiedene Möglichkeiten darauf zu reagieren und damit umzugehen. Man kann sich entweder als körperliches Wesen begreifen und in der materiellen Existenz aufgehen oder schon zu Lebzeiten das Reich der reinen Geistigkeit anstreben. Die Romantik neigte häufig dazu, alle Menschen in diese Schubladen einzuteilen und nach schwarz-weiß Kategorien zu werten. Diese Positionen nahmen auf der einen Seite der Künstler, auf der anderen der Philister ein. Der Philister oder Spießbürger ist dabei ein Mensch, der sich auf die rein sinnliche und physische Existenz beschränkt, der die begrenzte und nicht transzendierende bürgerliche Lebensform für Vollendung hält. Er gleicht einem Gefängnisinsassen, der es sich im Gefängnis gemütlich einrichtet, anstatt sich zu fragen, warum er überhaupt gefangen ist und wie er der Gefangenschaft entfliehen kann. Er wird vom Künstler verachtet, der sich als metaphysisches Wesen begreift und an einer eindimensionalen Gesellschaft leidet. Der Philister ist daher der eigentlich eindimensionale Mensch.[22] Er tritt bei Hoffmann in verschiedenen Gestalten auf. Als Beamter, der im Traum Akten sucht (Der goldene Topf), als Rationalist und Aufklärer (Klein Zaches) und schließlich als Automat (Der Sandmann). Allen Philistern gemeinsam ist die übermächtige instrumentelle Vernunft und das völlige Versinken in der Außenwelt. Sie beurteilen Dinge und Menschen in reduktionistischer Weise auf ihre Verwertbarkeit hin, das Mittel wird zum Zweck und die Vernunft zum Wahnsinn. Hoffmann drückt seine Abneigung mit den Worten „Maschinen, Menschen und Mottengeschmeiß“[23] aus. Es geht die Automatenfurcht um.

In Hoffmanns Erzählung Der Sandmann verfällt der Student Nathanael der schönen Olimpia, einem Automat des Professors Spalanzani, der diesen als seine Tochter ausgibt und in die Gesellschaft einführt. Olimpia kann sehr gut Klavier spielen und singen, jedoch mit „schneidender Stimme“[24]. Zur Teegesellschaft erscheint sie auch, kann jedoch nur ein einziges Wort sprechen: „Ach!“[25]. Nathanael ist verzaubert, allen anderen erscheint ihr Wesen als kalt. Nathanal kann sich stunden lang mit Olimpia unterhalten. Da diese außer Seufzen nichts erwidern kann, wähnt er sich von ihr als aus tiefem Herzen verstanden. Als die Wahrheit des Automatentums aufgedeckt wird, wird Nathanael wahnsinnig und begeht Selbstmord. Die übrigen Bekannten Olimpias werden misstrauisch gegenüber ihren Mitmenschen. „Die Geschichte mit dem Automat hatte tief in ihrer Seele Wurzel gefasst, und es schlich sich in der Tat abscheuliches Misstrauen gegen menschliche Figuren ein. Um nun ganz überzeugt zu werden, daß man keine Holzpuppe liebe, wurde von mehrern Liebhabern verlangt, daß die Geliebte etwas taktlos singe und tanze, daß sie beim Vorlesen stricke, mit dem Möpschen spiele u.s.w. [...] Das Liebesbündnis vieler wurde fester und dabei anmutiger, andere dagegen gingen leise auseinander.“[26]

Der Automat besteht aus dem bloßen corpus, der ohne Seele ist. Interessant ist, dass die Seelenlosigkeit und Leblosigkeit Olimpias von der Teegesellschaft gar nicht bemerkt wird und dem Konzertpublikum nur als Vermutung erscheint. Sie kann als Automat in der Gesellschaft ganz gut bestehen. Ihr Seufzer kann auch Ausdruck einer empfindsamen Seele sein. Der Automat Olimpia stellt also die Extremform einer in der Außenwelt aufgehenden Existenz dar, ein nicht mehr steigerbarer Mangel an Leben. Ihr Musizieren zeigt, wieviel Technik eigentlich in einer einfachen kammermusikalischen Darbietung steckt. Hoffmann war, wie die meisten seiner Zeitgenossen, von der technischen Innovation, die menschenähnliche Automaten schuf, zugleich angezogen und abgestoßen. Die Möglichkeit mithilfe von technischen Mitteln geistige Kunst zu erzeugen, wertete er als Hybris.

Bei Hoffmann gibt es zwischen den extremen Positionen noch die dritte, dialektische Lösung, wonach Geistigkeit und Körperlichkeit des Menschen gleichermaßen anerkannt und vereint werden sollten.

Hoffmann stellt diese unterschiedlichen Menschentypen in seinem Märchen Der goldene Topf dar. Der Student Anselmus, ein poetisches Gemüth, steht dabei zwischen den Polen der Bürgerlichkeit und Poesie. Das Verhängnis beginnt, als er am Himmelfahrtstage plant, sich im Linkischen Volksbade in Dresden bürgerlicher Zerstreuung hinzugeben und dabei aus Ungeschicklichkeit ein Apfelweib umrennt, dessen Äpfel zu Boden rollen. Dieses Weib verflucht ihn nun, indem sie ihm ein Glasgefängnis prophezeit. Da er zudem den Schaden bezahlen muss und nun kein Geld mehr hat, legt sich Anselmus unter einen Hollerbusch um die nächste Straßenecke. „Da fing es an zu flüstern und zu lispeln, und es war, als ertönten die Blüten wie aufgehangene Kristallglöckchen.“[27] Erstaunt bemerkt er, dass sich kleine Schlangen um die Zweige winden, die zu ihm in der Sprache der Natur sprechen. „[...] ein Paar herrliche dunkelblaue Augen blickten ihn mit unaussprechlicher Sehnsucht an, so daß ein nie gekanntes Gefühl der höchsten Seligkeit und des tiefsten Schmerzes seine Brust zersprengen wollte.“[28] Die Augen gehören der Schlange Serpentina, die nun zu Anselmus‘ idealer Geliebter wird. Doch bald darauf verblasst das holde Bild und Anselmus begibt sich in die Gesellschaft des Konrektors Paulmann, seiner Tochter Veronika und des Registrators Heerbrand in der Pirnaer Vorstadt, der bürgerlichen Gegenwelt. Veronika wirbt nun ebenfalls um Anselmus, anders als Serpentina, aber mit sinnlichen Reizen. Sie erblickt in dem Studenten vor allem den zukünftigen Hofrat und eine gute Partie; ihr Traum ist ein Mann, der eine bürgerliche Beamtenkarriere absolviert. Neben Anselmus findet sie außerdem Gefallen am Registrator Heerbrand, einem aus romantischer Perspektive typischen Philister, der sogar im Traum noch nach Akten sucht. Heerbrand ist es jedoch, der Anselmus als studentische Hilfskraft beim Archivarius Lindhorst einführt. Dieser rätselhafte Mensch hat einerseits als Archivar eine bürgerliche Stellung, ist aber eigentlich ein Salamanderfürst aus dem Land Atlantis. Dies findet Anselmus heraus, als er im Hause des Magiers als Kopist arbeitet, wobei ihm Serpentina geistige Hilfe leistet. Im Haus steht ebenfalls der goldene Topf, der als magischer Gegenstand Gralseigenschaften besitzt. Doch durch den Zauber des Apelweibes verliert Anselmus den Glauben an Serpentina. Zur Strafe wird er in ein enges Glasgefäß eingesperrt.

„Du bist von blendendem Glanze dicht umflossen, alle Gegenstände rings umher erscheinen dir von strahlenden Regenbogenfarben erleuchtet und umgeben – [...] du schwimmst regungs- und bewegungslos wie in einem festgefrornen Äther der dich einpreßt, so daß der Geist vergebens dem toten Körper gebietet.“[29]

Zu seinem Erstaunen bemerkt Anselmus, dass in weiteren Glasflaschen einige seiner Kommilitonen eingesperrt sind. Doch als er sie darauf anspricht, zeigt es sich, dass sie ihre Gefangenschaft gar nicht bemerken. Anselmus kann sich schließlich durch seinen Glauben an Serpentina aus dem Gefängnis befreien. Der Erzähler kann seinen Aufenthalt nur in einer Vision erfahren, die ihm der Archivarius ermöglicht. „Der Archivarius Lindhorst verschwand, erschien aber gleich wieder mit einem schönen goldnen Pokal in der Hand aus dem eine blaue Flamme hoch emporknisterte. >Hier<, sprach er, >bringe ich Ihnen das Lieblingsgetränk Ihres Freundes des Kapellmeisters Johanndes Kreisler. – Es ist angezündeter Arrak in den ich einigen Zucker geworfen [...]<, warf den Schlafrock schnell ab, stieg zu meinem nicht geringen Erstaunen in den Pokal und verschwand in den Flammen.“[30] Der Erzähler kann nun Anselmus sehen, wie er in einer Liaison mit Serpentina im fernen Reich Atlantis wohnt. Veronika verheiratet sich jedoch mit dem Hofrat Heerbrand.

Auf den ersten Blick scheint damit ein Beispiel eines idealen Lebensentwurfs gegeben zu sein. Anselmus hat sich von aller bürgerlicher Verstrickung gelöst und kann nun vollkommen in poetischen Gefilden wohnen. Doch das Ende des Märchens steckt voll romantischer Ironie. Der Erzähler schildert das neue Leben des Anselmus in Atlantis mit einem Augenzwinkern. Zudem darf der goldene Topf und der Pokal des Archivarius keineswegs als Allegorie gedeutet werden, sondern ganz real als eine Verklärung der Weinseligkeit. Damit wird gleichzeitig die Künstlichkeit dieses Paradieses offenbar. Die eigentlich gelungene Existenz ist in der Figur des Archivarius Lindhorst angedeutet. Zwischen der Gegensätzlichkeit von Anselmus und Heerbrand ist er ein Wesen der Verwandlung, ein Salamander. Als Magier und Herr des goldenen Topfes beherrscht er die Kunst in zwei Welten zu wohnen. Die Beamtenkarriere als bürgerliche Variante der Verwandlung und die absolute Vergeistigung stellen demgegenüber Extremformen dar. Die Figur des Archivarius ist daher der eigentliche Gegenentwurf, den Hoffmann seiner (spieß-) bürgerlichen Umgebung entgegenhält. Die Frage nach dem richtigen Leben stellte sich E.T.A. Hoffmann jedoch nicht nur in der Kunst. Inwieweit Kunst und Leben diegleichen Fragen stellen und ob sich eine Verbindung beider Bereiche ergibt, soll ein biographischer Ausschnitt zeigen.

Biographischer Hintergrund

Ein Blick auf die Biographie des Künstlers und die Zeit und Gesellschaft, in der er lebte, soll helfen, dessen Kunst besser zu verstehen. Dabei darf jedoch nicht der Fehler geschehen, Kausalitäten zwischen Leben und Kunst aufzuzeigen, um so eine Erklärung und Deutung des Kunstwerks zu finden. Biographismus, Historismus oder eine soziologische Ananlyse greifen zu kurz und stellen gegenüber Kunst einen unzulässigen Reduktionismus dar. Statt eine Analogie zwischen Werk und Biographie aufgrund von Inhalten zu finden, sollen stattdessen analoge Strukturen aufgezeigt werden. Ein strukturalistischer Vergleich bietet die Möglichkeit der Gegenüberstellung, die von Interpretation frei ist.

Ebenso darf der Künstler nicht als Produkt der Gesellschaft und Sprachrohr der Epoche und Kunst nicht als bloßer Ausdruck ihrer Zeit gesehen werden. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und von Kunst und Gesellschaft erweist sich als komplexer und nach Adorno, als ein dialektisches. „Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form.“[31]

Die in E.T.A. Hoffmanns künstlerischem Werk vorherrschende Struktur ist die eines Dualismus. Das menschliche Dasein ist gekennzeichnet durch eine Zerrissenheit zwischen der Sehnsucht nach dem Göttlichen, das in der Kunst aufscheint und dem prosaischen Alltag. Dies offenbart sich in einer Gegenüberstellung von Künstler und Philister, Phantasie und Realität.

Diese Zerrissenheit empfand Hoffmann sehr stark, wie anhand von Briefen und Tagebüchern gezeigt werden kann.

Im Jahr 1776 kam Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann im ostpreußischen Königsberg zur Welt. Er wird später seinen dritten Vornamen in Amadeus umbenennen, als Hommage an Mozart. Die Familienverhältnisse des Jungen waren dabei eher ungewöhnlich. Der Vater, ein Jurist, war bald nach der Geburt des Sohnes verschwunden, die Mutter zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Halt fand der Junge zunächst bei seiner jüngsten Tante, die auch für Kreisler eine Rolle spielt. Mit ihr verband Hoffmann vor allem Gesang und Lautenspiel, sie war der Inbegriff einer künstlerischen Welt. Als sie starb, brach für den Dreijährigen die Welt der Kindheit zusammen. Nach ihrem Tod datiert er seine Elternlosigkeit. Im Kreislerroman wird der Verlust der Tante des Erzählers ausführlich beschrieben. Im Jugendalter meint der Erzähler die Tante in einem Nonnenchor wiederzuentdecken. Sie spielte dort ein Instrument, dessen Ton sein „Innerstes durchbebte“[32], sodass die Erinnerung deutlich wieder aufsteigt. Die Verbindung von frühkindlichem Alter, das einem später als paradiesischer Zustand erscheint mit einer weiblichen Gestalt, die Musik spielt, setzt sich als Schema in Hoffmanns Werken fort. So wird der Künstler sehr oft durch die Stimme einer Sängerin verzaubert.

Sozusagen die Antifigur zur geliebten Tante verkörperte ihr Bruder Otto Wilhelm Doerffer, ein in seiner bürgerlichen Karriere als Jurist gescheiterter Mensch, der seinem innerlich leeren Leben, durch äußerliche Pedanterie und Sekundärtugenden, einen Halt zu geben sucht. Er war der einzige Mann im Haus und sollte daher eine Erzieher- und Vaterrolle erfüllen. Hoffmann konnte diesen Menschen nicht nur nicht ganz ernst nehmen, er war für ihn auch die Verkörperung des Spießbürgers und seine Erzieherfunktion empfand er als Anmaßung. Da es also an einer Autoritätsperson mangelte, kam es bei Hoffmann nie zu einer Verinnerlichung der bürgerlichen Werte und Normen. Dennoch konnte er sie auch nie ganz abschütteln, er spürte ihren Druck, sodass Hoffmann die Kunst des Sowohl-als-auch pflegte. Eine innere Freiheit, mit der Außenwelt spielen zu können, Nichtbelangbarkeit und eine Verwandlungslust, die mehrere Identitäten zulässt, sind die Folge. Auf der anderen Seite ist es ebenfalls der Onkel, der Hoffmann zuerst im Klavierspiel unterrichtete, das er mit „barbarischer Virtuosität“[33] beherrschte. Was damit gemeint ist zeigt eine Stelle aus dem Kreislerroman, wo der Erzähler am Klavierunterricht verzweifelt. „Ich gab mir viele Mühe, aber je mehr ich des Mechanischen Herr wurde, desto weniger wollte es mir gelingen, jene Töne, die in wunderherrlichen Melodien sonst in meinem Gemüte erklangen, wieder zu erlauschen.“[34] Der Onkel betrachtete das Klavierspiel mehr als eine Fertigkeit und Korrektheit im Spiel und richtiger Takt waren seine höchsten Maßstäbe für diese Kunst.

Die Familie und äußeren Verhältnisse sind es auch, die Hoffmann sein Jurastudium beginnen lassen. Er erfüllte damit die Erwartungen seiner Familie an ihn und benötigte wegen der finanziellen Zwänge einen >Brotberuf<. Stets wird er mit diesem Los hadern, was ihn jedoch nicht daran hinderte ein geradezu vorbildlicher und brillanter Jurist zu werden. Doch empfand er seinen Beruf als „ekelhafte Puppe, welche die schönen Fittiche des Kunstgenius einzuschließen strebt, bis sie gewaltsam durchbrechen.“[35] Hoffmann war seinem Selbstverständnis nach Künstler. Dabei gab es für ihn zuächst mehrere Möglichkeiten, da er sich zeitlebens als Musiker, bildender Künstler und Schriftsteller betätigte. Während der ersten Beamtenjahre schwankte er zwischen den einzelnen Künsten. Er überlegte, ob er eher Musiker oder Maler werden sollte. Später fiel die Wahl eindeutig auf den Musiker. Er wünschte sich, „daß sein Name nicht anders als duch eine gelungene musikalische Composition der Welt bekannt werden soll.“[36] Als Ironie der Geschichte ist Hoffmann heute jedoch vor allem als Schriftsteller bekannt.

Als Ausweg stehen dem ungeliebten Beruf die Freundschaft, Liebe und Kunst gegenüber. Hoffmann fand in seiner seit Kindertagen bestehenden Freundschaft zu dem gleichaltrigen Theodor Gottlieb von Hippel einen Raum für die Entfaltung seiner poetischen und phantastischen Art. Es ist eine romantische, schwärmerische Jugendfreundschaft. Doch schließlich bricht die Realität darin ein. Als die Familie Hippel im Jahr 1790 geadelt wurde, legte dies den Grundstein für die zunehmende Entfremdung der Jungen. Hippels Bestimmung war es nun als Adliger zu leben, in einer Welt der Normen und äußerlichen Zwänge. Je weiter nun Hippel in soziale Höhen vordrang, in die Hoffmann nicht folgen konnte, desto mehr wurde die Freundschaft im Briefwechsel idealisiert. Als Hippel ein großes Vermögen erbte, wäre die Gelegenheit für die Realisierung eines phantastischen Künstlerlebens zu zweit gekommen, doch Hippel erwarb mit seiner Erbschaft ein Schloss. Hoffmann, der die Kluft, die sich damit zwischen ihnen aufgetan hatte, nie so recht wahrhaben wollte, wurde sich dieser schlagartig bewusst, als er seinen alten Freund auf dessen neuem Schloss besuchte. Im Jahr 1798, als die Freundschaft mit Hippel bereits erste Risse zeigte, begann Hoffmanns Verhältnis mit Dora Hatt, seiner ersten Liebe. Dora nahm bei Hoffmann Gesangsunterricht, die Zuneigung entzündete sich an der Musik. Dora war jedoch zehn Jahre älter und bereits Ehefrau und Mutter von fünf Kindern. Für Hoffmann war also klar, dass er diese Frau nie >besitzen< durfte, das Verhältnis blieb geheim. Diese Schranke, die Altersunterschied und Konvention darstellten, empfand Hoffmann jedoch als Zumutung, als „Fluch der Natur [...] auf diesem Verhältnisse“[37]. Die Sehnsucht nach einer höheren Liebe aber bleibt. Die Geliebte wird zur Idealgestalt verklärt. „[...] gereinigt von den irrdischen Verbindungen schwebte sie mir entgegen im himmlichen Glanze – ich sah sie, ich fühlte sie, ich hörte ihre Stimme.“[38]

Hoffmann musste nach diesem skandalträchtigen Ereignis Königsberg verlassen. Das Bild, das ihm nach dem Ende der Affäre mit Dora Hatt im Inneren aufging, dieses Ideal, das sich über alle Zumutungen der Außenwelt erhebt, diese Verklärung einer Künstlerliebe, schien zehn Jahre später in Bamberg Realität zu werden. Dort sollte ihn die Leidenschaft für Julia Mark an den Rand des Wahnsinns treiben. Dieses „Julia-Erlebnis“[39] war Hoffmanns existenzielle Krise, die aber gleichzeitig den Beginn seiner literarischen Produktion markierte.

Hoffmann war im Jahr 1810 ins Amt des Theaterdirektors nach Bamberg berufen worden. Er war bereits in einer bürgerlichen Ehe mit seiner Frau Mischa verheiratet, und hatte während der Napoleonischen Kriege die Stellung als Staatsbeamter verloren, sodass nun die Gelegenheit dem beruflichen Leben einen entscheidende Wendung zu geben, gekommen war. Der Traum eines künstlerischen Berufes schien also wahr geworden zu sein. Doch anstatt sich nun mit voller Kraft der Kunst widmen zu können, bestanden Hoffmanns Aufgaben darin, die von ihm als äußerlich verachteten Theatermusiken komponieren zu müssen. Da der Posten zudem schlecht entlohnt wurde, verdiente sich der Kapellmeister als privater Musiklehrer ein Zubrot. Als solcher wurde er von der verwitweten Konsulin Marc als Gesangslehrer für ihre Töchter engagiert. Die ältere, Julia, war zu diesem Zeitpunkt gerade dreizehn Jahre alt. Bald beginnt Hoffmann sich in sie zu verlieben. Wie schon die Beziehung zu Dora (Don Carlos) und die Freundschaft zu Hippel (Der Genius), sieht Hoffmann nun auch Julia durch eine literarische Brille. Die Poetisierung und Literarisierung des Lebens steigert sich nun so stark, dass er an das Lebendigwerden eines Ideals glaubt und Julia zum „Engelsbild aller Herzensgüte, aller Himmelsanmuth wahrhaft weiblichen Sinns, kindlicher Tugend“[40] emporhebt. Das literarische Vorbild fand Hoffmann in Heinrich von Kleists Drama Das Käthchen von Heilbronn. Käthchen ist nach Kleists Aussage die „Kehrseite der Penthesilea, ebenso mächtig durch Hingebung als jene durch Handlung“[41]. Sie verkörpert das unschuldige, einfache Mädchen, das in somnambuler Hingabe und Treue ihrem Geliebten folgt. Käthchens schlichtes Wesen, das Hoffmann faszinierte, ist bei Kleist die „reinste Verkörperung der Grazie“, das mit „märchenhaften Zügen ausgestattete Symbol einer vom Sündenfall unberührten Daseinsart“[42]. Julia Mark ist ungefähr im gleichen Alter wie Käthchen, sie ist schon Frau, besitzt aber noch ein kindliches Gemüth. Die Liebe gegen alle Widerstände und die unbedingte Treue zum Geliebten waren für Hoffmann faszinierend und so kann Käthchen als das Symbol der Utopie, des märchenhaften Gelingens des auf Erden Unmöglichen gesehen werden. Es war vor allem der Gesang Julias, an dem sich die Liebe Hoffmanns entzündete.

Die Tagebucheinträge von 1811-1812, die mehr Notizen und Stammeln sind, sprechen davon. „Ktch – Ktch – Ktch!!!! (Kürzel für Julia, P.U.) exaltirt bis zum Wahnsinn“[43], „Conzert/Duett mit Kth ges[ungen] [...] Anstoßen der poetischen Welt mit der prosaischen. Exaltati[one]/ exaltatione grandissima!!!“[44], „Sonderbare romanesk zärtliche Stimmung Rücksichts Ktch – sie kränkelt, gemeinschaftliche TodesGedanken, sonderbare Blicke in die Tiefe des Herzens!“[45]

Hoffmann erlebt Ahnungen des Wahnsinns und denkt an einen gemeinsamen Liebestod. Nur wenige Monate zuvor war Heinrich von Kleist zusammen mit Henriette Vogel in den Freitod gegangen. Ein Ausbruch ins ferne Italien schien kurzzeitig auch ein verlockender Gedanke zu sein. Das die aporetische Situation lösende Element sollte schließlich von Außen kommen.

Wieder setzen Konventionen einer möglichen Verbindung Schranken. Doch Julia ist bereits im heiratsfähigen Alter und der Altersunterschied zu Hoffmann nichts Skandalöses. Die Misere bedeutet hier vor allem die Unvereinbarkeit von äußerer und innerer Welt, Musik und Ware. Die äußere Realität kam in Gestalt des Kaufmannssohns Graepel nach Bamberg. Dieser Mensch, der für Hoffmann der Inbegriff des Gemeinen, ein Philister und Warenmensch war, sollte nun auf Wunsch der Mutter Julias Bräutigam werden. Julia wurde gewissermaßen von der Mutter auf dem Heiratsmarkt verschachert. Dies empfand Hoffmann umso schlimmer, als Julia für ihn die personifizierte Musik war, die nun zum Objekt gesellschaftlicher Interessen gemacht wurde. Die Musik wird zur Ware. Dies erfuhr Hoffmann auch am eigenen Leibe, an der Geringschätzung seiner Person. Die Bamberger sahen in ihm vor allem den armen, sozial niedergestellten Musiklehrer. Welcher Art war nun aber das Verhältnis des Musiklehrers zu seiner Schülerin?

Aus den Schilderungen Julias wird die Beziehung etwas deutlicher beschrieben.

„Wie oft erschloß Hoffmann mir sein Gemüth, er that es ohne Rückhalt, und mit welchem Schmerz verstand ich dann das tiefe Leid seiner Seele, so jung ich damals auch noch war. Er brachte mir nicht selten sein Tagebuch mit und erklärte dann oft mit hinreißender Beredsamkeit die Hieroglyphen, mit denen er den leidenschaftlichen Zustand seines Innern sich selbst zu bezeichnen pflegte, jedem anderen unleserlich. Stundenlang war er in dieser Weise bei mir allein, immer redend, was Geist und Herz ihm eingab und nie etwas meine Unbefangenheit Störendes. Wie oft äußerte er mir seine Freude, wenn er mich so ganz dem Zauber siner Umganges hingegeben sah. [...] Erst die Stunde, die uns trennte, gab mir seine Liebe in Worten kund; sie erschreckte mich nicht, ich hatte sie, mir selbst kaum bewußt, längst ermpfunden, sie erschwerte mir auch das Scheiden nicht, - ich war stolz und verschloß was ich erlebt hatte, in tiefster Seele [...].“[46]

Hoffmann schüttete offensichtlich sein Herz bei Julia aus. Die Kommunikation war also stark einseitig, Julias Rolle im Gespräch war die eines Spiegels. Für Hoffmann muss dies das Erlebnis einer großen Kommunion (Rousseau) gewesen sein, allerdings mittels der Ausdehnung des eigenen Ich auf das Gegenüber, das Spiegelfunktion erhält.

Julia verlässt Bamberg im Jahr 1812, die Ehe sollte nach fünf Jahren geschieden werden, was im Nachhinein Hoffmann rechtzugeben schien, der Graepel stets aufs äußerste verachtete. Die leibhaftige Julia war zwar verschwunden, doch das Andenken lebte im Künstler weiter. Acht Jahre später schrieb er darüber in einem Brief. „Sagen Sie ihr, daß das Engelsbild aller Herzensgüte, aller Himmelsanmuth wahrhaft weiblichen Sinns, kindlicher Tugend, das mir aufstralte in jener Unglückszeit acherontischer Finsterniß, mich nicht verlassen kan beim leztenhauch des Lebens, ja daß dann erst die entfesselte Psyche jenes Wesen das ihre Sehnsucht war, ihre Hoffnung und ihr Trost, recht erschauen wird, im wahrhaftigen Seyn!“[47]

Hoffmann begann damit, seine Krise literarisch zu verarbeiten. Die literarische Kreativität kam erst nach dem „Julia-Erlebnis“ auf. Zwar hatte Hoffman zuvor schon einzelne Erzählungen und Schriften, wie den Ritter Gluck veröffentlicht, doch das Gros der Erzählungen ist ab 1812 entstanden.

Hoffmann hatte seit längerer Zeit die Idee, eine fiktive Musikerbiographie zu schreiben. Das Vorhaben, einen Roman mit dem Titel Lichte Stunden eines wahnsinnigen Musikers zu verfassen wurde zwar nicht ausgeführt, doch ist schon der Hinweis darauf interessant, da er das Thema der Künstlerliebe beschreibt. „So scheint auch Kreisler durch eine ganz fantastische Liebe zu einer Sängerin auf die höchste Spitze des Wahnsinns getrieben worden zu sein, wenigstens ist die Andeutung darüber in einem von ihm nachgelassenen Aufsatz, überschrieben: Die Liebe des Künsters, enthalten. Dieser Aufsatz, sowie mehrere andere, die einen Zyklus des Rein-Geistigen in der Musik bilden, könnten vielleicht bald unter dem Titel: Lichte Stunden eines wahnsinnigen Musikers, in ein Buch gefaßt, erscheinen.“[48]

[...]


[1] Bernhard Greiner, Hinübergehen in das Bild und Errichten der Grenze. Der Mythos vom chinesischen Maler bei Bloch und Benjamin und Kafkas Erzählung "Beim Bau der chinesischen Mauer", in: J. Wertheimer, Susanne Göße (Hg.), Zeichen Lesen, Lese-Zeichen. Kultursemiotische Vergleiche von Leseweisen in Deutschland und China, Tübingen 1999, S. 178.

[2] Vgl. Novalis, Schriften III, S. 404, zit. nach: Jochen Hörisch, Herrscherwort, Geld und geltende Sätze. Adornos Aktualisierung der Frühromantik und ihre Affinität zur poststrukturalistischen Kritik des Subjekts, in: Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos Konstruktion der Moderne, hrsg. von Burkhardt Lindner und W. Martin Lüdke, Frankfurt a. M. 1979, S. 406.

[3] E. T. A. Hoffmann, Poetische Werke in sechs Bänden, Bd. 2, Berlin 1963, S. 483.

[4] Platon, Gorgias 493a 2-3.

[5] Hoffmann, P.W., Bd. 3, S. 38.

[6] Ebd., Bd. 1, S. 502.

[7] Ebd., Bd. 5, S. 725.

[8] Ebd., Bd. 6, S. 101.

[9] Vgl. Rüdiger Safranski, E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten, München 1984, S. 253ff. Vgl. auch Hippels Bemerkung „und der Körper galt ihm nur, um den Geist zu nähren“, und Helmina von Chèzy, die von Hoffmann redete als von „einem gespenstischen Wesen, an welches die Natur nur das unentbehrlichste Quantum von Fleisch und Bein gewendet hatte, um ihn unter die Körper reihen zu können“ , zitiert nach Wolfgang Rüdiger, S. 61.

[10] Brief an Hippel, vom 1. Mai 1795, zit. nach: Wolfgang Rüdiger, 1989, S. 61.

[11] Hoffmann, P.W., Bd. 2, S. 496.

[12] Ebd., Bd. 2, S. 501.

[13] Ebd., S. 505.

[14] Platon, Phaidon, 82e.

[15] Ebd., 69c.

[16] Hoffmann, P.W., Band 5, S. 415.

[17] Ebd., Bd. 1, S. 215.

[18] Ebd., Bd. 3, S. 60.

[19] Ebd., S. 64.

[20] Ebd., S. 53.

[21] Vgl. Hegel, August Wilhelm (1994), Vorlesungen über Ästhetik, zit. nach: Eckhard Roch, Seele – Körper – Klangkörper. Versuch über die Körperlichkeit in der Musik, Druck in Vorbereitung.

[22] Vgl. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Berlin 1967.

[23] Brief an Hippel vom 23. Januar 1796, zit. nach: Wolfgang Rüdiger 1989, S. 62.

[24] Hoffmann, P.W., Bd. 2, S. 566.

[25] Ebd., S. 401.

[26] Ebd., S. 408.

[27] Ebd., Bd. 1, S. 281.

[28] Ebd., S. 282.

[29] Ebd., S. 354.

[30] Ebd., S. 370.

[31] Adorno, 1970, S. 16.

[32] Hoffmann, P.W., Bd. 5, S. 233.

[33] Hoffmann, P.W., Bd. 5, S. 234.

[34] Ebd., Bd. 1, S. 461.

[35] Brief an Hippel vom 16. März 1806, zit. nach: Wolfgang Rüdiger 1989, S. 64.

[36] Brief an Kunz vom 20. Juli 1813, ebd., S. 63.

[37] Brief an Hippel vom 23. April 1797, ebd., S. 56.

[38] Brief an Hippel von 29. Februar 1795, ebd., S. 57.

[39] Rüdiger Safranski, 1984, S. 243ff.

[40] Brief an Speyer vom 1. Mai 1820, zit. nach: Wolfgang Rüdiger, 1989, S. 57.

[41] Zit. nach: Elisabeth Frenzel, Herbert A. Frenzel, Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Von den Anfängen bis zum jungen Deutschland, in: http://www.digitale-bibliothek.de/band147.htm, 23.04.2014, S. 1046.

[42] Walter Müller-Seidel, Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln 1961, S. 213, zit. nach: Wolfgang Rüdiger, a.a.O., S. 57.

[43] Hoffmann, Tagebücher, Eintrag vom 25. Februar 1811, zit. nach: Wolfgang Rüdiger, 1989, S, 58.

[44] Ebd., Eintrag vom 4. Januar 1812, zit. nach: ebd.

[45] Ebd., Eintrag vom 3. Februar 1812, zit. nach: ebd.

[46] Julia Marc, Erinnerung an E. T. A. Hoffmann (1837), hrsg. von Friedrich Schnapp, Bamberg 1956, S. 12f., zit. nach: Johanna Patzelt, Erfüllte und verfehlte Künstlerliebe. Ein Versuch über das Menschenbild E. T. A. Hoffmanns in seinem Phantasiestück „Don Juan“, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, Wien 1976, S. 121.

[47] Brief an Speyer vom 1. Mai 1820, zit. nach: Wolfgang Rüdiger, S.62.

[48] Hoffmann, P.W., Bd. 1, S. 411.

Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Don Juan. Künstlertum und Musikästhetik in E. T. A. Hoffmanns Erzählungen
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
52
Katalognummer
V287733
ISBN (eBook)
9783656883500
ISBN (Buch)
9783656883517
Dateigröße
702 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
juan, künstlertum, musikästhetik, hoffmanns, erzählungen
Arbeit zitieren
Philip Unterreiner (Autor:in), 2014, Don Juan. Künstlertum und Musikästhetik in E. T. A. Hoffmanns Erzählungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/287733

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