Wissenschafts- und Technikforschung -- Versuch einer Systematisierung in Hinblick auf mögliche Anwendungen in der Psychologie


Vordiplomarbeit, 2004

35 Seiten, Note: A (1,0)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Was ist das Besondere der Psychologie?
1.2 Aspekte der Analyse
1.3 Zum Aufbau der Arbeit

2 Laborstudien
2.1 Indexikalität
2.2 Das Labor
2.2.1 Natürliche Ordnung
2.2.2 Soziale Ordnung
2.2.3 Drei Arten des Labors
2.3 Transwissenschaftliche und transepistemische Felder

3 Kritische Ansätze der STS
3.1 Standpunkttheorie und starke Objektivität
3.1.1 Kritik der „schwachen Objektivität“
3.1.2 Starke Objektivität
3.2 Posthumanistische Performativität - Agential Realism
3.2.1 Kritik des Repräsentionalismus
3.2.2 Intra-Aktion materiell-diskursiver Praktiken
3.2.3 Warum „posthumanistisch“?
3.2.4 Kausalität und Verantwortung
3.2.5 Und die Psychologie?
3.3 Donna Haraway
3.3.1 Situiertes Wissen - Diffraktion statt Reflexion

4 Actor-Network Theory
4.1 Die Entstehung von Fakten – zwischen Artefakten und black boxes
4.2 Inskriptionen, Instrumente, Natur
4.3 Übersetzungen und Netzwerke
4.4 Aktoren, Aktanten und Kausalität – technische Vermittlung
4.5 Erkenntnisgewinn als Krieg? – Kritik

5 Fazit und Ausblick

References

1 Einleitung

Im vielen unterschiedlichen Bereichen hat sich die Wissenschafts- und Technikforschung (science and technology studies, STS) als sehr fruchtbares - und teilweise überaus um­strittenes - Instrument der Analyse und Kritik erwiesen. Es gibt bereits einige allgemeine Uberblicksdarstellungen und Systematisierungen der verschiedenen, oft sehr unterschied­lichen Ansätze der STS (Hess, 1997; Jasanoff, Markle, Peterson, & Pinch, 1994; Biagioli, 1999) und ihrer Anwendungen auf unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen; ihre An­wendung auf die Psychologie blieb jedoch sehr begrenzt. Diese Arbeit soll einen Ansatz bieten, die Erkenntnisse der STS für eine Untersuchung der Psychologie fruchtbar zu machen. Konkretes Ziel ist eine Systematisierung, die es ermöglicht, (1) die im Folgen­den hier vorläufig postulierten Besonderheiten der Psychologie einer Überprüfung und eventuell einer Revision zu unterziehen, und (2) einen theoretischen und methodischen Ansatzpunkt für zukünftige Untersuchungen der Psychologie zu schaffen.

An diesem Punkt wird ein grundsätzliches Problem der Arbeit deutlich: Wichtiges Kriterium für die Systematisierung sind die Besonderheiten der Psychologie, deren Her­ausarbeitung aber zugleich durch die Systematisierung eigentlich erst ermöglicht wird. Um dieser Zirkularität zu entgehen, werde ich im Folgenden einige nahe liegenden beson­dere Aspekte der Psychologie a priori festlegen, darauf aufbauend die Systematisierung vornehmen und am Ende (oder in einer späteren Arbeit) überprüfen, inwieweit sich die Kategorien als sinnvoll erwiesen haben.

Eine Einschränkung, die sich aus dem begrenzten Umfang der Arbeit ergibt, ist eine so­zusagen doppelte Auswahl: zum einen werden bei weitem nicht alle Ansätze, die man den STS zuordnen könnte, behandelt, zum zweiten findet innerhalb der behandelten Ansätze eine Beschränkung auf einen oder wenige Autorinnen und Autoren statt. Gerade der erste Aspekt ist insofern problematisch, als dass dadurch ein Ansatz wegfällt, der als einer der wenigen in der Psychologie bereits Eingang gefunden hat (vgl. z.B. Rose, 1985, 1996): das auf (Foucault, 2000a, 2000b) zurückgehende Konzept der Gouvernementalität.[1]

1.1 Was ist das Besondere der Psychologie?

Die Übertragung bei der Untersuchung anderer Disziplinen entstandener Theorien ohne Anpassungen auf die Analyse der Psychologie birgt die Gefahr, den Besonderheiten der Psychologie nicht Rechnung zu tragen. Diese Aspekte, die spezifisch für die Psycholo­gie sind (was natürlich nicht heißt, dass sie nur für die Psychologie gelten), sollen im Folgenden kurz dargestellt werden.

Das Problem der Subjektivität Subjektivität hat in der Psychologie einen doppelten Charakter: Unbestritten ist, dass Subjektivität, also menschliches Erleben, zentraler Untersuchungsgegenstand der Psychologie ist. Zugleich ist Subjektivität aber auch Produkt der Psychologie: Psychologische Theorie und Praxis stellen Kategorien zur Verfügung, in denen das Individuum sich selbst begreifen kann, was zu einer historisch-kulturell spezifischen Form der Subjektivität führt (vgl. z.B. Danziger, 1997).[2]

Heterogenität Die Psychologie stellt sich als in höchstem Maße heterogene Disziplin dar, oftmals wird gar in Frage gestellt, ob es überhaupt sinnvoll ist, von der Psychologie zu sprechen. Meist wird von einer Zweiteilung der Psychologie ausgegegangen, der eine Teil wird als naturwissenschaftlich, experimentell, positivistisch, empiristisch charakterisiert, der andere als human- oder geisteswissenschatflich, hermeneutisch- interpretativ. Auf methodologischer Ebene wird i. d. R. eine analoge Trennung in quantitative und qualitative Methoden angenommen. In Bezug auf diese Arbeit wäre nun zu fragen, (a) ob bzw. inwieweit sich in späteren Untersuchungsschritten gewonnene Erkenntnisse über einen bestimmten Bereich der Psychologie (etwa ein paradigmatisches Experiment, eine bestimmte Theorie o. ä.) verallgemeinern lassen, (b) ob sich manche der vorgestellten Ansätze besser/schlechter für einen bestimm­ten Teilbereich der Psychologie eignen und (c) ob man - als Resultat empirischer Untersuchungen - o.g. Orientierungslinien verändern oder ergänzen muss.

Disziplinentwicklung Die genannte Heterogenität wird oft als Resultat von Spezifika in der Disziplinentwicklung, wie z.B. der späten Herausbildung der Psychologie als eigenständiger Disziplin und damit einhergehender Abgrenzungsbemühungen. Als möglicherweise interessanter Untersuchungsbereich könnte sich hier etwa die Rolle der Psychoanalyse erweisen: obwohl sie sich nie in der universitären psychologischen Tradition etablieren konnte, bildete sie dennoch einen großen, auch stark institutio­nalisierten Apparat der Wissensproduktion heraus, der große Wirkungen sowohl auf die therapeutische Praxis als auch auf den psychologischen Alltagsdiskurs entfalten konnte.

1.2 Aspekte der Analyse

Die Ansätze sollen in Bezug auf folgende Dimensionen der Analyse untersucht werden:

- deskriptiv vs. normativ: Es ist erforderlich, strikt zwischen der deskriptiven Ebene, also der empirischen Untersuchung dessen, wie Wissenschaft in ihrer Praxis aus­sieht, und der normativen Ebene, also einer Formulierung von Kriterien für „gute Wissenschaft“ oder konkreter: zur Wahl zwischen alternativen Theorien, zu unter­scheiden.
- mikro vs. makro: Der Fokus der unterschiedlichen Ansätze ist sehr unterschied­lich - während z.B. bei den Laborstudien (Kapitel 2) eher eine mikroanalytische Betrachtung vorherrschend ist, konzentriert sich die feministische Kritik (z.B. Har­ding, Abschnitt 3.1) mehr auf makrosoziologische und historische Entwicklungen und Prozesse. Ein Erklärungsmodell wäre also daran zu messen, ob es auf der einen Seite spezifisch genug ist, konkrete wissenschaftliche Praxis und wissenschaftliches Handeln plausibel erklären zu können, auf der anderen Seite dabei aber nicht allge­meine gesellschaftlich-historische Entwicklungen als Einflussfaktoren aus dem Blick zu verlieren.
- epistemologische Position: Welcher epistemologische Ansatz liegt der Theorie - im­plizit oder explizit - zugrunde? Wie wird mit grundsätzlichen philosophischen Pro­bleme wie z.B. Relativismus umgegangen? Welches Kausalitätsmodell wird vertre­ten?
- Methodologie: Mit welchen Methoden und Instrumenten wird Technowissenschaft untersucht? Lassen sich diese auch auf die Psychologie übertragen?
- Reflexivität/Symmetrie: Es muss untersucht werden, inwieweit Ansätze dem Re- flexivitätsprinzip des strong program der Sociology of Scientific Knowledge (Bloor, 1991), „the same type of explanations that apply to science also apply to the social studies of science“, gerecht werden oder, um mit Donna Haraway zu sprechen, wie die Theorien situiert sind und sich selbst situieren.
- Schnittpunkte und Kontroversen: Es sollen auf der einen Seite Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte der Theorien innerhalb der STS untereinander, anderer­seits aber auch Inkompatibilitäten oder explizite Kontroversen herausgearbeitet werden.
- zentrale Metaphern: Welches sind die zentralen Metaphern und wie lassen sich auf die Psychologie anwenden? (Labor, Netzwerk, Diffraktion, ... )

1.3 Zum Aufbau der Arbeit

Der Text gliedert sich in fünf Kapitel. Nach der oben erfolgten Einleitung wird in Kapi­tel 2, der u. a. mit Karin Knorr-Cetina verbundene Ansatz der Laborstudien vorgestellt. Kapitel 3 fasst mehrere Ansätze unter dem Label der critical STS (Hess, 1997) zusam­men: Sandra Hardings Theorie der starken Objektivität, Karen Barads Agential Realism und Donna Haraways situiertes Wissen. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der maß­geblich von Bruno Latour und Michel Callon geprägten Actor-Network Theory (ANT).

Im abschließenden, fünften Kapitel erfolgt der Versuch eines Fazits, in dem gefragt wird, ob die oben formulierten Fragestellungen beantwortet werden konnten und welche Per­spektiven für kommende Untersuchungen sich ergeben.

2 Laborstudien

Der als Laborstudien (exemplarische Studien sind z.B. Latour & Woolgar, 1979; Knorr- Cetina, 1991; Zenzen & Restivo, 1982) bezeichnete Ansatz in den STS ist in seiner expli­ziten Form in den 1990ern schon wieder verschwunden, allerdings finden viele innerhalb des Ansatzes entwickelte Methoden und Theorien weiterhin Anwendung. Hauptverdienst der Laborstudien war die Erweiterung des methodischen Spektrums der STS um die Eth­nographie, Laborstudien werden auch oft als „Ethnographie der Wissenschaft“ bezeichnet (Hess, 1997), aus der auch einige Begriffe entlehnt sind.

2.1 Indexikalität

Ursprünglich stammt der Begriff aus der strukturalistischen Semiotik von Peirce und besagt, dass Zeichen in verschiedenen Kontexten verschiedene Bedeutungen annehmen können und umgekehrt dieselbe Bedeutung durch verschiedene Zeichen ausgedrückt wer­den kann. Übertragen auf die Untersuchung von Wissenschaft bedeutet Indexikalität situationale Kontingenz und die lokale „Ansässigkeit“ wissenschaftlicher Ope­rationen [. . . ] Diese Indexikalität stellt wissenschaftliche Produkte als durch bestimmte Akteure an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit fabriziert und verhandelt dar. Sie verweist darauf, daß diese Produkte von bestimmten Interessen der Beteiligten ebenso getragen werden wie wie von lo­kalen anstatt universell geltenden Interpretationen der Akteure sowie darauf, daß dieses Akteure gerade mit den Grenzen der jeweiligen Lokalität als Res­source umgehen und sie gegebenfalls strategisch manipulieren. (Knorr-Cetina, 1991, S. 64)

Diese Definition verweist auf mehreres: Sie impliziert zum einen eine klare Ablehnung der Behauptung von Rationalität als alleinigem Entscheidungskriterium in der Wissen­schaft; konkrete Entscheidungen werden also weniger anhand von vornherein, ein für alle mal feststehenden Kriterien getroffen (z.B. gemäß einer bestimmten wissenschaftstheo­retischen Ausrichtung), sondern der Forschungsprozess stellt vielmehr eine von Knorr- Cetina (1991) so bezeichnete bricolage oder ein tinkering[1], eine „Abhängigkeit von Ge­legenheiten“ (S. 65) dar. In den Naturwissenschaften ist diese Metapher auf den ersten Blick einleuchtend: dass die Verfügbarkeit einer bestimmten technischen Ressource wie einem speziellen Gaschromatographen die Richtung der Untersuchungen beeinflusst („Be­stimmte Messungen wurden gemacht, weil ,die Maschinen da waren, es war also leicht, hinunterzugehen und sie zu verwenden“ (S. 66), liegt nahe. Interessant ist dagegen die Frage, wie dies in der Psychologie aussieht. In der bio-/neurowissenschaftlichen Psycho­logie lässt sich der oben beschriebene Vorgang sicher direkt übertragen - die jeweilige Verfügbarkeit von Verfahren wie PET, CMRT oder EEG hat sicherlich großen Einfluss auf die jeweils durchgeführte Forschung. In anderen Bereichen der Psychologie ist die Frage allerdings schwerer zu beantworten. Möglichkeiten wären die Verfügbarkeit von Versuchspersonen einer bestimmten Population („Wir haben den Test gleich mit den Schülerinnen und Schülern der Lernbehinderten-Schule nebenan durchgeführt ...“), der Zugriff auf Forschung anderer, etwa in Form bestimmter Fragebögen („Wir haben auch gleich noch die Geschlechtsrollenorientierung erhoben . . . “) oder die Verfügbarkeit von Personal mit bestimmten Fähigkeiten („Frau X hat das dann in einen adaptiven Test am PC umgesetzt ...“), ob sich noch anderer Beispiele finden lassen, müsste noch untersucht werden.

2.2 Das Labor

Während in anderen wissenschaftsgeschichtlichen Ansätzen eher das Experiment Grund­einheit der Untersuchung war (Knorr Cetina, 2002), ist Ausgangspunkt der Laborstudien - wie es der Name und die obigen Überlegungen zur Bedeutung der Verfügbarkeit von Ressourcen nahe legen - der Begriff des Labors.

Kennzeichnend für ein Labor ist nach Knorr Cetina, dass es ihm zu einer eine Re­konfiguration natürlicher und sozialer Ordnungen kommt, was ich im Folgenden näher erläutern will.

2.2.1 Natürliche Ordnung

Knorr Cetina (2002) bezeichnet ein Labor als eine „,gesteigerte‘ Umwelt, in der natürliche Ordnungen in Relation zu den sozialen Ordnungen im Hinblick auf die anstehenden Anliegen ,verbessert‘ erscheinen“ (S. 45). Konkret bedeutet dies, dass Objekte sich im Kontext des Labors verändern, sie erhalten eine Modellierbarkeit in Hinblick auf

1. Substitution durch partielle und transformierte Versionen
2. lokale Verschiebung: Objekte werden „ins Haus“ transferiert
3. zeitliche Transformationen: Vorgänge müssen nicht bei ihrem natürlichen Auftreten untersucht werden.

Indem also Objekte aus ihrer natürlichen Umwelt herausgelöst und in einem neuen Phänomenfeld installiert werden, das durch soziale Akteure bestimmt ist, erzielen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler „epistemischen Profit“, d. h. bestimmte Formen der Erkenntnis werden überhaupt erst ermöglicht bzw. erleichtert.

2.2 Das Labor

In Bezug auf die Psychologie sollte einem dieser Vorgang bekannt Vorkommen: Zumin­dest in der experimentellen Psychologie lässt sich Knorr-Cetinas Modell direkt anwenden: Personen werden z.B. durch Videoaufzeichnung oder die Reduktion der Person auf sei­ne gemessenen physiologischen Reaktionen substituiert, das „Untersuchungsobjekt“ wird nicht in seiner natürlichen Umgebung, sondern im Labor untersucht und die zeitliche Transformation lässt sich etwa als Hervorrufen bestimmten Verhalten durch Darbieten Von Reizen oder einer Anweisung durch die/den Vl begreifen. Ob sich das Modell aller­dings auch in anderen, beispielsweise mehr interpretierend-hermeneutischen Ansätzen der Psychologie bewährt, erscheint zumindest fraglich und müsste weiter untersucht werden.

2.2.2 Soziale Ordnung

Neben einer Veränderung in der natürlichen Ordnung kommt es im Labor auch zu einer Transformation der sozialen Ordnung. Knorr Cetina (2002) beschreibt dies folgenderma­ßen: „Nicht ,der Wissenschaftler oder ,die Wissenschaftlerin‘ tritt in den Laborwissen­schaften einer Objektwelt gegenüber, sondern ein spezifisch konstituiertes Gegenüber, das in die neue emergente Ordnung passt, die gleichzeitig mitkonstituiert wird.“ (S. 48) Als Beispiel für eine solche Transformation der Wissenschaftlerin/des Wissenschaftlers wird die Veränderung der Rolle des Arztes durch den Wandel von der Krankenbett- zur klini­schen Medizin beschrieben, in der sich eine deutliche Machtverschiebung zugunsten der Ärzte und eine Veränderung ihrer Rolle ergab. Dieses Beispiel ist zwar nachvollziehbar, die Übertragung auf andere Wissenschaftsbereiche bleibt aber offen. Eventuell bietet das Modell der Übersetzung/technischen Vermittlung (Abschnitte 4.3 und 4.4) mit seiner Be­schreibung der Vermischung von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen oder auch Barads posthumanistischer Ansatz (3.2.3) einen besseren theoretischen Rahmen, der es erlaubt, die Trennung von sozialer und natürlicher Ordnung zu überwinden und das gesamte Netzwerk mit seinen unterschiedlichen Komponenten zu untersuchen.

2.2.3 Drei Arten des Labors

Einen interessanten Ansatz für eine Untersuchung der Psychologie bietet u. U. Knorr- Cetinas Typologisierung verschiedener Laboratorien, da sie ihre Beispielen teilweise auch aus der Psychologie bezieht. Sie unterscheidet drei Arten von Laboren:

Das Labor als Ort der Simulation realzeitlicher Ereignisse Wesentliches Kennzeichen dieser Art des Labors ist, dass in ihm Handlung inszeniert wird. Als Beispiele nennt Knorr-Cetina das Kriegspiel auf einem Modell des Schlachtfelds oder in moderner Form in der Computersimulation. In der Psychologie sind derartige Labore v. a. in der Sozial- psyhologie (z.B. MacCoun, 1989), der kognitiven Psychologie (z.B. Kahneman, Slovic, & Tversky, 1982) oder der Problemlösungsforschung verbreitet. Die Frage nach der öko­logischen Validität solcher Experimente wird nach Knorr-Cetina folgendermaßen gelöst: „[M]an entwickelt und verwendet eine Korrespondenztechnologie, d. h. ein System von Si­cherstellungen, durch welche die entsprechende Korrespondenz mit dem realzeitlichen Geschehen garantiert und überwacht werden soll“ (Knorr Cetina, 2002, S. 55, Hervorh. im Orig.), was allerdings dazu führt, dass man „einerseits, eine Weltsimulation zu imple­mentieren [versucht]; andererseits stellt man eine durchgreifende Separierung zwischen den experimentellen Subjekten und den Handlungsinteressen und Interpretationen der Forscher her“ (ebd.).

Zurecht weist Knorr-Cetina darauf hin, dass Labors diesen Typs im Vergleich zu sol­chen in den Naturwissenschaften meist relativ einfach sind - „Abstellraum für die Ku­lissen“. Dies verweist auf die Schwierigkeiten, diese einfachen Labors in Theorien ein­zubeziehen, die aus der Untersuchung von höchst aufwendigen Labors mit einer Viel­zahl technischer Instrumente entstanden sind (vgl. hierzu z.B. die Latour’sche These von der Notwendigkeit immer aufwendigerer Gegen-Labore zur Wissensproduktion, Ab­schnitt 4.2).

Objekte als Prozessiermaterialien Erstes wesentliches Kennzeichen dieser Art des La­bors ist, dass in ihm die jeweiligen Untersuchungsobjekte verändert und manipuliert werden. Daraus folgt, dass die jeweiligen Objekte als „Prozessiermaterialien und Objekt­zustände betrachtet [werden], als vorübergehende Fixpunkte in einer Serie von Tranfor- mationen. Objekte gelten als teilbare Entitäten, aus denen Effekte bei geeigneter Be­handlung extrahiert werden können“ (Knorr Cetina, 2002, S. 57, Hervorh. im Orig.). An dieser Stelle wäre es höchst interessant, diesen Gedanken weiter zu verfolgen: Knorr- Cetina spricht von „natürlichen Objekten“, denen die im Labor hergestellten Versionen nicht mehr entsprächen (und auch nicht entsprechen sollen), es wäre aber zu fragen, in­wieweit es dann noch Sinn ergibt, überhaupt von natürlichen Objekten zu sprechen. Sie anerkennt zwar die Tatsache, dass die Labortätigkeit in diesem Sinne auch kein solches Objektverständnis hat, versäumt es aber erstens die sich daraus ergebenden epistemolo- gischen Konsequenzen zu untersuchen und zweitens zu fragen, ob ein solches Objektver­ständnis nicht auf alle Wissenschaftsbereiche erweiterbar wäre. Mögliche Interpretationen wären etwa die von Barad vorgeschlagene Sichtweise von Dingen als Ergebnis spezifischer Intra-Aktionen (vgl. 3.2.2) oder als Summe ihrer Kompetenzen (Latour, 1987, S. 89).

Zweites Kennzeichen dieser Form des Labors ist die „Herausbildung eines Zweistufensys­tems der sozialen Organisation von Akteuren und Aktivitäten [...]- der Laborebene und der Ebene experimenteller Aktivitäten“ (Knorr Cetina, 2002, S. 58). Diese Zweiteilung sei Folge der fabrikähnlichen Arbeitsweise von z. B. molekularbiologischen Forschungsstät­ten, in denen die „Laboratorien selbst Objekte der Aufmerksamkeit“ (ebd.) werden, was bedeutet, dass z. B. eine Vielzahl von Dienstleistungstätigkeiten zur Aufrechterhaltung des laufenden Betriebs anfallen.

Drittes Kennzeichen ist die Auflösung der Grenzen des Experiments: Während etwa ein psychologisches Experiment i. d. R. einen klar definierten Anfang und ein Ende hat, findet Forschung in diesen Labors als fortlaufend andauernde experimentelle Aktivität statt, „von denen bestimmte Anteile gelegentlich zum Zweck der Herstellung einer Publikation zusammengefasst werden“ (S. 59 f.).

[...]


[1] Unbedingt erwähnt werden sollte auch noch die Forschung am Max-Planck-Institut für Wissenschafts­geschichte, die explizit auf auf die STS Bezug nimmt und die Entwicklung und Einbettung physiolo­gischer und psychologischer Praktiken/Labors im 19. Jahrhundert untersucht, vgl. z.B. Max-Planck­Institut für Wissenschaftsgeschichte, 1999. Vielleicht zeigt sich hier exemplarisch eine Möglichkeit wie durch ein eklektizistisches Vorgehen die STS für die Erforschung der Psychologie nutzbar gemacht werden können.

[2] Eventuell müsste man in diesem Kontext sogar eine dritte Dimension von Subjektivität mit beachten: In einigen klassischen Theorie der Wissenschaftsforschung (einen Überblick bietet Hess, 1997, S. 39 ff.) wird die Rolle kognitiver Faktoren (z. B. Vorurteile o. ä.) auf Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung untersucht, vgl. hierzu aber die Kritik Latours (1987, Kap. 3)

[1] Die beiden Begriffe wurden ursprünglich von Lévi-Strauss (1973) verwendet, der damit das „wilde Denken“ anderer Kulturen charakterisierte, in dem die Unterscheidung von Mittel und Zweck noch nicht festgelegt ist.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Wissenschafts- und Technikforschung -- Versuch einer Systematisierung in Hinblick auf mögliche Anwendungen in der Psychologie
Hochschule
Freie Universität Berlin  (FB Erziehungswissenschaft und Psychologie)
Veranstaltung
Semesterarbeit zum Vordiplom
Note
A (1,0)
Autor
Jahr
2004
Seiten
35
Katalognummer
V28754
ISBN (eBook)
9783638304450
Dateigröße
870 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wissenschafts-, Technikforschung, Versuch, Systematisierung, Hinblick, Anwendungen, Psychologie, Semesterarbeit, Vordiplom
Arbeit zitieren
Harald Kliems (Autor:in), 2004, Wissenschafts- und Technikforschung -- Versuch einer Systematisierung in Hinblick auf mögliche Anwendungen in der Psychologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28754

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